Thailand – Bruderland?: Unter Palmen und Pagoden

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Nie findest Du die Welt wieder vor, wie Du sie verlassen hast.


Winfried Düsterdiek

Thailand – Bruderland? Unter Palmen und Pagoden


Impressum Autor: Winfried Düsterdiek (*28.09.1930, †15.03.2015) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Neuausgabe, 1. eBook EPUB Ausgabe, © DEVA | David Enneper Verlag und Agentur, Berlin | 2016 Erstmals erschienen 1999 im © Verlag am Turm GmbH, Berlin als Taschenbuch unter der ISBN-13: 978-3-932075-09-4. Edition Buchholz www.deva-berlin.com/edition-buchholz/ Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Lektorat: Karoline Streicher, Dörte Streicher, David Enneper Gestaltung und Umsetzung: Dörte Streicher | G & H - Agentur für Design | www.grafik-und-herstellung.de Bilder: Familie Düsterdiek Umschlaggestaltung: Dörte Streicher Titelbild: Familie Düsterdiek ISBN-13-EPUB: 978-3-943865-06-6 Andere Ausgaben ISBN-13-PDF: 978-3-943865-05-9 ISBN-13-Taschenbuch: 978-3-943865-07-3 ISBN-13-Festeinband: 978-3-943865-08-0


Inhalt Titel................................................................................................................1 Widmung....................................................................................................2 Foto................................................................................................................3 Impressum..................................................................................................4 Vorwort........................................................................................................6 Kapitel I ~ Der lang erwartete Abreisetag – ein Tag voller Warterei.8 Kapitel II ~ Überraschungen in Bangkok.............................................17 Kapitel III ~ Die Reise nach Ko Chang.................................................23 Kapitel IV ~ Ein „geruhsamer“ Urlaubstag..........................................35 Kapitel V ~ Abends Fisch- und Krabbenfängerei...............................44 Kapitel VI ~ Wechselbäder der Gefühle...............................................49 Kapitel VII ~ Abfahrt zur White Sand Beach.....................................55 Kapitel VIII ~ Die Bucht des weißen Sandes......................................60 Kapitel IX ~ Beförderung zum „Kapitän vor Anker“......................... 70 Kapitel X ~ Allein an Bord....................................................................75 Kapitel XI ~ Ganz auf sich selbst gestellt............................................82 Kapitel XII ~ Die Nacht im Orkan und danach.................................. 91 Kapitel XIII ~ Eine raue Reise vom Urwald zur Metropole..............98 Kapitel XIV ~ Warten auf den Nachwuchs.......................................109 Kapitel XV ~ Besuchstag bei einem Weltwunder............................. 113 Kapitel XVI ~ Dienstreiseauftrag Laem Ngop..................................122 Kapitel XVII ~ Wir betreten in jeder Hinsicht Neuland..................130 Kapitel XVIII ~ Torsten lebt gefährlich............................................141 Kapitel XIX ~ Von Menschen und Tieren auf der Insel..................147 Kapitel XX ~ Wunschträume und Alpträume..................................158 Kapitel XXI ~ Alles für das Chartergeschäft....................................167 Kapitel XXII ~ So etwas wie Heimweh.............................................173 Kapitel XXIII ~ Abschlusstörn um die Insel....................................178 Nachwort.................................................................................................184 Glossar......................................................................................................186 Autor.........................................................................................................189 Backcover................................................................................................190


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Vorwort Dies ist zunächst einmal ein Reise- und Abenteuerbericht von den Eindrücken und Erlebnissen eines Ostdeutschen bei seinem in dieser Art mit Sicherheit einmaligen und ungewöhnlichen Thailandaufenthalt, erlebt kurz nach jener Zeit, in der aus DDR-Bürgern „Ossis“, aus Werktätigen wieder „Arbeitnehmer“ oder aber Arbeitslose, Abgewickelte, Umschüler, Sozialhilfeempfänger und ganz wenige Unternehmer wurden. In meinem Tagebuch verzeichnete ich nicht nur Ereignisse und Beobachtungen, sondern auch meine jeweiligen Empfindungen und Stimmungen bei den Ereignissen während dieser erstmaligen Begegnung mit einer mir völlig fremden Welt. Mein Reisebericht, auf der Grundlage von über 200 Seiten Tagebuch, war anfangs nur dazu gedacht, auch Freunde und Verwandte mit meinen vielfältigen Erlebnissen und Eindrücken bekannt zu machen. Er entstand aus einer Anregung meines Bruders nach unserem ersten Abend auf Ko Chang. Nach vierzig Jahren meines bewussten Lebens in der DDR, mit ganz anderen Zielen und Emotionen, kam ich mir bei dieser Reise manchmal tatsächlich wie auf einem fremden Planeten vor. Nur, weil diese Reise in eine für mich bis dahin fremde Welt auch zugleich eine Art Arbeitsurlaub war, konnte diese „Expedition“ zu so intensiven und vielfältigen Eindrücken führen. Dafür danke ich meinem Bruder Harry und meiner Schwägerin Liao von ganzem Herzen. Ohne ihre Hilfe und Gastfreundschaft wäre mir dieser andersfarbige Teil unserer Welt kurz nach der Wende auch finanziell verschlossen geblieben. Der vorliegende, überarbeitete Erlebnisbericht ist aber zugleich auch ein ehrlicher Spiegel der persönlichen Probleme zweier Brüder miteinander, die in der Zeit der Konfrontationen des Kalten Krieges jeder auf der anderen Seite der Grenzlinie zwischen den Staats- und Gesellschaftssystemen aktiv und engagiert, gemäß ihren sich unterschiedlich entwickelnden Lebensvorstellungen, wirkten. In unserer Kindheit und Jugend sind wir unter gleichen ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Die beiden sich feindlich gegenüberstehenden Gesellschafts- und Sozialsysteme ließen uns Brüder sehr unterschiedliche Lebenswege mit anderen Lebensinhalten, Erfahrungen, Wertvorstellungen und Entscheidungen gehen, die uns auch heute noch unterschiedlich prägen. Für


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mich bleibt das Recht auf Arbeit, das Recht darauf, seinen Lebensunterhalt durch einen Arbeitsplatz selbst zu erarbeiten und damit sein Lebensniveau auch selbst mitzubestimmen, nach dem Recht auf Leben das wichtigste und verfassungsmäßig zu schützende Menschenrecht. Daran messe ich, ob ein Staat ein Rechtsstaat ist. Nach wie vor haben viele deutsche Familien miteinander aus Ost und West mit ihren unterschiedlichen Lebenserfahrungen ähnliche konfliktträchtige Probleme zum gegenseitigen Verstehen zu bewältigen. Über Jahrzehnte wurden diese ja durch die Spannungsfelder des kalten Krieges vertieft. Anstatt dass diese Spannungen nach der Aufgabe der DDR abgebaut werden konnten, haben sich aber mit dem brachialen Niederwalzen der bisherigen Existenzgrundlagen von Millionen Ostdeutschen nach dem Anschluss an die Bundesrepublik viele sogar verschärft. Vielleicht ist es deswegen auch für andere aufschlussreich zu lesen, wie wir versuchten, damit fertig zu werden. Quedlinburg, im November 1994 Winfried Düsterdiek (*28.09.1930, †15.03.2015)


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Kapitel I Der lang erwartete Abreisetag – ein Tag voller Warterei Sonntag, den 17.01.1993 ~ Da sitzen wir nun. Der Morgenkaffee ist längst getrunken, das Geschirr längst abgewaschen und wieder im Küchenschrank. Der Seesack und der Koffer stehen, sorgfältig gewogen und verschnürt, bereit. Der Meinungsstreit um die zweckmäßigste Kleidung für diese Fahrt ins unbekannte Thailand ist auch ausgestanden; alles ist wohl geordnet und gründlich beraten, selbst das Testament ist auf dem neuesten Stand. Wer fast um den halben Erdball fliegen will, auf Dschungelpfaden wandern wird, kurz vor Kambodscha segeln möchte, der hat vorsorglich die vielen Horrormeldungen aus aller Welt gelesen und fühlt sich nach dieser Lektüre bei aller Unternehmungslust als potentieller Erblasser. Sicherlich ist manches mächtig übertrieben. Aber wer möchte schon, dass der eigene Nachwuchs im unschönsten Fall aller Fälle wegen Unüberlegtheiten des Papas sich im Nachhinein in den Haaren liegen muss. Die anteilige Erbmasse des unternehmungslustigen Reisenden gibt nach den neudeutschen Maßstäben, nach denen sich heute auch ost-deutsche Väter messen lassen müssen, eigentlich keinen Grund zum Streit. Doch Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, wenn man in guter Erinnerung bleiben will. Meiner Frau fällt nun auch nichts Vernünftiges mehr zur Unterhaltung ein. Das will bei meiner temperamentvollen Madame schon etwas heißen. So lasse ich noch mal die Vorgeschichte der vor mir stehenden Reise Revue passieren. Eigentlich sollte die Reise ja schon im letzten Sommer geschehen. Ich wollte Bruder Harry, der als leitender Angestellter eines Weltkonzerns in Bangkok wohnt und arbeitet, im Anschluss an seine Sommerdienstreise, die ihn ausnahmsweise mal wieder in seine alte, kalte Heimat nach Deutschland brachte, bei seiner Rückkehr in seine Wahlheimat nach Thailand begleiten. Alles war so abgesprochen und darauf eingerichtet gewesen. Das wurde dann aber wegen neuer unvorhergesehener Terminverpflichtungen Harrys nichts und war wohl auch sonst nicht ganz opportun. Harry fliegt nämlich Senatorklasse. Wie sich


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das so für einen Topmanager gehört. Und ich höchstens „Ökonomie“, wie die billigere Touristenklasse heißt. Dann nahte ein neuer Termin im Herbst, an dem wollte Harry endlich Urlaub machen. Doch da bahnten sich neue Verpflichtungen in Malaysia oder ­Vietnam, oder was weiß ich wo, an. Und so wurde es wieder nichts. Danach aber wurde es konkret. Für den 3. Januar wurde der Flug gebucht, denn jetzt stand dem Urlaub nichts mehr im Wege, und auf mich sollte in ­Thailand schon eine Menge Arbeit warten. Harry hatte ein Stück vom Paradies auf einer Insel im Golf von Thailand entdeckt. Früher hieß diese Gegend mal Golf von Siam. Wie ich Harry verstanden hatte, würde ein wichtiger Teil meines Aufenthaltes die Hilfe sein, die ich ihm leisten könnte, den Eingang zu diesem Garten Eden gewissermaßen mit frei zu hacken. Dann aber kam von ihm ein neuer Anruf. Ganz dringende Geschäftsreisen nach da und dort und dieser und jener Termin, und dann noch eine Verabredung, erforderten, die Reise erneut zu verschieben. Am 17.1. aber käme er aus Hanoi, da wird es was. Und die Flugkosten gingen nicht zu meinen Lasten. Ich habe als DDR-Bürger so viele Jahre meines Lebens für Vietnam Solidarität geübt, dass ich gern bereit bin, aus weiterer Solidarität für dieses von den Franzosen und Amerikanern Jahrzehnte so schwer gequälte Land noch einmal vierzehn Tage zu warten. Und es ist wohl auch etwas wie historische Gerechtigkeit, wenn Harrys amerikanische Firma den Flug bezahlt. Deren Anteil am Aufbau in Vietnam ist gewiss nicht so selbstlos, wie jahrzehntelang unser aller und auch mein Anteil an diesem Sieg über die Supermacht aus Übersee war. Natürlich wird die Firma das Flugticket für mich nicht gerade wegen guter Führung zu DDR-Zeiten zur Verfügung stellen. Das wird wohl eher unter Familienzusammenführung verbucht werden. Ich empfinde es so oder so trotzdem als feinen Zug. Hauptsache, es wird verbucht: Sicher muss mein Bruder dafür auch ganz schön rotieren. Langfristig im Ausland arbeitende Firmenmanager internationaler Firmen haben meist vertraglich die Möglichkeit, ein oder mehrere Male im Jahr auf Firmenkosten zur Erledigung persönlicher Angelegenheiten oder zum Urlaub in die Heimat zu fliegen. Nutzen sie diese Möglichkeit nicht, kann auf Wunsch ein Familienangehöriger auf solchem Firmenticket zu Besuch reisen, gewöhnlich aber nur in der Touristenklasse. Was die Familienzusammenführung betrifft, die haben wir zwei Brüder ganz bitter notwendig. Vierzig Jahre Kalter Krieg hatte unsere Familie voll überrollt. Ich, der Ältere, war als junger Mann 1948 aus Überzeugung von Niedersachsen nach Ostberlin zum Studium an die Humboldt-Universität gegangen,


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weil man sich da ehrlich angeschickt hatte, sich vom Nazipack zu befreien, die Kriegsprofiteure in den Konzernen, deutschen Banken und Versicherungen davonzujagen und all die adligen Krönleinträger und ostelbischen Junker auf den pommerschen Rittergütern zu enteignen, um das Land denen zurückzugeben, deren bäuerlichen Vorfahren es beim preußischen Bauernlegen weggenommen worden war. Bei uns im Hannoverschen waren damals, knapp drei Jahre nach Kriegsschluss, die Amtwalter und Erfüllungsgehilfen Hitlers schon längst „entnazifiziert“ und wieder als unersetzliche Polizeioffiziere, Richter, Hochschullehrer, Landräte und wer weiß was noch alles in Amt und Würden. Und wer, wie auch ich, auf deren Mitschuld an den Kriegsverbrechen hinwies, der war eben ein „Nestbeschmutzer“. Wenn es bloß mit dieser Beschimpfung abging, war es ja noch gut gegangen. Als ich mich in jener Zeit, 1948, in einem von der Mutter umgefärbten Soldatenmantel aus dem Weserbergland über die Zonengrenze schmuggelte, die da noch eine relativ durchlässige grüne Grenze war, hatte ich mir nichts Böses dabei gedacht und guten Mutes Vater, Mutter und dem Bruder Lebewohl gesagt. Ich konnte nicht ahnen, dass schon ein Jahr später Kanzler Adenauer als erster aus seiner Seite der Zonengrenze eine Staatsgrenze machen würde mit dem unschönen Ziel, lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze Deutschland halb für den Einflussbereich der Herren mit dem großen Geld zu erhalten! Und noch weniger konnte ich wissen, dass danach der Osten seinerseits die Grenzpfähle noch tiefer einschlug. Dafür hatte ich aber durchaus Verständnis, wenn es mir persönlich auch ganz und gar nicht behagte. Aber wenn mein persönliches Lebensziel: nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus und alles für die soziale Sicherheit der arbeitenden Bevölkerung – eben nicht billiger zu haben war, dann musste es eben so sein. So bin ich damals in den östlichen Schützengraben des Kalten Krieges geklettert und habe darin gestanden bis zum schmählichen Ende. So wurde aus meiner Wanderung über eine Grenze eine Lebenswanderung. Der jüngere Bruder war damals noch viel zu jung für so etwas. Er ist im Westen Deutschlands verblieben, zum Manne herangewachsen und unter dem Zwang von Verhältnissen und Erkenntnissen dann in den Schützengraben auf der für mich nun anderen Seite gerutscht. Da hat er sich aber mehr in der Etappe, also hinter dem Graben, herumgetrieben. Schließlich ist er offiziell anerkannter Kriegsdienstverweigerer. Das hat ihm ganz gut getan. Aber weil er damit zu denen gehört, die nach der heute vorherrschenden Meinung politisch schon immer Recht hatten, ist es für ihn auch nicht leicht, so einen Bruder besitzen zu müssen, der kein verkappter „Widerstandskämpfer“ war wie zum


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Beispiel ein gewisser Verkehrsminister Krause und viele neu Aufgetauchte, die auch gern dazugehören wollen. Das hat uns beiden immer wehgetan. Zwar habe ich den Jüngeren, als er noch das ganz kleine Brüderchen war, gewindelt und im Kinderwagen geschaukelt. Aber die irrsinnig wenigen Male, die wir uns später treffen konnten, treffen durften, die haben wir uns auch noch verdorben mit unserer verbissenen politischen Streiterei. Eigentlich war ich es wohl mehr, denn ich hatte ja die „historischen Wahrheiten“ voll auf meiner Seite. Davon war ich jedenfalls überzeugt. Ich habe mir für diese Reise fest vorgenommen, den Schorf nicht von den verwundeten Seelen vorsätzlich abzukratzen. Die Schuldfragen der letzten vierzig Jahre sind ja von den Alleskönnern im Bundestag und im „Spiegel“ für den Hausgebrauch und die Tagespolitik ausreichend geklärt. Also werden wir lieber, wie Harry es vorgeschlagen hat, unter Palmen sitzen, ein kühles Bier trinken, über Segeln reden und darüber nachdenken, wie man sich für den Rest seines Lebens ein eigenes Paradies schaffen kann; so für ein bis fünf Personen. Denn jetzt ist auch mir klar geworden: Für sechs Milliarden Menschen ist das vorläufig wirklich nicht hinzukriegen. Nun ist es nach der ersten Stunde Wartezeit am heutigen Tage endlich soweit, dass meine Irmgard mich zum Bahnhof nach Halberstadt fährt. Und als alles Gepäck in den Waggon gewuchtet ist, werde ich mit dem lieben Wunsch von meinem Weib verabschiedet: „Komm gesund zurück, heil an Leib und Seele.“ Ich kann mir ganz gutvorstellen, mit welch gemischten Gefühlen meine Madame mich da verabschiedet. Thailand steht durch den Sextourismus in einem anrüchigen Ruf. Erzählte ich vorher Freunden oder Bekannten von meinen Reiseplänen und sagte, ich fahre zum Segeln, meinten alle, ich hätte mich versprochen. Sagte ich: „Ich will dort arbeiten“, erwiderte man lachend, das sei doch keine Arbeit oder ob ich schon so alt wäre. Und erklärte ich, diese Reise diene gewissermaßen der Familienzusammenführung, wurde zunächst auch nur geschmunzelt: „Ach, so nennt man das heute!“ Seitdem erzählte ich immer, ich führe nach Kambodscha. Da fragte man zwar, ob ich verrückt sei, unterstellte mir aber nichts Anstößiges. Endlich rollt der Zug, und ich nehme mir vor, von dieser Reise mal ausnahmsweise alle meine Utensilien wieder wohlbehalten mitzurückzubringen. Da wird meine Frau dann was zu staunen haben. Und dann esse ich erst mal, obwohl ich zu Haus eigentlich genug gefrühstückt habe. Auf dem Magdeburger Bahnhof absolviere ich sechzig Minuten planmäßige Bahnsteigpromenade. Irgendwie fühlt man sich schon gut, wenn man die Reaktionen der Reisenden auf meine doch nicht alltägliche Seglerkleidung be-


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obachtet: weiße Mütze, weißes Hemd, blaue Krawatte zum blauen Blazer und dazu eine hellgraue Hose mit exzellenter Bügelfalte, oben drüber die wirkungsvolle Seewetterjacke von Helly-Hansen, beste Markenfirma. Und dann höre ich, wie ein junger Mann seinen Freund auf mich hinweist: „Wie schön, dass es von uns doch noch mal einen gibt, der zur See fährt. Mann, weißt du noch, wie das hier früher immer gewimmelt hat von Seelords?“ Am liebsten möchte ich die beiden aufklären, dass mich die Treuhand nicht versehentlich angeheuert hat. Aber das hätte den beiden vielleicht noch mehr Hoffnung genommen bei den vielen Arbeitslosen hier im Osten. Hannover Hauptbahnhof, vom „Air-Terminal“ geht der Bus für Fünf DM zum Flughafen, und dort kostet ein Bier auch Fünf DM und ein Cappuccino ebenso. In Hamburg auf der Reeperbahn habe ich das schon teurer gekriegt, aber ich habe immer noch die niedrigen Preise vom Flughafen Berlin-Schönefeld im Kopf, als der noch volkseigen und Interflug war. Ich bin wohl doch fast ein alter Opa, der sich mit seinem Osteinkommen schwer auf Westeinkommenspreise einstellen kann. Am Ende bezahle ich. Irgendwie müssen die drei Stunden bis zum Abflug nach Frankfurt ja verbracht werden. In der Abfertigungshalle herrscht an diesem Sonntagnachmittag kaum Betrieb. Die Halle ist angenehm temperiert. Gelangweilt stehe ich vor dem noch verschlossenen Schalter vier, der für mich so etwas wie das Tor zur Welt werden soll. Er wird erst in zwei Stunden geöffnet. Ich betrachte mir in meinem blauen Blazer, der akkurat gebügelten grauen Hose und der weißen Schirmmütze die Kofferwagen und Transportbänder, als mich von hinten zwei Mitarbeiter des Flughafens höflich fragen: „Herr Kapitän, möchten Sie schon zu ihrer Maschine?“ Dann Lachen: „Entschuldigen Sie, Sie gehören ja zur anderen Fakultät!“ Na Leute, da gibt es doch gar nichts zu entschuldigen, mit einem Flugkapitän verwechselt zu werden, das ist doch wahrlich keine Schande! Ich wiege meine Handgepäck-Reisetasche, in der ich außer einer dringend für die Segelyacht benötigten Wasserpumpe und den von Bruder Harry gewünschten und von Freund Joachim gespendeten drei Flaschen Pfälzer Weines noch eine Menge Büchsen heimischer Wurst verstaut habe. Etwas Besonderes für den, der in Thailand drei Mal am Tag warmen Reis vorgesetzt bekommt. Nun wird mir mit Schrecken klar, dass ich in dieser Tasche über zehn Kilo Übergewicht habe; schon die drei Flaschen wiegen ja nahezu sechs Kilo! Ich schwitze Blut und Wasser, bis ich den Großteil der Buchsen in den verschiedenen Seitentaschen meiner Segeljacke und sonst wo verstaut habe. Als ich damit endlich fertig bin, erfahre ich von einer Stewardess, dass Handgepäck nicht gewogen wird. Also packe ich alles wieder zurück in die Reisetasche. Sehr kapitänswürdig komme ich mir dabei nicht vor.


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Der Flug durch eine überaus klare Neumondnacht wird schon über dem Lichtermeer Hannover zu einem Erlebnis. Etwa ab Marburg wird es noch eindrucksvoller. Die unzähligen Ortschaften unter uns glitzern wie Hunderte verschiedengestaltiger Diademe und Diamantbroschen, oft durch Perlenschnüre bunter PKW-Lichterketten verbunden. Hier und da brillieren in der Lichtervielfalt Rettungsfahrzeuge, Warnblinkleuchten und die Positionslichter einzelner Flugzeuge. Nirgendwo werde ich auf meinem Weg durch die Nacht bis Bangkok und später beim Rückflug über den Indischen Subkontinent und auch nirgends in den Weiten Russlands eine nur im geringsten vergleichbare Kulturlandschaft in den Nachthimmel hochfunkeln sehen! Nach 35 Minuten ist der Großflughafen Frankfurt erreicht. Ein Bus holt uns ab und bringt uns in den Abfertigungshallen-Komplex: 500 Schalter, eine verwirrende Vielzahl von Gängen, Stockwerken und Läden, mit Gepäck beladene Menschen aller Hautfarben aus allen Erdteilen. Und doch wirkt das Ganze nach einer Weile Gewöhnung nicht hektisch und wird für mich zunehmend überschaubarer. Drei Stunden Wartezeit habe ich an diesem Sonntagabend, um mich ausreichend umzusehen, die unter den Hallendächern hängenden Oldtimer deutscher Luftfahrt zu bestaunen und die schick ausgestellten modernsten Nobelkarossen, Made in Germany, für Leute mit mehr „Money“, als ich es besitze, zu bewundern. In den Ladengeschäften ist um diese Zeit allgemein nicht viel los. Die meisten Besucher hat der Sexshop. Als ich nach einer halben Stunde Stadtwanderung in diesem riesigen Hallenlabyrinth mein für mich laut Flugplan zuständiges Gate B35 entdecke und von dort dann noch nach B36 geschickt werde, weil die Leute dort heute Nacht wirklich für mich zuständig sind, geht alles so reibungslos wie die Passkontrolle. Nur zwei Grenzschutzbeamte kontrollieren vor der mächtigen Transitraumzone in Nullkommanichts einen nicht abreißenden Menschenstrom. Und die fließende Gepäckkontrolle (400 Passagiere sind an meinem Gate B36 via Bangkok abzufertigen) kommt nur kurz ins Stocken, weil der Beamte das Gewicht meiner Reisetasche unterschätzt hatte. Pfälzer Weine sind in Flaschen abgefüllt erst recht schwere Weine! Mit einigen wenigen Europäern warte ich dann in dem sonst von Asiaten bis auf den letzten Platz besetzten Transitraum des Gate B36. Irgendwie vergeht auch diese Wartezeit. Es ist jetzt 23:00 Uhr, und seit heute Früh stehe oder sitze ich geschlagene zehn Stunden auf Flughäfen oder Bahnhöfen herum. Ich mache die Erfahrung, dass man heutzutage über den Globus schneller von Frankfurt nach Bangkok kommt als vom Harz über Hannover nach Frankfurt.


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Es dauert dann natürlich auch noch seine Zeit, bis sich die 400 Passagiere samt ihrem Handgepäck mit Hilfe der Stewardessen im Rumpf der Boeing 747 verteilt und verstaut haben. Danach werden wir per Video-Vortrag ordentlich geschult, wie wir bei Havarien überleben können. Das Verhalten bei Flugzeugentführungen ist nicht im Schulungsprogramm enthalten. Danach verspricht der stellvertretende Flugkapitän, uns über München, Budapest, Istanbul, Isfahan, Neu Delhi, Kalkutta und den Golf von Rangun bis nach Bangkok zu fliegen. Später erfahre ich, dass dieser Kurs aber wohl irgendjemandem nicht gepasst hat und wir über Teheran zu fliegen haben. Nach einem Begrüßungstrunk (Cola mit Rum) wird das Abendessen serviert, bestehend aus Käse mit Walnüssen, danach Krabbensalat. Dem folgen nach Wahl Huhn oder Lamm mit Nudeln und Paprikaschoten (gedünstet). Beigefügt ist eine schriftliche Garantieerklärung für Juden und Moslems, dass keinerlei Schweinefleisch verwendet wurde. Religionsunabhängig ist das S ­ chokoladendessert. Mit dem Wein ist das wieder so eine verzwickte Sache, jedenfalls sehe ich keine der asiatischen Frauen irgendetwas Alkoholisches trinken. Ich lasse mir wunschgemäß einen Schoppen Burgunder bringen. Der ist aber so trocken, dass meine Frau ihr Glas mir überlassen hätte, obwohl sie als Atheistin keine religiösen Skrupel plagen und sie sonst nichts gegen Wein hat. So angenehm versorgt, schaltet man je nach Wahl sein passendes Musikprogramm ein. Ein herrliches Symphoniekonzert habe ich mir unter meinen Kopfhörern auf diese Weise vier Mal angehört und weiß auch heute leider noch nicht, welches Stück das war. Fast alle Mitreisenden schlafen, auch meine Nachbarin. Sie ist auf den ­Philippinen beheimatet. Drei Jahre hat sie als Mitarbeiterin für asiatische Sprachen bei einem amerikanischen Korrespondenten in Deutschland hinter sich und nun den ersten Urlaub bei ihren Eltern vor sich. Um 03:00 Uhr mitteldeutscher Zeit des neuen Tages klettere ich so seriös wie möglich bei der Enge der Sitze über die schlafende, etwas zu mollige Nachbarin hinweg zum Gang, um mich vor Morgenanbruch und dem zu erwartenden Toilettengedrängel zu rasieren. Alle Fenster im Passagierraum sind gegen das bald eindringende Tageslicht seit Mitternacht abgedunkelt. So erlebe ich nach der Morgentoilette kurz nach 03:00 Uhr den Sonnenaufgang durch ein Bullauge hinten bei den Stewardessen. Und über eine Stunde begeistere ich mich an dem gigantischen Panorama der Fünf- und Sechstausender des Hindukusch, des Karakorumgebirges und der westlichen Gipfel des Himalaja an Backbord unserer Maschine. Welch ein Hochgefühl, so bequem auf die Sitze der Götter und ihre weißen Schneebezüge gucken zu können.


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Während dieser unvergesslichen Morgenandacht danke ich meinem Bruder, ohne dessen Hilfe ich dieses unvergessliche Erlebnis wohl nie gehabt hätte. Es bleibt mir unerklärlich, wieso sich nur ein einziger Mitreisender, auch ein Europäer, von all den vielen Mitreisenden an Bord unserer Maschine um dieses faszinierende Erlebnis bemüht, alle anderen aber lieber die Zeit verschlafen. Wann es was zum Frühstück gab, habe ich gar nicht mitbekommen. Eigentlich möchte ich mich noch heute im Nachhinein bei der freundlichen Stewardess entschuldigen, die mich so lange am Bullauge in ihrem Küchenbereich duldete und dazu noch reichlich mit Kaffee versorgte. Je weiter unsere Maschine aber in den neuen Tag hineinrast, umso dunstiger wird es. Mir gelingt gerade mal die Fotoaufnahme eines schlangengleichen Flussmäanders, der sich durch ein Wüsten- oder ein Steppengebiet wohl im nördlichen Indien hinzieht. Die tropischen Gebirgswälder Burmas, die wir später überfliegen, sind bei der hohen Luftfeuchtigkeit tief unter uns nur noch zu ahnen. Dann senkt sich die Boeing über Thailands Reisfeldern aus ihrer Flughöhe von 10.000 Metern tiefer und tiefer. Hier spürt man die 950 km/h wieder, und als sich der Riesenvogel dann steil über die Flügel legt im Anflug auf unsere Rollbahn des Airports Bangkok, spürt man das bekannte Kribbeln: „Na, es wird doch wohl alles gut gehen ...?“ Natürlich geht alles gut. Eigentlich hätte das Pilotenteam einen Applaus verdient. Auf den arabischen Linien ist das wohl üblich, wenn die Männer da vorn in der Kanzel Allah so gut zur Seite gestanden haben wie unsere Crew. Aber unsere jetzt endlich munter werdende Reisegesellschaft weiß sicher gar nicht, dass gerade das Landemanöver der Flieger wie das Anlegemanöver bei Yachten und Motorschiffen unter allen Bedingungen das größte Steuermannsgeschick erfordert. Ich weiß das zwar, aber den Anfang als Claqueur will ich als einer der wenigen Europäer unter den vielen Asiaten auch nicht gerade machen, und so unterbleibt es. Schade! Zu Fuß vom Flugzeug mit dem schweren Gepäck durch elend lange Zubringerkorridore bis zur Pass- und Zollkontrolle muss man echt gut drauf sein. Gepäckkarren sind zu wenige da, so dass für mich keiner übriggeblieben ist. Die verflixte Reisetasche zerrt an mir herum, dass Mütze, Jacke und sogar das Hemd auf das liederlichste verrutschen. In einer der langen Warteschlangen vor den Schaltern der Einreisekontrolle habe ich aber ausreichend Zeit, mich wieder landfein zu machen. Schließlich wird mich Harrys junge Frau, meine neue Schwägerin Liao, eine Thailänderin, empfangen. Da will man sich doch nicht blamieren! Aber zunächst ist erst mal die Einreisekontrolle zu meistern. Die Männer an den Abfertigungsschaltern, eigenartiger Weise in Uniformen ähnlich denen russischer Panzertruppen, sind


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anscheinend noch gründlicher als die einstigen Grenz- und Zollmitarbeiter der DDR. Und die Mienen sind so, wie unsere einstigen Grenzer und Zöllner immer geguckt haben sollen, wenn sie einen Wirtschaftswunder-Deutschen zu „behandeln“ hatten. Ich kenne das leider nur vom Hörensagen, denn ich war ja nie Reisekader ins kapitalistische Ausland. Aber heute bin ich ja selbst Bundesbürger und habe Verständnis dafür, wie ein solcher angesehen zu werden.


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Kapitel VIII Die Bucht des weißen Sandes Sonnabend, den 23.01.1993 ~ Wir beginnen den neuen Tag gut ausgeschlafen. Und lachen vergnügt, weil wir trotzdem und zur gleichen Zeit ausgiebig gähnen. Dann hält sich jeder auf seiner Schiffsseite vorsorglich an einer Wante fest, um sich die Blase über Bord zu entleeren. Auf unserer kräftig in Morgenwind und Wellen tänzelnden Yacht braucht man selbst für so natürliche Verrichtungen Stehvermögen und Geschick. Da ich mich mit der rechten Hand am Backstag festhalten muss, um wegen der Schaukelei nicht über Bord zu gehen, benehme ich mich zugleich entsprechend dem thailändischen Benimmkodex, ihrem „Knigge“, salonfähig. Ich habe für die „unreinen“ Dinge des Lebens der Vorschrift entsprechend nur die linke Hand frei gehabt; Und ausschließlich die darf nämlich dafür genommen werden. Die Thais sind sehr auf körperliche Reinlichkeit bedacht, und so gehört es sich deswegen auch nicht, einen Thai mit der linken Hand zu berühren. Harry wandert danach hurtig durch die Yacht und hat als Reeder, also der, der das Reden, das Sagen hat, im Handumdrehen so viel Kritisches festgestellt, was Frank als Skipper nicht oder falsch gemacht hat, dass es viel vergnüglicher sein muss, Harrys Chef als sein Untergebener zu sein. Aber auch als Harrys Boss muss man wohl ganz schön clever sein, wenn man bei solch ausgefuchstem Mitarbeiter fest auf seinem Sessel sitzen will. Aber irgendwie müssen die Machtpositionen der obersten Etagen auch noch anders festgezurrt sein. Mir sind noch die Telefonate während der Fahrt zur Küste in Erinnerung. Da war ja des Öfteren davon die Rede, dass an dem Verstand von diesem und jenem zu zweifeln wäre. Trotzdem sitzen die fest. Mit dem Dingi geht es durch die warmen blauen Wellen der Brandung dann zum Ufer, und Liao ist auch schon munter und freut sich, dass sie uns wieder hat. Wir waschen uns in dem nach Festlandart in Thailand eingerichteten Waschraum aus einem 1,5 m2 großen Betonbottich. Er ist bis zum Rand mit Frischwasser gefüllt, das durch die hohe Lufttemperatur mindestens 25 °C warm ist. Auf dem Bottich schwimmt die obligatorische Waschschüssel, mit der man


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das Wasser entnimmt, um sich einzuseifen und mit beliebigen Wassermengen abzuspülen. Im gleichen Raum steht ein Porzellanabtritt für beide Füße und groß genug, um sich bequem hinhocken zu können. Lange Hosen trägt man hier ja nur selten. Und außerdem ist in einem kleineren Becken auch noch genügend Wasser zum Reinigen der Hinterseite (mit der linken Hand) da. Toilettenpapier dagegen gibt es nicht. Toilettenpapier in bester europäischer Qualität steht dafür auf den Esstischen anstelle der in Europa gebräuchlichen Servietten. Als wir anschließend vor dem Bungalow frühstücken wollen, müssen wir den ganzen Vorplatz erst mal gründlich von einem scheußlichen Haufen Unrat säubern. Papier, Berge von Flaschen und was weiß ich, liegen herum. Die Thai sind zwar sehr um körperliche Sauberkeit bemüht, halten ihre Fußböden blitzblank, aber was sich vor und vor allem hinter der Haustür ablagert, scheint die meisten nicht zu stören. Mülltonnen habe ich auch hier in dem deutsch-schweizerischen Resort noch nicht gesehen. Einen Laubrechen finden wir, aber keine Schaufel für den Müllberg. So muss ich auch mit der rechten Hand zufassen. Hier fehlt das, was bei uns zur Infrastruktur zählt, um den vielen Plastikmüll, den auch die Touristen in ihrem Gepäck herschleppen, zu beseitigen. Inzwischen hat Liao mit Thi, auf dem Boden hockend, das Frühstück vorbereitet. Thi ist die Freundin von Frank, die in der Woche wegen seines jetzt zurückliegenden Geburtstages aus einem Vorort von Bangkok angereist war. Ihretwegen also war Frank der Wellengang gestern Abend zu hoch, so dass er unbedingt an Land schlafen wollte. Sie war die „Touristin“ der zuliebe er fast einen Streit mit seinem Boss riskiert hätte. Denn der Wellengang war wahrhaftig nicht hoch. Dankbar spüre ich, wie Liao bemüht ist, meine Wünsche betreffs Frühstück zu erfahren und zu erfüllen. Wir Männer sitzen draußen nett versorgt, die Frauen drinnen. Daran tun sie recht. Denn nun tauschen sich Frank und Harry aus. Irgendwie entwickelt sich der Plausch schnell zum harten Business-Fight in bestem Englisch, und vorsorglich gehe ich baden. Als ich aus den Wellen steige, kommt Harry mir besorgt entgegen. Wölfi und seine Gefährtin sind nicht da. Verflixt, die sind doch nicht etwa um sieben Uhr schon mit dem Postboot abgehauen? Wölfi hatte gestern Abend schon angedeutet, dass er unbedingt nach Bangkok zurück müsse, sich dann aber von seinem Partner überreden lassen, noch hier zu bleiben, weil der seine Meinung auch hier im Resort noch braucht. Aber Buddha sei Dank! Die beiden waren nur schwimmen, und jetzt müssen sie erstmal in Ruhe frühstücken. Mein Gott, ich kann mit meinem Bruder mitfühlen. Da, wo ich zu Haus der „Bestimmer“ bin, wie mein kleiner Enkel sich


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ausdrücken würde, kann ich es auch nicht leiden, wenn man so in den Tag hineingammelt wie die beiden Hochzeitsleute hier. Und wenn sie auch auf Hochzeitsreise sind, ist das noch lange kein Grund, die wertvolle Zeit so zu vertun. Wir sind doch nicht zum Spaß hier! Aber mein Bruder verdaut so etwas. Er hat seine ärgerlich verrutschten Gesichtszüge immer sofort wieder in Gewalt, beherrscht das „keep smiling“ einschließlich moderater Töne, und er versteht es meistens schnell, den Ärger im Bauch zu verstecken. Davon sind seine Haare auf der Brust sicher so grau geworden, die einzige Stelle, wo er bisher graue Haare hat. Und schon hat Harry eine neue Idee zur Erörterung. Er informiert uns, dass es eine Urwaldstraße hier von der White Sand Beach über den Nordteil der Insel nach Ban Salak Phet in einigermaßen gutem Zustand gibt. Man könne die Chartergäste der Sundowner ja zu diesem Fischerdorf hinsegeln. Dort sind sie abzusetzen, lässt sie die Idylle eines echten Thaidorfes erleben, bei Kun Saou an Meeresfrüchten laben und fährt sie dann mit dem Land-Rover zurück. Der Land-Rover sollte am frühen Vormittag schon jene Gäste gebracht haben, die den Tag mit der Urwaldreise beginnen. Sie müssen inzwischen gegessen haben und dann mit der Sundowner die Heimreise zur Beach oder den anderen an der Strecke liegenden Resorts antreten. Wenn das machbar ist, wäre das einfach toll. Es wird nur machbar sein, wenn Harry das in die Hand nimmt. Und damit die Gäste hier an der White Sand Beach auch alle von dem Urlaubsglück erfahren, das ihnen der künftige Yachtklub Ko Chang bescheren will, hat Harry eine Idee. Ich könnte hier an der White Sand Beach den Katamaran verchartern, das heißt, ihn stundenweise vermieten oder den Leuten Segelunterricht geben und die Gäste vom Resort für Charterfahrten mit der Sundowner begeistern. Mit meiner schönen Seglermütze, dem blauen Blazer und überhaupt wäre ich hier eine denkbar eindrucksvolle Erscheinung auf Ko Chang. Das beflügelt wiederum mich zu einer Idee. Dann könnte man ja auch Surfbretter verleihen. Damit könnte man noch weitere Leute ansprechen und Einnahmen erzielen. Ich kann zwar nicht surfen, aber ich habe schon gesehen, wie man es macht. Die Idee wird für gut befunden, weil sie nicht allzu viel kosten wird, und ich lächele zufrieden. „Ja“, sagt Harry, „So musst du immer lächeln. Mit deinem finsteren Gesicht erschrickst Du alle Thai.“ Ich gebe ihm Recht, dass ich mich darüber auch ärgere, und weil ich mich darüber ärgere, mach ich nun mal meist so ein Gesicht. Nun, meint Harry, mit gutem Willen kann man auch Lächeln erlernen. „Gib dir Mühe, in vier Wochen hast du es drauf.“ „Mensch, Harry, das kann doch nicht wahr sein, da soll ich mich wohl vier Wochen auf der Sundowner, wo der einzige brauchbare Spiegel in dieser Gegend hängt, hinstellen und üben?“


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„Warum nicht, wenn es Dir hilft, deine Wirkung zu verbessern!“ Soll man da nun als Mann über sechzig lachen oder weinen? Ich werde ihm bei Gelegenheit lieber mal vorschlagen, meine Mundwinkel auf seine Kosten liften zu lassen. Nach dem Frühstück treibt es uns zu der Landerkundung. Nachdem wir uns den Katamaran angesehen haben und das Resort, die Schöpfung von Jürgen und James, hinter uns liegt, kommen wir zunächst an einigen weiteren einfachen Restaurants vorbei; alles Holzbauten auf Pfählen. Unter den Palmen folgen viele Urlauberbungalows, eine kleine Siedlung. Die Mehrzahl auch dieser Pfahlhütten, so drei mal drei Meter im Quadrat, ist nur mit Palmenblättern gedeckt. Die Wände sind aus Stroh, in vielerlei Techniken und Mustern geflochten. Fast alle haben eine kleine Balustrade vorgebaut. Aber die Feriengäste, unter denen ich keine Thai sehe, sind an diesem Vormittag am Strand, im Wasser oder frühstücken in den kleinen Thairestaurants, die erheblich billiger sind, als es im Resort, dem ersten Haus am Platz, der Fall ist. Die da im Wasser herumtollen, die haben es gut, die haben keine Sorgen mit so viel Problemen, wie wir sie hier auf der Insel aufhäufen. Dabei wollen wir doch nur, dass es diesen Touristen hier mal noch besser geht, als es ihnen jetzt an diesem Strand schon geht! Unser Spaziergang wird ein anderthalb Kilometer langer Marsch, erst durch ein ausgetrocknetes Bachbett, dann über eine betonierte Mole und anschließend eine kurze Geröllstrecke und danach nur noch über Sandstrand, feucht und fest durch die Ebbe, echt gut zu laufen und vor allem kein Hindernis beim Diskutieren. So kommen wir, immer noch das Für und Wider der Probleme kauend, bei der Seagold-Klause an, einem an drei Seiten offenen Thairestaurant mit Theke und sechs Tischen und 24 Stühlen unter einem tief nach unten gezogenen Strohdach. Daneben steht ein einfacher Bungalow, und dahinter versteckt sich wohl der Bad- und Toilettenbau. Der Platz ist einfach idyllisch. Er wird voll beherrscht von einem breit ausladenden Baumriesen, gut 30 m hoch und einem Kronendurchmesser, der auch nicht geringer ist. Das Blätterdach schützt die ganze Anlage vor den Monsunstürmen im Sommer von der Seeseite her. Nach rechts und links ist dieses schöne Stück Erde eingerahmt von hohen Kokospalmen, neben einem Bächlein, das aus einem der steil hinter uns aufragenden Berge mit seinen Giganten des Regenwaldes kommt. Mich fasziniert diese Tropenromantik. Harry lädt uns ein. Sichtlich sind mein Bruder und der alte Thai, dem diese Taverne gehört, gut miteinander bekannt. Der Mann ist so spindeldürr, wie ich in meinem Leben noch nie einen Mann sah. Wir sitzen an Tischen und Stühlen, die ganz und gar aus gespaltenem Bambus geflochten sind und genießen frischgepressten, kalten Apfelsinensaft. In der Strohhütte daneben am Bach


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soll nach Harrys Vorstellungen in den nächsten Wochen mein Domizil sein. Sie ist blitzsauber, hat eine ordentliche Zweischläferliege und auch die Toilette ist O.K. Dahinter sieht es zwar genauso aus wie überall hier hinter Behausungen. Aber der Blick auf die See, die Weite der grünen Bucht, die zu beiden Seiten von Höhenzügen abgeschlossen wird und das blaue Wasser des freundlichen Golfs: „Trinkt, oh Augen, was die Wimper hält, von dem goldenen Überfluss der Welt!“ (Gottfried Keller, Abendlied). Aber ich weiß, ich bin ja nicht nur zum Vergnügen hier. Doch ein bisschen Träumen ist auch erlaubt. Also, wenn ich mich da so auf der Hüttenveranda sitzen sehe, vor mir der Katamaran mit bunten Segeln, ich mit der Kapitänsmütze auf dem Kopf, vor mir ein paar junge Herren, sicherlich auch Damen. Und denen erkläre ich, wie man Katamaran segelt. Die Preise werden nach dem Beispiel von einem Skilift bei uns im Harz vereinbart: Wer so und so lange segelt, kriegt 10 Minuten gratis. Oder ich schildere eindringlich, wie reizvoll, ja unvergesslich so eine Fahrt mit der Sundowner ist. Und vor allem werde ich ihnen den Mund wässerig machen, wie genüsslich ein Mahl aus Meeresfrüchten in einem Thaidorf namens Ban Salak Phet ist… Da werden sich die Leute hier darum reißen, zu segeln, zu surfen und mit der Sundowner nach Ban Salak Phet zu kommen. Die Tageseinnahmen reichen sicher für den Lebensunterhalt hier, und ich brauche meinem Bruder nicht weiter auf der Tasche zu liegen. Dann geht Wölfis Aufbruch schneller, als mir lieb ist, weil das Verkehrsboot nicht warten wird. So kriegt Wolfgang nicht mal meine heimatliche Telefonnummer mit, um meine Frau zu grüßen und sie zu informieren, wie beschäftigt wir hier sind. Später werden auch Frank, Jürgen und James in die neue Planung eingeweiht. Die beiden letzteren finden die Sache O.K. Sie können bestimmt Leute mit Geld anziehen, und der Klub kann sehr wohltätig für den Aufschwung der ganzen Insel wirken, wenn das alles so klappt, wie Harry sich das vorstellt. (Und im Hinterstübchen denken sich die beiden Schlaumeier gewiss, in dem von hier genügend Seemeilen entfernten Ban Salak Phet wird Harry ihnen nicht zu dicht auf der Pelle sitzen.) Fränki, unser Skipper, beschert uns unvermutet neue Sorgen. Er muss unbedingt und sofort nach Malaysia. Sein Visum ist abgelaufen. Er muss es in Malaysia verlängern lassen. So ein Einreisevisum verlängert nur das Konsulat, das es mal ausgestellt hat. Es sei kein Problem, die Verlängerung zu kriegen. So richtig begreife ich diesen außenpolitischen Bürokratismus nicht. Darauf kommt es auch nicht an. Was aber ist mit unseren Plänen, wenn er es doch nicht verlängert bekommt. Und wie wird es mit meinem Sohn sein, der auch hierher nachkommen will? Sein Visum ging postalisch verloren.


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Es ist so: beispielsweise Deutsche, Österreicher und Schweizer, die im Besitz eines gültigen Reisepasses sind, können ohne Visum einreisen und sich für 15 Tage im Land aufhalten. Die Aufenthaltsgenehmigung könnte auch auf dem Flughafen in Bangkok ausgestellt werden. Ein Rück- oder Weiterflugticket muss aber vorgelegt werden können, schließlich will Thailand ja nicht zum Asylland von Obdachlosen europäischer Länder werden. Davon hat man schließlich selber genug. Je nach Beamtenlaune könnte man dieses Visum für drei Tage noch einmal verlängern. Und was das Heben einer Beamtenlaune in Thailand betrifft, so kann der Reisende dazu viel beitragen, wenn er dem Beamten von vornherein höflich, ausreichend geduldig, sauber und vor allem auch unaufdringlich geschenkfreudig entgegentritt, um dessen unparteiisches Herz für sich zu gewinnen. Er sollte vor allem auch nicht erwarten, dass der Beamte seinetwegen unbedingt zur Bürozeit anwesend ist. Wer aber von Anfang an länger bleiben will, sollte bei einem thailändischen Konsulat rechtzeitig vorher für etwa 30 DM ein Touristenvisum beantragen, das zu einem Aufenthalt von 60 Tagen berechtigt. Will man es dann im Land noch einmal um weitere 30 Tage verlängern lassen, muss man dafür schon 500 Baht hinblättern. Besser haben es da Geschäftsleute wie Harry. Sie benötigen für sich ein „Non-Immigrant-Visum“, das zu einem Aufenthalt von 90 Tagen berechtigt. Es können bis zu vier Einreisen im Jahr eingereicht werden. Damit ist dann der Ganzjahresaufenthalt praktisch gesichert. Die ausländischen Firmen, die Mitarbeiter wie Harry über Monate und Jahre hinweg in Thailand arbeiten lassen, regeln gewöhnlich über ihre Personalabteilungen diese notwendigen Formalitäten für ihre Mitarbeiter und zahlen die Kosten. Frank, als einfacher Brite, kann sich in Thailand nur mit Touristenvisum aufhalten. Und da er ja zurzeit bei seinem Job als Skipper wahrlich keine Weltfirma mit offizieller Außenstelle in Thailand im Rücken hat (nicht mal unser Segelklub ist bisher gegründet), muss er sein abgelaufenes Visum, bitte schön, selber da verlängern oder erneuern lassen, wo es ausgestellt wurde. Das ist nun mal Malaysia. Also wird er da mal flugs auf eigene Kosten hinfliegen und sehen, wie er auf dem Konsulat klarkommt, um dann schnell wieder zurückzukommen. Geld verdient er schließlich nur aus seinem Anteil an der Charter. Da wird er sich schon sputen. Schließlich werden Jobs, mit denen man sich einigermaßen ernähren kann, auch in Thailand und in England immer knapper. Und nun erfahre ich auch, dass mein Bruder ebenfalls nach Bangkok zurückmuss. Sein Kurzurlaub nach der kalten Vietnamreise sei zu Ende. Also wird kurz umdisponiert. Ich werde jetzt nicht in die Hütte einziehen. Wir werden noch heute mit der Sundowner nach Ban Salak Phet zurücksegeln. Der Katamaran bleibt noch dort, wo er steht.


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Daraufhin wird unser Gepäck unverzüglich wieder zusammengepackt, zum Strand runtergeschleppt, in das Beiboot der Sundowner verlastet, übergesetzt, hoch an Bord gehievt. Ich bin voll ausgelastet. Am meisten ist mir Harrys Tasche mit dem Computer wegen ihres Gewichtes zuwider. Was er mit diesem Gerät hier im Busch wohl will? Das kann nur eine Frage der Sicherheit sein. Da es ja nun keine Stasi mehr gibt, seine Firma freundliche Geschäftsbeziehungen mit Russland hat, also auch die Tscheka nicht der Grund sein kann, geht es wohl um den Selbstschutz vor Wirtschaftsspionage. Die Japaner sollen ja auch auf dieser Strecke ekelhaft clever sein. Und da hat man nun gedacht, mit dem Fall der Mauer wäre die Welt wieder heil! Jedenfalls, wenn ich das schwere Ding für meinen Bruder schleppe, fühle ich mich als eine Art Geheimnisträger mit Osterfahrung. Das macht die Plackerei erträglicher. Ich trage das Ding auch anstandshalber. Gewiss sind in dem Computer auch ein paar Interna der Firma gespeichert, die so freundlich war, mir meine Flugreise zu bezahlen. Da kann auch ich ruhig mal was für sie tun. Inzwischen hat Frank die Wasserpumpe, die ich aus Deutschland mitgebracht hatte, auf der Sundowner eingebaut, sodass der Segler langsam reisefertig wird. Damit bin ich die Wasserpumpe endlich los und brauch sie in Zukunft nicht noch mal zu schleppen. Frank, seine Freundin und ich sitzen nach der Plackerei an Bord und müssen noch lange auf Harry und Liao warten. Endlich kommen die beiden und bringen noch den Jutesack mit dem Klareis auf das Schiff zurück. Ein Charterpassagier war einen Teil der Chartergebühr schuldig geblieben. Das war noch zu bereinigen. Beim Geld hört schließlich bei Harry die Gemütlichkeit auf. Segel auf, Anker hoch zu meiner allerersten Fahrt mit der Sundowner. Wo ich es erkenne, fasse ich zu und stelle fest, dass ein Jollensegler hier auf Anhieb zunächst mal mehr übersieht als überblickt. Aber auch Skipper I und Skipper II übersehen meine Anfangsunsicherheiten auf dieser für mich neuen stolzen Yacht. Ich kriege das Ruder in die Hand gedrückt, die beiden setzen die riesige Fock, der Kurs wird festgelegt, und ich soll schön auf die Windfäden achten. Kurs 50 Grad sei zu segeln, besser aber sei, sich nach den Windfäden zu richten. Nachdem ich meine ausreichenden theoretischen Kenntnisse über Windfäden zu und ihren Gebrauch nach einer Art Prüfungsfrage mündlich befriedigend beantwortet habe, widmet sich mein Bruder wieder seiner Lieblingsbeschäftigung, Probleme zu wälzen. Aber ehe er dabei so richtig in Fahrt kommt, kriege ich mit Recht meinen ersten Anranzer. Theorie und Praxis sind bekanntlich zweierlei. Die Windfäden, nach denen ich segele, stehen zwar bildschön in der Windströmung. Es sind nur keine! Ich hatte mich schon gewundert, mit welch schweren Windfäden


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auf so einer Großyacht die Strömungsverhältnisse am Segel kontrolliert werden. Ich richte mich nämlich aus Unkenntnis nach den Reffbändseln, die zur Verkleinerung der Segelfläche bei Sturmgefahr dienen und die wir an unseren heimischen Rennbooten nicht fahren. Da brauche ich mich nicht zu wundern, dass es ganz schön schwer ist, dieses kräftige Material zum Wehen zu bringen. Dadurch waren wir so hoch an den Wind gegangen, dass wir leicht eine Wende riskiert hätten, ohne die Fock rüberzunehmen. Meine Jolle wäre dabei mit Sicherheit gekentert. Wie ist das nun mit Kielbooten, die sind doch eigentlich nicht kenterbar. Fragen kann ich nicht, die beiden Skipper diskutieren weiter, und ich suche die richtigen Windfäden, derweil Harry vorsorglich nebenbei noch das Steuerrad führt. Endlich finde ich sie hoch im Topp der Fock, wo sie wohl kein Jollensegler vermuten würde. Weil es um die Maschine geht, die trotz mehrerer Reparaturen immer wieder ihre Mucken hat, kriege ich das Ruder wieder übertragen. Die Yacht liegt jetzt gut an, und auch die Wenden klappen vorzüglich. Ich bleibe damit weiterhin der Rudergänger. Es sind anfangs leichte drei Windstärken, ideal. Auch die Wenden klappen vorzüglich, weil Harry und Frank stets exakt auf mein Kommando das Vorsegel auf die neue Leeseite rüber nehmen, belegen, und mit der Winsch so durchsetzen, dass die mächtige Fock einwandfrei im Wind steht und voll zieht. Es ist schon toll. Vor mir die See, über mir mehr als 100 m2 weiße Segel und unter uns die schlanke Yacht, die beim Durchpflügen der Wellen bemerkenswert ruhig liegt. Dann ankern wir an einem der vielen Bilderbuchstrände dieser schönen Insel in der Kokosnussbucht. Mit dem Dingi geht es entlang einem Korallenriff an den Strand und von dort zielstrebig in eine Bungalowsiedlung, in der ein junger Österreicher aus Salzburg der Betreiber ist. Auch der weiß längst, dass ich der ältere Bruder bin und freut sich, mich endlich kennenzulernen. Ich denke mir bei so viel erwartungsvoller Freundlichkeit: Da die Mauer um unser DDR-Experiment letztlich doch gefallen ist, hätte sie auch wesentlich früher fallen sollen. Dann hätte ich u.a. den jungen Salzburger schon früher kennenlernen können. Er wird sich mit mir wegen Chartergästen in Verbindung setzen. Auf dem Rückweg geht es wieder um den Motor. Wenn mein Bruder auch äußerlich wenig Ähnlichkeit mit unserem Vater hat, er diskutiert genauso ausdauernd und beharrlich wie einst der Papa. Nur, bei Vater ging es um die Zukunft Deutschlands und der übrigen Welt, hier geht es nur um den Bootsmotor als ein Teil der Zukunft von Ko Chang. Aber das ist auch kompliziert genug. Um hier in Thailand technische Defekte an Bootsmaschinen zu beseitigen, braucht man Beziehungen nach Singapur, Hongkong und Hamburg, also um die halbe Welt. Vaters Träume und meine analogen Anstrengungen in der gleichen Richtung


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sind längst Geschichte. Ob wenigstens Harrys Träume bei so vielen Schwierigkeiten wahr werden? Wieder an Bord, möchte Frank am liebsten vor Anker bleiben. Aber die Wetterzeichen des blauroten Abendhimmels verkünden Regen, und Harry ist diese Bucht trotz einer vorgelagerten Insel nicht sicher genug. Wer weiß, was morgen ist. Das Großsegel wird erneut gehisst, der Motor angeworfen. Ich fahre mit Motorkraft und Segelunterstützung den vorgegebenen Kurs Ost durch die immer schwärzer werdende Nacht, während die beiden sich unter Deck mit der Maschine befassen. Wir passieren zwei Kaps. Vorsorglich gebe ich in kurzen Abständen regelmäßig die vom Echolot signalisierten Wassertiefen nach unten. Dann laufen wir in eine weite Bucht ein. Im Uferbereich liegen vier beleuchtete Schiffseinheiten, von denen Musik und Lachen tönt. Vorsorglich ankern wir in ausreichender Entfernung. Unvermittelt erschrecken uns Salven von Raketen und Knallern von Deck eines der Schiffe, dann kracht es auch auf den anderen Schiffen, als wäre eine militärische Aktion im Gange. Das Ganze ist aber höchst friedlich. Man feiert, wie man mir erklärt, das buddhistische Neujahrsfest. Um 21:00 Uhr ist aber schon Ruhe auf den Fischdampfern, wahrscheinlich ist der Schnaps alle. Die Frauen reichen uns das Abendbrot aus der Kombüse hoch, wir Männer essen auf Deck im Cockpit, die Frauen unter Deck. Boss und Skipper kauen dabei weiter an ihrem Thema. Es geht nach wie vor um die Maschine und ein anderes technisches Bauteil. Die beiden sprechen auch mit vollem Mund ein vorzügliches Englisch. Aber viele dieser technischen Vokabeln habe ich seinerzeit weder bei meiner verehrten Englischlehrerin gelernt noch bei den Amis nach 1945, wo ich übersetzte. Die Amis hatten es in jener Zeit mehr mit „bloody dog“ und „fuck yourself“ und sowas. Aber das habe ich damals als halbes Kind auch noch nicht richtig verstanden. Jedenfalls war der (berechtigte) Anpfiff wegen der Windfäden das letzte Wort, das hier in den letzten fünf Stunden deutsch gesprochen wurde. Und weil ich mich an dem Gespräch kaum beteiligen kann, absolviere ich einen kostenlosen Spezial-Lehrgang „Englisch für Ingenieure“. Und bin erstaunt, dass die Techniker genauso viele unterschiedliche Meinungen zu den technischen Details haben können wie die Ökonomen auf ihren Gebieten. Die beiden streiten fast so verbissen wie einst ich, wenn es um Kapitalismus oder Sozialismus ging. Harry beschließt, die weitere Beratung auf morgen zu vertagen, und Fränki verzieht sich fix zu der Seinen in die Koje. Auch Liao hatte sich schon lange verzogen. Pro Kilo Körpergewicht hat sie hier im Vergleich zu allen anderen die längsten Arbeitsstunden. Harry putzt sich noch mit Fleiß und Ausdauer seine


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Zähne. Er hat sie deswegen auch noch alle. Ich Kulturbanause pinkle ins Wasser. Harry aber auch. Mit dieser männlich kraftvollen Tätigkeit beschließen wir diesen abwechslungsreichen Urlaubstag so einträchtig, wie wir ihn begonnen haben.


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Nachwort Etliche Jahre sind vergangen. Inzwischen hat die Nationalparkverwaltung Ko Chang die Straße um die Insel nahezu fertiggestellt. Das Thaidorf Ban Salak Phet wurde elektrifiziert. Seine Bewohner sind nicht mehr vom Generator der geschäftstüchtigen Kun Saou abhängig. Aber ganz Thailand und auch seine Menschen auf der Insel leiden schwer unter den Auswirkungen der Wirtschaftskrise, die Ende dieses Jahrhunderts Ostasien schüttelt und bis nach Europa spürbar ist. Auch ein so profilierter deutscher Manager wie Harry steht jetzt vor dem beruflichen Aus, vor der Entlassung in die Arbeitslosigkeit. Sein international agierender Konzern entlässt weltweit mehrere tausend Mitarbeiter. Er muss sich „gesundschrumpfen“ damit bei den rückläufigen Umsätzen wenigstens die Profite seiner Aktionäre gehalten werden. Aber Harry und Liao trifft es natürlich in keiner Weise so wie die Thais. Die beiden hatten noch Land hinzuerwerben müssen, um den Anschluss an die neuerbaute Straße zu bekommen. Sie haben damit genug zu tun. Und der niedrige Wechselkurs des Baht macht dem, der in Thailand lebt, aber sein Einkommen in D-Mark bezieht, die wenigsten Sorgen. Die Marina, die erträumte Seglerbasis, nimmt immer mehr Gestalt an. Ein Großsteg und eine Slipanlage sind entstanden. Zwei wohnliche Hütten stehen am Hang, eine dritte mit ausreichendem Komfort für europäische Gäste, romantisch nach Thaiart auf Pfählen im Wasser. Und wo vorher allein nur Kokospalmen standen, wachsen jetzt auch selbstgezogene Bananenstauden und Ananas. Seit mehreren Jahren verdienen auf dem Anwesen mit den vielen erforderlichen Arbeiten zwei fleißige thailändische Arbeiter den Unterhalt für ihre Familien. Skipper Frank ist schon lange von Bord der Sundowner gegangen, unbekannt wohin. Die Segelyacht liegt derzeit in einer Werft auf Land und wartet, dass Skipper Harry selbst bald mehr Zeit für sie hat. Eigentlich könnte Harry zufrieden sein. Harry aber bedrückt jetzt am meisten, dass im Zuge der globalen Klimaerwärmung das Wasser des Golfs von Thailand in der Bucht von Ban Salak Phet 1998 zu warm war, nahezu immer um 30 °C. Man mochte kaum noch schwimmen. Diese an die Wärme von Thermalbädern


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reichende Temperatur der offenen See hat das vorgelagerte große Korallenriff absterben lassen. Alarmmeldungen von Tauchsportlern gibt es von vielen anderen Riffen in tropischen Gewässern rund um den Äquator. Jetzt liegt das Riff knochenbleich unter der Gewässeroberfläche. Harry fürchtet, dass sich auch die Fänge der Fischer von Ko Chang künftig noch weiter verschlechtern werden. Er fürchtet, dass die Lebensbasis für Fischbrut und Kleinfisch durch diese Klimasituation neben den Auswirkungen der Elektrofischerei und dem weiteren Verlust an Mangroven gesäumten Ufern als Laichgebiete noch weiter gemindert wird. Es wird Zeit, die grüne Insel noch mal aufzusuchen. Ehe sie noch mehr von ihrer Urwüchsigkeit verliert. Harry und ich wollen gemeinsam unter vollem Tuch durch die Inselwelt des Archipels um Ko Chang segeln. Schließlich haben wir ja auch noch das eine und das andere zu besprechen, wozu die Zeit bisher noch immer nicht reichte oder reif war. Manches werden wir dabei möglicherweise weiter aussparen. Vielleicht weil in unserer Generation die seelischen Wunden nach den historischen Erschütterungen dieses Jahrhunderts immer noch zu sehr brennen. Klug genug müssten wir Grauschöpfe inzwischen eigentlich sein. Quedlinburg, im März 1999 Winfried Düsterdiek (*28.09.1930, †15.03.2015)


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Glossar Backbord Backstag

Baken Bilch

Bo

Boote im Päckchen Bug Claqueur Contergan

Dalben Dingi dwars Fall Farang Fock Gangway Garadu

linksseitig in Fahrtrichtung, gleichzeitig die Seite, wo traditionell die Kombüse installiert ist Drahtseil, das sowohl back- als auch steuerbordseitig von schräg hinten ein Wegkippen des Mastes nach vorn oder zur Seite verhindert Feste Seezeichen, die unbefeuert sind oder nach ihrer Bauart oder Größe nicht die Kriterien eines Leuchtturms erfüllen. Unter den Bodenbrettern befindlicher unterster Raum, in dem sich Schmutz-, Spritz- und Schwitzwasser sammelt und der von Zeit zu Zeit zu reinigen ist, bei Yachten mit Motorpumpe abgesaugt wird Spinnenkrabbe oder Seespinne mit rundem stachlig knolligen Panzer. Kann einen Durchmesser von 20 cm erreichen. Ähnelt vom Geschmack dem Taschenkrebs. Nebeneinanderliegende, miteinander vertäute (verbundene) Schiffe, Boote Vorderseite, auch Vorderteil des Schiffes Ein Claqueur bezeichnet eine Person, die bezahlten Applaus liefert. Das millionenfach verkaufte Beruhigungsmedikament Contergan, hat bei der Einnahme in der frühen Schwangerschaft massenhaft schwere Schädigungen in der Wachstumsentwicklung der Föten hervorgerufen und ist einer der größten Medikamentenskandale der Bundesrepublik Deutschland. Kräftiger, in den Meeresboden gerammter Pfahl zum Festmachen von Schiffen Kleines Beiboot mit oder ohne Außenbordmotor querab, seitlich zur Fahrtrichtung ein Stück Tauwerk, das zum Hochziehen (Setzen) und Herablassen (Bergen) oder Reffen von Segeln benutzt wird. In Thailand üblicher Begriff für Ausländer mit weißer Hautfarbe Vorsegel Zugangsbrücke das Reittier des Gottes Wishnu, halb Mensch, halb Vogel.


Thailand – Bruderland? ~ 187 großes Vorsegel, größer als eine Fock Aufsetzen eines Schiffes mit dem Kiel bzw. der Kielflosse auf dem Grund, was bei Festhängen am Grund das Schiff fahrunfähig machen und in Folge der rhythmischen Wellenbewegung sehr schnell zum Auseinanderbrechen des Schiffskörpers führen kann Heck Hinterseite, hinterer Teil eines Schiffes Jolle Sportsegelboot mit einem beweglichen Mittel- oder Seitenschwert, dessen Aufgabe es ist, die Abdrift einzuschränken, die Segelfähigkeit zu gewährleisten und die Stabilität zu erhöhen Katamaran Schnelles, doppelrümpfiges Sportsegelboot ohne Schwert oder Kielflosse Klong Thailändisch für ausgetrockneter Flusslauf, Kanal. Kombüse Küche an Bord eines Schiffes Leeseite Die dem Wind abgewandte Seite Mastlicht Einzeln brennendes Licht an der Mastspitze als Kennzeichen eines Segelbootes; internationales Erkennungszeichen eines ankernden Seglers Mot-Schützen Motorisierte Infanterie Niedergang Abstiegstreppe in die Innenräume einer Yacht zu Kajüte und Kojen Pinne Hebelarm zur Führung von Jollen und Katamaranen, mit denen die lenkende Kraft auf das Ruderblatt übertragen wird (Yachten haben Steuerräder) Plicht geschützter freier Sitzraum für die Besatzung auf dem hinteren Teil einer Yacht, vor dem Heck Ponton Meist fest verankerter wasserstandsabhängiger Schwimmkörper, im Gegensatz zum Boot aber ohne Antrieb und nicht fahrtüchtig Pram Ein Schwimmfahrzeug ähnlich einem Ponton preußisches Bauern- Das Einziehen verlassener oder aufgegebener Höfe zu Gutslegen höfen, vermehrt nach dem 30jährigen Krieg oder auch der Ausverkauf freier Höfe, meist unter Druck Pütz Schöpf- und Schmutzwassereimer, mit Tau-Ende gesichert und gehandhabt Reffbändsel Am unteren Drittel der Segel befestigte Bänder, die bei Sturm eine Verkleinerung des Segels durch teilweises Einrollen um den Baum ermöglichen Reisekader DDR: Kader, der in den Westen Reisen darf, also Personen, bei denen die vorherrschende Beschränkung der Reisefreiheit nicht galt Resort engl.: Restaurant, gewöhnlich mit Übernachtungsmöglichkeit, hier mit Bungalow und parkartigen Grünflächen Genua Grundberührung


Thailand – Bruderland? ~ 188 Saling Schralen Seelords Slip­Anlage Stasi Steuerbord Takelage Tampen Törn Treuhand

Trossen Tscheka

Tuck-Tuck Volkssolidarität Vor Top und Takel Want Wathose Way

Windfäden Winsch Wriggen Zappalot Zonengrenze

seitliche Abspannhalterung am Mast für die Backstage und andere Drehen des Windes in die für den Kurs des Schiffes ungünstige Richtung. Erster Seelord ist im Vereinigten Königreich heute die ranghöchste Dienststellung innerhalb der Royal Navy eine schräge Ebene, auf der Boote vom Land in das Wasser gelassen werden können Ministerium für Staatssicherheit der DDR rechtsseitig in Fahrtrichtung Gesamtheit der Vorrichtungen, die die Segel eines Schiffs tragen. kurzes Stück Tau Schiffs-Urlaubsreise Die Treuhandanstalt (THA, kurz Treuhand) war eine in der Spätphase der DDR gegründete Anstalt des öffentlichen Rechts in Deutschland, deren Aufgabe es war, die Volkseigenen Betriebe der DDR zu privatisieren. Militäreinheit zur Unterstützung und Versorgung WeTscheKa ist die Abkürzung für die Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage, die Staatssicherheit Sowjetrusslands Motorradrikscha 1945 gegründete Hilfsorganisation, Massenorganisation in der DDR unter anderem zur Betreuung älterer Menschen Unter vollen Segeln mit kräftigem Wind von hinten Seil oder Stange zur seitlichen Verspannung eines Masts. Bis über die Hüfte wasserdichte Gummihose mit Brustlatz für Fischer und Angler. Asiatische Grußformel: Falten der Hände, Senken des Kopfes bei Biegen des Rückens und Auf- oder Niederschlagen der Augen. Traditionell gelehrte Körpersprache, es gibt 26 Formen des Way je nach Stellung, Rang und Geschlecht der Personen Kleine Fäden aus Kunstfaser oder Wolle zur Kontrolle der Ausrichtung des Segels zum Wind Seilwinde Hin- und Herbewegen des Ruderblattes zum Zweck des Vortriebs Frische Ananas, in fingerdicke Stücke geschnitten, leicht gesalzen Grenze zwischen den Besatzungszonen und später auch umgangssprachlich für die innerdeutsche Grenze und generell die Grenze zum sogenannten Ostblock


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Autor Winfried Düsterdiek wurde 1930 geboren, wuchs im Weser-Bergland auf und machte seine ersten seemännischen Versuche im Steinhuder Meer. Beruflich hat er eine typische DDR-Karriere absolviert. 1948 Eintritt in die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (ABF), Abitur und Studium, Tätigkeit als Agrar­ ökonom. In den letzten 17 Arbeitsjahren Gewerkschafter. 1999 ist Winfried Düsterdiek 48 Jahre verheiratet und stolz auf drei Kinder und fünf Enkel. Die turbulente Thailandreise konnte den Trabibesitzer und begeisterten Autodachzelter von einst nur ermuntern, schön neugierig auf die Welt zu bleiben und weitere Abenteuer in sein Leben einzuplanen.



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