4 minute read

"Die Hilfe muss sich den Menschen anpassen"

Next Article
panorama

panorama

Wie kann die Betreuung von Menschen im Alter in Zukunft besser gelingen? Mit dem Modell SING legt das Diakoniewerk einen innovativen Vorschlag auf den Tisch. Vorständin Daniela Palk erklärt im Gespräch mit der „diakonie“, wie dieser Plan aussieht.

Derzeit wird viel über das Thema Pflegereform diskutiert. Was würden Sie sich für den Bereich Pflege wünschen?

Advertisement

Das SING-Modell stellt den Menschen in den Mittelpunkt und gestaltet das Pflegesystem gänzlich neu. Es wäre wünschenswert, wenn eine groß angelegte Pflegereform kommen würde. Derzeit gibt es im Wesentlichen zwei Versorgungsangebote – entweder man entscheidet sich für den Umzug in ein Pflegeheim oder für Unterstützung durch mobile Dienste. Dazwischen gibt es zwar Angebote wie Tagesbetreuungen oder Wohnformen, diese sind aber weder gut ausgebaut noch treffen sie immer die Bedürfnisse der Menschen. Das greift meiner Ansicht nach zu kurz und bildet die Realität nicht ausreichend ab. Es muss zu einer verstärkten Verschränkung der unterschiedlichsten Hilfeangebote, zu mehr Wahlfreiheit und zu einer stärkeren Sozialraumorientierung kommen, also einer Einbindung der Ressourcen vor Ort. Es kann nicht sein, dass ein einziger Plan über die Bundesländer gestülpt wird.

Warum greift das bisherige System zu kurz?

Palk: Weil es viel zu wenig flexibel und kleinteilig ist und dadurch viel zu wenig auf die unterschiedlichen Lebenswelten der Menschen eingegangen wird. Oft mangelt es nur an kleinen Puzzlestücken, um auch weiterhin in den eigenen vier Wänden gut leben zu können. Diese Bausteine können in einem städtischen Bezirk wie beispielsweise Wien oder Linz anders ausschauen, als etwa in einer recht ländlichen Region – weil es jeweils unterschiedliche Voraussetzungen gibt, in Hinblick auf die Angebote, aber auch auf die Lebenssituation der Menschen selbst.

Wie und wann ist das SING-Modell entstanden?

Palk: SING steht für „Seniorenarbeit innovativ gestalten“. Es ist ein neuer Denkansatz für die Organisation und Bereitstellung von Pflege- und Betreuungsdienstleistungen. Der Mensch steht im Mittelpunkt – ohne Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Kosten. Vor rund drei Jahren haben wir damit begonnen, am Modell zu feilen. Anlass war die Beobachtung, dass andere Länder im deutschsprachigen Raum viel mehr Angebote entwickeln, als dies beispielsweise in Österreich der Fall ist. In Hamburg und Bremen haben wir ähnliche Modelle vorgefunden und sind zu dem Schluss gekommen, dass wir auch in Österreich ein alternatives Modell brauchen.

Was schlägt das Modell nun konkret vor?

Palk: Das SING Modell stellt den Menschen in den Mittelpunkt und gestaltet das Pflegesystem gänzlich neu. Die Pflegegeldzahlung des Bundes bleibt unangetastet. Personen mit Bezug von Pflegegeld haben aber die Möglichkeit, mit einem fix vorgegebenen Teil ihres Pflegegelds einen sachleistungsbezogenen Autonomiebetrag zu erwerben, der durch einen Zuschuss der öffentlichen Hand mehr wert ist als das Pflegegeld an sich. Um diesen Betrag kann man individuell Betreuungs- und Pflegedienstleistungen erwerben. Zielgerichtet und individuell.

Können Sie uns ein konkretes Beispiel nennen?

Das kann bedeuten, dass ich nur zur Nacht in ein Pflegeheim gehe. Das kann aber auch heißen, dass sechs Leute aus der ländlichen Region ihren Autonomiebeitrag zusammenlegen und bei dem zuständigen Träger einen gemeinsamen Bedarf anmelden - zum Beispiel in Form einer Demenz-WG.

Das klingt nach administrativem Aufwand. Wie soll das organisiert werden?

Palk: Die Kund*innen werden von so genannten Pflegelots*innen unterstützt, sich darüber klar zu werden, wie sie konkret leben wollen. Die Person mit Pflegebedarf selbst muss genügend Überblick erhalten, welche Ressourcen zur Erreichung der eigenen Ziele verfügbar sind. Um die pflegebedürftige Person passgenau dabei zu unterstützen, dass sie so leben kann wie sie will, wird dann ein geeignetes Pflegesetting aus allen verfügbaren Ressourcen aufgebaut. Zugleich müssen die lokalen Pflegelots*innen die nachgefragten Bedarfe zusammenfassen, analysieren und die lokalen Anbieterorganisationen anregen, entsprechende neue Dienstleistungen zu entwickeln.

Wofür braucht man dann noch Pflegeheime?

Palk: Pflegeheime werden immer hochspezialisierte Wohn- und Pflegeformen sein für Menschen mit besonderem Bedarf, etwa im palliativen Kontext oder bei herausfordernden Formen der Demenz oder wo es sozialräumlich weniger Möglichkeiten gibt. Und zugleich sind Pflegeheime unglaubliche Kompetenzzentren in der Begleitung. Diese Kompetenz nicht nur innerhalb der Mauern zur Verfügung zu stellen, sondern auch tatsächlich die Kompetenz in den Sozialraum strahlen zu lassen, das sehe ich schon als eine wichtige Rolle für Pflegeheime. Auch für die Mitarbeiter*innen selbst ist die Einteilung in ambulant versus stationär sehr einschränkend, sie können nur unterscheiden: entweder ich arbeite mobil oder ich arbeite im Pflegeheim, dazwischen gäbe es durch SING aber viele andere Formen, wo es spannende Beschäftigungsmöglichkeiten gibt.

Das heißt SING könnte den Pflegebereich sogar neu organisieren und aufwerten?

Palk: Ich glaube, dass gerade Pfleger*innen im mobilen Bereich, bei denen die Arbeit so eng getaktet ist, oft vor dem Problem stehen, dass sie aufgrund des Zeitdrucks die Türe hinter sich schließen und wissen, dass sie nicht ausreichend unterstützen können. Das ist natürlich nicht sonderlich zufriedenstellend. Durch eine innovative Organisation des Bereichs ließe sich also auch die Zufriedenheit der Mitarbeiter*innen erhöhen.

Würde das Modell mehr kosten?

Palk: Zu Beginn würde es kurzfristig einen erhöhten Finanzbedarf benötigen, dann aber mittel- und langfristig ein Abflachen der prognostizierten Zahlen erkennen lassen.

Was wünschen Sie sich persönlich für SING?

Palk: Dass Menschen im Alter ihre Lebensphase mit höherer Autonomie, mit höherer Wahlfreiheit gestalten können und dass es vielfältige Perspektiven gibt, wie ich mit Einschränkungen im Alter mein Leben bewältigen kann. Nicht die Menschen müssen sich an die Hilfe anpassen, die Hilfe muss sich den Menschen anpassen. Wir müssen angesichts der demografischen Entwicklung sowohl für die Menschen als auch für die Mitarbeitenden Arrangements schaffen, die diese Lebensphase für alle gelingender gestalten. Wir werden das Modell auf alle Fälle weiter lobbyieren und weiter im Gespräch bleiben mit unterschiedlichen Experten in Politik und Verwaltung, um hier im Rahmen eines Pilotprojektes konkrete Erfahrungen zu machen und die Veränderung erlebbar zu machen.

This article is from: