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Leben mit Autismus
„Viktor ist in seiner Persönlichkeit sehr gewachsen“
Eine adrette Frau in den Siebzigern betritt mein Büro. Grau melierte Haare, geschnitten zu einem Paschen-Kopf, sehr freundliche, sympathische Ausstrahlung. Maria K. ist Mutter. Mutter eines Sohnes im Autismus-Spektrum – Viktor ist heute 43 Jahre alt und wird seit mehr als 20 Jahren im Diakoniewerk begleitet.
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Daniela Scharer
Mit vier Jahren bekamen wir die Diagnose Autismus für unseren Sohn Viktor. Wir mussten uns zu unserem natürlichen Verhalten als Eltern viele pädagogische Fähigkeiten aneignen. Es waren oft schwere Zeiten für uns, Kindergarten, Schule – alles war herausfordernd bis ins Erwachsenenalter. Bei mir hat sich die Einstellung verfestigt: Ich bin verantwortlich, ich kann das, ich muss auch. Der Gedanke an meinen Tod hat mich immer zutiefst bewegt und mich motiviert, Wege für Viktor zu finden.“
Maria K. erzählt von jener Zeit, wo sie als starke Frau, als VollzeitMutter – gestylt und selbstsicher – mit Viktor unterwegs war, einkaufen ging, und das herausfordernde Verhalten ihres Sohnes in der Öffentlichkeit mit einem selbstsicheren Auftreten versuchte „zu kaschieren“. Sie selbst verzichtete auf einen beruflichen Weg, auf soziale Kontakte, ihre Hingabe galt ihrer Familie.
Maria K. ist heute gut 70. Was sich verändert hat seit damals? Sehr vieles – Gott sei Dank. Sie hat heute die Verantwortung ein Stück weit abgegeben – an ihren Sohn selbst und das begleitende Netzwerk im Diakoniewerk. Vor eineinhalb Jahren ist Viktor von einer anderen Wohneinrichtung des Diakoniewerks nämlich nach Pregarten (OÖ) übersiedelt in ein neues Wohnhaus des Diakoniewerks für Menschen im Autismus-Spektrum. Viktor hat diese Übersiedlung deutlich besser gemeistert als von allen erwartet. Innerhalb kürzester Zeit wurde es zu seinem neuen Zuhause, welches er selbst auch so bezeichnet. Er genießt es, sich im großen Garten aufzuhalten, begrüßt die ankommenden MitarbeiterInnen und BesucherInnen schon am Zaun zum angrenzenden Parkplatz.
Freiraum und Rückzug sind für Menschen im Autismus-Spektrum sehr wichtig, so auch für Viktor. Er braucht Freiraum zum Bewegen sowie einen abgegrenzten persönlichen Bereich im Garten als Rückzugsort. Zusätzlich sieht der leidenschaftliche Zug-Fan von seinem Fenster aus auf in der Nähe vorbeiführende Bahngleise, regelmäßig fahren hier Züge vorbei.
Viktor hat im letzten Jahr viele Fortschritte in seiner Entwicklung gemacht. Solange er einen „Fluchtweg“ hat, traut er sich viel weiter in die Wohngruppe als früher und ist damit aktiver Teil der Wohngemeinschaft geworden.
Neu geschaffene Strukturen im Tagesablauf und fixe Aufgaben im Haushalt werden heute von Viktor übernommen. Während er früher den Tag meistens nur mit Kaffeetrinken und Fernsehen verbrachte, hat er nun ein Morgenritual und kann diverse Aufgaben unter Anleitung selbstständig erledigen. Die Reihenfolge einzuhalten, ist für ihn dabei wichtig. Auch hier wird er von den Mitarbeitern positiv bestärkt.
Seit kurzem kocht Viktor einmal wöchentlich mit Unterstützung des diensthabenden Mitarbeiters für das ganze Wohnhaus zu Mittag – eine neue Aufgabe, die von ihm selbst vorgeschlagen wurde. „Viktor ist in seiner Persönlichkeit sehr gewachsen. Er spricht oft davon, wie stolz er auf sich ist, denn er hat persönliche Grenzen überwunden“, betont Stefan Baier, Einrichtungsleiter in Pregarten.
So trinkt er inzwischen schon seit längerer Zeit fast täglich gemeinsam mit Stefan Baier einen Kaffee. Das Besondere daran: Beide sitzen auf „seiner Bank“ – was früher unweigerlich zu Aggression geführt hätte, weil der Kontakt auf der Bank zu eng gewesen wäre. Insgesamt ging die Aggression durch seine positive Entwicklung, aber auch durch sensibel begleitende MitarbeiterInnen, die seine Grenzen kennen und respektieren, deutlich zurück. Überforderung und Panik tauchen dennoch immer wieder auf.
Seine Mutter betont sehr berührt: „Wir konnten uns nicht vorstellen, dass so eine gute Ablösung vom Elternhaus möglich ist und sind heute sehr dankbar dafür.“ Familie K. konnte letztes Jahr im Herbst zum ersten Mal seit über zehn Jahren einen Ausflug mit dem Auto machen, bei dem Viktor sogar ausstieg und sich für eine Jause auf ein Bankerl setzte. Für viele Familien keine Besonderheit, für Familie K. ein großer Entwicklungsschritt und ein genussvoller Moment obendrein.