Tischbein im Kontext.
Ausstattungsprogramme für die Landgrafen von Hessen-Kassel
Der Künstler Johann Heinrich Tischbein d. Ä. (1722–1789) spielte für Kassel eine herausragende Rolle. Seine mehrere Dekaden umfassende Tätigkeit als Hofmaler der Landgrafen von Hessen-Kassel führte dazu, dass viele seiner großartigen Werke bis heute in den historischen Bauten und verschiedenen Sammlungen vorhanden sind. Neben der Ausführung von Portraits von Mitgliedern der landgräflichen Familie, verschiedener Adliger und Bürger, waren es die umfangreichen Ausstattungsarbeiten, welche zu seinem künstlerischen Spektrum gehörten. Programmatische malerische Ausstattung war ein beliebtes Mittel der fürstlichen Repräsentation und versuchte verschiedene Inhalte zu vermitteln. Diese konnten von der Inszenierung eines Lustschlosses wie Wilhelmsthal bis zur dezidierten Glorifizierung eines Herrschers reichen und sowohl mehrere Objekte als auch großformatige Gemälde umfassen. Die Wiederentdeckung und Restaurierung der Deckengemälde Apoll und die Künste , Minerva und die Wissenschaften sowie die Allegorie auf die Regierung Landgraf Friedrichs II. aus dem früheren Kasseler Residenzschloss gaben den Anlass, die Tätigkeit des Künstlers in diesem Bereich unter neuen Forschungsperspektiven zu beleuchten.
Tischbeins Talent als Ausstattungsmaler hebt bereits Eberhard Preime besonders hervor, indem er formuliert: »Der Mann hatte außer seinem Wesen noch einen Beruf: er war Decorateur, und war es freilich mit Meisterschaft wie kaum ein anderer.«1 Diese Aussage unterscheidet sich in der Wertung von der anderer Autoren, ganz besonders der Hermann Bahlmanns, welcher in der Ausstattungstätigkeit geradezu ein Manko des eigentlich so begabten Malers Tischbein erkennt. 2 In den 1990er Jahren wurden die einzelnen Werke der Programme auch in spezifisch thematischen Beiträgen bearbeitet, wie dies bei Anna-Charlotte Flohr oder Petra Tiegel-Hertfelder der Fall ist, die sich jeweils der Portrait- sowie der Historienmalerei des Künstlers widmen. 3 Gerade bei Flohr tritt dadurch die Perspektive auf den ursprünglichen Kontext, beispielsweise der Schönheitengalerie, teils zugunsten des Anspruchs einer vollständigen Auflistung der Arbeiten in den Hintergrund. Tischbeins Talent, in größeren Kontexten programmatisch zu denken, war für den Maler aber in vielerlei Hinsicht von besonderer Bedeutung. Denn seine langjährige Anstellung am landgräflichen Hof von Kassel verlangte eben genau
diese Fähigkeit, nicht nur an das einzelne Bild zu denken, sondern das höfische Gesamtkonzept im Blick zu behalten.
So werden im Folgenden die Tätigkeit Tischbeins im Zusammenhang höfischer Ausstattungsarbeiten und speziell die Deckengemälde aus dem Residenzschloss im Fokus stehen. Das Rokokoschloss Wilhelmsthal liefert hier den Einstieg zur Verortung Tischbeins im Kontext der Landgrafschaft von Hessen-Kassel und stellt so seine ersten Arbeiten zur Ausstattung eines fürstlichen Gebäudes vor. Diese Untersuchung bildet die Grundlage zur intensiven Auseinandersetzung mit den allegorischen Deckengemälden des Künstlers. Ihre Entstehungsgeschichte sowie die Wiedergewinnung und Restaurierung sollen dabei thematisiert werden. Als eine Art Coda und Zeugnis der Wertschätzung, die Tischbein vom Kasseler Hof entgegengebracht wurde, widmet sich ein letzter Abschnitt der postumen Memoria, aus deren Anlass – zwar nicht vom Künstler selbst, aber mit seinen Werken – Ausstattungen im landgräflichen Kontext erfolgten.
Der »Kasseler Tischbein«
Johann Heinrich Tischbein d. Ä. war Mitglied einer Künstlerfamilie, welche die Kunstlandschaft in Deutschland und darüber hinaus über eine lange Zeit prägte (Abb. 1). Die bemerkenswerte Karriere Tischbeins d. Ä. vom Bäckerssohn in Haina zum gefeierten Hofkünstler in Kassel legte einen wichtigen Grundstein für alle ihm folgenden Generationen.1 Zunächst sollte Johann Heinrich den grundständig handwerklichen Beruf eines Schlossers bei seinem Onkel mütterlicherseits lernen. Da sich aber bereits früh sein künstlerisches Talent herausstellte, war es zumindest das Metier der Tapetenmalerei, in welchem er stattdessen ausgebildet wurde. Nebenher bereits vom Kasseler Galerieintendanten Johann Georg von Freese (1701–1775) im Zeichnen unterrichtet, konnte er 1743 schließlich dank der Unterstützung durch Anton Heinrich Friedrich Graf von Stadion (1691-1768) eine mehrjährige Studienreise nach Frankreich und Italien antreten, die ihm als Künstler neue Perspektiven und auch neue Türen öffnen sollte.
Zwar begab sich Tischbein während seiner Schaffenszeit immer wieder auf kleinere Reisen innerhalb Deutschlands, doch zeichnete sich seine Karriere nach der Studienzeit im Ausland vor allem durch die beständige Anstellung am Kasseler Hof aus. Anders als Künstler, die von Hof zu Hof zogen und dort für kürzere oder etwas längere Zeit Aufträge erhielten, war Tischbein für drei aufeinanderfolgende Generationen der Landgrafen von Hessen-Kassel tätig: für Wilhelm VIII. (1682–1760), Friedrich II.
(1720–1785) sowie Wilhelm IX. (1743–1821), welcher mit Verleihung der Kurwürde ab 1803 als Wilhelm I. regierte (Abb. 2–4). Die längste Zeit war Tischbein für Landgraf Friedrich II. tätig, wobei dessen Vater Wilhelm VIII. besondere Bedeutung zukommt, da er die Berufung Tischbeins zum Hofmaler aussprach. Wie Karl-Hermann Wegner in einem Beitrag über Friedrichs aufgeklärte Herrschaft betont, umgab sich der Landgraf mit einem besonders konstanten Personenkreis, so dass »dieselben Namen teilweise von der Geburt des Fürsten bis zum Tod seinen Lebensweg begleiten«. 5 So steht auch die Übernahme des Hofmalers und die Weiterbeschäftigung bis zum eigenen Tod im Zeichen dieser beständigen Personalpolitik. Ebenso hielt Friedrich übrigens am Hofbildhauer Johann August Nahl d. Ä. (1710–1781) fest. Gerade Tischbein erfüllte in vielerlei Hinsicht eben jene Ideale, denen auch Friedrich verpflichtet war. Der künstlerische Stil, wenngleich häufig mit Rokoko-Elementen verbunden, ist immer wieder von klassizistischer Formsprache inspiriert und steht im kunsttheoretischen Verständnis des Malers und Akademieprofessors. Aber auch über die Kunst hinaus war Tischbein wissenschaftlich interessiert, wovon beispielsweise seine Mitgliedschaft in der Altertümergesellschaft zeugt. Diese wurde 1777 von Friedrich II. gegründet und verzeichnete auch den Oberhofbaumeister Simon Louis du Ry (1726–1799) oder den Gelehrten Johann Wilhelm Christian Gustav Casparson (1729–1802) als Mitglieder. Diese Verbundenheit des Künstlers mit den wichtigen institutionellen Neugründungen unter Friedrich zeigt besonders deutlich, wie eng Tischbein am Hof und dessen Wirkungsfeld integriert war. Interessant und bezeichnend zugleich ist in diesem Kontext auch das Bildnis der landgräflichen Familie, welches Tischbein 1754 malte (Abb. 5). Das ohnehin mit einer spannenden Geschichte verbundene Gemälde zeigt nämlich neben der Familie auch Tischbein selbst, der Landgräfin Marie ein Portrait ihres Schwiegervaters Wilhelm VIII. präsentiert. 6 So stellt der Maler sich als Teil der höfischen Gemeinschaft und ganz nah an der fürstlichen Kernfamilie dar, was ihm ohne die notwendige Wertschätzung von Seiten des Landgrafen niemals möglich gewesen wäre.
Wilhelm IX. hingegen scheint Tischbein in den letzten Jahren mehr aus Ehrgefühl, denn aus Überzeugung weiter beschäftigt zu haben; er fühlte sich der neuen Künstlergeneration enger verbunden. Seine Wahl für einen neuen Hofmaler fiel auf Wilhelm Böttner, der wiederum am Collegium Carolinum bei Tischbein gelernt und wie auch sein Lehrer sein Können in Frankreich und Italien weitergebildet hatte. 7 Die »Tischbein-Schule« – sofern man von einer solchen sprechen kann – war also dennoch tonangebend im Kasseler Raum, auch über die Lebzeiten
Johann Heinrichs hinaus. Wilhelms Wertschätzung für Tischbein und seine Verdienste zeigt sich noch einmal in der Einrichtung einer Tischbein-Galerie im Weißensteinflügel, welche später noch Erwähnung finden soll.
Der Start als Hofmaler: Tischbein in Wilhelmsthal
»Er wird Ihm aber dabey bedeuten, daß Ich seinem Erbiethen nach jährl. etliche portraits von schönen Gesichtern von Ihm erwarte, um nach und nach ein Cabinet daraus zu formieren.« 8
Mit diesen Worten bestätigte Landgraf Wilhelm VIII. 1753 die Ernennung
Johann Heinrich Tischbeins d. Ä. zum Hofmaler in Kassel. Der Aufbau einer Galerie mit ›Schönheiten‹ war dem Fürsten offensichtlich ein wichtiges Anliegen, für welches er in Tischbein den adäquaten Künstler zur Umsetzung gefunden hatte. Wilhelm - zu dieser Zeit auf der Suche nach einem neuen Hofmaler - und Tischbein begegneten einander erstmals im Kurort Schlangenbad bei Wiesbaden, wohin der Maler auf Empfehlung des Grafen Stadion, seines Unterstützers und Finanziers der Studienreisen durch Europa, beordert wurde. Das Portrait der Therese Sophie von Spaur, geb. von Stadion, soll den Anstoß für das Interesse des Landgrafen an Tischbein gegeben haben (Abb. 6). In der Biographie des Künstlers, verfasst von Joseph Friedrich Engelschall (1739–1797), wird die Episode wie folgt beschrieben:
»Tischbein musste also von Mainz herüber kommen, und das Bildnis der jungen Gräfin STADION, nachherigen Gräfin VON SPAUR, welches er eben in der Arbeit hatte, mitbringen. (…) Das noch nicht ganz fertige Bildnis der Gräfin Stadion wurde dem Landgrafen eines Morgens frühe gebracht. Er lag noch im Bette; als er aber das Gemälde sah, rief er aus: ›Nein, dazu muss ich aufstehen!‹ Er setzte sich vor dasselbe hin, und liess den Künstler hereinrufen. ›Hat Er das gemalet?‹ fragte der Landgraf sogleich. Als TISCHBEIN es bejahte, fuhr er mit einem zweifelhaften Kopfschütteln fort: ›das glaub ich nicht, so was kann ein Deutscher nicht machen‹.« 9
Dass es sich bei dem vorzüglichen Künstler zudem um einen hessischen Landsmann handelte, versetzte den Landgrafen natürlich in noch größere Verzückung, und er ernannte ihn daraufhin zum Hofmaler. Besonders deutlich wird in dieser Episode die Betonung Tischbeins »undeutscher« Malweise und Wilhelms offensichtlicher Wunsch nach eben einem solchen Künstler. Das aparte Bildnis der Tochter des Grafen von Stadion, welches französische Portraitformeln aufgreift und darüber hinaus
Hessen Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister
einen doch so lebendigen und individuellen Eindruck vermittelt, wird den Landgrafen besonders zu seiner Entscheidung motiviert haben. So wird in diesem Zusammenhang der erste Auftrag zur Gestaltung der weiblichen Bildnisgalerie geradezu zur logischen Konsequenz. Besagtes Bildnis wurde später in die Galerie im Schloss Wilhelmsthal aufgenommen (Abb. 7).
Das Rokokoschloss Wilhelmsthal in Calden bei Kassel wurde 1747–61 im Auftrag von Wilhelm VIII. erbaut, nachdem dieser den Vorgängerbau von seiner 1743 verstorbenen Ehefrau geerbt hatte.10 In den Neubau wurde
ein umfangreiches Programm eingegliedert, für welches Johann Heinrich Tischbein d. Ä. als Hofmaler maßgeblich verantwortlich war. Die imposante Kunstausstattung entspricht ganz dem Ruf des Landgrafen, der durch Bauvorhaben sowie die Beauftragung und den Erwerb von Kunstwerken maßgeblich für Kassels kulturellen Rang verantwortlich war. Nach dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763), während welchem Wilhelm 1760 im Exil in Rinteln verstarb, wurde die weitere Ausstattung unter seinem Sohn Friedrich II. fortgeführt. Das eindrucksvolle Zusammenspiel von Gartenanlage, Schlossbau und dessen dekorativer Ausgestaltung fanden höchsten Zuspruch bei den Besuchenden. So beschrieb beispielsweise Johann Christoph Gottsched (1700-1766), hoher Gelehrter aus Leipzig, den Besuch in Wilhelmsthal als Höhepunkt seines Aufenthaltes in Kassel.11 Der besonderen Qualität des Baus in historischer Perspektive war man sich schon im 19. Jahrhundert bewusst. So schreibt beispielsweise Hermann Knackfuß: »(…) ein wahres Schatzkästchen des Rokoko, ist daß Schloß Wilhelmsthal bei Kassel.«12 Auch heute beeindruckt die prunkvolle Ausstattung und überzeugt im Zusammenspiel der einzelnen Medien, die über die gemeinsame Formensprache des Rokoko verbunden sind. Der junge Tischbein konnte hier gerade aufgrund seiner langjährigen Ausbildung in Paris beim späteren Premier Peintre du Roi Carle van Loo (1705-1765) mit seinem Können brillieren.
Die Schönheitengalerie
Mit der Einrichtung einer weiblichen Bildnisgalerie im Lustschloss orientierte sich Wilhelm an einer bestehenden europäischen Tradition. Die Idee und Konzeption einer Galerie von Schönheiten lässt sich weit zurückverfolgen und entwickelte sich im Rahmen des Diskurses um Schönheit und Ideal vor allem im 15. und 16. Jahrhundert in Italien. So verwundert es nicht, dass die erste Schönheitengalerie wohl vom Mailänder Herzog Galeazzo Maria Sforza im Jahr 1473 beauftragt wurde. Er wünschte »Bildnisse mehrerer Mädchen eines Herrschaftsgebiets« dargestellt zu sehen, deren Jugend und Schönheit vor allem betont werden sollten.13 Bereits für den barocken Schlossbau gehörten die weiblichen Bildnisgalerien zum europäischen Kanon der Ausstattung, konnten sich aber in Format und Technik stark unterscheiden.14 So gab es derartige Sammlungen ebenfalls im Miniaturenformat, die einen intimeren Eindruck suggerierten als die imposanten Gemälde mit ihren dekorativen Rahmen in Wilhelmsthal. Insbesondere die höfische Kultur im Rokoko entwickelte das Frauenbildnis zu einer wahren Kunstform, in welcher idealisierte Schönheitstypen mit subtilen Verweisen auf mythologische Vorbilder kombiniert wurden.15
Dieser dezidierte Auftrag einer Galerie weiblicher Bildnisse in Wilhelmsthal wird von Gabriele Baumbach aufgrund des hohen Alters des Landgrafen sowie seines angeblichen Desinteresses am weiblichen Geschlecht als »verwunderlich« bezeichnet.16 Die recht vage Aussage vernachlässigt die Tatsache, dass die Galerie vielmehr als Prestigeprojekt und nicht als persönliches Schauinteresse verstanden werden sollte. Wilhelm reihte sich in die Tradition europäischer Höfe ein, die er mit Tischbein als jungem ambitionierten Hofmaler vielleicht sogar noch zu übertrumpfen hoffte. Tischbein selbst inszenierte sich bewusst als europäischen Maler. Dies beweist unter anderem sein Selbstbildnis von ca. 1752, in welchem er seine Lehrzeit in Italien und Frankreich in Szene setzt (Abb. 1). Die Zeichenmappe mit blauem Papier liegt auf seinem Schoss, die Zeichenutensilien hält er in den Händen. Auf der Leinwand im Hintergrund sehen die Betrachtenden eine Vorzeichnung als Vorbereitung auf ein in Entstehung begriffenes Gemälde. Er rezipiert hier verschiedenartig seine kurz zuvor gewonnenen Erfahrungen: Die Pose
orientiert sich an einem Bildnis Carle van Loos (Abb. 8), wohingegen die Zeichenutensilien auf die venezianische Zeichenkunst und seine Zeit bei Giovanni Battista Piazzetta verweisen.17 So setzt sich der junge Künstler als stolzer Maler in Szene, der mit modernem Kunstverständnis vertraut und sich der aktuellen Diskurse bewusst ist. Ein Selbstverständnis, welches Landgraf Wilhelm sicher imponierte und ihn veranlasste – laut Engelschall – , auch Zugeständnisse in Kauf zu nehmen, um gerade diesen Künstler für sich zu gewinnen.18
Dennoch wurde die malerische Ausstattung der Schönheitengalerie in Wilhelmsthal in der kunsthistorischen Forschung sehr unterschiedlich bewertet. Bahlmann ist besonders scharf in der Abwertung der Bilder, die seiner Meinung nach, anders als die Bildnisse Tischbeins im Allgemeinen, »diesen Ruhm in keiner Weise« verdienten.19 Farbgebung und Stoffdarstellung seien zwar qualitätsvoll, die Damen hingegen monoton und geradezu leblos gestaltet. Einzig die Bildnisse der Gräfin Stadion sowie der Landgräfin Marie wichen davon ab und zeigten die künstlerischen Stärken des Malers, wohingegen die anderen »dekorative[r] Wandschmuck« seien. 20 Bahlmann spricht ihnen sogar den Status als »Gemälde« gänzlich ab. Differenzierter, oder vielleicht auch praktischer, bewertet Knackfuß bereits 1888 die beiden Galerien: »Wieder in anderen Zimmern werden sämtliche Wandfüllungen durch Bildnisse eingenommen, zu denen in den schmalen Räumen über den Thüren Bildchen mit Putten kommen. In dem einen dieser Zimmer, der sogenannten Schönheitsgalerie, (…) in dem anderen, das nur Bildnisse von Prinzessinnen enthält (…) So oberflächlich aber auch diese Bildnisse gemacht sind, sie tragen doch nicht wenig dazu bei, uns in den Geist der Rokokozeit zurückzuversetzen.« 21 Aber auch hier wird ihre Funktion im Sinne eines einheitlichen Gestaltungskonzepts deutlich. Jüngere Beiträge fokussieren ebenso den Kontext der Ausstattung, wobei die qualitative Bewertung deutlich zurückgenommen wird. Gabriele Baumbach zum Beispiel thematisiert die Schönheiten- und Ahnengalerie im Rahmen fürstlicher Repräsentationsformen im weiblichen Bildnis. 22 Baumbach wie auch Fabian Fröhlich verweisen zudem auf die Kompensationsfunktion der Galerie, gab es doch am Kasseler Hof zur Zeit Wilhelms aufgrund des Todes seiner Frau (1743) und der einzigen Tochter (1744) keine erste Dame. 23 Es war seine Schwiegertochter Marie von England, die diese Funktion vornehmlich übernahm. Die herausgehobene Position ihres Portraits im zweiten Vorzimmer, zusammen mit dem Bildnis der Schwägerin Wilhelms, Friederike Charlotte, reflektiert dies. Die beiden Gemälde in größerem Format flankieren die Tür. Maries Bildnis entstand 1754, dem Jahr des Bekanntwerdens der Konversion des Erbprinzen zum
Katholizismus, die zur Trennung von Friedrich und seiner Familie führte. Marie ging mit ihren Kindern nach Hanau. Das Porträt der Prinzessin Friederike Charlotte dürfte etwa um dieselbe Zeit entstanden sein, da sie nach dem Tod ihres Mannes 1755 nach Darmstadt zurückging.
Die insgesamt 28 Gemälde verteilen sich auf das erste und zweite Vorzimmer von Schloss Wilhelmsthal mit jeweils vierzehn Bildnissen. 24 der Bilder haben nahezu die gleichen Maße, lediglich das Portrait der Auguste von Spiegel weicht etwas von der Standardgröße ab. Vier Werke hingegen sind deutlich großformatiger. Hierbei handelt es sich um die oben erwähnten Bildnisse der Landgräfin Marie von Hessen und der Friederike Charlotte sowie diejenigen der Prinzessin Christine von Pfalz- Birkenfeld und der Gräfin Caroline von Nassau-Saarbrücken, die sich alle im zweiten Vorzimmer befinden. Die üppigen Goldrahmen mit Rocaille-Verzierungen wurden vermutlich von Johann August Nahl d. Ä. gefertigt, welcher für die Innenausstattung des Baus verantwortlich war. Vier verschiedene Rahmenserien finden in der Schönheitengalerie Verwendung, die durch die Rahmen der Bilder größeren Formates ergänzt werden. Sie alle zeichnen sich durch verschnörkelte Formen aus, welche mit der goldenen Wandverzierung korrespondieren.
Bis auf vier Ausnahmen sind die Werke von der Hand Tischbeins in den 1750er Jahren entstanden. Bei den Ausnahmen handelt es sich vermutlich um Werke von Georges Desmarées (1697–1776), Antoine Pesne (1683–1757), Pompeo Girolamo Batoni (1708–1787) sowie Johann Georg Ziesenis (1716–1776), wobei nur das letztgenannte Gemälde signiert ist. Dies ist auch für die meisten der Tischbein-Werke der Fall. Flohr schlägt in ihrer Dissertation von 1997 über Tischbein als Portraitmaler den französischen Maler Antoine Pesne beziehungsweise dessen Umkreis als Maler der Darstellung der Prinzessin Amalie Marie, Tochter des Landgrafen Wilhelm VIII., vor (Abb. 9). Daher findet das Gemälde in ihrem Katalog auch keine Berücksichtigung, allerdings fehlt eine dezidierte Begründung ihrer These. 24 Friedrich Bleibaum wiederum schreibt zuvor das Portrait Tischbein zu, 25 wohingegen Rudolf Hallo die Autorenschaft kritisch sieht. Er verweist in seinem Aufsatz zur Vorgeschichte des Schlossbaus von 1930 auf die Auflistung des Portraits der Prinzessin im Inventar von 1749. Dort ist das Gemälde, dessen Beschreibung dem Portrait in Wilhelmsthal entspricht, dem Maler Johann Christoph Hochfeld (tätig 1728–1783) zugeschrieben. 26 Somit wäre das Gemälde bereits zuvor im Besitz des Landgrafen gewesen und in die Galerie mit aufgenommen worden. Dies könnte aufgrund der sich ähnelnden Komposition geschehen sein, oder das Bildnis gab vielleicht sogar Ausschlag
Abb. 9
Johann Heinrich Tischbein d. Ä.(?), Prinzessin
Amalie Marie, Tochter des Landgrafen Wilhelm VIII., 1755–60, Museumslandschaft Hessen Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister
für die Gestaltung der weiteren Gemälde. Im Portraitinventar von 1816 listet Ernst Friedrich Ferdinand Robert das von Hochfeld gemalte Bildnis der Prinzessin (Nr. 20) als vermisst, erwähnt aber an späterer Stelle (Nr. 505) das Bildnis in der Galerie in Wilhelmsthal. 27 Einziger Unterschied in der Beschreibung ist der Blumenkorb, welcher in der Auflistung bei Nr. 20 nicht auftaucht. Da sich Robert allerdings an der Beschreibung von 1749 zu orientieren scheint, lässt sich nicht nachvollziehen, ob der Korb nicht erwähnt wird oder ob er tatsächlich nicht vorhanden war. Handelt es sich um zwei verschiedene Gemälde, so scheint es plausibel, dass der Landgraf Tischbein um ein ähnliches Bildnis seiner verstorbenen Tochter bat, oder Tischbein orientierte sich
bei seiner Ausführung an einem bereits existierenden Gemälde der zur Entstehungszeit bereits Verstorbenen.
Eine weitere Sonderrolle nimmt das Bildnis der Auguste von Spiegel ein (Abb. 10). Bereits durch die Abweichung in den Maßen setzt es sich optisch von den weiteren Werken ab. Eine singuläre Stellung innerhalb des Gesamtbestandes lässt sich ab 1816 nachweisen. Im Portraitinventar wird das Gemälde nicht mit den weiteren der Schönheitengalerie (Nr. 488 bis 513) aufgeführt, sondern als Werk Desmarées (Nr. 115) weiter vorne, und es wird als vermisst gelistet. Eine Notiz an gleicher Stelle beschreibt aber auch die Rückerlangung des Gemäldes, welches am 3. Mai 1827 nach Auffinden bei dem Kaufmann Jäger in Allendorf wieder
nach Wilhelmsthal zurückkehrte. 28 Bleibaum schließt sich der Zuschreibung an Desmarées 1926 an, wobei für ihn Technik und Farbe auf den Maler als Urheber schließen lassen. Einen Verweis auf Roberts Inventar gibt er nicht. In Bleibaums Publikation wird die Dame nun auch als Auguste Friederike von Spiegel betitelt und nicht mehr nur, wie bei Robert, als fürstliche, in blau gekleidete Frauenperson mit Blumenkorb beschrieben. 29 Robert und Bleibaum listen zudem das Bildnis der Prinzessin Elisabeth Sophie von Württemberg als von Tischbein stammend auf, wohingegen Rudolf Hallo es Batoni zuschreibt. Bereits Bleibaum verweist auf Übermalungen, die Hallo als »heute so herausfallend« charakterisiert und die seiner Meinung nach von Tischbein stammen könnten. 30 Aktuell werden beide Künstler als Ausführende in Erwägung gezogen. Es zeigt sich exemplarisch, dass selbst bei einer doch so uniform erscheinenden Bildergalerie Fragen der Zuschreibung offen sind und hier, vielleicht auch gerade zu Variationszwecken, verschiedene Maler beauftragt wurden. Aufgrund der einheitlichen, geradezu verpflichtenden Bildformeln können die einzelnen Gemälde dennoch ein gesamtkompositorisches Erscheinungsbild liefern.
Die Funktion des ersten Vorzimmers als ›Wartebereich‹ eröffnet eine weitere Ebene der Werkanalyse: Wirken die Gemälde in einem kurzen Durchschreiten des Raumes vielleicht nur in ihrer Gesamtheit, ergibt sich bei genauerer Betrachtung ein mehr und mehr differenziertes Bild. Dies trifft auch auf Accessoires in den Gemälden zu, wie beispielsweise im Bildnis des Fräuleins Louise von Vincke am Spinett (Abb. 11). Auf dem Notenblatt ist die Aria del Signor B… zu erkennen, eine Gesangskomposition, die 1756 im »Journal encyclopédique« abgedruckt wurde. 31 Die Betrachtenden konnten in den Werken also bei längerer Anschauung immer mehr entdecken.
Ebenfalls näher zu untersuchen sind die Identifizierungen der dargestellten Damen. Da zunächst keine Angaben zu ihren Identitäten gemacht wurden, ist eine konkrete Zuschreibung selten möglich. Bleibaum benennt in seiner Veröffentlichung von 1926 alle Dargestellten, wobei einige bereits als fraglich vermerkt sind. Auf welche Quellen sich Bleibaum bezieht, ist unklar, insbesondere da er Identifizierungen anführt, die zuvor bei Robert im Portraitinventar nicht zu finden sind. So werden die Dargestellten häufig auch gesammelt als »Hofdamen des Hessischen Hofes« bezeichnet. 32 Dennoch widmen sich immer wieder Forschungsbeiträge verschiedenen Identifikationsvorschlägen. Methodisch wird vor allem mit Vergleichen zu anderen Portraits operiert. Eine wiederkehrende Rolle spielen dabei auch Nachfahren der jeweils möglicherweise
Abb. 11
Johann Heinrich Tischbein d. Ä., Fräulein Louise von Vincke am Spinett, ca. 1757, Museumslandschaft Hessen Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister
Dargestellten, die in den Gesichtern Ahnen aus eigenen Bildnisbeständen wiedererkennen, so zum Beispiel im Fall des Fräuleins von Drachenhausen, wie Astrid Möller darlegt. 33
Zudem konnten jüngst Forschungen in den Niederlanden neue Erkenntnisse zu einem weiteren Bildnis aus der Galerie liefern. Die bisher als »Fräulein von Baumbach (?)« geführte Dame (Abb. 12) wurde im Kontext einer Arbeit über die Prinzessinnen von Thorn als Sophia Charlotte von der Leyen zu Hohengeroldseck (1735–1807) identifiziert. 34 Im Rahmen einer Ausstellung im Limburg Museum in Venlo (Oktober 2021 bis April 2022) wurden die »Vergessenen Prinzessinnen« in den Fokus gerückt. 35
Hier zeigt sich einmal mehr, dass die historische Perspektive auf Frauen im höfischen Kontext weiterhin ein Forschungsdesiderat darstellt. Allerdings ist es schwierig, die Dargestellten aus ihrer ›Unsichtbarkeit‹ hinter den idealisierten Formen herauszulösen. Verschiedene Aspekte verkomplizieren eindeutige Identifikationen der Frauenbildnisse. Diese beziehen sich auf die Traditionen sowohl der höfischen Repräsentationsbildnisse als auch auf die Diskurse in Bezug auf ideale Schönheit und deren Abbild. So bewegen sich die »Schönheiten« im Spektrum zweier kunstgeschichtlicher Phänomene: dem Hybridportrait seit der Renaissance sowie dem französischen portrait historié zwischen Grand Siècle und Aufklärung. Das spätbarocke höfische Bildnis entrückte die Dargestellten ohnehin »aus dem Alltäglichen in ein ideales Dasein«, 36 wodurch die Individualität nur zweitrangig gegenüber der idealen und repräsentativen Inszenierung war. Die französische Tradition der portraits historiés war hierbei nicht nur eine Randerscheinung der Portraitmalerei, sondern konstituierte vielmehr eine eigene Bildgattung. Frauen des höfischen Adels in »luftigen, oftmals aufreizenden Fantasiekostümen« mit auf antike Gottheiten verweisenden Accessoires bildeten die Grundausstattung. 37 So fungierten Blumen als Verweis auf Flora oder zwei weiße Tauben sowie eine Darstellung Amors auf die Liebesgöttin Venus. Auch in Wilhelmsthal kommen diese attributiven Beigaben zum Einsatz. Besonders deutlich wird dies beim Bildnis der Charlotte von HessenKassel, die als Jagdgöttin Diana inszeniert wird (Abb. 13).
Michael Wenzel hingegen kritisiert diese Verortung der Frauenportraits im Rahmen eines verallgemeinernden, typisierenden Darstellungsmodus. Er stellt explizit Gottfried Boehms Publikation zur Entstehung des Portraits zur Debatte, 38 welche die Bildnisse der Schönen Frauen zur Kategorie der nicht-individualisierten Portraits zähle. Für Wenzel vernachlässigt diese Annahme die »identitätsstiftende Funktion von Maske und Rolle in der Frühen Neuzeit«. 39 Nicht die individuelle Physiognomie, sondern kodierte Botschaften gäben Auskunft über die Dargestellte, welche von einem elitären Rezipientenkreis hätten gelesen und entschlüsselt werden können. 40 Somit attestiert Wenzel den Galerien eine eigene Bildsprache, die sich nur im Kontext der höfischen Kultur und deren Angehörigen lesen ließ. Zu bedenken ist sicherlich die Bekanntheit der entsprechenden Attribute im Bild, über welche primär doch inszenierte Versionen des Individuums vermittelt wurden und somit wohl eher selten dezidiert persönliche Nachrichten transportiert wurden. So schlüpfen die dargestellten Frauen alle in stereotypisierte Rollen, die von der adligen Dame am Putztisch, über das Flanieren im sonnigen Garten bis zur Freude am Maskenball reichen.
Betrachtet man die Galerie heute, so macht es zunächst den Anschein, als sei man in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurückversetzt. Zwar haben die Elemente tatsächlich historische Qualität, doch trügt der Schein, denn die Hängung der Gemälde wurde in den letzten Jahrhunderten –und mehrfach in den letzten Jahrzehnten – verändert. Ebenso ist die ursprüngliche Anzahl der Portraits nicht definitiv gesichert. Aus dem Briefwechsel Landgraf Wilhelms VIII. mit Baron von Häckel wird keine Anzahl der gewünschten Gemälde ersichtlich, und es existiert auch kein konkreter Auftrag an Tischbein. So wird aus dem Gesamtkunstwerk vielmehr ein variables Konzept zur Raumgestaltung. Die fehlenden Einzelaufzählungen in den Inventaren bis 1816 sprechen ebenfalls dafür, dass es nicht primär um die Bildnisse, sondern um eine Gesamtschau ging. Dieser stete Wandel der Konzeption zeichnet sich bereits zu Beginn ab, wie anhand einer Skizze von 1753 mit einem Entwurf für die Hängung an der Kaminwand deutlich wird (Abb. 14). Auf dieser Skizze sind nur drei statt der heute vier Gemälde platziert, die in die Wandvertäfelung eingelassen werden sollten. Sie umgeben als Dreieck den mittig platzierten Spiegel über dem Kamin. Anhand dieser Skizze kommt Rudolf Hallo zu dem Schluss, dass ursprünglich lediglich zehn Gemälde für die Ausstattung geplant waren. 41 1788 werden allerdings bereits vierzehn adlige und fürstliche Portraits im ersten sowie vierzehn fürstliche und gräfliche Portraits im zweiten Vorzimmer aufgeführt. 42 In der Zeit zwischen der Skizze und der Auflistung wurden die Arbeiten zum
Schloss Wilhelmsthal durch den Siebenjährigen Krieg unterbrochen. War zuvor noch Wilhelm VIII. für den Bau verantwortlich, so war es nach Ende des Krieges sein Sohn Friedrich II., da Wilhelm im Exil in Rinteln verstarb. Friedrich hielt an mancher Stelle nicht an den Plänen seines Vaters fest, wie später beim Telemach-Zyklus noch deutlich werden wird. Im Inventar von 1812 aus der Zeit des Königreichs Westphalen unter Jérôme Bonaparte (1784–1860) wiederum werden im ersten »Chambre à Portraits« fünfzehn »Portraits de famille in cadre doré antique« sowie im »Seconde Chambre à Portraits« weitere vierzehn mit gleicher Beschreibung verzeichnet. 43 Hier stellen sich verschiedene Fragen: Welches fünfzehnte Bild konnte die Galerie im ersten Vorzimmer ergänzen? Und vor allem: Wie kann man sich eine solche Hängung vorstellen? Wie bereits oben erwähnt, plädierte Rudolf Hallo sogar für eine Kombination von nur zehn Bildern. Ebenso stolpert man im Inventar von 1812 über die Auflistung zweier Spiegel. Mit der heutigen Hängung, also einem Bild weniger, und nur einem Spiegel ist bereits kein Platz für weitere Gemälde. Ein Blick zurück in das Inventar von 1816 wirft zudem eine weitere Frage auf: Es werden nur dreizehn Bilder im ersten Vorzimmer aufgezählt. Vergleicht man die beiden Inventare, so fehlen 1816 nicht nur ein, sondern zwei Gemälde. Heute nachvollziehbar ist das Fehlen der von Bleibaum als »angeblich Fräulein Dufai« bezeichneten Dame im Jagdkostüm. 44
Der Umfang weiterer Veränderungen der Hängungen soll einmal exemplarisch im ersten Vorzimmer anhand von historischen Fotografien umrissen werden. Der früheste fotografische Nachweis zur Hängung der Bilder stammt von 1899 und dokumentiert eine Anzahl von vierzehn Gemälden in beiden Räumen. Somit fand Fräulein Dufai offensichtlich zwischen 1816 und 1899 ihren Weg zurück in die Galerie (Abb. 15). Eine weitere Fotografie, die zwischen 1918 und 1924 entstand, zeigt die gleiche Anzahl an Konterfeis, aber bereits eine abweichende Hängung. Die dort abgebildete Anordnung entspricht jener, die auch in Bleibaums Publikation von 1926 wiederzufinden ist. Eine von Möller in ihrer Magisterarbeit gedruckte Postkarte aus den Jahren 1920–30 zeigt die Bilderwand sowie die anschließende Sektion neben der Tür. 45 Hier lässt sich bereits wieder eine Neuplatzierung der Werke ablesen, was auf eine Datierung der Postkarte nach 1926 schließen lässt. Eine Fotografie von 1959 zeigt eine weitere Variation der Hängung (Abb. 16). So lassen sich in einem Zeitraum von weniger als 60 Jahren bereits vier verschiedene Varianten der Hängung der Gemälde im ersten Vorzimmer nachweisen.
Ferner wurden maßgebliche Veränderungen während der Restaurierungsarbeiten in den 1960er und 1970er Jahren vorgenommen. 46 Ebenso tauschte man die Rahmen der Bildnisse in den verschiedenen Maßnahmen, konservatorischer und dekorativer Art, untereinander aus.
Doch welche Anlässe gab es zum kontinuierlichen Wandel der Raumgestaltung? Waren es lediglich ästhetisch begründete Geschmacksentscheidungen? Definitiv lässt sich hierzu keine Aussage treffen, doch ist die rege Mobilität von Gemälden und Rahmen bemerkenswert. So wird die Bildergalerie scheinbar zu einem variablen Raumkonzept, das alternative Zusammenstellungen erlaubt. Ist dies nun ein Argument für die kritischen Stimmen, die eine Art Beliebigkeit in den weiblichen Bildnissen sehen? Oder ist es vielmehr ein Argument für Tischbeins Talent als Ausstattungskünstler, mit dem er die räumlichen und kontextuellen Gegebenheiten gekonnt nutzte und adäquat für seine technische Umsetzung adaptierte? In der Schönheitengalerie verwendete er eine besonders feine Malweise, welche die Nähe der Betrachtenden zum Bild berücksichtigt, wohingegen die Supraporten im Musensaal mit seiner reichen Stuckdekoration deutlich zurückhaltender gestaltet sind.
Der Musensaal
Nicht nur im Erdgeschoss des Schlosses werden die Gäste visuell begrüßt, sondern auch im Geschoss darüber fügte Tischbeins ansprechende programmatische Darstellungen ein, welche sich funktional in die Bereiche des Schlossbaus einbetten. Betreten die Besuchenden das Obergeschoss und gehen zum Festsaal, welcher über dem Speisesaal auf der Mittelachse des Parks gelegen ist, begegnen sie Apoll und seinen neun Musen. Die Ausstattung des Saales übertrifft bei Weitem jene des darunterliegenden Speisesaales, der vor allem durch seine Öffnung zum Park dominiert wird. Auch die dekorativen Elemente sind hier auf das Zusammenspiel von Innen- und Außenraum ausgelegt: Sowohl in der Farbwahl als auch in der Darstellung der vegetativen Elemente wird dies offensichtlich. Somit wird innerhalb der Raumfolge deutlich eine Dramaturgie aufgebaut. Denn das eher zurückhaltende Dekor ändert sich gänzlich, wenn die Besuchenden über das Treppenhaus, welches in Weiß mit grauen Marmorstufen und nur wenigen goldenen Verzierungen gestaltet ist, in das Obergeschoss gelangen und den Festsaal betreten (Abb. 17). Das prunkvolle Stuckwerk verbindet typische Motive wie Rocaillen und Blütenranken mit Darstellungen von Drachen und dem sagenhaften Vogel Phönix. Die Verzierungen, die »mit einer verschwenderischen Vielfalt von Motiven ausgestattet« 47 sind, ziehen sich von der Wand über die
Voute und laufen an der Decke aus. Verschiedene Trophäen an den Wänden verweisen auf die Jahreszeiten sowie auf Musik und Maskenfeste. Komplettiert wird der Saal durch die fünf von Johann Heinrich Tischbein d. Ä. gemalten Supraporten, welche Apoll und die Musen zeigen. Durch das Einbeziehen des Gottes wird eine Paarung möglich, die kompositorisch je zwei Figuren in einer Supraporte vereint. Die kunstvollen Ausstattungen waren neben ihrer Funktion als Raumschmuck ein Zeugnis für die gute Qualität der ansässigen Künstler. Zudem attestierten sie auch den exquisiten Geschmack des Auftraggebers, also des Fürsten selbst. 48 Der Festsaal als Ort des Vergnügens war das Herzstück des Lustschlosses und stellte den Höhepunkt der Raumabfolge dar.
Ein Rechnungsbeleg vom 31. März 1760 aus Wilhelmsthal verzeichnet eine Zahlung von 225 Reichsthalern an Tischbein für fünf Supraporten in der Beletage, 49 wobei es sich vermutlich um die Folge von Apoll und den Musen handelt. Über der Eingangstür werden zunächst Apoll und Urania gezeigt (Abb. 18), welche die Reihe einleiten. Die prominente Positionierung an der Stirnseite des Raumes lässt sich durch die Präsenz des Sonnengottes sowie Uranias, der Muse der Astronomie, und deren Bedeutung für den Kosmos erklären. Apoll im orangefarbenen Gewand hält die Lyra in seinen Händen und wendet sich der unter-
Abb. 18
Johann Heinrich Tischbein d. Ä., Supraporte: Apoll und Urania, um 1760, Museumslandschaft Hessen Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister
halb sitzenden Muse zu. Diese erwidert seinen Blick und weist mit ihrer linken Hand auf den Globus auf ihrem Schoß, welchen sie mit einem Zirkel zu vermessen scheint. Hinter den beiden Figuren wird eine üppige grüne Vegetation sichtbar. Dieser Grundkomposition sind auch die vier weiteren Bildfelder verpflichtet, wenngleich die Hintergrunddarstellungen variieren. Zur Linken der Eingangstür sind zunächst Thalia und Melpomene, die in einer offenen Architekturkulisse einander zugewandt sind, zu sehen. Thalia sitzt, eine Maske in der einen und eine Schriftrolle in der anderen Hand. Sie scheint geradezu überrascht über die expressive Geste Melpomenes, die einen Dolch in die Luft hält. Darauf folgend werden Euterpe in Bewegung mit wehendem Gewand und Terpsichore beim Flötenspiel in einer Landschaft gezeigt. So sind die Paare ferner thematisch einander zugeordnet. Auf der gegenüberliegenden Seite sind wiederum, auf der Ecke zu Apoll und Urania, Klio und Kalliope dargestellt. Klio, die aufrecht steht, hält eine Posaune in den Händen sowie ein Schriftband mit den Worten: THVCYDIDES / CLIO, als Verweis auf die antike Geschichtsschreibung. Die sitzende Kalliope scheint hingegen ganz versunken über den Text des Schriftbandes »ODISSE ILIADE ENEIDE CALLIOPE« zu sinnieren, welches ihr Feld bezeichnet (Abb. 19). Die Darstellung der Polyhymnia und Erato ist am gleichen Schema orientiert: Die stehende Polyhymnia erhebt sogar noch ihren Zeigefinger, während Erato mit der Leier hinter ihr halb liegend ihre Schwester geradezu anzuhimmeln scheint.