Tanz auf dem Vulkan

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LEBEN UND GLAUBEN IM SCHATTEN DES VESUV

HERAUSGEGEBEN VON CHRISTOPH KÜRZEDER, STEFFEN MENSCH UND DIETER RICHTER

EINFÜHRUNG

ESSAYS

DER WAHRE GOTT VON NEAPEL

NIOLA

VULKANIKER ERRI DE LUCA

SAN GENNARO IM RIONE SANITÀ ANTONIO LOFFREDO

WARUM BRACH 79 N.CHR. DER VESUV AUS? ESAÙ DOZIO

DIE BRONZESTATUEN DER HAUSLARARIEN

MARIA SODO

VESUVIUS UND NOLA MARIO CESARANO

STARKER ZAUBER. UNTER DEM SCHUTZ VERGILS DIETER RICHTER

SAN GENNARO, DAS WUNDER UND DIE DEPUTAZIONE PAOLO JORIO

DAS MUSEO DEL TESORO DI SAN GENNARO PAOLO JORIO

SAN GENNARO UND DIE NEAPOLITANISCHE KUNST PIERLUIGI LEONE DE CASTRIS

DIE SILBERSCHMIEDEKUNST IN NEAPEL PAOLO JORIO

INDEX
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MARINO
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32
38
ANNA
......................... 47
49
60
............................ 65
72
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............................ 89

DAS ECHO DES VESUV-AUSBRUCHS 1631 IM NORDEN DIETER RICHTER 95

VESUV UND ÄTNA. ZWEI VULKANE, ZWEI HEILIGE LENE FAUST 102

DER VESUV-EREMIT DIETER RICHTER 108

DAS VESUV-TAGEBUCH VON PADRE ANTONIO PIAGGIO CARLO KNIGHT 114

DER VESUV IM VISIER DER WISSENSCHAFT DIETER RICHTER 119

TORRE DEL GRECO, DIE STADT AM FUSS DES VULKANS GIOVANNA ACCARDO 131 FUNICULÌ FUNICULÀ – MUSIK IM SCHATTEN DES VESUV CRISTIANA COLETTI & WOLFGANG HAMM 138

DAS SCHÖNSTE SCHAUSPIEL – TOURISTEN AUF DEM VESUV DIETER RICHTER 145

DIE ERUPTIONSGESCHICHTE DES SOMMA-VESUV PAOLA PETROSINO & GIOVANNI ORSI 151 ZWISCHEN DEN VULKANEN: RISIKO UND PRÄVENTION GIUSEPPE LUONGO 159

AUSSTELLUNG

I. C AMPANIA FE L IX 169

II. BED R OHTES LEBEN AM GOLF V ON NEAPEL 187

III. DIE Z ERSTÖRUNG PO M PEJIS ................ 219

IV. DIE M ACHT DES BLUTES 227

V. DER V ULKANAUSBRUCH IM J AHR 1631 239

VI. DAS BLUTWUNDER UND DER SCHAT Z DES S AN GENNARO 267

VII. UNTER B EOBACHTUNG 305

VIII. DAS SCHÖ N STE SCHAUSPIEL EUROPAS 341

IX. HIMMLISCHE SCHU T ZMACHT

365 ENDNOTEN/IMPRESSUM ............... 400

TANZ AUF DEM DOMBERG –ODER WARUM NEAPEL NACH FREISING KOMMT CHRISTOPH KÜRZEDER

Mit dem sprichwörtlichen Tanz auf dem Vulkan verbinden wir heute meist das exzessive, pulsierende Leben im Berlin der Weimarer Republik. Anders als bei der Redewendung von der »Ruhe vor dem Sturm« ahnen die Tänzerinnen und Tänzer nicht nur das heraufziehende Unheil voraus – nein, sie wissen sehr genau darum, weshalb der Tanz oft noch wilder und zügelloser wird, je mehr man sich dem Abgrund nähert. Die damit einhergehende Verdrängung der Ursachen für die drohende Katastrophe hat Heinrich Heine 1842 in einem seiner Berichte aus dem Pariser Exil beschrieben: »›Wir tanzen hier auf einem Vulkan‹ – aber wir tanzen. Was in dem Vulkan gärt, kocht und brauset, wollen wir heute nicht untersuchen, und nur wie man darauf tanzt, sei der Gegenstand unserer Betrachtung.«

Auch das Diözesanmuseum Freising hat sich nun entschieden, auf dem Vulkan zu tan zen. Die erste Sonderausstellung im neuen Haus – das ist wahrlich ein Grund zum Tanzen! Und dies in Zeiten, in denen wir das Gefühl haben, dass es brodelt unter uns und dass wir an der Schwelle zu einer Zeitenwende stehen. Religion und Glaube sind in solchen Zeiten besonders gefragt, jedenfalls ist das in der europäischen Kultur geschichte die längste Zeit so gewesen. Und so haben wir diese Metapher, die unser Lebensgefühl heute so gut umschreibt, ganz konkret als Ausstellungsthema aufge griffen.

NEAPEL – EINE STADT ZWISCHEN DEN VULKANEN

Der Untertitel Leben und Glauben im Schatten des Vesuv gibt dem Tanz einen konkreten Ort, der wie kein anderer in Europa für die Fragilität unseres Lebens steht, für die Spannung von Schönheit und Lebensfülle auf der einen und von Bedrohung und Zer störung auf der anderen Seite: Neapel, die Stadt zwischen zwei Vulkanen, dem hoch aufragenden Vesuv im Osten und den Phlegräischen Feldern, dem eigentlichen soge

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nannten Supervulkan, im Westen. Und das ist das Thema der Ausstellung: wie Leben und Glaube geprägt sind von der Erfahrung der Bedrohung durch eine unkontrollier bare Naturgewalt, die im Laufe der Geschichte immer wieder auch zur realen Erfah rung der Zerstörung, des Todes und des Untergangs wurde. In Neapel haben sich über die Jahrhunderte ganz eigene Kulturtechniken zur Bewältigung und Abwehr dieser Bedrohung entwickelt, um sie besser kontrollier- und einschätzbar zu machen. Die Stadt ist zwar mit ihren Forschungseinrichtungen weltweit führend im Bereich der Vulkanologie, trotzdem bestimmt bis heute eine so gar nicht naturwissenschaftliche und technische Perspektive die Präventiv- und Schutzstrategien der Menschen, näm lich die Perspektive des Übernatürlichen. Und damit sind wir beim Thema des Glau bens.

SAN GENNARO –SCHUTZPATRON DER SUPERLATIVE

Neapel ist die einzige europäische Großstadt, in der seit Jahrhunderten ein dreimal im Jahr erhofftes und beschworenes Wunder die Geschicke der Stadt und ihrer Bewohner zu bestimmen scheint. Es ist das Wunder der regelmäßigen Verflüssigung des Blutes des frühchristlichen Märtyrerheiligen und Bischofs Januarius. San Gennaro, wie er auf Italienisch heißt, ist der Schutzherr der Stadt schlechthin; verflüssigt sich sein Blut, so gilt dies als gutes Omen und als Bestätigung seiner die Stadt und ihre Bevölkerung schützenden Wunderkraft. San Gennaro besänftigt die wütenden Vulkane, stoppt den lebensvernichtenden Lavafluss, beendet das Beben der Erde und beschützt die welt offene große Hafenstadt vor Pest und Cholera. Unter den zahlreichen Stadtpatronen und -patroninnen Neapels nimmt er daher den ersten Platz ein. Die Herzkammer seines Kultes – der Ort, an dem auch die Blutreliquie aufbewahrt wird – ist die Real Cappella del Tesoro di San Gennaro im Dom von Neapel. Die Neapolitaner haben mit dieser Kapelle ihrem Heiligen den prächtigsten aller reich geschmückten Kirchen räume der Stadt geschenkt. Und wäre dies nicht schon genug, so haben sie ihm über die Jahrhunderte auch noch ein ganzes Schatzhaus mit den wertvollsten Dank- und Opfergaben gefüllt. So entstand eine der weltweit größten und bedeutendsten kirch lichen Schatzkammern, der Tesoro di San Gennaro. Was hier seit Generationen dem Heiligen geschenkt und geopfert wurde und bis heute wird, gehört zum Besten, was neapolitanische Künstler und Kunsthandwerker in den letzten 500 Jahren geschaf fen haben: Über 21.000 Einzelobjekte aus allen Kunstgattungen, darunter wertvolle und einzigartige Schmuckstücke und Edelsteine, die als Weihegaben die Büste und Mitra des Heiligen zieren. Neben dem Altarschmuck, den Vasa Sacra und aufwen

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dig gearbeiteten Paramenten gehören vor allem die lebensgroßen Silberfiguren und -büsten der Stadtpatrone und -patroninnen zu den spektakulärsten Stücken. Diese sogenannten compatroni bilden zusammen mit dem Hausherrn die geballte himmlische Schutzmacht, die alljährlich zum Fest der Translation der Gebeine des Heiligen Ende April/Anfang Mai in einer großen Prozession durch die Straßen der Stadt getragen werden und Neapel und seine Bevölkerung vor aller Unbill bewahren und beschützen sollen.

DER SCHATZ DES SAN GENNARO IN FREISING

Viele dieser herausragenden und historisch bedeutsamen Stücke verlassen nun erst mals anlässlich unserer Ausstellung die Stadt am Vesuv und werden auf dem Frei singer Domberg im neu sanierten Museum präsentiert. Das Gebiet um Neapel, der Vesuv, die antiken Städte Pompeji und Herculaneum stecken den Raum ab, in dem der Tanz auf dem Vulkan seit Jahrtausenden getanzt wird. Die archäologischen Ob jekte und die Gegenstände des kirchlichen Kultes sind nicht nur Requisiten, sondern sogar Protagonisten dieses Tanzes. Deshalb erschien es uns anlässlich der Eröffnungs ausstellung eines kirchlichen Museums richtig, mit diesen Artefakten die Frage nach der Relevanz und Kraft der Religion angesichts einer das Individuum überfordern den Bedrohung zu thematisieren. Es ist als großer Glücksfall zu betrachten, dass wir den Gründungsdirektor des Museo del Tesoro di San Gennaro, Paolo Jorio, für dieses Konzept gewinnen konnten. Er wiederum konnte die entscheidende Instanz, die alt ehrwürdige Deputazione del Tesoro di San Gennaro, zur Ausleihe vieler ganz zentraler Objekte bewegen. Wir betrachten dies als große Ehre und Auftrag zugleich, der his torischen Bedeutung des einzigartigen neapolitanischen Kirchenschatzes gerecht zu werden. Der Freisinger Domberg mit seiner ebenfalls jahrtausendealten Siedlungs-, Kultur- und Kulttradition, seiner Bedeutung als politisches und geistliches Zentrum und schließlich als Bischofssitz bietet den idealen Resonanzraum. Auch er gab im Laufe der Geschichte immer wieder Anlass, das Bild des Tanzes auf dem Vulkan zu bemühen. Und schließlich findet die Ausstellung in einem Museum statt, das mit seinem reichen Bestand an Artefakten religiöser Kunst und Kultur tiefe Einblicke in das Zusammenspiel von Glauben und Leben einer Region gibt. So treffen mit der Aus stellung im Diözesanmuseum Freising auch zwei sehr markante, vom Katholizismus geprägte Kulturräume aufeinander.

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CITTÀ DEL SANGUE – STADT DES BLUTES

Die Nähe der Religion zu den Menschen sowie ihre Relevanz und Wirksamkeit im täglichen Leben ist in Neapel besonders spürbar. Der Kult des Heiligen bildet hier lediglich den Kraterrand im brodelnden Leben der Millionenstadt, die vielen Kirchen und Kapellen zeigen nur die weithin sichtbare und sozusagen offizielle Topografie des Religiösen. Erst im Gassengewirr der Stadt taucht man ein in ein Leben, das wie in keiner anderen Stadt Europas ganz selbstverständlich durchdrungen ist vom Prinzip des Religiösen. Zahllose Altäre und Gebetsnischen, Bilder von Heiligen und Armen Seelen schmücken Gassen, Häuser, Wohnungen und Läden. Hier und im Hinabstei gen in die seit der Antike in den Tuff gegrabenen Friedhöfe – wahre Totenstädte und beeindruckende Kathedralen der Vergänglichkeit – und schließlich im Sprechen, in Gesten und Riten der Menschen erleben wir bis heute den Kern neapolitanischer Re ligiosität: ein alle Lebensbereiche durchdringendes Prinzip, das dem Lebenstanz den Rhythmus und eine ganz eigene Melodie vorgibt. Wer einmal die von Trommeln und Blasinstrumenten begleiteten rhythmischen Tänze der fujenti, der am Ostermontag zum Vesuv-Heiligtum der Madonna dell’Arco pilgernden Gläubigen erlebt hat, er kennt die Ambivalenz dieses Tanzes in der so janusköpfigen Stadt, immer entlang des schmalen Grates zwischen Lebensfreude und Verzweiflung, zwischen Hingabe und Selbstzerstörung, zwischen Lebensfülle und bitterer Armut. Denn der Tanz für die Madonna und zur Madonna hin ist vom Bewusstsein getragen, dass der Boden, auf dem man tanzt, nur eine dünne, brüchige Schicht ist, die von der brodelnden Lava darunter trennt und zugleich vor ihr schützt. Spätestens jetzt hat auch der staunen de und fragende Reisende aus dem Norden verstanden, dass nur hier das so seltsam anmutende Wunder einer Blutverflüssigung stattfinden kann, welches San Gennaro freilich keinesfalls als exklusives Privileg für sich beanspruchen kann. So gibt es acht weitere Heilige, deren Blut sich begleitet vom Gebet der Gläubigen in regelmäßigen Abständen verflüssigt.

ZUM KONZEPT – GLAUBE UND ERKENNTNIS, SCHAUDER UND FASZINATION

Der unsichere vulkanische Boden und das sich verflüssigende Blut der Erde und der Heiligen sind denn auch maßgeblich für unser Konzept, beginnend mit der Urkata strophe, die sich tief ins kulturelle Gedächtnis Europas eingegraben hat: dem Vesuv Ausbruch des Jahres 79 n. Chr. mit der Zerstörung der antiken Städte rund um den Vulkan, allen voran von Pompeji und Herculaneum. Die seit dem 18. Jahrhundert aus den Asche- und Lavaschichten geborgenen Zeugnisse dieser Stätten erzählen vom

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jähen Ende eines Lebens in paradiesisch anmutenden Verhältnissen, in von Wohl stand und Luxus geprägten Städten, umgeben von schönster Landschaft zwischen Meer, Hügeln und fruchtbaren Ebenen. Der frühchristliche jugendliche Bischof, der zwei Jahrhunderte später die Szenerie betreten wird, repräsentiert ein so ganz anderes Konzept: Askese und Märtyrertum. Die für das frühe Christentum so wichtige Blut zeugenschaft als radikalste Form der Christus-Nachfolge erlangt mit ihm schließlich die größtmögliche symbolische Aufwertung. So wie sich in der Eucharistie nach ka tholischer Lehre Wein zum wahren Blut Christi wandelt, so wird die tote Materie des Blutes des Heiligen durch das Wunder wieder lebendig und gleich dem Blute Christi zum Garanten der Rettung und des Heils für die bedrohte Stadt.

Die in der Ausstellung versammelten Requisiten des Kultes – zumeist Weihegaben an den Heiligen – zeigen diese realsymbolische Aufladung der Verehrung von San Gennaro, dem »wahren Gott von Neapel« – so auch der Titel eines Essays dieses Ban des. Diesen Platz konnte und kann ihm bis heute auch die moderne Wissenschaft der Vulkanologie nicht streitig machen, und das, obwohl unter den ersten Naturwissen schaftlern, die sich mit dem Vesuv beschäftigten, Priester und Ordensleute führend waren. Die Faszination des Phänomens der Vulkane rund um Neapel bleibt trotz und sogar mit zunehmender wissenschaftlicher Erkenntnis. Dies zeigen vor allem die Zeugnisse aufgeklärter gebildeter Reisender des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, für die der rauchende und Feuer speiende Berg zum Inbegriff ihrer Italiensehnsucht wur de. »Das schönste Schauspiel, das Europa zu bieten hat«, so wurde er bezeichnet, und so lautet auch der Titel eines Essays von Dieter Richter in diesem Band. Ihm, dem profunden Kenner Neapels und seiner Kulturgeschichte, sei für seine Mitarbeit am Konzept der Ausstellung und an diesem Band herzlich gedankt. Für meinen Kollegen Steffen Mensch wurde wegen der vielfältigen Aufgaben, die er im Rahmen der Mu seumseröffnung zu bewältigen hatte, unser Projekt zu einem wahren Tanz auf dem Vulkan. Er blieb dabei aber immer trittsicher und konnte drohende Eruptionen ver hindern, sodass die Ausstellung zum schönsten Schauspiel des neuen Museums wer den konnte. Das Bühnenbild dafür entwarfen und realisierten Costanza Puglisi und Florian Wenz mit ihrem Studio unodue. Und last but not least wäre ein Schauspiel die ser Art nicht möglich gewesen ohne einen Impresario. Diesen hatten wir in der Person der Impresaria Lidia Carrion, die zusammen mit ihrem Mann Paolo das Unmögliche möglich machte und die vielen neapolitanischen Tänzerinnen und Tänzer zu einer gemeinsamen Choreografie vereinte. Der Tanz kann beginnen!

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DER WAHRE GOTT VON NEAPEL

VON MARINO NIOLA

»Ich hörte einen lazzarone in der Kirche zu Gott beten. Er möge doch San Gennaro bitten, ihn im Lotto gewinnen zu lassen!«,1 so der französische Romancier Alexandre Dumas in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Diese Schilderung scheint übertrieben, doch das ist sie nicht. Denn der frühchristliche Märtyrer, der 272 n. Chr. wahrscheinlich in Neapel oder in Benevent zur Welt kommt und 305 in Pozzuoli enthauptet wird, ist der absolute Herrscher über die neapolitanische Frömmigkeit – der wahre Gott von Neapel. Der Drahtseilakt der unvorhersehbaren, aber erhofften Verflüssigung seines Blutes darf als das wohl berühmteste Wunder der Welt gelten – das Paradigma des Unmöglichen, das möglich wird. Eine seit fast 2.000 Jahren in einer Ampulle einge trocknete, versiegelte Materie, die sich auflösen und wieder zu flüssigem Blut werden kann, ist vor allem eine gewaltige Machtdemonstration. Sie setzt das Realitätsprinzip außer Kraft, widerlegt die Rechtfertigungen der Vernunft und bringt die geordneten wissenschaftlichen Denkgebäude und Systeme durcheinander. In eben dieser dra matischen Diskrepanz zwischen dem, was tatsächlich geschieht, und der Möglich keit, es zu erklären, liegt die Faszination jedes Wunders. Denn man misst es nicht mit der Physik, sondern mit der Metaphysik, und nicht mit der Geometrie, sondern der »Theometrie«, dem Maßstab der göttlichen Liebe, ein vom Jesuiten Daniello Bartoli (1608–1685) entwickelter Gedanke, der zu den Glanzlichtern jesuitischer Theologie des 17. Jahrhunderts zählt.2

Athanasius Kircher – auch er Jesuit und ein großer Erforscher der Geheimnisse und Symbolik natürlicher Phänomene – schreibt um die Mitte des 17. Jahrhunderts: »Das Wunder muss aus dem göttlichen Willen kommen und sich der natürlichen Ordnung der Dinge entziehen, um ein Wunder zu sein.«3 Und vielleicht ist es kein Zufall, dass

1 Alexandre Dumas, Il corricolo, Mailand 1985, S. 267.

2 Daniello Bartoli, Scritti, hrsg. von Ezio Raimondi, Turin 1977, S. 395.

3 Athanasius Kircher, Diatribe, De prodigiosis Crucibus, quae tam supra vestes hominum, quam res alias, non pridem post ultimum incendium Vesuvij Montis Neapoli comparuerunt, Rom 1661, S. 71.

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das Zeitalter des Barock mit seiner Freude am Wunderbaren, mit seinem Kult der Übertreibung, mit seiner Idee des Lebens als Theater, aber auch mit seiner wissen schaftlichen Neugier und seinem naturwissenschaftlichen Geist eine Epoche der na türlichen wie der übernatürlichen Wunder ist. Ein Zeitalter, in dem Philosophie und Theologie, Ethik und Politik, Theater und Religion, Physik und Metaphysik sich auf dem schmalen Grat des Wunders, wo die Grenzen zwischen dem Natürlichen und Übernatürlichen verschwimmen, einen schwindelerregenden Wettlauf bieten.

Nicht, dass es vor dem Barock keine Wunder gegeben hätte, man denke nur an die jenigen, die Christus, der Gottesmutter oder dem heiligen Franziskus zugeschrieben werden. Doch in der Zeit des Absolutismus werden diese Theatercoups auf der Büh ne des Heiligen zu politischer Theologie, zu Manifestationen unbeschränkter Macht, Zeichen eines absoluten und allmächtigen Willens. Und gerade wegen dieser gegen seitigen Entsprechung von arcana imperii und arcana Dei, dem Geheimnis politischer und göttlicher Macht, wird die Wunderkraft des Heiligen von den Gläubigen als Machtdemonstration verehrt, die umso beruhigender wirkt, je mehr sie Naturgesetze aufheben kann. Oder, um es mit Carl Schmitt zu sagen: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.«4

Nicht zufällig wird das Wunder von San Gennaro ausgerechnet im 17. Jahrhundert berühmt und findet nun auch regelmäßig statt, während es zuvor lediglich ein je weils singuläres Ereignis war. Denn es sind gerade die großen Entdeckungen der Che mie und Medizin, allen voran die Entdeckung des Blutkreislaufs 1628 durch William Harvey, die das Verhältnis von Angebot und Nachfrage in Sachen Wunder beeinflus sen. Und in der Tat setzt die Religion der Wissenschaft, die das System der irdischen Flüssigkeiten entdeckt, nun die überlegene Funktionsweise der himmlischen Flüssig keiten entgegen. Und plötzlich gerät die Verflüssigung zur Mode, geht viral. Aus den Sakristeischränken kommen Phiolen und Tränenkrüge, Fläschchen und Gläschen, in denen sich purpurrote Flüssigkeiten befinden. So wird Neapel in der europäischen Vorstellungswelt schon bald zur »Stadt des Blutes«. Diesen Namen gibt ihr 1632 der französische Schriftsteller Jean-Jacques Bouchard, der schreibt, die Ereignisse wundersamer Verflüssigung seien ein besonderes Vorrecht Neapels, »qui pour cela s’appelle ›Urbs sanguinum‹« (»die daher die ›Stadt des Blutes‹ genannt wird«).5 Diesen

Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel

Jean-Jacques Bouchard,

Turin

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4 Carl
zur Lehre von der Souveränität, Berlin 1969, S. 13. 5
Journal II. Voyage dans le royaume de Naples. Voyage dans la campagne de Rome,
1977, S. 282.

Titel verdankt Neapel seinen über 300 Reliquien, die sich, allen Gesetzen des Lebens zum Trotz, verflüssigen und wieder gerinnen wie Pop-ups des Übernatürlichen. Vor bild all dieser wundersamen Metamorphosen ist das Blut des Schutzpatrons. Doch der Modellcharakter von San Gennaro beschränkt sich nicht auf Blut. In Pozzuoli, dem Städtchen vor den Toren Neapels, wo die Enthauptung des Heiligen stattge funden hat, verflüssigt sich auf wundersame Weise die Milch der Muttergottes: Die »Milch der heiligen Jungfrau […] ist das ganze Jahr hindurch hart und gefroren, am Vorabend von Mariä Himmelfahrt aber geschieht zur Vesperzeit das Wunder, sie wird flüssig und bleibt weich und flüssig bis zum Abend des folgenden Tages«.6 Kurz, der Ruf der »Neapolitanischen Blutwunder«7 verbreitet sich bald in ganz Europa.

Nach einigen Jahrzehnten werden viele Blutreliquien nicht mehr flüssig und ihr Ruhm vergeht. Im Fall von San Gennaro aber ereignet das Phänomen sich noch heute dreimal im Jahr. Das erste Datum ist der 19. September, der Jahrestag des Martyriums in Poz zuoli im Jahr 305 n. Chr. während der Christenverfolgung durch Kaiser Diokletian; zum zweiten Mal verflüssigt sich das Blut am 16. Dezember, dem Tag des großen Vesuv-Ausbruchs 1631, und zum dritten Mal am Samstag vor dem ersten Sonntag im Mai.

Die langlebige Wundertätigkeit von San Gennaro hat ihn in der neapolitanischen Vorstellungswelt zum Sinnbild einer grenzenlosen Machtfülle gemacht, und so wird er von einem einfachen Heiligen zu einem himmlischen Herrscher. Als Träger unbe grenzter Kräfte übernimmt er nach und nach die Rolle eines Beschützers der Stadt vor dem Feuer des Vesuv.

Der Heilige und der Vulkan werden im Lauf der Zeit zu antagonistischen Kräften, einer positiven und einer negativen, die sich, von derselben Energie bewegt, anziehen und abstoßen. Als Walter Benjamin ein symbolisches Bild absolutistischer Macht des

17. Jahrhunderts zeichnet, indem er die Figur des Souveräns mit einem Vulkan ver gleicht, der bei einem Ausbruch seine Macht über Leben und Tod beweist, denkt er vielleicht an den Vesuv und den Schutzpatron der Stadt, also an das Schauspiel einer

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6 Giulio C. Capaccio, Il Forastiero, Neapel 1634, S. 902. 7 Caspar Isenkrahe, Neapolitanische Blutwunder, Regensburg 1912.

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