Praxis Nr.8 - 100 Jahre Oktoberrevolution

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praxis. #8/2017

das mitglieder- und debattenmagazin von dielinke.SDS

100 Jahre Oktoberrevolution

Lehren aus der Vergangenheit fĂźr die Zukunft


Editorial

Die Ausgabe der praxis, die hier nun vor euch liegt, war ursprünglich zwei Themen gewidmet. Zum einen möchten wir – die critica-Redaktion - mit dem Thema „100 Jahre Oktoberrevolution“ die verbandsweite Auseinandersetzung mit diesem Thema ermöglichen. Mit dem zweiten Thema wollen wir die Diskussion über das Verhältnis von Studierenden und Arbeiterklasse anregen. Leider war auch bei dieser Ausgabe die Bereitschaft Beiträge einzureichen nicht sehr groß. So erreichte uns zum Thema „Studierende und Arbeiterklasse“ kein Beitrag. Zum Thema „100 Jahre Oktoberrevolution“ veröffentlichen wir hier den einzigen Beitrag, der uns geschickt wurde. Als Redaktion finden wir die geringe Beteiligung sehr schade und fragen uns weiterhin, wie wir Genoss*innen dazu ermuntern können, sich an Erstellung und Diskussion der praxis zu beteiligen. Wir wollen euch weiterhin durch Schreibworkshops, gemeinsame Debatten, sowie durch Berichte über unsere Arbeit motivieren, die praxis als Medium zur verbandsweiten Diskussion mitzugestalten und damit einen Teil zur Verbandsentwicklung beizutragen. Denn die praxis soll mehr sein als eine lose Sammlung von Meinungen. Sie soll auch einen Ansatzpunkt liefern, um Positionen, die hier veröffentlicht werden, weiterzudenken und sich darüber auszutauschen. In dieser Ausgabe findet ihr zum Jubiläumsthema einen Beitrag von Ronda. Sie wendet sich der Frage der Aktualität der Revolution zu und reflektiert anhand von vier Aspekten was wir aus der Oktoberrevolution für unser politisches Handeln lernen können. Sie stellt dabei fest, dass frühere Revolutionen keine Blaupausen für eine Revolution heute sein können und regt daher Ideen darüber an, was Linke heute und speziell wir als Studierendenverband tun müssen. Im zweiten Teil dieser praxis findet ihr auch ein „Berichte-Kapitel“. Angesichts der vielen verbandsweiten Veranstaltungen, die wir seit der letzten Ausgabe organisiert und durchgeführt haben, hielt die Redaktion es für überaus sinnvoll, Berichte über diese Wochenenden zu veröffentlichen. Nicht jede*r kann zu jedem Seminar fahren. Und nicht jede*r erfährt danach was bei den Debatten auf den Seminaren diskutiert und welche Ergebnisse entwickelt wurden. Die Berichte sollen daher Genoss*innen ermöglichen sich über die Inhalte und Ergebnisse der Seminare zu informieren und sie bei Interesse aufzugreifen, Debatten fortzuführen und sich an der Umsetzung von Ideen, die auf Seminaren entwickelt wurden, teilzunehmen. Wir freuen uns daher, dass wir mehrere Berichte veröffentlichen können und freuen uns darauf dieses „Berichte-Kapitel“ auch in die kommenden Ausgaben zu integrieren, denn auch Impressum für das kommende Jahr haben wir praxis - das mitglieder- und debattenmagazin von dielinke.SDS wieder viele verbandsweite Treffen #8/2017 Herausgeber: in Aussicht. Die Linke.SDS Bundesvorstand Bald möchten wir dann zur Planung Redaktion: Anna Lindner, Benjamin Roth, Bettina Gutperl (V.i.S.d.P.), Alexander der nächsten Ausgabe überzugehen Hummel, Tabea Hartig, Dorian Tigges, Ronda Kipka, Jary Koch, Janis und möchten euch gern dazu anreEhling gen an der Diskussion über die TheLayout: Dorian Tigges mensetzung teilzunehmen und euch Redaktionsadresse: mit Artikeln zu beteiligen. DIE LINKE.SDS Kleine Alexanderstraße 28 10178 Berlin

Eure critica-Redaktion


Inhalt Thematische Artikel Die Aktualität der Revolution – oder –

Seite

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Warum es wichtig ist, sich mit vergangenen Revolutionen auseinanderzusetzen und für zukünftige einzutreten Ronda Kipka

Berichte Was ist kritischer Journalismus?

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Bericht von der Diskussion beim Seminar „Kritischer Journalismus an Hochschulen in Zeiten des Rechtspopulismus“ vom 21.-23.07.2017 in Leipzig Alexander Hummel

Kritischer Journalismus in Zeiten des Rechtspopulismus

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Bericht über die Diskussion des FdVH-Seminars Benjamin Roth

Ein Blick zurück nach vorn

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Ein Bericht vom FdVH-Seminar „50 Jahre 1968“ Jary Koch

10 Jahre SDS-Feier

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Bettina Gutperl und Janis Ehling

Bericht zum FdVH-Seminar über Antikommunismus Benjamin Roth

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Die Aktualität der Revolution - oder Warum es wichtig ist, sich mit vergangenen Revolutionen auseinanderzusetzen und für zukünftige einzutreten Ronda Kipka

Weltweit kann man als SozialistInnen heute sehr leicht das Gefühl bekommen, dass die Geschichte die letzten Jahre nicht auf unserer Seite ist. Wir erleben eine Polarisierung der Gesellschaft, von der in den meisten Ländern die Rechte mehr profitiert als die Linke. Auch wenn wir als LINKE dazugewinnen, der SDS mehr Mitglieder bekommt, so graut es einem dennoch angesichts der prozentualen Zuwächse und Mitgliederzahlen rechter Parteien und Strukturen. Wenn eine linke Bewegung am Ende Erfolge verzeichnet, so sind sie oft klein und Gewerkschaften, sowie soziale Proteste agieren oft aus der Defensive heraus. Aber wenn wir auf die Revolutionen des 20. Jahrhunderts zurückschauen, auf die Auslöser und damalige Hoffnungen, so gibt es doch einige Aspekte die uns auch für heute hoffnungsvoller stimmen sollten. Vor allem zeigen sie uns, dass die Menschen schon immer gegen Unterdrückung rebellierten, für eine bessere Welt und gemeinsam gegen die Verhältnisse kämpften. Mindestens Hoffnung, wenn auch nicht gleich Zuversicht auf eine bessere Welt, gab es immer und gibt es auch heute. Die Frage ist, wie kommen wir dahin? Zugespitzt: Brauchen wir eigentlich Revolutionen? So viele Einwände werde uns entgegengehalten, wenn wir es wagen auch nur das Wort in den Mund nehmen. Revolution, heißt das nicht autoritäre Gewalt und Gulag? Das erste Gegenargument, das uns begegnet, ist die ahistorische Behauptung, es gäbe eine überzeitliche Natur von Klassengesellschaft. Das heißt Klassengesellschaften seien demnach das notwendige Ergebnis der Arbeitsteilung und notwendige Korrelate der Zivilisation. In diesem Zusammenhang mögen dann auch Staaten besondere Varianten von Klassengesellschaften sein, die es nun mal schon sehr lange gibt und man eben ohne Klassengesellschaft und Staaten zurück in die Steinzeit oder Chaos

und wilde Horden stürzen würde. Denn wilde Spekulationen auf Lebensmittel, Immobilien oder neuerdings immaterielle Bitcoins und die permanente Ausbeutung von Millionen durch einige wenige, sind natürlich sehr viel zivilisierter. Diese Betrachtung unserer Gesellschaft heißt, vom Vorhandenen auf das Mögliche zu schließen, bzw. den Istzustand als gegeben sowohl in die Vergangenheit, als auch in die Zukunft zu projizieren. Doch nur, weil jemand viele Krankheiten überlebt hat, heißt das nicht, dass er niemals stirbt. Nur weil es Klassengesellschaften schon lange gibt, heißt es nicht, dass es sie für immer geben wird. Ein weiterer beliebter Einwand, eine kleine Abwandlung des ersten, ist ein klassisches sozialdemokratisches Argument und lautet: Gewiss gibt es Klassengegensätze, aber diese sind im Zivilisationsprozess weg zu nivellieren; Arbeitsteilung muss nicht Hierarchie heißen, aber der beste Pfad zur formellen Gleichheit in sozialer Gerechtigkeit ist eben die soziale Marktwirtschaft. Aber was heißen hier Klassengegensätze und was sind die antagonistischen Interessen? Man stelle sich die Frage: „Welche Firma zahlt den Abhängigen genug, dass sie sich einen Anwalt leisten könnten, der erfolgreich die Teilhabe am erarbeiteten Betriebsvermögen einklagt?“ Wenn es hart auf hart kommt, beißt sich die Katze in den Schwanz. Klassengegensätze lassen sich nicht Schritt für Schritt wegnivellieren. Das hat weder etwas mit gutem Willen, noch mit Einsicht auf herrschender Seite für eine bessere Welt zu tun. Der immanente Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit reproduziert sich tagtäglich selbst und nur, weil jemand sozialere Gedanken hat, kann er diesen Widerspruch (auch wenn dieser jemand in die Regierung kommt) nicht einfach auflösen. Das dritte Gegenargument ist ein moralisches, eigentlich ein libertäres: Gewalt dürfe man nicht mit Gewalt brechen. Die ganze Debatte, die oft und gerne damit zusammengefasst wird „nicht


4 den Zweck über die Mittel zu stellen“. Die Revolution sei blutig, autoritär und damit verwerflich. John Holloway, ein irischer Politikwissenschaftlicher, drückte den Gedanken zugespitzt folgendermaßen aus: „Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen“. Aber wenn wir die Welt verändern, übernimmt man da nicht logischerweise Einfluss und Macht? Oder wie soll es sonst genannt werden? Wenn wir annehmen, dass es Macht gibt und wir dann bestimmen, dass sich die Verhältnisse ändern, dann können logischerweise nicht andere weiterhin an „der Macht sein“. Man muss den Herrschenden die Macht genommen haben. Warum ist dieser Satz von Holloway so dennoch so populär? Sicherlich nicht, weil er sonderlich logisch, semantisch oder syntaktisch formvollendet ist. Was dahinter steckt ist natürlich etwas Anderes: „wir wollen den Kapitalismus abschaffen, ohne wie die Bolschewiki zu sein.“ Und das bringt uns in der Regel zu einer historischen Debatte, in der dann die Erfolge der Revolution, wie eine stärkere Befreiung der Frau, der Revolutionierung des Bildungswesens, das Erblühen von Kunst und Kultur, der Gleichstellung von ethnischen Minderheiten, weite Fortschritte in der Kollektivierung des gesellschaftlichen Reichtums, auf Gulags und roten Terror reduziert werden. Doch die real erkämpften Fortschritte der Revolution lediglich in eine Linie mit der darauffolgenden Unterdrückung derer die sie erkämpften, der Zurücknahme der Erfolge und Errichtung der Gulags zu stellen, hieße einen Automatismus in die widersprüchliche Geschichte der damaligen Zeit zu lesen. Es hieße, den lebendigen Marxismus in eine Linie mit seiner degenerierten und systemstützenden Verzerrung zu setzen, die erkämpften Rätestrukturen, deren Gründer zu großen Teilen in den Jahren des Bürgerkrieges gestorben sind, in eine Linie zu setzen mit einer nach eigenen Interessen handelnden Bürokratenklasse. Umso wichtiger ist es als SozialistInnen, dass wir uns genauer anschauen, was man von den damaligen Erfahrungen lernen kann, was man besser machen kann und uns gleichzeitig im Klaren darüber sind, dass wir es nicht mit einer Blaupause zu tun haben. Wir müssen uns hingegen anschauen, welche Bedingungen und Widersprüche eigentlich zu den Ereignissen geführt haben, wie Sozialistinnen und Sozialisten reagiert und gehandelt haben, an welchen

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Punkten sie Fehlentscheidungen trafen und was ihnen andererseits zum Erfolg verhalf. Wir müssen uns fragen, was ist von damals noch auf heute übertragbar? Wie lassen sich die Ereignisse der russischen Revolution und natürlich auch anderer Revolutionen ins hier und jetzt „übersetzen“? Wir sind nicht frei in der Wahl unserer Mittel, eine bessere Welt aufzubauen. Wenn die Herrschenden entmachtet werden müssen, werden sie das nicht freiwillig und widerstandslos über sich ergehen lassen. Diese Einsicht bleibt schrecklich, doch genau das zeigt uns der Kapitalismus tagtäglich, gleich ob wir in die Fabriken nach Bangladesch schauen, zu den Kriegseinsätzen im Nahen Osten und in Afrika oder auch in deutsche Krankenhäusern, wo Menschen sterben, weil gute Pflege- und Sorgearbeit zu Lasten des Profits geht. Es sieht so aus, als würden wir, ob wir wollen oder nicht, an einer Revolution nicht vorbeikommen, wenn wir die tagtägliche Gewalt des Systems brechen wollen. Für Revolutionen gibt es keine Blaupausen – warum dann auf 1917 und 1918 schauen? Unsere Revolutionen werden als Teil unserer Geschichte entstehen. Und so ist es auch an uns, unser Bestes zu geben und ihr zum Erfolg zu verhelfen, denn eine Revolution, das hat uns die Geschichte auch gelehrt, heißt noch lange nicht, dass am Ende unsere Seite gewinnt. Das besondere an den Revolutionären in Russland 1917 war auch, dass sie viele richtige Entscheidungen trafen, gute Strategien in höchst unruhigen Zeiten entwickelten und vor allem, dass sie aus vergangenen Erfahrungen lernten. Es würde das Ausmaß dieses Artikels überschreiten, eine detaillierte Auswertung der Revolution zu versuchen. Deshalb möchte ich nur ein paar wichtige Aspekte festhalten, über die es sich nach wie vor zu streiten und zu diskutieren lohnt und deren Übertragbarkeit wir prüfen sollten. 1. Die Rolle von Arbeiterräten (in fast allen Arbeiterrevolutionen hat es Formen der Selbstorganisierung in Rätestrukturen gegeben, prominent natürlich in Russland mit den Sowjets, aber auch nicht erst 1917. Dies war eine Erfahrung, die sich bereits 1905 angedeutet hatte) 2. Die Phase der Doppelherrschaft, in dem


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der alte Staat, das alte System abstirbt und das Neue erwachsen und sich behaupten muss. 3. Was ist in einem Revolutionären Prozess (und dem Weg dahin) die Rolle der Massenparteien oder allgemein Parteien und Organisationen? 4. Internationalismus: Ist der Sozialismus in einem Land durchsetzbar? Wie schnell müssten andere Staaten folgen? Das war natürlich besonders eine Kernfrage in Russland, nachdem die deutsche Revolution 1918/19 scheiterte. Aber auch heute bleibt sie wichtig, wenn man an Reformversuche in der EU denkt, den arabischen Frühling, den Chavismus in Lateinamerika usw. 1. Die Demokratie in der Revolution – zur Rolle von Arbeiterräten Auch in zukünftigen Revolutionen werden Arbeiterräte eine Rolle spielen. Wir brauchen eine Debatte darum, wie diese ausgesehen haben und was eine aktuelle Form von Räten sein könnte. Der Grund für diese These ist nicht, dass es von Marx in Gesetzestafeln der Revolution so festgelegt wurde, sondern, dass jede versuchte und jede gelungene, proletarische Revolution der vergangenen Jahrhunderte solche Organe oder Vorformen solcher Organe hervorgebracht haben und sie eine besondere Form der kollektiven und demokratischen Organisierung waren, ein Ort der Gegenhegemonie. Bereits bei der Pariser Kommune haben sie sich in einer embryonalen Form gezeigt, und seitdem traten Räte in allen Situationen zu Tage, in denen es zu Massenbewegungen der ArbeiterInnen kam, die die etablierte Herrschaftsordnung herausforderten: in Russland 1905 und 1917, in Deutschland in den Jahren 1918 und 1919, in Spanien 1936 und in Ansätzen auch in Frankreich 1968 und 1995, in Portugal 1974–75 und in Chile 1973. Sogar in Ländern des vormaligen Ostblocks entstanden in Ungarn 1956 und Polen 1980 Arbeiterräte in Opposition zu den dortigen Regierungen. Um auf 1917 und Russland zurückzukommen: Im Mai 1917 gab es 400 Sowjets (Räte) in Russland, die Delegierte aus den Betrieben und den verschiedenen Komitees zusammenbrachten. Im August waren es bereits 600 und im Oktober 900. Der berühmteste und einflussreichste war der Petrograder Sowjet, der auch als erster gegründet wurde. Wenn dieser Rat als Vollver-

sammlung tagte, sind bis zu 3.000 Delegierte zusammengekommen. Ich möchte nicht nur mit Zahlen werfen, sondern zeigen, dass Arbeiterräte keine Kopfgeburt oder Wunschvorstellungen von MarxistInnen sind, sondern ein authentisches Organ sozialer Kämpfe. Wenn Massenstreiks eine von unten getragene Eigendynamik entfalten, entsteht der Bedarf nach der Organisation und Vernetzung der Kämpfe, dem auf Streikversammlungen Rechnung getragen wird und wo Konflikte ausgetragen und Unklarheiten ein Raum gegeben werden kann. Man sieht im Kleinen auch heute in gewerkschaftlichen oder sozialen Bewegungen wie 15M oder Occupy oder auch in Katalonien, dass Versammlungen und Rätestrukturen Orte der Organisierung und Auseinandersetzung werden. Je schärfer und politischer die Auseinandersetzung, desto mehr können und werden solche Versammlungen auch die Rolle übernehmen, ein Forum der politischen Entscheidungsfindung, sowie einen Knotenpunkt wirtschaftlicher und organisatorischer Weichenstellungen zu bilden. Sie werden damit zur Erfahrung von Selbstbefreiung und kollektiver Gegenmacht. Dem Gegenargument, Räte seien zu exklusiv, weil es nur die Betriebe in den Fokus nehme, nicht die Arbeitslosen, RentnerInnen, Hausfrauen usw. kann man erwidern, dass einer der größten Vorzüge an den Räten ihre Anpassungsfähigkeit an die sich veränderte Struktur der ArbeiterInnenklasse ist. In der spanischen Revolution 1936 beispielsweise gehörten zu den Schlüsselorganen ebenfalls die Nachbarschafts-Komitees in den Arbeitervierteln der größeren Städte. Diese Räte repräsentierten die gesamte Bevölkerung der jeweiligen Bezirke und organisierten wie kontrollierten die Milizen, die Verteilung der Nahrungsmittel, die Ausbildung und andere Bereiche des täglichen Lebens. Diese „analoge“ Vernetzung bleibt auch in Zeiten von Smartphone und Facebook wichtig, auch wenn diese Medien ebenfalls eine Rolle von Plattform und Vernetzung, wie auch Öffentlichkeit für einen Protest bieten. Aber eben als Medium und Ausdrucksform eines bestehenden Protests. 2. Die kritische Doppelherrschaft – stirbt der alte Staat und kann sich eine neue Struktur


6 behaupten? Wir stellen uns jetzt eine Phase vor, in der in den Betrieben und Räten reale Gegenmacht aufgebaut wird. Diese Gegenmacht steht in Konkurrenz zu den alten staatlichen Strukturen. Diese Zwischenphase wird „Doppelherrschaft“ genannt und wir sehen in Russland 1917 und Deutschland 1918, dass das dies eine äußerst labile und kritische Situation ist. Dieses abstrakte „Absterben des alten Staates“ kann man sich vermutlich so vorstellen, dass die alten Strukturen und Institutionen an Macht und Legitimität verlieren, während meist auf ungeplante Art und Weise verschiedene neue Strukturen entstehen und sich behaupten müssen, um die alten zu ersetzen. Zwei Staatsformen ringen um die Kontrolle über das öffentliche Leben, die bewaffneten Organe, die wirtschaftliche Kontrolle usw. Entweder gelingt den alten Herrschenden die Wiederherstellung ihrer Macht und Kontrolle, also die erneute Verfestigung der kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse, was meist verbunden ist mit blutiger Repression und Zerschlagung oppositioneller Strukturen (z.B. in Chile 1973). Oder die neuen Strukturen, also z.B. die Arbeiter- und Soldatenräte entmachten vollends die Regierung der alten Elite mit ihrem Militär und ihrem Verwaltungsapparat, sie fallen unter das was MarxistInnen dann „Arbeiterkontrolle“ nennen. Die deutsche Revolution endete mit der ersten Variante, die Oktoberrevolution in Russland mit der zweiten. Die Losung „Alle Macht den Räten“ der Bolschewiki war damals die Aufforderung zum kompletten Bruch mit den alten Herrschaftsstrukturen. Und ja, die „Zerschlagung“ des bürgerlichen Staatsapparates war bzw. ist ein gewaltsamer Akt, nämlich in dem Sinne, dass er gegen den Widerstand und den Willen der Eliten und Herrschenden durchgesetzt werden muss/te. Das Ausmaß der Gewalttätigkeit, hängt von den Kräfteverhältnissen ab. Die Stürmung des Winterpalais im revolutionären Russland zog kaum Todesopfer nach sich, da sich die RevolutionärInnen in der Übermacht befanden. Allerdings kam es in den Folgejahren der Revolution zu einem blutigen Bürgerkrieg. Doch steht „Bürgerkrieg“ hier nicht im Sinne eines Kampfes der breiten Bevölkerung, die einfach nur „für oder gegen Lenin“ waren. Es war ein Kampf, in dem die alten russischen Eliten, von vormals verfein-

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deten ausländischen Armeen unterstützt, die Macht zurückerobern wollten. Die Aggressivität der Konterrevolution und die Schwäche der international isoliert gebliebenen RevolutionärInnen in Russland führten dazu, dass der Sieg im Bürgerkrieg eigentlich mit einer Niederlage geendet ist. Die Konterrevolution wurde zwar „militärisch“ niedergeschlagen, kam jedoch zugleich durch die Hintertür wieder rein. Denn der vorwärtstreibende Kern der Revolution, die 3 Millionen IndustriearbeiterInnen, gingen mit unter. 1920 waren von den 3 Millionen noch 1 Million übrig. Das heißt, die kollektiven, revolutionären Arbeitermassen, die die Revolution angeführt hatten, wurden ausgelöscht und mit ihnen ein wichtiger Erfahrungs- und Erkenntnisprozess, nämlich der Selbstorganisierung von unten, der selbstbewusste, kollektive Aufbau von Gegenmacht. Unter Verhältnissen der Doppelherrschaft wird die alte herrschende Klasse alles tun, um die Arbeiterherrschaft wieder zu stürzen. Es hilft uns allerdings wenig, darüber zu spekulieren, wie viel Gegenmacht wir brauchen, wie die „Diktatur des Proletariats“ genau aussehen soll, um das zu verhindern. Denn das wird entscheidend vom Kräfteverhältnis abhängen. Je mehr die Stärke der Arbeiterklasse überwiegt, umso eher werden gesetzliche Sanktionen ausreichen und umso eher kann ein brutaler Bürgerkrieg verhindert werden. Und genau dies zeigt wieder, dass es nicht um eine Blaupause geht. Den Kern in Russland bildeten 3 Millionen IndustriearbeiterInnen und selbst mit dazugehörigen Bereichen von ArbeiterInnen, reden wir über maximal 17 Millionen Menschen, von insgesamt 170 Millionen. Wenn wir uns alleine Deutschland heute anschauen, reden wir von 32 Millionen Arbeitstätigen, auf 80 Millionen Einwohnern. Die Position der russischen ArbeiterInnenklasse 1.) als einer kleinen Minderheit in einem wirtschaftlich zurückgebliebenen Land, das 2.) vom Krieg und einer uneingeschränkten bewaffneten Konterrevolution verwüstet wurde und 3.) einer ausländischen Invasion von massivem Ausmaß gegenüberstand, war außerordentlich schwierig. Global betrachtet reden wir heute über eine immens größere ArbeiterInnenklasse. Und nicht nur global, sondern in der Mehrheit der größeren Länder. Im Idealfall geht es also noch viel eindeutiger bei einer „Diktatur des Proletariats“


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um eine Unterdrückung von Wenigen, durch eine riesige ArbeiterInnenklasse. Doch wirft gerade diese labile Situation der Doppelherrschaft, die häufig in der Niederlage endete, die Fragen der revolutionären Strategie beim Kampf um politische Hegemonie auf, und zum anderen hat sie eben auch eine internationale Dimension. Auf diese Fragen, werden wir daher später nochmal kurz zurückkommen. 3. Die Strategie und Organisierung für die Revolution Wir können sagen, dass der Erfolg der revolutionären Bewegung entscheidend davon abhängt, inwiefern innerhalb der ArbeiterInnenklasse, der „überwältigenden Mehrheit“ der Bevölkerung, eine strategische Geschlossenheit bezüglich des praktischen Handelns herrscht, insbesondere eben in der destabilen Phase. Die Revolution in Deutschland ist das tragische Beispiel dafür. Das lässt sich nicht einfach beschließen. Die Entstehung von Arbeiterräten in unterschiedlichsten historischen Situationen haben gezeigt, dass, wenn auch die langfristige Organisationsund Überzeugungsarbeit von Aktivistinnen und Aktivisten der Bewegung immer eine wichtige Bedeutung hatten, diese oftmals unerwartet und spontan als Ergebnis der Eigendynamik von Massenbewegungen entstehen. Noch nie und das ist sehr wichtig festzuhalten gab es einfach einen Beschluss zur Gründung von Räten aus dem ZK einer Partei, die diesen Schritt angeordnet hätte und dann von den Massen brav umgesetzt wurde. Deshalb kann die Revolution nur erfolgreich sein, wenn sie tatsächlich von der spontanen Energie der ArbeiterInnenklasse vorangetrieben wird, die sich ihrer Macht, die Gesellschaft von unten zu kontrollieren, bewusst wird und sich in diesem Prozess eine Struktur gibt. So blöd es klingt, aber: Die Klasse wird selbstbewusst, indem sie sich selbst bewusst wird. Und damit wären wir am Kern des Problems. Es ist sehr schwierig, sich seiner Macht bewusst zu werden und sich gleichzeitig mit der konzentrierten, geschulten und organisierten Macht von Staat und Kapital auseinanderzusetzen. Diese werden nämlich alles dafür tun, ihre Privilegien zu verteidigen, sei es durch Einsatz

7 ideologischer Beeinflussung oder durch ökonomischen und militärischen Zwang. Das heißt, dass eine relativ geschlossene Minderheit der Besitzenden einer oft diffusen Masse der Beherrschten gegenübersteht. Die Mehrheit ist sich in ihren Zielen und Kampfmitteln oft nicht vollständig einig, die herrschende Minderheit aber mindestens in ihren Zielen, nämlich der Niederschlagung der Aufständischen. Die Deutsche Revolution 1918/19 scheiterte dort, wo eine Reihe von Aufständen – in Berlin, München, dem Ruhrgebiet und Bremen – zeitversetzt und unkoordiniert stattfanden und die alten Eliten ihre Privilegien deswegen verteidigen konnten, in einer Region nach der anderen. Eine geplantere gemeinsame Erhebung hätte vielleicht in einer erfolgreichen sozialistischen Revolution in Deutschland geendet. Daher besteht für uns die Notwendigkeit der Klärung strategischer und taktischer Schritte innerhalb der Klasse, um vereint einen äußerst gut organisierten Gegner schlagen zu können. Achtung diffuse Fußballmetapher: Die ArbeiterInnenklasse, hier bildhaft z.B. der SC Freiburg, kann Real Madrid schlagen, aber muss ein gemeinsames Team, mit einer gemeinsamen Taktik und Strategie werden. Aus dieser Problematik ergibt sich auch die Notwendigkeit des organisierten politischen Eingreifens mittels einer revolutionären Partei. Die Notwendigkeit einer sozialistischen, revolutionären Partei ergibt sich aus dem natürlichen Sektionalismus der ArbeiterInnenklasse, d.h. aus der Tatsache, dass das Bewusstsein der ArbeiterInnen nie einheitlich, sondern immer unterschiedlichen Erfahrungen und Prägungen ausgesetzt ist. Sie ist nie homogen, sondern setzt sich aus Individuen mit unterschiedlichen Berufen, Prägungen, Alltagserfahrungen und dadurch auch unterschiedlichen Einzelinteressen zusammen. Sie ist vielgeschlechtlich, multiethnisch, von unterschiedlichen Kulturen, Sprachen und Glaubensvorstellungen geprägt. Die sexistische, rassistische und andere chauvinistischer Unterdrückungsformen, prägen die Individuen nachhaltig in ihrer Wahrnehmung und ihrer gesellschaftlichen Praxis. Und das liegt in der Natur der Sache, denn sie bilden politisches Bewusstsein eben genau unter den Umständen einer bürgerlichen Hegemonie, unter verschiedenen Erfahrungen von Ausbeutung und Unterdrückung. Kurz: Klassenbewusstsein


8 entsteht ungleichzeitig und ist voller Widersprüche. Antonio Gramsci schrieb in seinen Gefängnisheften, dass das praktische Bewusstsein, die Aktionen von ArbeiterInnen in Klassenkämpfen, ihrem tradierten, „theoretischen Bewusstsein“ vorausgehen, und das auch im Widerspruch zueinanderstehen kann. Die Debatten um die Frauenfrage in der ArbeiterInnenbewegung kam auf, weil eben die Frauen eine besondere Erfahrung in der Bewegung machen, unterrepräsentiert zu sein und sich weiterreichenderen Unterdrückungsformen ausgesetzt zu sehen, als ihre männlichen Genossen. Vielleicht ist sogar der Gedanke hilfreich, von so etwas wie einer arbeitsteiligen Innerlichkeit zu sprechen. Wir haben im Handeln ein implizites Bewusstsein, welches den Unterdrückten mit den anderen Unterdrückten eint. Es baut Brücken in andere lebendige Erfahrungswelten, lässt gegenseitiges und geteiltes Verständnis zu, oder wie es in der „Ästhetik des Widerstands“ heißt, „ein Vertrauen in einem weitren Sinn. Ein unausbuchstabiertes Bewusstsein, eine Art Potenzial zu größerer Solidarität in der ungewissen Zukunft. Gleichzeitig haben wir in einem oberflächlichen Bewusstsein Konzepte aus den Jahrtausenden der Klassenherrschaft überliefert, die zugleich völlig internalisiert sind, und die die individuellen Unterdrückten im Aufbau von hegemoniefähiger Gegenkultur und lebendigen Subjektbeziehungen hindert. Fassen wir also zusammen: da das Klassenbewusstsein immer ungleichzeitig und widersprüchlich entsteht, der Erfolg von Revolutionen aber vom gleichzeitigen und punktuell einheitlichen handeln abhängt, bedarf es revolutionärer Organisationen. Ihre Aufgabe ist es den politisch bewusstesten Teil der ArbeiterInnenklasse aufzubauen und zu stärken und gegen die bürgerliche Weltanschauung zu wappnen. Ihre Aufgabe ist es die Gesamtheit der Arbeiterinnenklasse im Blick zu haben und in den Widersprüchen Verallgemeinerungen zu finden, Erfahrungen festzuhalten und auszuwerten und zu einem Strategischen Handeln gegen die Herrschenden zu kommen. Die Frage der genauen Form einer revolutionären Partei ist kontextabhängig. Einen wasserfesten Plan, oder eine Anleitung gibt es nicht. Wir reden hier von einer Idee, was wir brauchen, in revolutionären Zeiten. Wie wir dort hinkommen ist wohl die schwierigste Aufgabe. Man verglei-

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che den winzigen Spartakus Bund in Deutschland mit den Bolschewiki in Russland. Eine zentrale Frage für unsere aktuellen Debatten ist auch, wo sich die LINKE in den nächsten Jahren hin entwickelt und was für ein Linker Flügel sich innerhalb der Partei herausbildet. 4. Der Internationalismus: Ist Sozialismus in einem Land durchsetzbar? Wenn wir uns die Oktoberrevolution und die Jahre danach anschauen, dann kommen wir um eine sehr zentrale Frage nicht herum, die aber nicht nur eine historische ist. Wie auch schon bei der revolutionären Organisation festgestellt, muss es um die Gesamtheit der Arbeiterinnenklasse gehen. Gewinne für einzelne Teile der ArbeiterInnenklasse sind manchmal sinnvoll, aber die Strategie muss die gesamte Klasse beinhalten. (Übrigens ein sehr zentrales Argument auch in der Flüchtlingsdebatte, weshalb ein Einwanderungsgesetz nämlich höchstens nationale Interessen verfolgt, aber jeden Funken Internationalismus verliert). Daher bleibt damals wie heute zentral: wenn die Revolution sich nicht ausbreitet, dann wird sie über kurz oder lang scheitern. Ein Arbeiterstaat kann in einem Land nicht unbegrenzt überleben. Natürlich ist es möglich, für eine gewisse Zeit dem Druck des internationalen Kapitalismus standzuhalten, genauso wie Arbeiter und Arbeiterinnen für eine Zeitlang eine Fabrikbesetzung oder einen Aufstand in einer einzelnen Stadt aufrechterhalten können. Aber früher oder später wird die Revolution in der Niederlage enden, wenn sie nicht auf andere Länder ausgeweitet werden kann. Ähnlich, wie auf Staatenebene die Kapitalseite versuchen wird die Macht zurückzuerobern, geschieht das Gleiche auch auf internationaler Ebene. Nicht umsonst haben damals auch andere Armeen die weiße Armee der Zarenanhänger in Russland unterstützt. Entweder wird der Weltkapitalismus – der, solange er existiert, stärker bleibt als ein isolierter Arbeiterstaat – die Revolution durch militärische Intervention zerschlagen, oder die Drohung einer solchen Intervention, verbunden mit intensivem wirtschaftlichem Druck, wird praktisch den revolutionären Staat zwingen, mit dem internationalen Kapitalismus zu kapitalistischen Bedingungen zu konkurrieren. Das wiederum würde für den


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revolutionären Staat Konkurrenzkampf um die Akkumulation von Kapital bedeuten und jegliche sozialistische Wirtschaftspolitik über kurz oder lang aushöhlen. Man denke jetzt auch daran, wie allein die zaghaften Versuche der Syriza Regierung in Griechenland das europäische Kapital aufbrachten. Auch in Russland Ende der 1920er Jahre sehen wir, wie unter solchen Konkurrenzbedingungen eine neue bürokratische Klasse als Agent der Kapitalakkumulation entsteht, und der Kapitalismus durch eine Konterrevolution von innen Stück für Stück wiederhergestellt wird. Doch die internationale Natur der kapitalistischen Wirtschaft macht auch ihre Krisen international. So wird die Krise, die Ursache oder Auslöser einer Revolution in einem Land wird, auch andere Länder bereits berührt haben. Ein erster revolutionärer Durchbruch kann diese Krise rapide vertiefen, vorausgesetzt er findet in einem Land mit hochentwickelter Wirtschaft statt. Eine erfolgreiche Revolution in Südafrika zum Beispiel, würde nicht nur eine verheerende Auswirkung auf den weltweiten Gold- und Diamantenmarkt haben, sondern auch die Situation im ganzen südlichen Afrika sehr schnell vollständig verändern. Die ganze wirtschaftliche Macht, die gegenwärtig dazu benutzt wird, Simbabwe, Mosambik und Botswana in gegenseitiger Abhängigkeit zu halten, wird dann plötzlich zu einem Faktor des revolutionären Fortschritts werden. Eine Revolution in Brasilien würde eine ähnliche extreme Auswirkung auf ganz Lateinamerika haben. Wie auch Marx in der Organisierung der Fabrik, der ArbeiterInnen am Fließband, sowohl eine verheerende Unterdrückung und Ausbeutung erkannte, so hat er dennoch darin ein Potenzial zur kollektiven Organisierung gesehen. Die Durchökonomisierung des Krankenhauses hat fatale Auswirkung auf Patienten und Beschäftigte und ist zugleich der Grund, weshalb Op-Schwestern und Pflegerinnen ökonomisch machtvolle Streiks entfalten können. Neben den wirtschaftlichen Zusammenhängen ist natürlich ebenfalls die politische Wirkung von Revolutionen wichtig und wird es auch zukünftig sein. Die Oktoberrevolution war Anlass für viele Streiks und Aufstände weltweit, z.B. in Glasgow und Seattle. Die bloße Existenz eines Beispiels wirklicher Arbeitermacht und Arbei-

9 terdemokratie, wird in den herrschenden Klassen überall in der Welt eine ideologische Krise verursachen. In Teilen hat man es gesehen, wie der Aufstand in Ägypten binnen kürzester Zeit zum „arabischen Frühling“ wurde. In den 1960er Jahren fürchteten die Strategen des US-Imperialismus den »Domino«-Effekt von Vietnam und anderen nationalen Befreiungskämpfen. Der Domino-Effekt von Arbeiterrevolutionen mit einer internationalistischen Perspektive würde noch viel größer sein. Wir haben jedes Recht dazu diese Welt zu bekämpfen, weil der Kapitalismus ein mordendes und krankes System ist. Punkt. Entgegen bürgerlicher Behauptungen sind es nicht die politischen Revolutionen, nicht „sozialistische“ Gesellschaften, nicht unsere politischen Utopien, die die Welt an den Rand des Abgrunds geführt haben. Die bestehende Gesellschaft ist so gewaltvoll, repressiv, mordend und egoistisch, weil wir in einer kapitalistischen Gesellschaft leben. Und wir sehen diese Übel, weil diese kapitalistischen Realitäten immer wieder in ideologische Krisen kommen, erodieren usw. Es ist jene „Realitätsmacht des Kapitalismus“, die das Denken alternativer Gesellschaftsentwürfe ausschließlich bis zu ihren eigenen Schranken genehmigt. Und dennoch werden Menschen diese Gesellschaft immer wieder in Frage stellen, weil sie eben keine befriedigende Gesellschaft ist, weil Utopien immer dort auch aufkommen können, wo sie nicht verwirklicht sind. Die „Geschichte aller bisherigen Gesellschaft“ bleibt eine Geschichte von Klassenkämpfen, und damit bleibt sie ständige Überschreitung dessen, was als anzunehmende Wirklichkeit definiert wird. Die menschliche Geschichte lehrt uns, dass herrschende Institutionen und deren dominierenden Ideen immer wieder gestürzt und herausgefordert wurden. Auch heute ist es ein Ringen um die Grenzen der Möglichkeiten. Was ist härtere „Materialität“ oder Wirklichkeit? Die Stacheldrähte und Schützentürme an der US-amerikanischen, türkischen oder europäischen Außengrenze oder das vermeintlich-utopische aber praktizierte Drängen danach, diese einzureißen? Wäre die Erkenntnis von Welt nur die kognitive Verdopplung des „real“ gegebenen, stände die Menschheit wohl noch in der


10 römischen Sklavengesellschaft. Auch die Kämpfe der großen Sklavenaufstände erzählen eben nicht nur vom Blut der Hunderttausenden Gefallenen und hingerichteten SklavInnen, sondern immer auch von Hoffnung und von Menschen, die an den Ketten der Realität zogen, um die Grenzen aufzusprengen. In diesem Sinne hält auch unser Denken immer Möglichkeiten fest. Utopien können unterdrückt, verlacht, zerstreut, vergessen werden, aber überleben, wie Adorno es sagt, im „Moment des Allgemeinen“ immer weiter. Im Januar 1919 wurde der „Spartakusaufstand“ niedergeschlagen und die Novemberrevolution in Deutschland erdrosselt, doch bleibt die Hoffnung auf Befreiung weiter in der Welt, genau wie 2000 Jahre zuvor und wird die Menschen nicht aufhalten an ihren Ketten zu reißen. Der Platz zur Befreiung aus den Ketten muss noch von der Arbeiterklasse besetzt werden, aber die historischen Bedingungen dafür wird es immer geben, solange Ausbeutung und Unterdrückung herrschen. Wir halten ebenfalls fest: In gemeinsamen Kämpfen verändern sich auch die Vorstellungen und Ansichten der Menschen, je größer und breiter der Kampf, desto stärker. Revolutionen sind daher nicht nur Gewaltakte und das Stürzen der alten Elite, sondern immer Raum und Zeit von Emanzipation, Neugestaltung von Welt und Gesellschaft. Nach Marx hat der revolutionäre Prozess deshalb eine Doppelfunktion, er schreibt: „dass also eine Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andere Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden“. Der „alte Dreck“ bestand im vorrevolutionären, zaristischen Russland unter anderem in einem massiven Rassismus gegen die zahlreichen nationalen Minderheiten, in der staatlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung von Juden, sowie extrem rückschrittlichen Frauenbildern und der systematisch-ökonomischen Abhängigkeit der Frauen, von den Männern. Im lebendigen und lernenden Prozess der politischen Kämpfe, die 1917 zu der größten Revolution der bisherigen Weltgeschichte führten, veränderten die Menschen in Russland ihr „Wesen“. Unmittel-

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bar nach der Oktoberrevolution wurden nationalen Minderheiten das Recht auf Lostrennung zugesprochen, ein Jude zum Präsident des führenden Arbeiterrates gewählt und die Frauen rechtlich gleichgestellt. Denn wie heißt es so schön: Nicht nur Revolutionäre machen die Revolution, sondern die Revolution schafft Revolutionäre. Was halten wir für jetzt und für heute fest? ...wo wir, im SDS organisiert, die Revolution in Deutschland nicht in der nächsten Woche zu erwarten haben? Was in all diesen Fragen zur Revolution durchweg eine Rolle spielt, ist die Frage von Mehrheiten und Führung. Die Gewalttätigkeit und der Erfolg hängen davon ab, ob die Mehrheit der ArbeiterInnenklasse sich organisiert und gemeinsam handelt. Es bedarf einer Debatte um Lenin, die konstruktiv geführt, nach wie vor ein Muss für SozialistInnen ist. Und ich glaube auch, dass wir dafür ein paar Grundsätze für unsere heutige Praxis mitnehmen können. Die Debatte um Lenin kommt zu Recht im Zuge der Oktoberrevolution wieder auf. Meist indem er, insbesondere in der öffentlichen Debatte, als kalter Stratege und Vorläufer Stalins hingestellt wird. Michael Brie hat versucht Lenin wieder neu zu entdecken, allerdings eher den Lenin vor der Revolution 1917, danach verbleibt er im leidlich bekannten „Lenin zu Stalin“-Muster. Ich möchte an der Stelle nicht im Einzelnen auf Lenin eingehen, jedoch betonen, dass der Grundgedanke, Lenin im Zusammenhang der Verhältnisse damals „wiederzuentdecken“ ein wichtiger und fruchtbarer Ansatz ist. Selbstverständlich sind wir nicht die ersten mit diesem Gedanken. Schon sehr bald nach der Oktoberrevolution stellte sich nämlich ein nicht minder bekannter Marxist ebenso die Frage: Was können wir von der Oktoberrevolution lernen? Dieser jemand war kein anderer als Gramsci, der sich fragte, weshalb die Revolution in Russland den Zaren stürzte, jedoch die Revolution in Italien dramatisch scheiterte. Gramsci stellte sich die zentrale Frage: Was lief anders? Was waren die Bedingungen für den Erfolg „im Osten“ und der Niederlage „im Westen“? Was lässt sich „übertragen“ und was muss neu gedacht werden? Gramsci entwickelte seine Theorie der Hegemonie genau aus dieser Untersuchung.


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Er erkannte, dass es in dem viel weiter fortgeschrittenen Kapitalismus im Westen, auch einen viel größeren Staatsapparat und eben vor allem eine mit Institutionen ausgestattete Zivilgesellschaft zu erobern galt. Hegemonie gewinnen, heißt platt gesagt um die Mehrheit zu kämpfen. Das mag wie ein Allgemeinplatz klingen, ist es jedoch nicht. Für Lenin und die Bolschewiki bedeutete es in Russland sich darum zu bemühen, die Bauern für die Idee einer Revolution zu gewinnen. Das hieß nicht, sie einfach argumentativ zu überzeugen, sondern gemeinsame Interessen herauszustellen. Es bedeutete gewisse Bündnisse zu schließen und Kompromisse einzugehen. Es hieß aber auch, dass diese Bündnisse dennoch eine klare proletarische Zielsetzung bekommen mussten, um erfolgreich zu sein. Das Ziel war nicht nur den Zaren und die Großgrundbesitzer zu stürzen, sondern einen Arbeiterstaat aufzubauen. Die Sowjets waren ein zentraler Ort und Hebel, Bauern und andere Teile der Gesellschaft in die Organisierung der Gegenhegemonie einzubinden, aber auch zentraler Ort um die Führung der Arbeiterinnen und Arbeiter durchzusetzen. Für Lenin war nicht nur die „Bauernfrage“ zentral, sondern auch die der nationalen Minderheiten. Er erkannte, dass die Errichtung einer neuen Gesellschaft im Bündnis und mit Zustimmung der Mehrheit (die über das reine Proletariat hinausgeht) geschehen müssen. Und für diese Zustimmung brauchte es auch einen politischen Kampf um die Köpfe. Den Ort dieser Auseinandersetzung sah er in den Sowjets. Dass er so eindeutig für das Selbstbestimmungsrecht nationaler Minderheiten kämpfte, war auch Ausdruck davon, dass er es für nicht zielführend hielt, betrachtete Mehrheiten unter Zwang herzustellen, sondern diese politisch und in einem kollektiven Kampf zu überzeugen. Diese Auseinandersetzung ist (wie oben schon im Absatz zu „Klassenbewusstsein“) nicht ohne Widersprüche zu führen. Dennoch bleibt sie eine Notwendigkeit. Wir haben die Aufgabe Widersprüche in gemeinsamen Kämpfen zu überwinden, sie aber nicht wegzureden. Wir müssen Mehrheiten organisieren und dürfen dabei nicht um den Begriff der „Führung“ drum herumreden, sondern müssen genau schauen, was wir eigentlich damit meinen. Das heißt, fähige Leute ausbilden, die Strategien entwickeln können, Vorschläge

11 zur Debatte erarbeiten, die eben „organische Intellektuelle“ sind, weil sie eine gewisse „Funktion“ in der Bewegung einnehmen, aber eben auch können. Und mit Mehrheiten organisieren meine ich selbstverständlich keine abstrakten Wahlbündnismehrheiten, sondern organisierend Kämpfe gegen die Herrschenden auszufechten. Das meine ich bewusst, in einem sehr breiten Sinn: Kämpfe sind nicht mehr oder weniger wichtig, nur weil es sich um einen Betriebsstreik, eine Hörsaalbesetzung, eine Kampagne für das Abtreibungsrecht oder eine Gesundheitsreform handelt. Kämpfe, in denen sich Unterdrückte zusammenschließen, das System in Frage stellen, Erfahrungen von Solidarität und Selbstemanzipation machen, stärken den gesamten Klassenmuskel. Und diesen Muskel brauchen wir, um in Krisen- und revolutionären Zeiten vorbereitet zu sein. Sie sind wichtig um möglichst große Teile der ArbeiterInnenklasse ausgebildet zu haben, mit einem Verständnis von Bewegung und Bündnisarbeit, Konfrontationserfahrung, theoretischer Schärfe und taktischem Feingefühl, um der Schlacht gegen die Herrschenden gewappnet zu sein. Wer je bei einem Streik oder einer Hörsaalbesetzung dabei war, weiß dass es manchmal um schnelle und schwierige Entscheidungen geht, um ein taktisches Spiel. Als SDS heißt das insbesondere, dass wir Studis und unser Umfeld für diese Ausbildung und diese Kämpfe gewinnen. Um nicht mit zu viel Revolutionspathos zu enden: Wir brauchen eine Spitzenmannschaft um die Herrschenden zu schlagen. Jedes Training, jedes kleine Ligaspiel muss uns stärken und wir müssen darum kämpfen, dass uns Niederlagen nicht aufreiben, sondern wir daraus lernen. Wir brauchen gute Taktiker, verdammt gute Spieler, richtige Spielzüge im entscheidenden Spiel und auch ein bisschen Glück. Auf geht’s, auf den Rasen der Geschichte!


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Berichte

Was ist kritischer Journalismus?

Bericht von der Diskussion beim Seminar „Kritischer Journalismus an Hochschulen in Zeiten des Rechtspopulismus“ vom 21.-23.07.2017 in Leipzig Alexander Hummel

1. Kritischer Journalismus muss sich über seinen Standpunkt im Klaren sein und diesen transparent machen. 2. Kritischer Journalismus muss Akteure und ihre Interessen transparent machen. 3. Kritischer Journalismus muss der „Pain in the Ass“ der Mächtigen sein und darf nicht mit ihnen ins Bett steigen. 4. Kritischer Journalismus darf sich von nichts und niemandem den Mund verbieten lassen, entsprechende Ängste müssen abgelegt werden. 5. Heuchelei und Doppelstandards (insbesondere in Bezug auf unterschiedlichen Staaten) müssen durch Kritischen Journalismus angeprangert werden. Auch bei Politiker*innen sollten die gleichen Standards angelegt werden. Kritischer Journalismus darf nicht zum Cheerleader linker Politiker*innen werden. Er ist auch kein Sprachrohr der Partei. 6. Kritischer Journalismus muss das Schwarz-Weiß-Denken durchbrechen (insbesondere in der Beurteilung von Staaten bzw. bei Internationalen Beziehungen). Pauschalisierungen sind kein kritischer Journalismus. Empfehlenswert sind stattdessen Unaufgeregtheit und Faktenorientierung. 7. Kritischer Journalismus soll nicht situativ, danach fragen, was gerade aktuell und was inaktuell ist, sondern bei seiner Themensetzung fragen, welche Themen dauerhaft gesellschaftlich relevant sind. 8. Kritischer Journalismus muss Wissen und Glauben über die Veränderbarkeit der Zustände schaffen und Menschen so zur Selbstaktivität befähigen. Die oben genannten Thesen sind während einer Veranstaltung, die sich mit der Frage „Was ist kritischer Journalismus?“ auseinandersetzte, entstanden. Die Thesen drei bis sechs wurden dabei vom Referenten aufgestellt, während die Thesen eins, zwei, sieben und acht von den Teil-

nehmer*innen in der gemeinsamen Diskussion erarbeitet wurden. Um in diesem Thesenpapier eine thematische Gliederung herzustellen, haben wir die insgesamt acht Thesen neu sortiert, sodass sie sich besser zusammenfügen. Die erste These zeigt die grundlegende Voraussetzung des kritischen Journalismus auf. In der Diskussion dazu gab es einerseits die Position, dass dies ein humanistischer Standpunkt sein müsste, andererseits wurde aber auch für einen proletarischen Klassenstandpunkt plädiert. Arbeitsprämissen für kritische Journalist*innen

ergeben sich aus den Thesen zwei bis sieben. Die Reihenfolge sollte dabei nicht hierarchisch gelesen werden; vielmehr handelt es sich um gleichermaßen relevante Faktoren, an denen sich Autor*innen orientieren sollten. Die abschließende These stellt gewissermaßen ein Fazit der Diskussion und eine Handlungs-perspektive für uns als kritisch arbeitende Redaktion einerseits, aber auch als linker Studierendenverband andererseits dar. Im weiteren Verlauf des Seminars ergaben sich für uns weitere Fragen, die im Folgenden aufgeführt sind. Als Redaktion haben wir versucht,


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sie näherungsweise zu beantworten. Wie zielgerichtet soll kritischer Journalismus sein? Kritischer Journalismus muss insofern zielgerichtet sein, als dass er ein klares Ziel vor Augen hat (bspw. Interessen aufdecken) und dieses konsequent verfolgt. Dabei orientiert sich der/die kritische JournalistIn an nachvollziehbaren Fakten. Wenn eine alternative Handlungsperspektive vorhanden ist, muss diese durch kritischen Journalismus benannt und gefördert werden. Gegen wen will man überhaupt (primär) kritisch sein? Nur gegen die Mächtigen oder auch gegen unemanzipatorische Teile der Unterdrückten? Kritik sollte sich gegen die Mächtigen richten und die Interessen hinter ihrer Politik aufdecken. Kritik an unemanzipatorischen Teilen der Unterdrückten sollte stets auch thematisieren, wieso wir es für unemanzipatorisch halten, aber auch unter welchen Bedingungen besagte Teile unemanzipatorisch sind oder werden – und vor allem welche emanzipatorischen Handlungsperspektiven stattdessen vorhanden wären. Nur so, und nicht durch Stehenbleiben bei moralischer Verurteilung, kann die Einbindung der Unterdrückten in progressive Bündnisse und damit eine Perspektive der Überwindung unemanzipatorischen Handelns erreicht werden. Journalismus sollte allgemein versuchen Wahrheit zu erarbeiten. Er teilt diese Zielstellung mit der Wissenschaft, tut dies jedoch auf eine andere Art und Weise. Auf welche Art und Weise? Journalismus arbeitet eher an aktuellen, einzelnen Fällen und verknüpft diese mit größeren Zusammenhängen. Aus der Wissenschaft erfolgt das meist eher andersherum (induktiv vs. deduktiv). Die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Journalismus kann hierbei besondere Synergieeffekte erzielen, z.B. die Korrektur einer allgemeinen Theorie durch einen besonderen Einzelfall oder das bessere Verständnis eines Einzelfalls durch seine Theoretisierung. Anders als für die Wissenschaft strebt der Journalismus nach Aktualität. Im Extrem – im Online- oder Agentur-Journalismus – geht es dabei teils um Minuten. Wissenschaft lässt sich hingegen Zeit. Dem Journalismus wohnt stets die Gefahr inne, die großen Zusammenhänge aus den Augen zu verlieren. Die Wissenschaft ist hier ein wertvolles Korrektiv.

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Wie muss man sich auf den Mainstream beziehen bzw. sich gar diesem anpassen? Die Abarbeitung am Mainstream kann ein erster Schritt sein, um eine kritische Leserschaft zu gewinnen. Wir können uns nicht heraussuchen, welche Themen unsere Leser*innen interessieren. Nicht selten sind dies die Themen, die vom Mainstream gesetzt werden. Aufbauend auf diesen ersten Schritt sollte allerdings allmählich ein Übergang zur Erarbeitung eigener Inhalte folgen. Im besten Fall kann der Mainstream dann irgendwann abgelöst werden. Sich den „Trends“ des Mainstreams zu bedienen, muss nicht unbedingt eine Anpassung sein und ist daher nicht per se affirmativ. Wichtig ist über Funktion und Zielgerichtetheit zu diskutieren und sich darüber im Klaren zu sein. „Trends“ des Mainstream können auch für kritischen Journalismus nutzbar gemacht werden, müssen aber mit kritischem Inhalt gefüllt werden und ein definiertes Ziel verfolgen. Wie kommt man auch mit Kritischen Journalismus aus der Defensive? Tut also mehr als sich immer nur am Schlechten abzuarbeiten? Durch Verbindung von Kritik mit alternativen Handlungsperspektiven und den dafür einstehenden progressiven Akteuren. Kritischer Journalismus kann auch zeigen wie Veränderung der herrschenden Zustände erreicht werden kann, etwa wie ein Streik an der Uni organisiert wird. Auch sollten wir uns nicht scheuen einmal andere bzw. neue Darstellungsformen auszuprobieren.


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Berichte

Von der Geschichte lernen heißt siegen lernen!

Kritischer Journalismus in Zeiten des Rechtspopulismus - Ein Bericht über die Diskussion des FdVH-Seminars Benjamin Roth

Rechtspopulistische Kräfte beeinflussen den öffentlichen Diskurs. Medien hadern, wie sie mit menschenverachtenden und ignoranten Rechten umgehen sollen. Die Critica-Redaktion hat vom 21. bis 23. Juli 2017 ein Seminar in Leipzig dazu ausgerichtet. Teil dessen war eine Diskussion zum Umgang mit Rechtspopulismus in der Öffentlichkeit. Die Diskussion soll hier dargestellt werden. Zuerst gab es einen Input von Tabea Hartig und Alexander Hummel. Hummel sprach zu Rechtspopulist*innen und journalistischem Umgang, Hartig zu gesellschaftlichen Folgen.

Karl Liebknecht (1871-1919), KPD-Mitbegründer, Revolutionär und kritischer Journalist in Zeiten des Imperialismus. (Foto von Benjamin Roth)

Hummel identifizierte die AfD als einen zentralen Akteur des deutschen Rechtspopulismus‘. Sie etabliere sich im deutschen Parteienspektrum und erfahre Aufmerksamkeit in den Medien. Durch sie kehrten Fragen zurück in den Diskurs, die schon verneint schienen: Gehören Frauen an den Herd? Sind die Deutschen die Opfer der Weltkriege? Doch es gebe noch andere Akteure: Die CSU sei als rechte Partei bereits im Bundestag und sorge für ein gefährliches Gefühl von Normalität. Die Parteien CDU, FDP, Grüne und SPD seien in einzelnen Fragen, v.a. in der Sicherheits- und Asylpolitik, auch rechtspopulistisch. Nach einer gesunden bürgerlichen Mitte suche man vergeblich. Aber es gebe noch Widersprüche zwischen den verschiedenen Kräften des Rechtspopulismus,

v.a. zwischen Faschisten, Konservativen und Marktradikalen. Im Umgang mit der AfD verfolgten Journalist*innen Hummel zufolge grob 3 Strategien: 1. gleichberechtigte Behandlung gegenüber

Liebknechts Geburtshaus in Leipzig, heute Geschäftsstelle des Stadtverbandes. Hier fand das Seminar statt. (Foto von Benjamin Roth)

anderen Parteien, 2. Entlarvung und 3. Ignorieren. Erschwert werde der Umgang mit der AfD dadurch, dass die Partei nicht wie andere Parteien sei, durch die Intransparenz ihrer Arbeit, durch ihre Attraktivität für Abgehängte und dadurch, dass es leichter sei, die AfD anzugreifen, als mit eigenen Inhalten zu überzeugen. Hartig problematisierte, dass die Aufmerksamkeit der Medien für die AfD stets Wasser auf die Mühlen gebe. Die Medien seien mit der AfD eine (un-/)freiwillige Symbiose eingegangen, da sie die Leser- und Zuschauerquoten erhöhe. Hartig meinte, der kritische journalistische Umgang mit Rechtspopulist*innen müsse fundiert, schnell, selektiv, genau, alternativ, dialektisch, tiefgehend, griffig, sensibel und v.a. adressatenorientiert sein. Ferner meinte sie, man dürfe Rechtspopulismus nicht über-


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dramatisieren, da dies zu Ablenkung, Zeitvergeudung, Gewöhnung und Fehleinschätzungen führe. Die eigenen und die Filterblasen der anderen müssten durchbrochen werden. Totschweigen gehe nicht mehr, da die AfD zu groß sei.

die Gefahr der unterhalterischen Verklärung und Verlächerlichung berücksichtigt werden. Vollkommen inakzeptabel sei die Verarschung und Verachtung der besorgten und verängstigten Menschen. Sie müssten ernst genommen werden!

In der Diskussion wurde von einigen zuerst der Begriff „Rechtspopulismus“ kritisiert. Er sei elitär befördere eine Hufeisenideologie. Besser sei „Demagogie“. Für andere sei der Begriff auch deshalb problematisch, weil „Linkspopulismus“ ein Kampfbegriff gegen Linke sei. Das Problem im Populismus lag für mehrere auch in der fehlenden gesellschaftlichen Ver-änderungsperspektive hinter wütenden Parolen. Die Linke habe sich im Widerspruch zwischen Aufklärung und Barbarei gefälligst auf die Seite der Aufklärung zu stellen!

Die Anwesenden sprachen sich für Umgang mit Rechtspopulist*innen klar gegen die gleich-berechtigte Behandlung gegenüber anderen Akteuren aus. Wir kamen im Laufe der Diskussion darauf, eine Kombination aus investigativen Entlarvungen der Rechtspopulist*innen und der Information über progressive Alternativen zu ihnen zu versuchen. Das soll in die Arbeit der Critica-Redaktion einfließen. Wir wollen auch weiterhin genau hinsehen und lautstark darauf hinweisen, wenn selbsternannte Bürgerliche wieder mit Nazis kuscheln, wenn Anti-Establish-ment-Rhetoriker dem Kapital die Stiefel lecken oder wenn scheinbare Basisdemokraten sich gegenseitig die Messer in die Rücken rammen! Wir wollen die falschen Lösungen der Rechts-populist*innen nicht ins Rampenlicht stellen und stattdessen zeigen, wie schon heute progressive Kräfte für eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse kämpfen!

Der investigative Journalismus wurde von vielen als effektive Form der Öffentlichkeitsarbeit angesehen. Die Offenlegung der Verbindung zu Nazinetzwerken und Kapitalfraktionen lege den faschistischen und kapitalistischen Charakter der AfD frei. Die Beobachtung der AfD zeige zudem, dass sie noch manipulativer, machtpolitischer, korrupter und verlogener sei als andere Parteien. Hier solle aber einigen zufolge darauf geachtet werden, der Partei keine unnötige Öffentlichkeit zu schaffen, sondern nur, wenn die Öffentlichkeit schon da sei, z.B. bei Parteitagen. Das Ziel dürften nicht Verbesserungsvorschläge für sie sein und auch nicht der bloßen Unterhaltung dienen. Im Widerspruch zwischen Parteinahme und Journalismus sprachen sich alle Anwesenden im Zweifelsfall für Erstes aus. Der Kampf gegen Rechtspopulismus sei Teil einer wehrhaften Demokratie – und Faschismus sei keine Meinungsäußerung, sondern ein Verbrechen. Schließlich wurde über Humor als politisches Mittel diskutiert. Die Rechten seien im Internet auf Witzeseiten und mit Memes sehr erfolgreich. Es gelte einigen zufolge, den Spott zurückzuerobern und den emotionalen Aspekt der Politik zu berücksichtigen. Eine Synthese von Argument und Affekt könne z.B. in einer Karikatur oder eigenen Memes verwirklicht werden. Andere meinten, hier müsse aber


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Berichte

Ein Blick zurück nach vorn

Ein Bericht vom FdVH-Seminar „50 Jahre 1968“ Jary Koch

Es ist Freitagabend. 30 überwiegend junge Menschen diskutieren über das Jahr 1968. Viele der Anwesenden haben etwas mit der Buchstabenkombination SDS zu tun. Die einen, das sind junge Genoss_innen von Die Linke.SDS aus Berlin, Düsseldorf, Leipzig, Freiburg und Bremen, ein anderer, das ist Volkhard Mosler, 74 Jahre alt und früher mal Mitglied des „Sozialistischen Deutschen Studentenbundes“, dem (historischen) SDS. 50 Jahre ist es her, dass Volkhard an der Universität in Frankfurt am Main mit seiner Ortsgruppe und auf bundesweiten SDS-Veranstaltungen über den Vietnamkrieg, die politische Arbeit in der Uni, das Erbe der Oktoberrevolution oder auch das Verhältnis von Studierenden zur Arbeiter_innenklasse gestritten hat. Und doch scheinen die Fragen, die er in seinem Input aufwirft, aktueller denn je. Das hängt ganz sicher damit zusammen, dass Volkhard zu denjenigen 68ern gehört, die immer links geblieben sind.Er ist aktives Mitglied der LINKEN in Frankfurt, schreibt Artikel und fährt für Referate durch das ganze Land. Es hängt aber auch damit zusammen, dass die Kämpfe, die wir heute führen nicht im luftleeren Raum stattfinden. Sie sind Resultate von Entwicklungen, stützen sich ebenso auf Erfolge von Generationen vor uns wie sie mit Niederlagen dieser umgehen müssen. Ein Seminar über 1968 zu besuchen ist also mehr als „wissen zu wollen wie es war“ und deshalb einen Zeitzeugen von damals erzählen zu lassen. Aber wo liegt denn der Reiz an einer Auseinandersetzung mit dem historischen SDS, mit 68, mit dem Vietnamkongress oder der „Enteignet Springer“-Kampagne? Es scheinen mehrere Aspekte zu sein, die uns Teilnehmende antreiben. Erstmal ist da der Wille etwas zu Lernen, nicht die gleichen Fehler aber die richtigen Sachen wieder zu machen, in der Vergangenheit einen Ratschlag für die Zukunft zu finden. Andererseits: Identität, sich vergewissern, dass man sich in etwas Größeres einreiht, an etwas weiterarbeitet, das andere schon angefangen haben und andere weiterführen werden. Geschichte von unten erzählen

Warum der Aufbruch 1968 zu einer zersplitterten Linken statt zur Revolution geführt hat und was die Linke heute noch aus den 70ern mit sich trägt, sollte Thema am Samstagmorgen sein. Bereits am Freitag wird jedoch noch eine dritte Ebene der Auseinandersetzung mit 1968 offensichtlich: die eigene Erzählung als Verteidigung gegen die häufig vorherrschenden Erzählungen. Nicht umsonst forderte Walter Benjamin Linke dazu auf „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.“1 Denn die Erzählungen vom jugendlichen Aufbegehren, vom Vorläufer der RAF, von Hippie-Experimenten oder Stalin-Jüngern verschweigen, dass 1968 ein Jahr weltweiter Bewegungen gegen die vom Kapitalismus verursachten Zustände war. In Frankreich tobte ein Generalstreik, beinahe auf der ganzen Welt fanden riesige Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg statt, in Prag begehrten Zehntausende gegen das stalinistische Regime auf, in den Vereinigten Staaten sorgte die Black Power-Bewegung für Aufsehen. Und in Deutschland? Mischten viele Studierende, aber eben keineswegs nur Studierende, den scheinbar von Krisen geheilten Nachkriegskapitalismus auf. Volkhard bürstet die Geschichte in seinem Referat gegen den Strich, und zeigt, dass wir, wenn wir von 1968 sprechen, von Menschen sprechen, die ein Ziel hatten: den Kapitalismus zu stürzen. Aus den Erfahrungen lernen Der Samstag startet mit einem Referat von Janis Ehling, Bundesgeschäftsführer des SDS, der vor allem auch die Entwicklung der Linken nach 1968 beleuchtet. Während einige erkämpfte Fortschritte auf kultureller Ebene Bestand gehabt hätten, seien die sozialkritischen Elemente der Bewegung leider häufig untergegangen. Auch deshalb habe sich ein neuer Geist des Kapitalismus etablieren können, so Janis in Bezugnahme auf das gleichnamige Werk von Eve Chapello und Luc Boltanski.2 Der SDS hatte große Teile der Linken in den Universitäten vereint, seine Auflösung führte zur Zersplitterung der organisierten Linken in


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verschiedene K-Gruppen oder zur Reintegration in die SPD unter Willy Brandt. Und dennoch, so betont auch Janis, hatte das Jahr 1968 in Deutschland unglaublich viele Menschen politisiert und auch Fortschritte erkämpft von denen wir noch heute profitieren. Beste Beispiele dafür sei etwa die Lehrlingsbewegung der frühen 70er oder die erkämpfte demokratische Mitbestimmung an den Universitäten. In Kleingruppen diskutierten wir Teilnehmende anschließend darüber, was für uns der Schwerpunkt einer Auseinandersetzung mit 1968 sein sollte. Ob der Tomatenwurf und die daran anknüpfende Debatte über Sexismus auch in den ‚eigenen Reihen‘, das Verhältnis zur kritischen Theorie oder Strategien zur Politisierung von Studierenden – bei fast allen Aspekten fügten wir ein „und heute“ zu. Gibt es da noch etwas zu holen für uns? Wie haben die Genoss_innen von damals gearbeitet, wie wollen wir heute aktiv sein? Aus den Erfahrungen lernen, das scheint für alle ein zentraler Punkt zu sein. Das zeigt sich auch bei den Debatten um die Interventionsmöglichkeiten von Die Linke.SDS im kommenden Jubiläumsjahr von 1968. Neben der Aufbereitung historischer Debatten und dem Darstellen eines eigenen Narrativs, sollen auch Perspektiven einer Klassenpolitik heute in und um die LINKE herum im Zusammenhang mit 68 diskutiert werden: an der Hochschule, die sich über die Jahre enorm verändert hat und darüber hinaus. Auch die starke antiimperialistische Arbeit des historischen SDS müsse Thema sein, unter Anderem auch hinsichtlich der Frage wie wir internationale Solidarität heute organisieren. 1968 war auch Startpunkt einer Frauenbewegung. Was erkämpften Feminist_innen damals und woran scheiterten sie? Wie sieht es heute aus im Kampf um Geschlechtergerechtigkeit?

langer Dauer“. Eine „immer wieder aufgerufene und aktualisierte Erinnerung an kollektiv-solidarische Praktiken“ sei eine Bedingung für erfolgreiche Kämpfe heute.3 Sich die Erfahrungen der 68er-Bewegungen anzueignen, hilft uns - neben den möglichen strategischen Schlussfolgerungen - vor allem also auch insofern, als dass sie uns „eine positive Tradition [...] und das Bewusstsein, an einem Kampf von langer Dauer teilzunehmen“, vermitteln zu können.4 Sich erinnern heißt sich stärken, ja, aber es heißt natürlich auch sich kritisch mit dieser positiven Tradition zu beschäftigen. Eine ausschließlich männliche Führungsebene in einem linken Studierendenverband, teilweise bedingungslose Solidarität mit vermeintlich antiimperialistischen Staaten wie China, eine weit verbreitete Abgrenzung zur scheinbar konservativen Arbeiter_innenklasse – an verschiedenen Fragen können und müssen wir natürlich Kritik an den Kämpfenden von damals üben. Dass wir Vergangenes in seinem jeweiligen historisch-konkreten Kontext betrachten, sollte dabei eine Selbstverständlichkeit sein.

Sich erinnern heißt sich stärken

Konkret heißt das auch: wir wollen für den Bundeskongress eine Mehrheit des Verbandes davon überzeugen, dass wir einen Kongress zu 50 Jahren 1968 veranstalten sollten. Ein Kongress, anlässlich dessen wir, in Die Linke.SDS organisierte Sozialist_innen, Geschichte von unten erzählen, uns Erfahrungen von damals aneignen und uns für anstehende Kämpfe stärken. Wir wollen die Idee eines Kongresses dabei von unten aufrollen. Wie kann eine bundesweite Großveranstaltung in der Vor-

Wie sollten sich Linke zu vergangenen Kämpfen verhalten? Der Historiker Ralf Hoffrogge argumentiert vehement gegen das Vergessen vermeintlich alter linker Bewegungen. Ein kollektives Gedächtnis der Kämpfe versteht er auch als „Ressource im Widerstand“. Sich nicht zu erinnern sei sogar „fatal, denn Klassenbewusstsein stammt nicht nur aus der eigenen Erfahrung, sondern ist ein historisches Produkt

Auf ins Jubiläumsjahr! Sonntagmorgen. Das ein oder andere Bier am Abend zeigt noch Nachwirkungen. Auf die Motivation das Seminar erfolgreich abzuschließen, hat das jedoch wenig Einfluss. Die Teilnehmenden sind sich einig: Die Linke.SDS sollte sich der im eigenen Namen angelegten Tradition stellen und offensiv in das Jubiläumsjahr der 68er-Bewegungen starten. Gruppen sollen sich über Monate mit Themen beschäftigen, Lesekreise und Referate sollen organisiert werden. Und die vielen entstandenen Ideen sollen weiterentwickelt und -diskutiert werden.


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und Nachbereitung den lokalen Gruppen beim Aufbau helfen . Ob mit Kongress oder ohne: Ein kollektives Verbandsgedächtnis als Ressource im Kampf gegen rassistische Professor_innen, Bundes1 2 3 4

wehr-Kampagnen oder alltäglichen Sexismus sollten wir in jedem Fall aufbauen. Dabei wissen wir: Wir sind nicht die ersten, die daran glauben, dass eine andere Welt möglich ist. Packen wir es an.

Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: Gerard Raulet (Hg.): Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Band 19, Berlin, 2010. Luc Boltanski, Eve Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz, 2003. Ralf Hoffrogge: Vorwärts und nicht vergessen? Warum die Linke große Erzählungen braucht und dabei auf die Erfahrungen der Bewegung der Arbeiterinnen und Arbeiter nicht verzichten kann. In: AK Loukanikos (Hg.): History is unwritten. Linke Geschichtspolitik und kritische Wissenschaft. Ein Lesebuch, Münster, 2015, S. 102-119, hier S. 112. Ebd., S. 117.

10 Jahre SDS-Feier Bettina Gutperl und Janis Ehling

Am 5. Mai vor 10 Jahren wurde der SDS in Frankfurt am Main von 29 anwesenden Hochschulgruppen gegründet. Anlässlich dieses Ereignisses organisierte der SDS eine kleine Tagung an der FU Berlin, um Bilanz zu ziehen. Dabei sollte es nicht nur um den SDS, sondern auch um die Entwicklung der Unis und kritischer Wissenschaft insgesamt gehen. Den Anfang machte am Freitag der Parteivorsitzende der LINKEN, Bernd Riexinger. Statt eines Grußwortes gab es eine Diskussionsrunde, in der Bernd Riexinger von der Bedeutung des Marxismus und der Verbindung von Theorie und Praxis redete. Schnell entspann sich daraus eine Diskussion um das Verhältnis von Studierenden und Arbeiterklasse. Bernd strich die Notwendigkeit beider Teile heraus. Studierende müssten aber davon absehen, die Fehler mancher linker Gruppen von 1968 zu wiederholen. Ein Avantgarde-Anspruch oder ein neuer Proletkult helfen niemandem und schaffen ganz sicher keine Verbindung. Er hob positiv die Streiksoli-Aktionen einiger SDS-Gruppen hervor. Etwas anderer Meinung war der nächste Referent, Alex Demirovic. Demirovic unterstützte vor 10 Jahren die Gründung des SDS und kritisierte gleich eingangs, dass er sich vom SDS mehr gewünscht hätte. Der SDS sei zu wenig an der Uni präsent und würde sich zu wenig um die Verbreitung von Kritik und Kritischer Wissenschaft kümmern. Er skizzierte nochmal die Neoliberalisierung der deutschen Hochschulen und hob die Bedeutung der Verbreitung kritischen Denkens hervor. Damit

brachten Bernd Riexinger und Alex Demirovic eine alte und lang geführte Debatte auf. Viele Teilnehmende schilderten daraufhin die Probleme der Lehre und der Stromlinienförmigkeit der Inhalte an ihren Fakultäten. Beide Diskussionen waren außerordentlich produktiv und spannend. Quo vadis marxistische Magazine? Der Samstag begann mit einer Diskussion um den Stand marxistisch-wissenschaftlicher Magazine. Bieten diese doch einen wichtigen Ort der Publikation und Diskussion linker Wissenschaft. Gekommen waren Ingo Stützle von der ProKla, Ines Schwerdtner vom Argument und Gerd Wiegel für die Z – Zeitschrift Marxistische Erneuerung. Anfangs wurden die Unterschiede und die Herkunft der Magazine diskutiert. Das Argument entstammte den Diskussionen aus dem Umfeld der Neuen Linken um 1960 und spielte um 1968 eine bedeutende Rolle in den Diskussionen der Studierenden. Es hat bis heute unterschiedliche Heftschwerpunkte von der Lage des Marxismus, Umwelt, Kunst bis zu Marxismus-Feminismus. Der Schwerpunkt der Zeitung war die FU Berlin um Prof. Wolfgang-Fritz und Prof. Frigga Haug. Die ProKla begann als Probleme des Klassenkampfs und entstand aus undogmatisch-marxistischen Zusammenhängen in den 70ern. Sie ist eng mit vielen kritischen WissenschaftlerInnen vernetzt und bildet einen Ort für Artikel von kritischen linken Uniabgängern. Beide Zeitungen haben mit leichten AbonnentInnenzahlen zu kämpfen. Anders die Z, sie wächst seit einigen Jahren wieder leicht. Sie entstand aus einem Teil der damaligen Deutschen Kommunistischen Partei – und bildete seit dem die lebendigen Diskussionen im Arbeiterbewegungsmarxis-


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mus ab. Ihr Schwerpunkt liegt auf Klassenauseinandersetzungen, gewerkschaftlichen Kämpfen und marxistischen Diskussionen. Schnell kam die Diskussion auf die Anbindung der Zeitungen an die Unis und die Diskussionen dort. Beklagt wurden das Wegbrechen der kritischen 68er Profs in den nuller Jahren und die miserablen Arbeitsbedingungen von WissenschaftlerInnen. Doch das Podium war kein Klagelied auf den Niedergang der Universitäten. Neben dem Wegbrechen einiger kritischer Hochburgen an den Unis kamen neue linke Profs in Kassel, Jena und einigen anderen Städten hinzu. Aus der Diskussion wurde deutlich wie wichtige kritische Profs und DozentInnen an den Unis – auch für den SDS vor Ort sind. Die Lage der Hochschulen heute Das nächste Podium stand im Lichte des neoliberalen Umbaus der Hochschulen. Dazu diskutierten Felix Syrovatka von der Assoziation Kritische Gesellschaftsforschung (AKG), Sonja Staack vom Bund demokratischer WissenschaftlerInnen (BdWi) und Dorian Tigges vom SDS-Bundesvorstand. Ähnlich wie auf dem vorherigen Podium zogen die Teilnehmenden eine durchwachsene Bilanz. Der BdWi, 1972 als Verbindung linker WissenschaftlerInnen entstanden, organisiert bis heute Veranstaltungen an den Unis und ist immer noch gut vernetzt. Die AKG entstand sogar erst 2003 aus jüngeren linken WissenschaftlerInnen, die mittlerweile in zahlreichen Facharbeitsgruppen weiterhin an der Weiterentwicklung linker Theorie arbeiten. Auch der SDS organisiert seit seiner Gründung an vielen Unis kritische Bildungsveranstaltungen und trägt damit von studentischer Seite zur Verbreitung linker Inhalte bei. Einen großen Teil der Diskussion bestimmte der Austausch über die schlechten Arbeitsbedingungen linker NachwuchswissenschaftlerInnen, die Drittmittelabhängigkeit von der Wirtschaft und die dadurch bedingte prekäre Situation des linken Wissenschaftsnachwuchses. Sonja Staack machte insbesondere auf die prekäre Lage im Mittelbau aufmerksam: Die Doktor*innen hängen lange in der Luft - in Aussicht auf die ungewisse Möglichkeit einer Professur. Doch Felix Syrovatka machte darauf

aufmerksam, dass mittlerweile auch kritische Anträge auf Drittmittel hin und wieder bewilligt werden und mit der AKG sogar ein neuer Zusammenschluss kritischer Wissenschaftler*nnen entstanden sei. Die Neoliberalisierung der Unis brachte die kritische Lehre zwar in die Defensive, aber ganz beseitigen, konnte sie sie nicht. Dorian Tigges wies darauf hin, dass mit dem SDS ein Akteur an den Unis entstanden sei, der flächendeckend kritische Veranstaltungen an den Hochschulen von studentischer Seite organisieren würde. Allerdings schöpfe der SDS sein Potential im Kampf um linke Universitäten nicht aus, merkte Sonja Staack kritisch an. Vor allem im fzs gäbe es teils ein politisches Vakuum und der SDS wäre in den hochschulpolitischen und gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen an den Unis zu wenig präsent. Dorian Tigges räumte das ein, wies aber auch auf die Erfolge bestehender Organisierung hin: die verstärkte Vernetzung mit den gewerkschaftlichen Hochschulgruppen, den flächendeckenden Antritt zu Hochschulwahlen und verstärkte Vernetzung mit dem fzs, ABS und anderen hochschulpolitischen Akteuren. Rückblick auf 10 Jahre Verbandsentwicklung Nach der gesellschaftlichen Betrachtung rückte die Verbandsentwicklung des SDS selber in den Mittelpunkt. Der amtierende SDS-Bundesgeschäftsführer Janis Ehling resümierte in 25 Minuten die wichtigsten Punkte der Verbandsgeschichte. Die Gründung des Verbandes erfolgte durch die Vereinigung unterschiedlicher linker Basisgruppen, von Juso-, PDS-, Attac- bis linksradikalen Hochschulgruppen waren viele vertreten. Der Pluralismus war nicht einfach. Das begann beim Streit um den Namen des Verbandes und wurde nicht einfacher durch die andauernde Derbyfeindschaft mit dem Jugendverband. Doch mit den ersten Projekten, einer gemeinsamen Verbandszeitung, der critica, dem 68er Kongress, der Kapitallesebewegung und dem großen Bildungsstreik gegen die Studiengebühren wuchs der Verband an Mitgliedern und Gruppen. Und er wuchs über die Jahre als Verband zusammen. Natürlich gab es in dieser Zeit auch einiges an Debatten und Streit.


20 Vor allem ab 2009 bis 2014 stagnierte die Verbandsentwicklung. Wie die Partei DIE LINKE versank der SDS im Streit. Die Zahl der Gruppen und Aktiven nahm ab – trotz einiger lokaler und bundesweiter Erfolge und Projekte. Doch seit 2014 nahm der Verband einen ungeahnten Aufschwung. Die Zahl der Gruppen stieg von 33 auf nunmehr 58 Gruppen an. Und trotz aller Konflikte blieb der SDS ein linker Richtungsverband – auch innerhalb des linken Spektrums. Nach diesem kurzen Parforceritt stellten einige Aktive und ehemalige Aktive wichtige Projekte des Verbandes vor. Jakob Graf stellte die Kapitallesebewegung und den BAK Kritische Wissenschaften vor. Er las – unter Applaus – die Mail eines brasilianischen Genossen vor, der 2008 zum SDS kam und den das Marxlesen derart prägte, dass er noch heute marxistische Bildungsarbeit an der Uni und im Stadtviertel seiner Heimatstadt in Brasilien macht. Danach stellte die amtierende SDS-Bundesgeschäftsführerin Bettina Gutperl den Frauenkampftag vor. Der SDS initierte, gemeinsam mit solid, die größte Demonstration von Frauen zum 8. März seit 1995. Im Anschluss präsentierten Ronda Kipka und Daniel Anton einige von vielen Beispielen von Streiksoli-Aktionen, die einige SDS-Gruppen seit der Verbandsgründung immer wieder durchführten: Aktionen zu Amazon, den Streik im Einzelhandel, der Sozial- und Erziehungsdienste und aktuell den Auseinandersetzungen um die Krankenhäuser. Den Abschluss machte Jeremiah Nollenberger, indem er ein Schlaglicht und Plädoyer auf und für die Zivilklauselbewegung an den Unis warf – eine Bewegung, die immer wieder von SDS-Gruppen an vielen Unis initiert oder unterstützt wurde. Diskussionen im Verband Mit Spannung erwartet wurde ein Podium um die Bewertung der Arbeit des SDS. Dazu waren verschiedene SDS-Aktive aus organisierten Strömungen im Verband geladen: Luigi Wolf, ehemaliger SDS-Bundesgeschäftsführer für Marx21, Friederike Benda für die APO und Bettina Gutperl für die MFG. Alle drei ReferentInnen bewerteten die hochschulpolitischen Aktivitäten des SDS als positiv und für

Berichte

die zukünftige Praxis des SDS als elementar. Insbesondere der vom SDS in 2009 initiierte Bildungsstreik wurde als einer der größten Erfolge der Verbandsgeschichte gewertet. Die Diskutierenden betonten alle, dass Hochschulpolitik auch immer Gesellschaftspolitik sein müsse, setzten dabei aber unterschiedliche Schwerpunkte. Luigi Wolf betonte, dass der Kampf von studentischen Interessen nicht abgekoppelt von anderen Kämpfen geführt werden könne und daher nicht nur in der Hochschule – auf dem Campus und den studentischen Selbstverwaltungsgremien – geführt werden kann, sondern auch außerhalb. Auch die anderen beiden Referentinnen waren der Meinung, dass studentische Kämpfe mit denen der Arbeiterklasse und anderen Akteueren verbunden werden müssen, aber man auf den Kampf in und an der Hochschule nicht verzichten kann. Gerade auch mit Hinblick auf die (Wieder)Erkämpfung linker Wissenschaft, die sozialistische Alternativen bereit hält. Alle Lebens- und Arbeitsbereiche der Gesellschaft dürfen nicht länger ideologisch von neoliberalen Mainstreamwissenschaft geprägt werden. Friederike Benda hob darüber hinaus hervor wie wichtig feministische Arbeit für den SDS ist. Einerseits um wie mit dem Frauen*kampftag nach außen zu strahlen und einen linken Feminismus stark zu machen, andererseits aber auch um die interne Praxis des SDS zu verändern. Mehr Frauen sollen dazu ermutigt werden aktiver und ideengebender Teil des SDS zu sein. Bettina Gutperl stellte heraus, dass für sie eine weitere wichtige Säule einer nachhaltigen SDS Praxis die Bildungsarbeit ist. Gerade in Zeiten, in denen der SDS und auch die Partei einen hohen Mitgliederzuwachs habe, ist die politische Bildungsarbeit unerlässlich um alle in marxistischen, feministischen und antirassistischen Theorien wie Praxen zu schulen, damit alle befähigt werden selbstbewusst in gesellschaftliche Debatten und Kämpfe einzugreifen und sich kollektiv weiterzuentwickeln. Zudem betonte sie, dass es für den SDS wichtig ist auf die Selbstsorge und Sorge für andere GenossInnen zu achten um nachhaltige Politik zu machen und um menschlicher zu sein als man es im Neoliberalismus lernt. Im Anschluss an das Podium entspann sich eine angeregte Diskussion über die Schwer-


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punktsetzung unseres Studierendenverbandes. Insbesondere die Möglichkeiten und inhaltliche Ausrichtung eines weiteren Bildungsstreiks wurden in der derzeitigen gesellschaftlich Lage kontrovers, aber fruchtbar erörtert. SDS-Aktiv sein Zum Abschluss warf Robert Blättermann, langjähriger SDS-Aktivist und Wissenschaftlicher Mitarbeiter von Nicole Gohlke, einen subjektiven Blick auf das Menschsein in einer Organisation. Dabei ging er auf Erfahrungen von Studierenden zu Beginn ihres Studiums ein. Im Anschluss an Didier Eribons Buch „Rückkehr nach Reims“ machte Robert Blättermann insbesondere auf die Lage von Studierenden aus der Arbeiterklasse aufmerksam. Das Gefühl falsch zu sein und nicht dazu zugehören. In diesem Sinne sei der SDS nicht nur dafür da, die Verhältnisse an den Hochschulen zu verändern, sondern auch ein Ort, an dem man sein kann wie man ist und sich in der Aktion mit anderen selbst ermächtigt. In der anschließenden Diskussionsrunde ging es darum wie man es schafft langfristig politisch aktiv zu sein, ohne die Hoffnung auf Veränderung zu verlieren. Abschlussrunde und Was nehme ich mit? Abschließend hatten alle Teilnehmenden die Möglichkeit ein Feedback zum gesamten Seminar zu geben. Sie sollten eine konkrete Idee für die Zukunft des SDS zu benennen, die sie vom Wochenende mit nach Hause in ihre Gruppen nehmen. Das Feedback zum Seminar fiel durchweg positiv aus, einziger Kritikpunkt war der Wunsch nach mehr methodischer Vielfalt in der Gestaltung des Wochenendes. Einige der Teilnehmenden nahmen die Idee mit, nochmal eine Kapitallesebewegung zu starten, zumindest an der eigenen Hochschule. Andere wiederum waren begeistert von der Idee, einen Reader zu linken Wissenschaften zu erstellen. Wieder andere hatten die Idee, einen erneuten Bildungstreik zum 68er Jubiläum zu initiieren. Den Ausklang der kleinen Tagung bildete ein musikalischer Umtrunk mit weiteren Genoss*innen!

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Bericht zum FdVH-Seminar über Antikommunismus Benjamin Roth

Die G20-Proteste in Hamburg und die mediale Schikane gegen Linksterroristen u.ä. zeigten erneut, dass der Antikommunismus des Kalten Krieges noch in den Köpfen vorhanden und im Krisenfall mobilisierbar ist. Antikommunismus, das ist eine Anti-Ideologie und Anti-Praxis, welche sich immer gewandelt und in ihrer Funktion als Waffe gegen den Sozialismus viele Methoden entwickelt hat. Im Rahmen eines FdVH-Seminars haben wir uns vom 20.-22. Oktober in Leipzig dazu getroffen. Hierbei ging es um die Theorie des Antikommunismus, um die Sichtweisen auf den (gescheiterten) Sozialismusversuch, ausgehend von der Oktoberrevolution, um rechte Geschichtspolitik durch Akteure der Linkspartei, um Berufsverbote in der BRD und um die Verbindung von Antikommunismus und Faschismus. Dabei beschäftigten uns u.a. folgende Fragen: Wieso ist eine feindliche Haltung gegenüber sozialen Protesten im Alltagsverständnis der BRD-BürgerInnen so fest verankert? Was muss von der Oktoberrevolution verteidigt, was kritisch untersucht werden? Wie reden wir über Fehler des Realsozialismus unter GenossInnen, wie mit politischen GegnerInnen? Was machen Berufsverbote mit Betroffenen und Gesellschaft? Wie hängen Antikommunismus und Faschismus zusammen? Und was können wir in Zeiten von Resignation, Chauvinismus und sich verschärfenden sozialen Gegensätzen tun, um progressive Alternativen zur neoliberalen Hegemonie mehrheitsfähig zu machen? Antikommunismus als Anti-Aufklärung Antikommunismus stellt das Bewusstsein auf den Kopf: Der Kapitalismus wird Freund, der Sozialismus Feind der ArbeiterInnen. So der wesentliche Inhalt. Formen davon sind die Gegenüberstellung von sozialistischer Ideologie und liberaler „Ideologielosigkeit“ sowie von kulturellen Traditionen und „sozialistischer Zerstörung“, die Personifizierung des Sozialismus, Elitarismusvorwurf, der Vorwurf expansiven Machtstrebens. Bürgerliche Denkmuster (ideologisch verballert, zerstörerisch, personifizierend, elitär, expansiv) werden auf die Denkmuster des Gegners übertragen, der Klassenwiderspruch in einen politischen Ge-

Wahlplakat der CDU von 1957. Zu beachten ist auch die Darstellung des Bolschewiken mit Schlitzaugen. Alte Klischees vom asiatischen Russen; soviel zur Intersektionalität des Antikommunismus. (©ACDP)

gensatz umgedeutet, innenpolitische Konflikte werden in außenpolitische Feindbilder verwandelt. Wichtig ist auch die Verbindung des Antikommunismus mit Sexismus, Rassismus und Faschismus. Auf die Unterdrückten wirkt der Antikommunismus demoralisierend und macht den Kampf gegen die Mächtigen scheinbar zu zerstörerischer Fanatik. Dies kanalisiert dann die Wut und den Widerstand auf Randgruppen und Pseudogegner. Gegen die „kommunistischen“ Hochschulen: Intellektuellenfeindlichkeit Vertiefend setzten wir uns mit einer Rede des Kritischen Psychologen Klaus Holzkamp von 1977 zu den damaligen Hochschulreformen auseinander. Diese wurden im Reformprozess pervertiert, um durch Verschärfung der Konkurrenz die Errungenschaften der 1968er


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gesellschaftlich zurückzudrängen und alle Lehrenden und Studierenden massiv einzuschüchtern. Die (gesetzlich) gegen die bekennenden und vermeintlichen KommunistInnen gerichteten Berufsverbote sind in ihren Ursachen zu untersuchen, um wirksame Gegenstrategien zu entwickeln. Der „Sachzwang“ Geldmangel erfüllt nach wie vor eine Disziplinierungsfunktion gegenüber den ArbeiterInnen und hat zur Folge, dass durch Existenzangst das kritische Denken gehemmt und die progressive Entwicklung der Wissenschaft erschwert wird. Disziplinierungsmaßnahmen gegen Studierende sind hierbei Benotung, Regelstudienzeit, Repression gegen die Verfasste Studierendenschaft, Verhinderung von studentischen Freiräumen, Zwangsexmatrikulation und auch die mediale Kampagne um „Akademisierungswahn“. Dabei fungieren typische Narrative vom „Bummelstudenten“, „Sozialschmarotzer“ und „Versager“ als Peitsche, während der Mythos „Wenn ich damit fertig bin, kann ich endlich...“ als Zuckerbrot lockt. In der Lehre findet z.B. durch separate Statistikmodule eine Trennung von Inhalt und Form statt, folglich eine Entmündigung der Studierendenschaft mit Missbrauchsmöglichkeiten im Hinblick auf Krieg und Ausbeutung. Die Wissenschaft wird formalisiert und so einer Abstraktion von inhaltlicher Involviertheit, einem Quantifizierungsfetisch, unterzogen. Ein humanistisches Bildungsideal weicht mehr und mehr einer Ausbildung im Verwertungsinteresse. Das Ziel des Massenstudiums, abgetrennt vom Elitenstudium mit teuren Privatunis, sind schlau-dumme Studierende, die produktiv, aber unkritisch sind (ähnlich übrigens dem aktiv-apathischen Soldaten, der seine Befehle leidenschaftlich und kreativ, aber unkritisch und widerspruchslos ausführt). Im Positivismus-Streit wird mit der Werturteilsfreiheit eine klar systemstabilisierende Position bezogen, welche im Gewand einer vorgeheuchelten Ideologielosigkeit daherkommt. Studierende können sich gegen diese Tendenzen wehren, indem sie zur Bewältigung des Überlastungsstudiums Arbeitsteilung betreiben und mittels kollektivem Lernen die Belastung für sich verringern. Doch die gewonnene Zeit darf nicht als Nischensuche zur Selbsthilfe verstanden werden, sondern muss genutzt werden, um

23 politisch zu organisieren und Druck zu entfalten: In den Studierendenschaften, Fachschaften, auf der Straße und notfalls mit Besetzung des Präsidiumsgebäudes. Kämpfe müssen gesamtgesellschaftlich geführt werden; das impliziert, dass sie zusammengeführt werden müssen, aber eben auch dort, wo man selber ist, an der Uni! Gegen Vereinzelung! Berufsverbote und linke Organisationen Die Diskussion des Markard-Textes „Berufsverbote, Opportunismus, Subjektentwicklung“ schildert anhand des Radikalenerlasses von 1972 mit der Folge von rund 7000 Berufsverboten und 2,6 Millionen Gesinnungsprüfungen staatliche Repressionen als Reaktion auf die erstarkende Linke. Durch Einschüchterungen, Unterdrückungen und bis hin zu sozialer und materieller Isolierung wurde das kritische Potenzial in der Wissenschaft weiter eingeschränkt. Auch bei Nichtbetroffenen AkademikerInnen führten die Berufsverbote zu Verunsicherung, Angst vor politischen Stellungnahmen und zur Zurücknahme kritischer Positionen. Diese Einschüchterung führt zu taktischem Verhalten mit der Behauptung, persönliches Lebensglück stehe einem harten, unpersönlichen gesellschaftlichen Kampf gegenüber. Doch die Folgen des opportunistischen „Umfallens“ für die Entwicklung eines Subjektes sind Vereinzelung, Selbstverleugnung und Schuldgefühle. Um die Kampffähigkeit der Klasse und die „Durchhalter“ zu stärken, muss erstens anerkannt werden, dass Angst unter angstmachenden Verhältnissen entsteht und die zentralen Möglichkeiten der Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen im Kapitalismus fehlen. Unterwerfung macht nicht glücklich; Befreiung und Glück können für den Einzelnen nur durch kollektives Handeln, durch Befreiung und Glück vieler gelingen. Psychische Probleme als gesellschaftliche Phänomene sollten nicht individualisiert, sondern im sozialen Kontext verstanden werden. Der gemeinsame Kampf gegen Berufsverbote muss gefüllt werden mit Solidarität für die Ausgeschlossenen, indem über Ängste offen gesprochen wird statt sie zu leugnen. Mittels gemeinsamer Besprechung kann das Private politisch begriffen und ökonomische Situationen kollektiv gestaltet werden. Für alle Kämp-


24 fende muss der Anspruch gelten, dass es allen Menschen besser geht. Auch diese Strategie stößt an ihre Grenzen: Gefahren der Moralisierung, des Märtyrertums, des Sektierens, der Höherbewertung von „guten“ GenossInnen bestehen. Die Ungleichheit kann nicht in einer Gruppe überwunden werden, doch mithilfe der Gruppe und BündnispartnerInnen kann sie bekämpft werden. Eine solidarische Lebensund Verhaltensweise untereinander verbessert die menschlichen Lebensbedingungen und ist die einzige Sicherheit, die im Kapitalismus errungen werden kann. Der Widerspruch von sozialer Unsicherheit und politischer Organisation wird im Kampf für mehr soziale Sicherheit selbst überwunden. Aus der Geschichte lernen Weiterhin diskutierten wir mit dem linken Staatswissenschaftler Ekkehard Lieberam über seine Thesen zur Oktoberrevolution und die Entwicklung des Realsozialismus und die Kontroverse in der LINKEN über den „Unrechtsstaat“ DDR. Auch das Referat über die Verbindung von Faschismus und Antikommunismus sprengt den Rahmen dieses Artikels. Ihnen könnten und sollten eigene Beiträge gewidmet werden. Schließlich bleibt noch die gemeinsame Diskussion mit Volker Külow über die Frage: Was tun? Ausgangspunkt ist der Ärger über die machtpolitische Scheiße in der Partei; weder Intrigen noch Opportunismus seien für die Partei inakzeptabel. OpportunistInnen solle man den Weg nach draußen zeigen, doch anstatt Personifizierung sei es vor allem wichtig, den innerparteilichen Diskurs zu verschieben und das Diskussionsniveau in der Partei zu heben. Die innerparteiliche Kulturfrage steht aus. Volker Külow riet schließlich dazu, sich stets zu fragen, wo die Herrschaftsstruktur gerade am dünnsten, wo die schwächste Stelle beim Gegner gerade sei. Im Zusammenhang mit Repressionen der Wissenschaft müssen studentischer Minimalismus angeprangert und die Funktion von Wissenschaft für Gesellschaft - nicht Last, sondern der Teil, der das Heben der Lasten durch Erfindungen leichter macht! - hervorgehoben werden. Aufgeben macht schwach, Kämpfen macht stark. Das ist die große Lehre des Seminars. Wir können uns nicht alleine durchwurs-

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teln, sondern müssen miteinander reden und kämpfen!


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