Liebermann zeichnet

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LIEBERMANN ZEICHNET

LIEBERMANN ZEICHNET

Das Berliner Kupferstichkabinett zu Gast im Max Liebermann Haus

Anna Marie Pfäfflin, Andreas Schalhorn und Evelyn Wöldicke (Hrsg.)

STIF TU NG BR AN DE NB URGE R TOR

Die Ku lturst if t ung der Berl iner Sparkasse im Max Liebermann Haus

Vorwort 6

INHALT

Kapitel 1

LIEBERMANNS ZEICHNUNGEN IM BERLINER KUPFERSTICHKABINETT

Anna Marie Pfäfflin 9

Kapitel 2

FIGURENSTUDIEN

Andreas Schalhorn 25 Kapitel 3

NATUR UND LANDSCHAFT

Anna Marie Pfäfflin 47 Kapitel 4

FIGUREN IM RAUM

Andreas Schalhorn 69

Kapitel 5 FREIZEIT UND GARTEN

Anna Marie Pfäfflin 95

Kapitel 6

PORTRÄTZEICHNUNGEN

Evelyn Wöldicke 117 Kapitel 7

MASSENSZENEN

Andreas Schalhorn 141 Biografie 154

Literatur 156

Impressum 158

EIN ZEICHNER ZU HAUSE AM PARISER PLATZ

Liebermann zeichnet – diese Ausstellung, Frucht einer glücklichen Kooperation zweier direkt am Tiergarten gelegener und damit benachbarter Institutionen –, ist in mehrfachem Sinne besonders: Erstmals überhaupt zeigen die Staatlichen Museen zu Berlin eine reine Zeichnungsausstellung mit Arbeiten Max Liebermanns. Mit 90 Werken wird fast der gesamte, so reiche Liebermann Zeich nungsbestand des Kupferstichkabinetts präsentiert. Ebenfalls zum ersten Mal widmet sich die Stiftung Brandenburger Tor, die Kulturstiftung der Berliner Sparkasse, die ihren Sitz in Max Liebermanns wiederaufgebautem Stadtpalais am Pariser Platz hat, im Rahmen ihres vielfältigen Ausstellungsprogramms und zu ihrem 25 jährigen Stiftungsjubiläum Max Liebermann als Zeichner. So kehren nun für die Dauer der Ausstellung im Jahr von Max Liebermanns 175. Geburtstag viele Zeichnungen Liebermanns an den Ort ihrer Entstehung oder ihrer zeitwei ligen Aufbewahrung zurück – und mit ihnen auch der Künstler, der noch 2022 in der Öffentlichkeit zumeist als Maler wahrgenommen wird.

Selbst wenn eine Unmenge an Blättern verloren ging und zahlreiche Skizzenbücher aufgelöst wurden, bleibt festzuhalten, dass Liebermann mit Herz beziehungsweise Hand und Seele Zeichner war. Nun mag dies wenig überraschen, diente ihm doch – wie so vielen Künstlerinnen und Künstlern vor und nach ihm –die Zeichnung zur Vorbereitung seiner Gemälde. Nach dem Abschluss seiner akademischen Ausbildung in Weimar zog es ihn nach Holland in die Dörfer und in die Natur. Dort zeichnete er Orte und Menschen, auf die er traf, die ihm ge wissermaßen das Leben als Modelle zur Verfügung stellte. Liebermanns Blick auf die Wirklichkeit – und deren Transformation in die Kunst – fand in seinen Blei stift und Kreidezeichnungen auf dem Papier oftmals bereits bildhafte Form. Kein Wunder, dass deshalb seine Blätter – darunter noch unvollendet anmutende Figurenstudien ebenso wie mit frischem Strich hingeworfene Landschaften –schon vor 1900 bei Kritikern, Händlern, Sammlern und Kunstkennern hohe An erkennung erfuhren, die Museumswelt eingeschlossen.

In zahlreichen seiner Äußerungen, die in dem Band Max Liebermann. Die Phantasie in der Malerei publiziert sind, hat Liebermann seine Haltung zur Zeichenkunst ar tikuliert, die sich hier als eigentliche Leitwährung seiner Kunst zu erkennen gibt. In ihr sah er in besonderem Maß die Ziele seiner Kunst verwirklicht, die er in der Schaffung von „Hieroglyphen“ nach der Natur begriff: „[…] je vollendeter ein Bild gemalt ist, das heißt, je näher es dem Eindruck der Natur kommt, desto besser muß es gezeichnet sein: Sonst würde dieser Eindruck nicht hervorgerufen wer den. Je näher die Hieroglyphe der Natur kommt – und alle Kunst ist Hierogly phe –, desto besser muß sie gezeichnet sein.“ Dabei wusste er, wie er weiter

6 Vorwort und Dank

ausführte, um die „Frische der Skizze, die leider im Bild fast immer verloren geht“ und formulierte mit einem für ihn ungewöhnlichen Pathos: „In der Skizze feiert der Künstler die Brautnacht mit seinem Werke; mit der ersten Leidenschaft und mit der Konzentration aller seiner Kräfte ergießt er in die Skizze, was ihm im Geiste vorgeschwebt hat, und er erzeugt im Rausche der Begeisterung, was keine Mühe und Arbeit ersetzen können. Im längeren Zusammenleben mit seinem Werke erkaltet die Liebe, und der Künstler sieht zu seinem Schrecken, daß das Bild nicht hält, was die Skizze versprochen hat.“

Dass er im Wettstreit der „bildgebenden“ Kunstgattungen den Rang und die Mög lichkeiten nicht nur seiner Zeichnungen (er sammelte und „kuratierte“ ja auch Zeichnungen anderer Künstler), sondern ebenso der ihr verwandten, ebenfalls papierbasierten Kunst der Druckgrafik – gegen die öffentlichkeitswirksameren Gattungen der Malerei und Skulptur – herausstellen wollte, bezeugt die von Liebermann 1900 initiierte Einführung der Schwarz Weiß Ausstellungen der Berliner Secession.

Das Berliner Kupferstichkabinett besitzt insgesamt 117 Liebermann Zeichnungen (die vielfach bezeichneten Rückseiten der Blätter nicht eingerechnet) und zwei Skizzenbücher, von denen der Großteil ab 1896 und bis in die 1920er Jahre hinein für die damals an der Nationalgalerie angesiedelte „Sammlung der Zeich nungen“ erworben wurde. Unter deren Direktoren Hugo von Tschudi, eng mit Liebermann befreundet, und Ludwig Justi, heftig mit Liebermann verfeindet, ent stand so die heute größte Museumssammlung, die zudem glücklicherweise in der NS Zeit und während der Kriege keine gravierenden Verluste erfuhr. Dresden (1888), Frankfurt (1892) und München (1893) kauften Liebermann Zeichnungen freilich früher an als die Königlichen Museen zu Berlin – was sicher auch an der lange gehegten Antipathie Wilhelms  II . gegen die „Rinnsteinkunst“ Max Lieber manns lag.

Gleichwohl entstand in Berlin eine Sammlung, die Zeichnungen aus allen Schaf fensphasen Liebermanns aufweist. Nach 1945 und der Teilung Berlins wurde sie an der Nationalgalerie im Westteil der Stadt noch durch einzelne fulminante Blät ter ergänzt wie auch im Osten auf der Museumsinsel. Seit der Neueröffnung des wiedervereinten Kupferstichkabinetts am Kulturforum im Jahr 1992 haben all diese Werke dort ihren Platz.

Das Berliner Kupferstichkabinett versteht sich als offene Schatzkammer der Zei chenkunst und als Kompetenzzentrum für die Kunst auf Papier, das sich nicht nur der Bewahrung und Erforschung dieser Werke, sondern auch dem Ausloten ihrer Faszination, ihrer Bedeutung und ihres Wirkens in die Stadtgesellschaft hinein verschrieben hat. So könnte diese Zusammenarbeit mit der Stiftung Bran denburger Tor nicht glücklicher sein, ist es doch unser beider Anliegen und Ver antwortung, die Kunst und den Ort Max Liebermanns und die kreativen Impulse, die von ihnen ausgehen, weiter wirkend und fruchtbar zu machen.

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Dank

Das Gelingen des Projekts, das als schöner Gedanke geboren und als wunderbare Ausstellung sichtbar geworden ist, verdanken wir der hervorragenden Zusam menarbeit der beiden Einrichtungen. Unser besonderer Dank gilt in diesem Zu sammenhang im Kupferstichkabinett Antje Penz, Luise Maul, Hanka Gerhold und François Belot aus der Abteilung Konservierung / Restaurierung / Kunsttechno logie, der Registrarin Tina Dähn sowie Andreas Heese von der Bildstelle und dem Fotografen Dietmar Katz. Engagierte Unterstützung erfuhr das Kupferstichkabi nett durch Kolleginnen und Kollegen aus der Generaldirektion der Staatlichen Museen zu Berlin, denen wir dafür ebenfalls zu Dank verpflichtet sind.

Bei der Stiftung Brandenburger Tor danken wir besonders Natascha Driever für die kompetente Begleitung des Projekts in allen Belangen der grafischen Gestal tung der Ausstellung, der Öffentlichkeitsarbeit und des Marketings sowie Kirstin Buchinger, die den Veranstaltungsbereich verantwortet. Jihan Radjai Bründl hat als Ausstellungsassistenz das gesamte Projekt tatkräftig und mit viel Fachwissen unterstützt. Vielen Dank dafür!

Für wertvolle Hinweise bei der Überprüfung und Erforschung der Provenienzen danken wir Sven Haase vom Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin sowie Anita Beloubek Hammer und Jörn Grabowski, beide Berlin. Außerdem gilt unser Dank Lucy Wasensteiner, Direktorin der Liebermann Villa am Wannsee, sowie der großen Liebermann Forscherin Sigrid Achenbach, Berlin.

Wir danken dem Deutschen Kunstverlag und besonders Luzie Diekmann für die wunderbare Betreuung des Katalogs, Kathleen Bernsdorf für ihre feinfühlige und kreative Gestaltung sowie Ilka Backmeister Collacott für das gewissenhafte Lektorat.

Die Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin hat mit ihrer generösen Zuwendung die Realisierung der Ausstellung überhaupt erst ermöglicht. Wir bedanken uns vielmals dafür!

Unser herzlichster Dank gilt dem Kuratorenteam – Anna Marie Pfäfflin und Andreas Schalhorn seitens des Kupferstichkabinetts und Evelyn Wöldicke für die Stiftung Brandenburger Tor. Sie haben im intensiven Austausch über Lieber manns Zeichenkunst, über seine Kreativität und seine Orte eine wunderbare Aus wahl getroffen, welche den Künstler am einstigen Ort seines Schaffens in beson derer Weise lebendig und erfahrbar werden lässt.

Dagmar Korbacher

Direktorin des Kupferstichkabinetts der Staatlichen Museen zu Berlin

Bianca Richardt

Peter-Klaus Schuster

Vorstand Stiftung Brandenburger Tor

8 Vorwort und Dank

LIEBERMANNS ZEICHNUNGEN IM BERLINER KUPFERSTICHKABINETT

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LIEBERMANNS ZEICHNUNGEN IM BERLINER KUPFERSTICH KABINETT

„Die Zeichnung steht am Anfang“, schreibt der Direktor des Berliner Kupferstichkabinetts, Max J. Friedländer, im Februar 1925 im Vorwort für den Auktionskatalog der Zeichnungssammlung des Herrn L. Der Berliner Sammler David Leder hatte ein Konvolut von 316 Handzeichnungen von Max Liebermann bei Paul Cassirer und Hugo Helbing zur Versteigerung gebracht.1 Liebermann war damals 77 Jahre alt (→ Kat. 1.01). Leder, der mit ihm befreundet war und sei nerzeit die wohl umfangreichste Privatsammlung von Zeichnungen des Künstlers besaß, musste 1925 aus wirtschaftlichen Gründen einen Großteil davon verkau fen. 25 Werke aus dieser Auktion befinden sich heute in der Sammlung des Kup ferstichkabinetts. Aber das war nicht, wie man zunächst vermuten könnte, durch Friedländer veranlasst. Die Werke wurden am 3. März 1925 von Ludwig Justi, dem damaligen Direktor der Nationalgalerie, für die „Sammlung der Zeichnun gen“ erworben.2

Als renommierter Experte für die Kunst der Zeichnung beschrieb Friedländer den Charakter des Disegno, also der Zeichnung, im Allgemeinen und bei Liebermann im Speziellen: „In der Zeichnung tritt der Maler gleichsam nackt und hüllenlos auf.“ Und weiter: „Die Zeichnung deckt auf, stellt bloß, zwingt den Maler, sich zu Ja oder Nein zu bekennen […].“ 3 Die Zeichnung stellt einen höheren Abstraktions grad als die Malerei dar. In seinem Text Die Phantasie in der Malerei hatte Lieber mann 1904 entsprechend konstatiert: „alle bildende Kunst ist Hieroglyphe“.4 Es ging ihm also um äußerste Verknappung. Liebermann erläuterte: „Die Zeichnung ist die erste Niederschrift der künstlerischen Intuition; frei und unbehindert folgt der Stift der Phantasie des Künstlers, unter Weglassung jedes Details nur das Wesentliche andeutend. Daher verlangt sie auch von dem Beschauer eine tätigere Mitarbeit, um zu ergänzen, was die Zeichnung wegließ und weglassen mußte.“ 5

Linie und Fläche – Liebermanns Zeichenstil

Als wäre er Zeuge eines kultischen Tanzrituals, beschrieb Friedlän der schon 1916 in der Zeitschrift für bildende Kunst die drei Phasen von Liebermanns Zeichnungskunst: „Zuerst umgrenzt er die Form vergleichsweise rein und scharf, macht sie klar, stellt sie fest.“ 6 Liebermann war in dieser ersten Schaffensphase gerade aus Frankreich zurückgekehrt 7 und 1878 nach München weitergezogen, wo er sich mit dem Gemälde Gänserupferinnen erstmals als Künstler präsentierte. In dieser Zeit, zwischen 1872 und 1884, stellte er die Zeichnung ganz in den Dienst der Malerei. Es entstanden vor allem Umrisszeichnungen in Bleistift, zumeist als Vorstudien für Gemälde (→ Kap. 2 sowie Abb. 1) 8

10 Kapitel 1
Abb. 1 Detail aus Kat. 2.01

Dass Zeichnungen auch malerische Qualitäten haben können, erkannte Lieber mann bei seinen Sommeraufenthalten in Holland. Sein Zeichenstil emanzipierte sich in der zweiten Schaffensphase ab den 1880er Jahren vom Gemälde und ent faltete eine eigene Wirkmächtigkeit. Es ist nun nicht mehr die trennende Linie, nicht mehr der Umriss, den er zu Papier bringen will. Er entdeckt die Fläche. Nach 1890 ersetzt er den Bleistift durch schwarze Kreide, oft auf Tonpapier. Felder und Flecken greifen malerisch ineinander, mit dem Finger verwischt und verrieben, akzentuiert durch Weißhöhungen (→ Kap. 3 sowie Abb. 2). 9

„Auf der dritten Stufe“, beginnend kurz vor der Jahrhundertwende, so fährt Friedländer fort, „trennt sich die Zeichnung wieder von der Malkunst. Mit sicher gewordenem Stilinstinkt gibt der Zeichner dem Kreidestift die Zügel frei. Die Linie schämt sich nicht mehr, Linie zu sein. Schnellend, weit ausfahrend, reißend wie ein Sturzbach, im Tempo und Pulsschlag des scharfen Temperaments […] ruft [sie] einen erregenden Eindruck hervor. Die Linie hat nun eine wesentlich andere Funktion als auf der ersten Stufe, sie verbindet mehr, als daß sie trennte oder teilte und ist mehr Richtung als Grenze. Die Form wird nicht direckt dargestellt, ersteht vielmehr aus dem scheinbar wirren Komplexe der Striche, von denen jeder, für sich betrachtet, unverständlich ist“ 10 (→ Kap. 7 sowie Abb. 3). Mitunter wird der schwarze Kreidestift ersetzt durch farbige Pastellkreiden. Die energisch pulsierende oder auch verkürzt andeutungshafte Zeichenschrift verlässt dann die Abstraktion des Schwarz Weiß zugunsten eines intuitiven Kolorismus (→ Kat. 5.10 und 5.14) 11

Mit den Werken aus der Sammlung des Berliner Kupferstichkabinetts kann Lie bermanns zeichnerisches Schaffen in Gänze nachvollzogen werden – so vollstän dig wie sonst nirgendwo.

Liebermann und Wilhelm von Bode

Lange bevor sich Liebermanns Karriere als Künstler abzeichnete –in Zeiten, als seine Eltern noch mit Sorge auf den Werdegang ihres Zweitgebore nen blickten –, wurde der erste unscheinbare Keim seiner später regen Verbin dung mit der Berliner Museumswelt gelegt. In seinen Erinnerungen berichtete Generaldirektor Wilhelm von Bode (1914 geadelt), dass er zusammen mit Max Liebermann im Atelier des Pferdemalers Carl Steffeck ersten Zeichenunterricht erhalten habe. Lakonisch gibt Bode zu Protokoll: „Unter den Mitschülern war Max Liebermann, der es später in der Kunstübung ja etwas weiter gebracht hat als ich!“ 12 Erst in den 1880er Jahren, Liebermann stand inzwischen kurz vor sei nem Durchbruch als anerkannter Künstler, begegneten sich die beiden wieder. Den Malern Frans Hals und Rembrandt galt Liebermanns besonderes Interesse, und folglich geriet er bei seinen Museumsbesuchen auch in erneuten Kontakt mit dem Kenner der niederländischen Kunst, der sogar über Frans Hals promoviert wurde: Wilhelm Bode. Für beide bildeten die Alten Niederländer den Ausgangs punkt ihrer Beschäftigung mit der Kunst: wissenschaftlich bei Bode, künstlerisch

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Abb.
2 Detail aus Kat. 3.09
Abb. 3 Detail aus Kat. 7.07

bei Liebermann. Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht verwunderlich, dass Bode an der Kunst Liebermanns, eines zeitgenössischen Künstlers, Gefallen fand: „Seine eigene Kunst, gerade in den Bildern der achtziger Jahre, erschien mir so frisch und eigenartig, so gesund, voll Empfindung und malerischer Wirkung, wie die kaum eines anderen deutschen Künstlers der Zeit. […] Der Besuch seines Ate liers an der Potsdamer Brücke, das Durchstöbern seiner Mappen mit Zeichnun gen und Skizzen war mir ein besonderer Genuß, während ‚tout Berlin‘ damals seine Kunst als ‚roh‘ entschieden ablehnte […]. Ich bin daher gern und energisch jahrelang in Wort und Schrift für ihn eingetreten und habe der Erwerbung seiner Werke für öffentliche Sammlungen stets lebhaft das Wort geredet […].“ 13 – Das erste Werk Liebermanns kam dann allerdings als Geschenk an die Nationalgale rie: 1888 bot der damals noch als „Genremaler“ geführte Künstler dem Museum das Gemälde Flachsscheuer in Laren an – ein Werk im „modern realistischen Ge schmack, welcher besonders in Frankreich […] gepflegt wird“,14 so der Kommen tar im Aktenvermerk. Ebenfalls nicht als Ankauf, sondern als Vermächtnis von Liebermanns Vater, gelangten 1894 die erwähnten Gänserupferinnen in den Be stand.15 Von der Kritik war der junge Künstler in diesen Anfangsjahren nicht gut aufgenommen worden. Liebermann wurde als „Apostel der Häßlichkeit“ 16 stig matisiert. Davon konnte er sich erst mit der Aufhellung seiner Palette befreien. Nicht von ungefähr hatte Liebermann selbst sechs Jahre zuvor, 1888, die licht durchflutete Flachsscheuer für die Nationalgalerie ausgewählt. Diese beiden Auf nahmen in die Sammlung fallen noch in die Zeit, als Max Jordan Direktor an der Nationalgalerie war.

und Hugo von Tschudi

Erwerbungen im Sinne von tatsächlichen Ankäufen kamen erst unter Jordans Nachfolger Hugo von Tschudi in Gang. Im Februar 1896 übernahm Tschudi sein neues Amt. Schon im Mai regte er den ersten Erwerbungsschub von Arbeiten Max Liebermanns für die „Sammlung der Zeichnungen“ an, am 17. Juni wurde der Kauf vollzogen: 18 Zeichnungen für 600 Mark – das war günstig, schätzte Tschudi doch den tatsächlichen Wert pro Blatt auf 100 bis 200 Mark. Finanziert wurde diese erste Erwerbung aus dem Mitteln der Rohr’schen Stif tung,17 eines 1876 (im Eröffnungsjahr der Nationalgalerie) eingerichteten Fonds, den der in Berlin lebende Kunstfreund Heinrich Moritz Rohr begründet hatte.18 Der Eintrag im Inventarbuch bezeugt den Kauf von 18 Blättern, aufgenommen wurden indessen 24 – vermutlich hat Liebermann ein Viertel der Werke großzügig geschenkt.19 Alle diese Arbeiten stammen aus den 1880er und 1890er Jah ren.20 Sie waren also erst unmittelbar vor dem Ankauf entstanden. Der Künstler entwickelte als Zeichner gerade ein gewisses Selbstbewusstsein, er schuf Zeich nungen, die sich von der absoluten Gebundenheit an Gemäldeprojekte zu eman zipieren begannen: Landschaften, Figurenstudien, Porträts. Das gesamte Portfolio seiner Motivwelt war in diesem ersten Ankauf präsent, was naturgemäß nicht für die Schaffensphasen der späteren Jahre gelten kann, in denen sich sein Programm nochmals erweiterte.

12 Kapitel 1
Liebermann

Abb. 4 Édouard Manet, Im Wintergarten, 1878 / 79, Öl auf Leinwand, 115,0 × 150,0 cm, Alte Nationalgalerie SMB , Inv.-Nr. A I 550

Noch im Monat dieser ersten Erwerbung reisten Tschudi und Liebermann ge meinsam nach Paris. Sie entdeckten in der Galerie Durand Ruel Édouard Manets Gemälde Im Wintergarten von 1878 / 79 (Abb. 4) – das war ein coup de foudre. Im August wurde der Ankauf für die Nationalgalerie vollzogen: Es war das erste Gemälde eines Impressionisten in Museumsbesitz, weltweit. Das gemeinsame Erlebnis dieser Entdeckung schweißte die beiden Pioniere der Moderne in beson derem Maße zusammen. Zwischen Künstler und Museumsdirektor entstand ein Vertrauensverhältnis, von dem beide profitierten.21

Wie günstig der Freundschaftspreis von 1896 tatsächlich war, wird deutlich, wenn man sich den darauffolgenden Kauf von nur drei Werken – aber zum sel ben Preis und ebenfalls direkt beim Künstler – 1899 ansieht: Zwei Naturstudien aus Holland (→ Kat. 3.05 und 3.06) für zusammen 100 Mark und das Porträt des eben verstorbenen Schriftstellers Theodor Fontane (→ Kat. 6.03) für ganze 500 Mark.22

Wiederum als Geschenk des Künstlers – es war das letzte in Tschudis Amtszeit –kam 1906 das Bildnis des ehemaligen Kupferstichkabinettdirektors Friedrich Lippmann in den Bestand, was sicherlich als Bekenntnis seiner Verbundenheit mit den Berliner Museen zu verstehen ist. Liebermann hatte die Zeichnung (→ Kat. 1.02) 1904 nach einer Fotografie angefertigt. Lippmann war 1903 verstor ben und Generaldirektor Richard Schöne würdigte ihn mit einem Nachruf im Jahrbuch der Königlich Preußischen Kunstsammlungen, illustriert durch das Porträt von der Hand Liebermanns.23 Auch auf der von nur wenigen bislang gesehenen Rückseite der oft reproduzierten Zeichnung befindet sich ein Porträt, und dieses kommt dem Dargestellten fast noch näher (→ Kat. 1.02 verso). Dynamisch in die auf den Kopf gestellte Figur eines energisch Schreitenden oder exaltiert Gestiku lierenden hineinkomponiert, ist der Blick Lippmanns hier kritischer, der Kopf schlanker, der Gesamteindruck weniger gütig als auf dem offiziellen Porträt.

Liebermann und Ludwig Justi

Unter Tschudis Amtsnachfolger ab 1909, Ludwig Justi, wurden im Mai 1911 dann Werke aus dem ersten Erwerbungskonvolut ausgetauscht: drei Figurenstudien gingen an den Künstler zurück,24 dafür kamen aber 13 Werke neu in den Bestand, darunter ein Skizzenbuch von 1880 (→ Kat. 2.04), sowie die sen sationellen, nach der Jahrhundertwende entstandenen Polospieler (→ Kat. 5.11) und Judengassen (→ Kat. 7.03 und 7.04) 25 Eine Optimierung nicht nur an Quantität, sondern auch an Qualität!

1914 war das Jahr des Vermächtnisses von Karl Koepping, einem Maler und Kupferstecher, der zusammen mit Liebermann 1889 Jury Mitglied bei der Pariser Weltausstellung zur Hundertjahrfeier der Französischen Revolution gewesen war. In Berlin hatte das für gehörigen Zündstoff gesorgt. Koeppings Vermächtnis umfasste Arbeiten Liebermanns, aber auch eigene Zeichnungen. Hochkarätige

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Blätter waren darunter, wie etwa das Blatt Der zwölfjährige Jesus unter den Schrift gelehrten (→ Kat. 4.01) 26 Im Inventar wurden die jeweils gültigen „Tagpreise“ von 1914 notiert, sodass sich die damalige Einschätzung der Blätter heute gut nach vollziehen lässt: Den höchsten Schätzpreis von 600 Mark erhielt das großforma tige Blatt Alter Mann mit Mütze (→ Kat. 2.12); je 300 Mark entfielen auf diverse Landschaftsdarstellungen (darunter → Kat. 3.09 und 3.14); 27 200 Mark auf die Tuschezeichnung Dorfeinfahrt (→ Kat. 3.01); 100 Mark auf die Vorstudien zum Schusterjungen des Gemäldes in der Nationalgalerie (→ Kat. 2.05) sowie niedere zweistellige Werte auf verschiedene Figuren und Landschaftsskizzen.28

Dieser unverhoffte Gewinn von Zeichnungen wird willkommen gewesen sein, wenn sich Justi auch genau in diesem Jahr 1914 sehr über Liebermann hatte är gern müssen. Was seinem Amtsvorgänger Tschudi nicht gelungen war, hatte Justi nämlich gegen alle Widerstände erreichen können: ein Ankaufsbudget für aus ländische Kunst. Insbesondere französische Kunst sollte damit erworben wer den – nicht gerade opportun für eine deutsche Nationalgalerie. Als Hommage an Tschudis Sammeltätigkeit erwarb Justi für 80.000 Mark das, wie er es formulierte „wundersam leuchtende […] Pastell […] zwei Tänzerinnen“ von Edgar Degas (Abb. 5). In Erwartung von Liebermanns Lob – der sich im Übrigen 1898 in der Zeitschrift PAN mit einer Betrachtung über Degas erstmals als Kunstschriftsteller geäußert hatte – erhielt er stattdessen nur eine unflätige Abfuhr des Berliner Künstlers: „Natürlich, wenn der in den Schnee p…, dann is et immer noch jut.“ 29 Justi war verärgert und gab das Werk an den Kunsthändler Cassirer zurück. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs erledigte sich die Möglichkeit, ausländische Kunst für die Nationalgalerie zu erwerben, erst einmal. Die Rückabwicklung zog sich bis zum Frühjahr 1917 hin.30

Seinen Frust gelang es Justi dann immerhin so weit zurückzudrängen, dass er im Herbst desselben Jahres Generaldirektor Bode seinen Plan unterbreitete, im Zuge der Neuordnung des Museums nach dem Ersten Weltkrieg einen Liebermann gewidmeten Raum in der Nationalgalerie einzurichten. In Anbetracht der spärlichen Ankaufsmittel bat Justi den Generaldirektor zudem, die Ausstellung mit Leihgaben aus seinem Privatbesitz zu unterstützen.31 Was übrigens eine Ausnah me darstellte, denn lebende Künstler waren zu diesem Zeitpunkt nahezu nicht in der Nationalgalerie vertreten.

Bald darauf, im Jahr 1919, kaufte Justi für die „Sammlung der Zeichnungen“ das gerade erst vollendete Blatt Truppeneinzug auf dem Pariser Platz von 1918 (→ Kat. 7.07). In der unruhig vibrierenden Linie seines Spätwerks hat der Künstler hier den Blick aus seiner Wohnung gezeichnet.

Die eingangs geschilderte Auktion der Liebermann Zeichnungssammlung von David Leder bei Cassirer im März 1925 bildete in den Folgejahren den Auftakt für gezielte Erwerbungen über den Kunsthandel. Liebermann war inzwischen ein hochgeschätzter Künstler, der entsprechende Marktpreise erzielte. Und es war klar, dass es nicht ausreichte, beliebige Zeichnungen von ihm in der National­

14 Kapitel 1
Abb. 5 Edgar Degas, Zwei Tänzerinnen, um 1898, Pastell auf Papier, 95,5 × 87,0 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Galerie Neue Meister, Gal.-Nr. 2586

galerie und der mit ihr verbundenen „Sammlung der Zeichnungen“ zu horten, sondern dass der Bestand sammlungsstrategisch um Fehlendes zu ergänzen war. Bislang waren vor allem Werke aus Liebermanns mittlerer Schaffenszeit aus den Jahren 1880 bis 1890 zusammengetragen worden, teilweise auch jüngere Arbei ten, die dem Spätwerk zuzurechnen sind. Lediglich zwei Zeichnungen aus Lieber manns ersten Jahren waren mit dem Vermächtnis Karl Koeppings hinzugekom men.32 Aus der Sammlung Leder konnten jetzt noch einmal zwei Werke aus dem Frühwerk gewonnen werden; 33 des Weiteren Landschafts und Figurenstudien aus der mittleren Schaffensphase, wobei das am höchsten bewertete Blatt Dorf straße in Laren (→ Kat. 1.03) bei 2850 Mark zugeschlagen wurde. Neben zwei Por träts wurden außerdem sieben Blätter aus dem Spätwerk, entstanden nach der Jahrhundertwende, bei Cassirer aus der Sammlung Leder ersteigert.34 Und im Jahr 1927 wurde vom Ministerium für Kunst, Wissenschaft und Volksbildung das erst im Jahr zuvor entstandene Familienbildnis (→ Kat. 6.16) an die Nationalgalerie überwiesen.

Dennoch: Das Verhältnis zwischen Justi und Liebermann blieb angespannt. 1930/31 kam es zu einem Konflikt, der an den Kern eines sammlungsstrategischen Dilemmas führte: Die Kunsthandlung Bruno Cassirer hatte Justi offen bar ein großformatiges Selbstporträt für den Preis von 3000 Mark angeboten. Museumsdirektor Justi stand der Erwerbung skeptisch gegenüber: Erstens, weil die Sammlung bereits kurz zuvor bei Cassirer ein Liebermann Porträt aus der selben Werkphase erworben hatte, „nach Liebermanns eigenem Urteil sogar das schönste“, wie Justi konstatierte (vermutlich → Kat. 1.04 aus der Sammlung Leder); 35 zweitens, weil es sich bei der Kohlezeichnung im Format 100  ×  75 cm um eine auf Keilrahmen aufgezogene Leinwand handelte – zu groß für die Map pen der Handzeichnungssammlung. Um seinen Willen durchzusetzen, schaltete Liebermann den Kunstkritiker Max Osborn als Fürsprecher ein. Dieser attestierte Justi zwar, in seiner „Amtsführung zehnmal mehr für Liebermann getan zu haben als die Nationalgalerie seit ihrem Bestehen“,36 versuchte ihn aber dennoch umzu stimmen. Justi hielt an seinen Prinzipien fest: „Eine Verstimmung Liebermanns besteht ja ohnehin und wäre an und für sich kein ausreichender Grund für einen Ankauf. Wir müssen die geringen Mittel, über die die Galerie verfügt, zusammenhalten[,] um wirklich notwendige Bereicherungen zu erwerben.“ 37 Bruno Cassirer war inzwischen bereit, den Preis auf 2500 Mark herabzusetzen. Die Ver handlungen zogen sich jedoch weiter hin. Schließlich wurde Justi in der Ankaufskommission überstimmt: für 2000 Mark wurde die Erwerbung befürwortet, obwohl Justi „wiederholt darauf hinwies [,] dass sie hier nur ins Depot gestellt werden könne und es sich also um eine sinnlose Ausgabe von Staatsgeldern handle“.38 Seit 1945 gilt das Werk als Kriegsverlust. Es wurde also vermutlich nie der Öffentlichkeit präsentiert.

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Der Liebermann-Bestand nach 1945

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurden Leben und Lebenswerk Max Liebermanns bedroht. Am 7. Mai 1933 legte er sein Amt als Ehrenpräsident der Preußischen Akademie der Künste nieder und erklärte sei nen Austritt. Als er am 8. Februar 1935 starb, wurde er auf dem Jüdischen Fried hof in der Schönhauser Allee beigesetzt. Die Grabrede hielt der Kunstkritiker Karl Scheffler, der bereits 1906 eine Monografie über den Künstler veröffentlicht hatte. Max J. Friedländer, bis 1930 Direktor des Kupferstichkabinetts, seit 1933 als deutscher Jude auch aus dem Amt als Direktor der Gemäldegalerie entlassen, war einer der wenigen alten Gefährten, die ihm auf diesem letzten Weg die Ehre gaben. Liebermanns Gattin überlebte ihn um Jahre. Nach dem Tod ihres Mannes zog Martha Liebermann aus dem Haus am Pariser Platz aus. Ab dem 6. Dezember 1938 durfte sie sich dem Gebäude nicht einmal mehr nähern, da es im von den Nationalsozialisten mit dem sogenannten Judenbann belegten Regierungs viertel lag.39 Um ihrer Deportation nach Theresienstadt zu entgehen, nahm sie sich im Alter von 85 Jahren das Leben. Sie verstarb am 10. März 1943. Lieber manns Haus am Pariser Platz, sein Atelier, wurde 1943 durch Kriegshandlungen zerstört.40

Die weiteren Sammlungsbewegungen nach den Verwerfungen im Zweiten Welt krieg sind im ostdeutschen Teil der Staatlichen Museen zu Berlin von Kriegsver lusten (vier Werke) sowie in den Jahren 1958 bis 1963 von Rückführungen aus der Sowjetunion geprägt. Unter diesen zurückgegebenen Werken befinden sich auch solche, von denen nicht sicher ist, ob sie ursprünglich aus der „Sammlung der Zeichnungen“ stammten. Im Zweifel erschien Berlin damals neben Dresden als geeigneter Aufnahmeort.41

Im selben Zeitraum wurden Liebermann Zeichnungen aus der Sammlung bezie hungsweise dem Nachlass Puppel erworben – Reinhold Puppel war Partner in der zwischen 1913 und 1937 gemeinsam mit Heinrich Hollstein in Berlin geführ ten Kunsthandlung „Hollstein & Puppel“.42 Andere Werke wurden bis 1990 von Privatpersonen angekauft,43 jedoch auch von der „Kunst und Antiquitäten GmbH“ in Mühlenbeck. Letztere war eine Firma, nordöstlich von Berlin gelegen, die unter der Leitung von Alexander Schalck Golodkowski vom Ministerium für Staatssicherheit der DDR zwischen 1973 und 1990 Kunstwerke, vornehmlich zur Devisenbeschaffung, verkaufte.44

Im westdeutschen Teil konnte 1959 das eindrucksvolle Selbstporträt mit Mütze (→ Kat. 1.01) aus dem Besitz von Marianne Feilchenfeldt, geborene Breslauer, er worben werden. Sie war ab 1936 mit Walter Feilchenfeldt verheiratet, der zu nächst Mitarbeiter und später Teilhaber bei Paul Cassirer, dem Vetter von Bruno Cassirer, war. Nach Paul Cassirers Tod 1926 führte Feilchenfeldt zusammen mit Liebermanns Nichte Grete Ring die Kunst und Verlagsbuchhandlung weiter, bis er 1933 emigrieren musste.

16 Kapitel 1

Aus dem westdeutschen Kunsthandel gelangten weitere Werke in den Bestand, darunter 1978 die Vorzeichnungen zu den Gänserupferinnen (→ Kat. 2.01 und 2.02) oder 1982 das Porträt Hugo von Tschudis (→ Kat. 6.04).

Im Zuge der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wurde entschie den, die „Sammlung der Zeichnungen“ mit dem Kupferstichkabinett zusammen zuführen. Sie war in den Jahren der Teilung in Ost wie in Westdeutschland mehrfach zwischen den Zuständigkeitsbereichen der Nationalgalerie und des Kupferstichkabinetts hin und her gewechselt.

In der wiedervereinigten Sammlung gelangten zuletzt drei Werke von Lieber mann in den Bestand des Kupferstichkabinetts, darunter das sogenannte Erste Skizzenbuch (→ Kat. 1.05), welches nach dem Tod ihres Mannes im Besitz von Martha Liebermann gewesen war. Im Jahr 2020 konnte das ab 1997 als Dauer leihgabe dem Museum anvertraute Skizzenbuch für die Sammlung erworben werden.45 Es umfasst Zeichnungen aus den Jahren 1866 bis 1873, sozusagen Liebermanns erste künstlerische Versuche: Der Strich des gerade einmal 19 Jäh rigen ist hier mitunter noch stockend und tastend, Flächiges, wie etwa Schatten partien, sucht er durch Schraffuren von den umgebenden Bereichen zu scheiden. Der Band stellt somit zum Ende unserer Sammlungsgeschichte eine Art Prolog der zeichnerischen Entwicklung des Künstlers dar  46 – eine Vorgeschichte all des sen, was wir nun in Ausstellung und Katalog ausbreiten.

Das Berliner Kupferstichkabinett bewahrt heute neben knapp 500 Druckgrafiken und zwei Skizzenbüchern insgesamt 117 Zeichnungen aus allen Schaffensphasen des Künstlers. Wie Liebermann zeichnet und was Liebermann zeichnet, lässt sich mit den Werken aus unserem Bestand in den nun folgenden Kapiteln anschaulich erzählen.

1 Leder und seine Frau Lola Leder sind die Eltern des Dichters und Schriftstellers Stephan Hermlin (1915 1997).

2 Die „Sammlung der Zeichnungen“ war 1876 am Stammhaus der Nationalgalerie auf der Berliner Museumsinsel für die Zeichnungen des 19. Jahrhunderts begründet worden. Heute befindet sich der Bestand im Kupferstichkabinett, dem Museum für Arbeiten auf Papier.

3 Friedländer 1925, S. IX.

4 Max Liebermann, Die Phantasie in der Malerei, abgedruckt in: Liebermann 1983, S. 23 54, hier S. 36; zum Begriff der Hieroglyphe bei Liebermann vgl. auch Frank 1997.

5 Max Liebermann, Reden zur Ausstellungseröffnung der Akademie, Sommer 1921, abgedruckt in: Liebermann 1983, S. 195 197, hier S. 195.

6 Friedländer 1916, S. 234; vgl. auch Scheffler 1953, S. 95.

7 Friedländer 1924, S. 33 38.

8 Zur Charakterisierung der ersten Schaffensphase von Liebermann siehe auch Waldmann 1915/16, o. P.; Wolff 1922, S. 9 10; Scheffler 1953, S. 95; Göres 1971, S. 62 68; Achenbach 1979, S. 43 45.

9 Wolff 1922, S. 11 18; Friedländer 1916, S. 234; Friedländer 1924, S. 141; Scheffler 1953, S. 96 99; Göres 1971, S. 69 83; Achenbach 1979, S. 43, 45; Schade 1985, S. 20 21. Ebenfalls in den 1880er-Jahren begann Liebermann damit, vereinzelt Zeichnungen mit Feder oder Pinsel in Tusche anzulegen. Später, seit der Jahrhundertwende, verwendete er diese Technik vor allem zur Vorbereitung von Druckgrafiken; vgl. Hancke 1914, S. 496 499; Scheffler 1953, S. 100 107. Zu den Druckgrafiken → Kap. 4 und 7 im vorliegenden Katalog.

17

10 Friedländer 1916, S. 234; vgl. auch Justi 1919, S. 134 140; Wolff 1922, S. 24 25; Göres 1971, S. 84 98; Achenbach 1979, S. 43, 45 46.

11 Wolff 1922, S. 20; Scheffler 1953, S. 100 101.

12 Wilhelm von Bode, Berliner Kunststudien, abgedruckt in: Gaehtgens/ Paul 1997, Bd. I, S. 23 26, hier S. 25.

13 Wilhelm von Bode, Max Liebermann, abgedruckt in: Gaehtgens/Paul 1997, Bd. I, S. 242 243.

14 7.2.1888, in SMB-ZA, I/NG 1755, Bl. 2.

15 15.11.1894, in SMB-ZA, I/NG 1755, Bl. 9.

16 M[eyer] 1873.

17 SMB-ZA, I/NG 324, Bl. 11; SMB-ZA, I/NG 1755, Bl. 10 12.

18 Tschirner 2003, S. 199.

19 SMB-KK, Inventarbuch F 668. Dass Liebermann Ankäufe seitens der Museen häufig durch Schenkungen erweiterte, dazu siehe auch Achen bach 2001, S. 107, sowie Achenbach 2022, S. 107. 18 der 24 im Jahr 1896 erworbenen Werke befinden sich heute im Kupferstichkabinett, drei wur den 1911 gegen andere Werke beim Künstler eingetauscht, drei weitere gelten als Kriegsverlust. Tschudi rühmte seine Auswahl im Antrag gegen über dem Ministerium als „hervorragend“ (29.5.1896, in SMB-ZA, I/NG 1755, Bl. 10). Berlin entschied sich vergleichsweise spät für den Ankauf von Liebermann-Zeichnungen. Den Anfang machte 1888 das Dresdner Kupferstich-Kabinett. Es folgten 1890 die Hamburger Kunsthalle, 1892 das Städel in Frankfurt, München 1893 und erst drei Jahre später Berlin; vgl. Mehnert 1997, S. 52; Achenbach 2001, S. 108.

20 Vgl. die Ident.-Nrn. SZ Liebermann 1 24.

21 Honisch 1979, S. 88.

22 SMB-ZA, I/NG 1755, Bl. 13 14; Werke SZ Liebermann 25 27, F 703 (SMB-KK). Liebermanns Gemälde wurden zu diesem Zeitpunkt bereits deutlich höher angesetzt. Die erste Nationalgalerie-Erwerbung eines Liebermann-Gemäldes fiel auf die Schusterwerkstatt. 25.000 Mark bezahlte man 1899 an die Kunsthandlung Cassirer dafür (SMB-ZA, I/NG 1755, Bl. 15 17).

23 Abb. in: Schöne 1904, S. III ; vgl. dazu auch Schade 1985, S. 15.

24 Junge mit Ziegen, 1890 (SZ Liebermann 3); Alte holländische Bäuerin sitzend und nach links schauend, 1896 (SZ Liebermann 6); Bauer mit Kuh, vom Rücken gesehen, 1897 (SZ Liebermann 12).

25 Dies betrifft die Ident.-Nrn. SZ Liebermann 30 42; SMB-ZA, I/NG 1755, Bl. 19 23.

26 SMB-KK, F II 503 (SZ Liebermann 43).

27 Dies betrifft die Ident.-Nrn. SZ Liebermann 45, 46 und 51.

28 Dies betrifft die Ident.-Nrn. SZ Liebermann 48, 50, 52, 53, 55, 56. Inventarisiert wurde der Großteil des Konvoluts jedoch erst 1923 (F III 359 370).

29 Gaehtgens / Winkler 1999, S. 274 277, hier S. 276, 277.

30 SMB-ZA, I/NG 466, Bl. 319 323. Heute befindet es sich in der Dresdner Gemäldegalerie Neue Meister, Gal.-Nr. 2586.

31 Vermutlich mit der Studie Hof des Waisenhauses in Amsterdam von 1876 (Hancke 1914, S. 116, Abb. S. 114); Brief Justi an Bode vom 6. 10. 1917 (SMB-ZA, IV/NL Bode 2813). Sowie SMB-ZA, I/NG 318, Bl. 74; SMB-ZA, I/NG 467, Bl. 41 v – 42; SMB-ZA, IV/NL Bode 2813; Betthausen 2010, S. 122; Grabowski 2014, S. 88.

32 Schusterjunge und Männlicher Kopf, beide von 1880 (SZ Lieber mann 47 und 48).

33 Vorstudie eines Nackten Knaben sowie rückseitig eine Vorstudie zur Kartoffelernte von 1875 (SZ Liebermann 57) für 150 Mark und eine Vorstudie zur Schusterwerkstatt von 1880 (SZ Liebermann 58) für 1000 Mark.

34 Vgl. Versteigerungskatalog mit Annotationen; https://digi.ub.uniheidelberg.de/diglit/cassirer_helbing1925_03_03x (6. 9. 2022).

35 Brief Justi an Osborn vom 14. 4. 1930 (SMB-ZA, I/NG 32, Bl. 127, und SMB-ZA, I/NG 471, Bl. 93).

36 Brief Osborn an Justi vom 11. 4. 1930 (SMB-ZA, I/NG 32, Bl. 126, und SMB-ZA, I/NG 471, Bl. 92).

37 Brief Justi an Osborn vom 14. 4. 1930 (SMB-ZA, I/NG 32, Bl. 128, und SMB-ZA, I/NG 471, Bl. 93).

38 SMB-ZA, I/NG 471, Bl. 98, 100: Die Verhandlungen umfassen in der Akte die Blätter 89 bis 105, vgl. auch SMB-ZA, I/NG 32, Bl. 125 134. Liebermann warf Justi seinerseits Verschwendung von Steuergeldern vor; vgl. Honisch 1979, S. 92.

39 Schmalhausen 2020, S. 156.

40 Scheffler 1953, S. 108 110. An seiner Stelle steht seit 1999 das dem ursprünglichen Gebäude nachempfundene Max Liebermann Haus, in dem die Stiftung Brandenburger Tor ihren Sitz hat.

41 Ziel aktueller Provenienzforschung ist es u. a., mögliche Hinweise auf andere berechtigte Vorbesitzer zu finden.

42 Ab 1937 wurde die Kunsthandlung durch Reinhold Puppel bis 1944 allein weitergeführt. Heinrich Hollstein musste sich bedingt durch die antisemitische Politik des NS -Regimes aus dem Unternehmen zurück ziehen. Nach Puppels Tod 1956 verkaufte dessen Witwe Friedel Puppel 1958 eine Liebermann-Zeichnung an die Nationalgalerie (SZ Liebermann 89, Kat. 2.14). Nachdem auch sie verstorben war, gelangten 1961 weitere 13 Zeichnungen aus dem Nachlass Puppel über das Zentralantiquariat der DDR in die Sammlung (SZ Liebermann 93 105). – Dank an Sven Haase vom Zentralarchiv der SMB für eine erste Einschätzung sowie weitere Forschungen zu den Provenienzen der Werke.

43 Bei dem 1963 aus Privatbesitz erworbenen Blatt Martha Liebermann mit Enkelin (ehemals SZ Liebermann 108) wurde festgestellt, dass es ursprünglich aus dem Besitz Martha Liebermanns stammte. Im Jahr 2020 wurde es daher an die Erben restituiert.

44 Auch hierzu sowie zu den im Folgenden erwähnten Erwerbungen werden die genauen Provenienzen aktuell erforscht. Bislang konnten jedoch noch keine Unrechtmäßigkeiten festgestellt werden.

45 Achenbach 1997, S. 95. Das Skizzenbuch galt über Jahrzehnte als verschollen, bis es 1996 im Kunsthandel auftauchte.

46 Hancke 1914, S. 21 29, bes. S. 25 26; Göres 1971, Bd. I, S. 55 56, 119.

18 Kapitel 1

Kat. 1.01 Selbstbildnis mit Mütze, um 1923, schwarze Kohle, mit Kreide weiß gehöht, auf graugrün gefärbtem Papier (vélin), 30,0 × 23,3 cm, Kupferstichkabinett SMB, Ident.-Nr. NG 15/59

Herkunft: Erworben von Marianne Feilchenfeldt, Zürich, für die Nationalgalerie, Berlin (West), inventarisiert 1959, 1986 an das Kupferstichkabinett überwiesen

19

Kat. 1.02 Bildnis Friedrich Lippmann (verso: zwei Studien zum Bildnis Lippmann), 1904, schwarze Kreide über blauem Stift, Lichter gekratzt, auf Papier (vélin), 29,2 × 22,4 cm, Kupferstichkabinett SMB , Ident.-Nr. SZ Liebermann 29 Herkunft: Geschenk des Künstlers für die „Sammlung der Zeichnungen“ an der Nationalgalerie, inventarisiert am 6. 12. 1906 (unter Inv.-Nr. F 940), 1992 an das Kupferstichkabinett überwiesen

20

Kat. 1.03 Dorfstraße in Laren mit weiblicher Rückenfigur und hohem Baum, um 1895, schwarze Kreide auf Papier (vélin), 47,4 × 31,8 cm, Kupferstichkabinett SMB , Ident.-Nr. SZ Liebermann 70

Herkunft: Erworben bei Paul Cassirer, auf der Auktion der Sammlung David Leder für die „Sammlung der Zeichnungen“ an der Nationalgalerie, inventarisiert am 4. 3. 1925 (unter Inv.-Nr. F III 718), 1992 an das Kupferstichkabinett überwiesen

21

Kat. 1.04 Selbstbildnis mit Zeichenblock, 1921, schwarze Kreide und schwarzer Stift auf Papier, 25,7 × 17,4 cm, Kupferstichkabinett SMB , Ident.-Nr. SZ Liebermann 80 Herkunft: Erworben bei Paul Cassirer, auf der Auktion der Sammlung David Leder für die „Sammlung der Zeichnungen“ an der Nationalgalerie, inventarisiert am 4. 3. 1925 (unter Inv.-Nr. F III 728), 1992 an das Kupferstichkabinett überwiesen

22 Kapitel 1

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