Symphonie in Schwarz

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Symphonie in Schwarz

Eine Spurensuche zwischen Lebensreform, Frauenbewegung und Bohème

Die Drucklegung der Publikation wurde großzügig unterstützt durch Paul Heinen/ Bundesverband Deutscher Tabakwaren-Großhändler und Automatenaufsteller e.V. sowie durch den Deutschen Zigarettenverband.

Einbandabbildung und Frontispiz: Ausschnitte aus Oskar Zwintscher, Bildnis einer Dame mit Zigarette, 1904, Albertinum, Staatliche Kunstsammlungen Dresden [Foto: Elke Estel / Hans-Peter Klut]

Einbandgestaltung: Katja Peters, Berlin

Layout und Satz: Edgar Endl, booklab, München

Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza

Verlag

Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München

Lützowstraße 33, 10785 Berlin www.deutscherkunstverlag.de

Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH Berlin Boston www.degruyter.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2023 Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München

ISBN 978-3-422-80115-8

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7 Prélude: eine geheimnisvolle Raucherin

13 Oskar Zwintscher als Bildnismaler

29 Symphonien in Schwarz – monochrome Malkunst

41 Malerei und Fotografie. Oskar Zwintscher und Hugo Erfurth

49 Das Jahr 1904: die Welt in St. Louis, Lenbachs Tod und Luxemburgs Kampf

63 Bewegte Frauen: der Chic des Rauchens

77 Im Dunstkreis großer Städte. Dresden – München –Berlin

96 Lebensdaten

102 Anmerkungen

105 Literatur (Auswahl)

106 Abbildungsverzeichnis

110 Personen (Auswahl)

112 Dank

Abb. 1 Oskar Zwintscher, Bildnis einer Dame mit Zigarette, 1904, Dresden, Albertinum

Prélude:

Selbstbewusst, mit offenem, direktem Blick schaut sie aus dem Bild heraus |Abb. 1|. Lässig hat sie ihre Beine übereinandergeschlagen und ihre rechte Hand mit der brennenden Zigarette auf dem Knie abgelegt. Ihr blasses Gesicht mit den roten Lippen, ihr aschblondes Haar, ihre Hände und die Glut der Zigarette leuchten vor schwarzem Hintergrund. Erst bei genauerem Hinsehen sind die faszinierenden Strukturen des Kleides und des Stoffvorhanges hinter ihr zu entdecken. Die absolut schmucklose Dame in Schwarz ist eine dunkle Verwandte von Gustav Klimts goldenen JugendstilSchönheiten. Unbestimmbar ist der Seelenzustand der Porträtierten, der zwischen cooler Nonchalance und stiller Melancholie changiert. Das Bildnis einer Dame mit Zigarette von Oskar Zwintscher misst nur 82 × 68 cm, und doch zieht das 1904 signierte Gemälde bis heute die Besucherinnen und Besucher des Albertinum in Dresden in seinen Bann. Der Unbekannten haftet etwas Rätselhaftes an – »wüsste man es nicht besser, hielte man sie für eine französische Intellektuelle der Sechzigerjahre.«1 In der Kunst um 1900 sucht sie ihresgleichen. War die Porträtierte, die sich in damals eindeutig männlich konnotierter Pose als Raucherin malen ließ, vielleicht eine Künstlerin oder Schauspielerin? Ist ihre provokante Haltung ein Hinweis auf ihre Rolle in der Frauenbewegung, die gerade in Dresden, wo das Gemälde entstand, in dieser Zeit besonders aktiv war? Kann sie gar als Prototyp der »Neuen Frau« gedeutet werden, die sich dann insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg in den Großstädten der Weimarer Republik zunehmend Gehör und Akzeptanz verschaffte? Oder ist das Gemälde eher im Umfeld jener Marketingstrategien der Tabakindustrie zu verorten, die sich seit den 1890er-Jahren verstärkt an weibliche Konsumierende richteten und darum bemüht waren, gleichberechtigt anmutende Rollenbilder zu vermitteln? Und welchen Eindruck mag

diese »Symphonie in Schwarz«, der gewagte Farbeinsatz, der von der großen malerischen Virtuosität des Künstlers zeugt, auf die Zeitgenossen gemacht haben?

Die folgenden Kapitel machen sich auf, den Geheimnissen dieser »mysteriösesten Raucherin der Kunstgeschichte«2 auf die Spur zu kommen. Über die Entstehung des Gemäldes ist wenig bekannt. Auf keiner Ausstellung zur Lebzeit des Künstlers ist es bisher nachweisbar. Sicher ist nur, dass es bei der Gedächtnisausstellung, die 1916 aus Anlass von Zwintschers Tod veranstaltet wurde, unter dem Titel »Bildnis mit Zigarette« vertreten war, und zwar als Leihgabe aus der prominenten Dresdner Sammlung Rothermundt. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass es sich bei dem Gemälde um ein privates Auftragswerk handelt, das nicht für eine größere Öffentlichkeit bestimmt war. Adolf Rothermundt, der erste bekannte Besitzer des Gemäldes, war ein Unternehmer und renommierter Kunstsammler, der unter anderem durch Tabakhandel in Sankt Petersburg zu großem Reichtum gekommen war. 1895 hatte er sich in Dresden-Blasewitz zur Ruhe gesetzt. In den repräsentativen Räumen seiner schlossartigen Villa hingen Werke von Édouard Manet, Claude Monet, Paul Cézanne, Edgar Degas, Vincent van Gogh, Max Liebermann, Lovis Corinth, Max Slevogt und anderen mehr. Viele dieser Bilder sind durch zeitgenössische Fotografien dokumentiert, allerdings zeigt keine der Raumaufnahmen das Bildnis einer Dame mit Zigarette von Oskar Zwintscher, das einzige nachgewiesene Werk des Künstlers in Rothermundts Besitz. Quellen belegen, dass sich das Gemälde von 1910 bis 1916 in dieser Dresdner Sammlung befand. Doch könnte es auch schon früher dorthin gelangt und ebenso länger dort verblieben sein – genauere Angaben dazu fehlen. Adolf Rothermundt starb im Dezember 1930. Schon in den Jahren zuvor hatte er seine kostbare Sammlung aus wirtschaftlichen Gründen sukzessive vollständig veräußern müssen, so vielleicht auch das Gemälde Zwintschers.

Die Spuren der rätselhaften Dame verlieren sich zunächst nach 1916. Zu einem unbestimmten Zeitpunkt kam das Gemälde in die Privatsammlung des Bautzner Unternehmers Rudolf Weigang, Neffe und Nachfolger Otto Weigangs, der gemeinsam mit seinem Bruder Eduard zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Chromolithographische Kunstanstalt und Großdruckerei besaß und zu den wichtigsten Förderern

des Museums in Bautzen gehörte. 1906 hatte Otto Weigang dem Museum nicht nur die Mittel für einen Neubau, sondern auch 200 Kunstwerke gestiftet, darunter Malerei und Skulptur des Jugendstils, etwa von Hans Unger, Sascha Schneider, August Schreitmüller und Max Klinger. Rudolf Weigang stand also bereits in der Tradition eines leidenschaftlichen Kunstsammlers.

Er selbst wohnte seit 1903 in einem modernen, von Alvin Anger erbauten Stadtpalais in Bautzen. 1916 erwarb er jedoch eine Villa in Dresden, Bautzner Landstraße 44, die er zunächst als Nebenwohnsitz nutzte. Um 1928/30 zog er endgültig in die ehemalige Residenzstadt. Und in jener Dresdner Villa hing 1943 – belegt durch eine Raumaufnahme – Zwintschers Bildnis einer Dame mit Zigarette. Ob Weigang das Gemälde eventuell schon 1916 von Rothermundt übernommen hatte oder ob davor noch ein weiterer Besitzerwechsel stattgefunden hat, ob es Dresden zwischenzeitlich verlassen hatte oder nicht, ist unbekannt.3

Als die Familie Weigang 1945 aus Dresden floh, ließ sie ihre Kunstsammlung zurück. Die Dresdner Stadtverwaltung überwies sie 1948 zusammen mit anderen Objekten aus dem Besitz der Familie an die Staatlichen Kunstsammlungen. Damit kam das Gemälde mit der geheimnisvollen Raucherin – wenn auch unrechtmäßig – erstmals in eine Museumssammlung. Als 2014 der Besitz der Weigangs an die Erben restituiert wurde, zeigten diese sich offen dafür, dass etliche der zurückgegebenen Kunstwerke für die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden erworben werden konnten. Unter den Ankäufen befanden sich auch zwei Ölgemälde Zwintschers aus dem Jahr 1904: ein spukhaft finsteres Landschaftsbild mit dem Titel Weidenbäume bei Nacht |Abb. 18| sowie das meisterhaft gemalte Porträt jener unbekannten rauchenden Frau, das schon vorher im Klingersaal des Albertinum ausgestellt |Abb. 2| und längst zu einem Aushängeschild der Sammlung avanciert war.

Die genauen Besitzverhältnisse in den ersten Jahren nach seiner Entstehung liegen bei diesem außergewöhnlichen Gemälde also ebenso im Dunklen wie seine Entstehungsgeschichte und die Identität der Dargestellten. Der Blick auf den Maler Oskar Zwintscher als Porträtisten wird aber hilfreich sein, einige der vielen weiteren Fragen um das Bildnis einer Dame mit Zigarette zu beantworten.

Abb. 2 Blick in den Klingersaal im Dresdner Albertinum mit Oskar Zwintschers Bildnis einer Dame mit Zigarette

Prélude: eine geheimnisvolle Raucherin

Abb. 3 Oskar Zwintscher, Selbstbildnis, 1900, Bremen, Kunsthalle

Oskar Zwintscher als Bildnismaler

Oskar Zwintschers Bilder gehören zu denen, an die man sich noch lange erinnert, während Dutzende von anderen in uns kaum den Tag überdauern, an dem sie uns vielleicht Freude bereiten.«4 So würdigte der Kunstkritiker Paul Schumann 1904 das Werk des sächsischen Malers. Und Franz Servaes prophezeite im selben Jahr: »Wir glauben uns nicht zu täuschen, wenn wir in diesem Maler einen wahrhaft großen Porträtisten begrüßen.«5

Geboren am 2. Mai 1870 in Leipzig, wuchs Zwintscher in einem musikalisch geprägten Elternhaus auf. Er studierte erst in Leipzig, dann an der Kunstakademie in Dresden und lebte ab 1892 im nahegelegenen Meißen, wo er seine spätere Frau Adele Ebelt kennenlernte. Im Zuge seiner Ernennung zum Professor an der Dresdner Kunstakademie 1904 kehrte er mit Adele nach Dresden zurück. Doch führten Zwintscher zahlreiche Reisen auch außerhalb Sachsens, unter anderem nach Wien, Berlin und München, wo er später immer wieder an bedeutenden Ausstellungen beteiligt war, ebenso wie in Bremen, Venedig und anderen Städten. Er starb 1916 auf der Höhe seines Erfolges an den Folgen einer Influenza-Erkrankung.6

Vor allem als Bildnismaler erlangte Zwintscher nach 1900 weit über die Landesgrenzen hinaus hohe Wertschätzung. Die ersten beiden Verkäufe seiner Werke an ein Museum waren Porträts: sein markantes Selbstbildnis aus dem Jahr 1900 |Abb. 3|, das 1902 für die Kunsthalle Bremen angekauft wurde, sowie das lebensgroße Ganzfigurenporträt seiner Frau Adele von 1902 |Abb. 4|, das 1903/04 für die Dresdner Gemäldegalerie erworben wurde. Zu den zahlreichen Porträts kamen vor allem noch Landschaften hinzu, außerdem Figurenbilder, die häufig symbolistische Bezüge haben wie Knabe und Lilie von 1904 |Abb. 31| Der Schwerpunkt seines Schaffens aber ist eindeutig: Zwintscher

Abb. 4 Oskar Zwintscher, Bildnis der Gattin des Künstlers, 1902, Albertinum Dresden

malte überaus viele Porträts seiner Frau, konterfeite Freunde, Kollegen und Verwandte sowie Schauspieler und andere Personen des öffentlichen Lebens.

Wiederholt spiegelt sich in den zeitgenössischen Quellen das besondere Ansehen Zwintschers als Porträtist. Er stehe, so konnte man in der Wiener Sonn- und Montags-Zeitung am 19. Februar 1906 lesen, »heute in der vordersten Reihe der Bildniskünstler. Die ungemein feine, farbige Behandlung, die stilisierende, hie und da etwas mystische Auffassung des inneren Lebens der von ihm dargestellten Persönlichkeiten geben seinen Bildern eine ganz eigenartige persönliche Note, die uns unwillkürlich in Bann nimmt. Er liebt die schönen Frauen und den berauschenden Duft seltener Blumen. […] Frauen, die mit stillen Märchenaugen in die Ferne blicken, als lauschten sie Rätseln der Zukunft, süße, innige Bilder voll heimlicher Liebe und Sehnsucht.«

Abb. 5 Oskar Zwintscher, Mädchen mit Rosen, 1901, verschollen

Große Aufmerksamkeit erregten bei den Betrachtenden die oft eindringlichen Blicke der Dargestellten, ihre Augen als vermeintliche Fenster zum Innersten des Menschen: Der Kunstkritiker Franz Servaes, der in jenem Jahr selbst von Zwintscher porträtiert worden war, schrieb am 3. Juni 1904 über das Gemälde Mädchen in Rosen |Abb. 5|: »Ein blondes, scheues, rehäugiges kleines Mädchen auf Goldgrund mit einer entzückenden Beigabe stilisiert behandelter Blumen gehört zum Feinsten und Wahrsten an moderner Seelenmalerei.«7

Ebenso lobte die prominente Kritikerin und Klimt-Fürsprecherin Berta Zuckerkandl anlässlich einer Ausstellung im Wiener Hagenbund 1906: »Die Frauen mit den stillen, weitblickenden Augen, […] mit der wartenden, in die Zukunft lauschenden Haltung, der doch so viel Vergangenheitsgedanken innewohnen, sind Typen einer leise mystisch empfindenden Innenwelt. Vielleicht haben Zwintschers Gestalten eine entfernte Aehnlichkeit mit dem Idealtypus des Brüsseler

Abb. 16 Oskar Zwintscher, Bildnis Adele Zwintscher – Interieur mit schwarzen Kacheln, 1906, Düsseldorf, Kunstpalast

Symphonien in Schwarz –monochrome Malkunst

Die intensive Auseinandersetzung Oskar Zwintschers mit der Farbe Schwarz, die das Bildnis einer Dame mit Zigarette prägt, kommt nicht von Ungefähr. Im europäischen Symbolismus, zu dessen wichtigen Vertretern der sächsische Maler zu zählen ist, konnten die dunklen Töne entsprechende gedankliche Inhalte versinnbildlichen – Bilder von Tod und Verderben, Sünde und Dämonie, aber auch Trauer, Gram und Weltschmerz waren ohne Schwarz nicht adäquat auszudrücken.13 Bereits die »pinturas negras« von Goya hatten in die tiefsten Abgründe menschlicher Existenz blicken lassen.

In den maltechnischen Schriften des 19. Jahrhunderts werden die verschiedenen Möglichkeiten, einen Eindruck von Schwärze zu erzeugen, thematisiert: »Beschrieben sind sowohl unterschiedliche organische Pigmente wie Bein- und Pflanzenschwarz, als auch Pigmentmischungen und Überlagerungen von schwarzen und bunten Lasuren, um Farbvariationen zu bewirken. Auch mit Farbschichten ohne jeglichen Anteil von schwarzen Pigmenten konnte ein optisches Schwarz erzeugt werden, angeblich eines der ›tiefsten und dunkelsten‹«.14 Bis in die heutige Zeit reicht das Ringen um das schwärzeste Schwarz. Erst vor wenigen Jahren gab es ein heißes Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den Farben »Vantablack« und »Musou Black«, die beide über 99 Prozent des einfallenden Lichts absorbieren sollen. Der Pigmentpurist Anish Kapoor hatte dabei – in Tradition des »International Klein Blue« von Yves Klein – seine Finger im Spiel: 2015/16 erwarb er das Vorrecht des künstlerischen Gebrauchs des Vantablack exklusiv für sich.15 Oskar Zwintscher war aber beileibe kein reiner Schwarzmaler. Viele seiner Bilder strahlen nur so vor Lebensfreude, wenn die Wiesen und Wälder einer Frühlingslandschaft verschiedenste Facetten der Farbe Grün vor Augen führen, die Dächer seiner zeitweiligen

Abb. 17 Oskar Zwintscher, Detail aus Bildnis einer Dame mit Zigarette, 1904, Dresden, Albertinum

Heimatstadt Meißen zu changierend roten Farbflächen verschmelzen oder der Himmel über dem Elbtal in einem geradezu magisch leuchtenden Blau den Sommer verheißt. Doch der Künstler experimentierte in einer ganzen Reihe seiner Gemälde mit schwarzen Farbwerten. In dem bereits erwähnten Porträt seines Kollegen und Freundes Sascha Schneider lässt er das streng frontal fokussierte Antlitz aus einem fast einheitlich dunklen Grund hervorleuchten |Abb. 13|. Und mit den Bildnissen seiner Frau Adele von 1901 (Städtische Galerie im

Lenbachhaus, München) und von 1906 |Abb. 16| sowie mit seinem Porträt der Bildhauerin Clara Rilke-Westhoff von 1902 |Abb. 9| schuf Zwintscher eindrucksvolle Variationen des Themas »Dame in Schwarz«.

Doch zurück zur Dame mit Zigarette. Der Stuhl, auf dem die unbekannte Frau mit übereinander geschlagenen Beinen sitzt, ist nicht zu erkennen. Ebenso ist die Raumsituation völlig unklar. Im Hintergrund ist lediglich ein teils Falten bildender schwarzer Stoff zu sehen, vermutlich ein Vorhang, vielleicht aber auch eine Zeltbahn. Auf den Stoff sind Streifen aus sogenanntem Ausbrenner-Samt appliziert. Zur Rechten der Porträtierten befindet sich im Stoff eine Öse, aus der eine aus Quasten bestehende Kordel herabhängt, die zum Drapieren des Textils dienen könnte |Abb. 17|. Ob es sich bei dem schwarzen Stoff um einen Bühnenvorhang handelt, ein Inszenierungselement eines Fotoateliers, um eine Portiere oder um ein dekoratives Raumelement, das einen Durchgang kaschiert, bleibt offen. Sicher ist, dass Zwintscher in dem 1910 entstandenen Gemälde Zwischen Schmuck und Lied (Museum der bildenden Künste Leipzig) einen ganz ähnlich gemusterten, eventuell sogar denselben schwarzen Stoff dargestellt hat. Dort trägt ein alter Mönch eine Kutte, deren Samtbordüren in einem ebenso geometrischen Verlauf appliziert sind wie im Hintergrund der Dame mit Zigarette. Es könnte sich also letztendlich um ein Atelierrequisit des Malers gehandelt haben, das dieser jedoch mit Sicherheit gezielt eingesetzt hat, um der Dargestellten eine geheimnisvolle Aura zu verleihen.

Um 1900 war tiefes Schwarz nicht ohne Grund eine bevorzugte Farbe von Bohèmiens, Anhängern des l’art pour l’art und verwandter Geisteshaltungen jenseits bürgerlicher Konventionen. Wassily Kandinsky schrieb 1912 in seiner programmatischen Publikation Über das Geistige in der Kunst: »Und wie ein Nichts ohne Möglichkeit, wie ein totes Nichts nach dem Erlöschen der Sonne, wie ein ewiges Schweigen ohne Zukunft und Hoffnung klingt innerlich das Schwarz.«16

In einer Persiflage auf die Stimmungsfarbigkeit des Fin de Siècle |Abb. 18| – erschienen unter dem Titel »Die Decadenten (Eine Caféhausstudie)« in der Münchner Zeitschrift Jugend von 1898, Nr. 42 –kommen zwei das damalige Modegetränk Absinth genießende Herren über die Farbe Schwarz ins Gespräch:

Abb. 38 Theodor Hilsdorf, Carry Brachvogel, undatiert, München, Stadtmuseum

Zigarette

Bewegte Frauen: der Chic des Rauchens

Gewidmet sei das erste der Sonette, In dem ich völlig mich der Form bemeistert, Der Zauberin, die mich dazu begeistert: Der duftenden Havannazigarette.

Nicht mühsam ward zusammen es gekleistert. Es floss, ein Strom im selbstgegrabnen Bette, Indessen ich des Rauches Wolkenkette Gen Himmel blies, vor Wonne halb entgeistert.

Mir zaubert, Feine, deines Dufts Narkose Des Traumes Blüte ins entlaubte Leben, In meinen Herbst die Nachtigall, die Rose.

Wenn deine zarten Wölkchen mich umschweben, Fühl ich versöhnter mich mit meinem Lose Und lass mit ihnen sich den Geist erheben.

Diese Hommage an die Zigarette schrieb die Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach vermutlich vor 1875, zu einer Zeit, in der die Zigarette ihren Siegeszug noch nicht angetreten hatte. Damals waren Pfeife und Zigarre der Zigarette noch weit überlegen und rauchende Frauen eine Ausnahme. Bekannte Raucherinnen waren die Schriftstellerinnen George Sand und Louise Aston, die Hochstaplerin und Tänzerin Lola Montez sowie die österreichische Kaiserin Elisabeth, besser unter dem Namen Sisi bekannt. Von Louise Aston gibt es ein

wahrscheinlich 1847 von dem Porträtisten Johann Baptist Reiter in Wien gemaltes Bildnis, Die Emanzipierte, das sie mit brennender Zigarette zeigt |Abb. 39|. Von Lola Montez sind mehrere Fotografien erhalten, die sie rauchend zeigen.

Im 19. Jahrhundert waren Zigaretten noch in Tabak oder ein dunkles Papier eingewickelt. Sie waren deutlich kleiner als eine Zigarre und ähnelten eher einem Zigarillo. Wann genau die Zigarette erfun-

Abb. 39 Johann Baptist Reiter, Die Emanzipierte (Louise Aston), um 1847, Linz, Oberösterreichisches Landesmuseum

Abb. 40 John Singer Sargent, Sitzende Algerierin, um 1890, Paris, Petit Palais

den wurde, ist nicht bis ins Detail geklärt. Mitte des 19. Jahrhunderts hat es sie auf jeden Fall schon gegeben. In Deutschland wurden die ersten Zigaretten in den 1860er-Jahren hergestellt – vor allem auch in Dresden: der Stadt, in der Oskar Zwintscher lebte, als er sein Bildnis einer Dame mit Zigarette malte.

Die Emanzipierte von Reiter ist bei Weitem nicht die einzige Darstellung einer rauchenden Frau aus dem 19. Jahrhundert. Die meisten weiblichen Rauchenden, die in der Malerei zu finden sind, waren allerdings weder Schriftstellerinnen noch emanzipiert wie Louise Aston, sondern Frauen, die außerhalb der bürgerlichen Norm standen, entweder weil man sie als »Exotinnen« ansah oder weil sie zu den Trinkerinnen, den Prostituierten oder den Halbweltdamen gehörten. So malte Édouard Manet 1862 ein Bild mit dem Titel Zigeunerin mit Zigarette (Princeton, Art Museum).36 Bis heute gibt es die dazu passende, allerdings erst seit 1910 verbreitete französische Zigaretten-

Frauen: der Chic des Rauchens

Abb. 41 Nikolaus Gysis, Plakat für Orientzigaretten der Firma Pan. C. Papastathis, vor 1897, München

marke mit dem Namen »Gitanes«. 1878 malte Manet dann das Bild Die Pflaume (Washington, National Gallery), auf dem eine junge Frau in Gedanken versunken in einem Lokal vor einem Glas mit einer in Schnaps getauchten Pflaume sitzt, eine noch nicht angezündete Zigarette in der Hand. Um 1880 fügte der US-Amerikaner John Singer Sargent diesem Reigen rauchender Frauen noch die Zeichnung einer Sitzenden Algerierin |Abb. 40| hinzu. Von dem in einen Schleier gehüllten Körper der Frau sieht man nur den Kopf, die Füße und die eine Zigarette haltende Hand. 1888 bestätigte dann Jean-Jules Antoine Lecomte du Noüy sämtliche Vorurteile über rauchende Frauen mit seinem Bild Die weiße Sklavin (Nantes, Musée des Beaux-Arts). Es zeigt eine Frau, die nur notdürftig von einem weißen Tuch verhüllt ist und den Rauch in Kringeln ausbläst. Das war ein absolutes Sakrileg.

Die »orientalisch« anmutende rauchende Frau wurde zur gleichen Zeit auch in der Zigarettenwerbung eingesetzt. Vorbilder waren dabei häufig bekannte Werke der europäischen Kunst, wie etwa Darstellungen der Venus oder einer Odaliske.37 Beispielhaft hierfür ist ein ägyptisierendes Plakat für Orientzigaretten der Firma Papastathis in München von 1897, das Nikolaus Gysis entworfen hatte |Abb. 41|. Andere Werbung war dem Jugendstil verpflichtet, wie Plakate für »Laferme«-Zigaretten von 1905 |Abb. 42| oder für JOB-Zigarettenpapier von 1896 von Jeanne Louise Marie Euphrasie Atché |Abb. 43|. Atché entwarf mehrere solcher Plakate, ebenso ihr Malerkollege Alfons Mucha zwischen 1896 und 1904.

Ganz anders stellt sich demgegenüber die Frau, eine Zigarette rauchend |Abb. 44| dar, die Henri de Toulouse-Lautrec 1890 in Paris malte und die zu einer Reihe gehört, in der er Arbeiterinnen in ihren Wohnungen in seiner Nachbarschaft auf dem Montmartre darstellte. Kein Absinth, kein Lokal, sondern eine einfache Behausung mit einer sitzenden Frau, die eine brennende Zigarette in ihren Fingern hält: ein Moment der Entspannung und das kleine bisschen Luxus einer Ruhepause.

Diese Darstellung nahm sich wohl Pablo Picasso zum Vorbild, der 1901 ebenfalls eine Frau mit Zigarette (Barnes Collection, Merion/Pasadena) in einem Interieur malte. Die sitzende Halbfigur nimmt in der Höhe die gesamte Bildfläche ein. Frontal aus dem Bild schauend hat sie die Arme verschränkt und hält ebenfalls eine brennende Zigarette

Frauen: der Chic des Rauchens

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