Otto Esser: Gelebte Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft

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ARBEITGEBERFORUM WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

SYMPOSIUM ZUM GEDENKEN AN DEN EHRENPRÄSIDENTEN DER BDA

OTTO ESSER

III. ARBEITGEBERFORUM WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT, 5. Dezember 2005 Haus der Deutschen Wirtschaft, Berlin


ARBEITGEBERFORUM WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

SYMPOSIUM »OTTO ESSER – GELEBTE VERANTWORTUNG FÜR WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT«

III. ARBEITGEBERFORUM WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT, 5. Dezember 2005 Haus der Deutschen Wirtschaft, Berlin


Inhalt

Vorwort »Otto Esser – Gelebte Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft« Dr. Reinhard Göhner, Hauptgeschäftsführer der BDA

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»Leitbild für Grundsatztreue und Partnerschaft« Arbeitgeberpräsident Dr. Dieter Hundt

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Ansprache zum Gedenken an Otto Esser Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände

Dr. Otto Graf Lambsdorff, Bundesminister a. D.

im Haus der Deutschen Wirtschaft Breite Straße 29 10178 Berlin

»Markt und Moral – die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen in Deutschland«

Briefadresse: 11054 Berlin Telefon 030/20 33-10 20 Fax 030/20 33-10 25 info@bda-online.de

Prof. Dr. Michael Burda, Humboldt-Universität Berlin

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Podiumsdiskussion Prof. Dr. Michael Burda, Dr. Eckart John von Freyend, Prof. Dr. Bernd Rüthers, Michael Sommer

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Schlusswort www.bda-online.de

Eggert Voscherau, Präsident BAVC

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VORWORT »OTTO ESSER – GELEBTE VERANTWORTUNG FÜR WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT« Dr. Reinhard Göhner, Hauptgeschäftsführer der BDA

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tto Esser gehörte einer Generation von Unternehmern an, die den Aufbau der Sozialen Marktwirtschaft aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs aktiv gestalteten. Wie kein Zweiter verkörperte er die Tugenden, die den erfolgreichen und gewissenhaften Unternehmer ausmachen: Integrität, Glaubwürdigkeit, Kompetenz und Entschlossenheit. Otto Esser blieb dieser Linie stets treu. In der schweren Stunde nach der Ermordung von Hanns-Martin Schleyer übernahm er ohne Zögern das Amt des Arbeitgeberpräsidenten. Sein beständiger Dienst im Sinne des Interessenausgleichs an der Spitze der deutschen Arbeitgeberverbände, seine gelebte Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft brachten ihm große Anerkennung und Wertschätzung ein. Im Gedenken an Otto Esser und zu seinen Ehren hat die BDA am 5. Dezember 2005 das III. Arbeitgeberforum Wirtschaft und Gesellschaft im Haus der Deutschen Wirtschaft in Berlin veranstaltet. Diese Veranstaltungsreihe gibt seit 2004 prominenten Gast-

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rednern aus Kirche, Wirtschaft und Politik die Gelegenheit, zur gesellschaftspolitischen Debatte in Deutschland beizutragen. In einer Zeit des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels ist die Prinzipientreue Essers beispielhaft. Auch heute müssen wir, angesichts der rapiden Veränderungen, die unser Land durchläuft, an den Grundprinzipien unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung festhalten. Doch wir können die Soziale Marktwirtschaft nur bewahren, wenn wir sie auf die veränderten Bedingungen der Gegenwart einstellen. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dürfen vor notwendigen Veränderungen nicht die Augen verschließen. Wenn wir den demografischen Wandel bewältigen und die Chancen der Globalisierung nutzen wollen, müssen wir das richtige Maß von solidarischer Absicherung und eigenverantwortlichem Handeln wiederentdecken. Gleichermaßen gilt es, in Deutschland die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen, die es Unternehmen ermöglichen, sich dem erhöhten Wettbewerbs- und Anpassungsdruck zu stellen. Nur wirtschaftlich gesunde Unternehmen sind in der Lage, Arbeitsplätze zu erhalten und damit ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden.

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»LEITBILD FÜR GRUNDSATZTREUE UND PARTNERSCHAFT« Arbeitgeberpräsident Dr. Dieter Hundt

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tto Esser, der langjährige Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, verstarb am 28. November 2004. Den ersten Jahrestag seines Todes haben wir zum Anlass genommen, diese außergewöhnliche Persönlichkeit zu ehren. Otto Esser hat wie kaum ein anderer Unternehmer die Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft gelebt. Reden und Handeln haben hier in einer Persönlichkeit zusammengefunden, wie wir es nur selten finden. Otto Esser war ein Mann der leisen Töne, er war prinzipientreu, entschlossen und weitblickend. In seine Amtszeit – sei es als Präsident der BDA, sei es als Vorsitzender des Arbeitgeberverbandes Chemie – fielen zahlreiche schwere tarif- und sozialpolitische Auseinandersetzungen. Bei aller Standfestigkeit und auch notwendigen Härte in der Sache achtete Otto Esser stets darauf, dass die Basis für ein dauerhaftes partnerschaftliches Verhältnis nicht verloren ging. Sehr eindrücklich hat dies der schwere Arbeitskampf in der chemischen Industrie 1971 gezeigt. Dem ganz persönlichen Einsatz Otto Essers war es zu verdanken, dass die Arbeitgeberseite den wirtschaftlichen Belastungen

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dieses Streiks standhielt. Durch seine Verhandlungsführung sorgte er zugleich auch dafür, dass sich die neue Gewerkschaftsführung einem fairen und berechenbaren Partner gegenübersah. Otto Esser hat damals den Grundstein für die heute noch andauernde fruchtbare Sozialpartnerschaft in der chemischen Industrie gelegt. Das Amt des Arbeitgeberpräsidenten übernahm Otto Esser in einer unruhigen Zeit und zudem in einer sehr schweren Stunde der Bundesrepublik Deutschland. Als er die Nachfolge des von Terroristen feige ermordeten Hanns-Martin Schleyer antrat, war das gesellschaftliche Klima, dem er sich gegenübersah, ideologisch aufgeheizt. »Kapitalismus« und »Profit« waren zu Kampfbegriffen gegen die Soziale Marktwirtschaft geworden. Unternehmer wurden als »Ausbeuter« diffamiert. Schwindende Wachstumsraten und die steigende Arbeitslosigkeit ließen die Bevölkerung zunehmend an der bestehenden Wirtschaftsordnung zweifeln. Inmitten dieser massiven gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen für Deutschland trat Otto Esser 1978 an die Spitze der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Mit seiner ruhigen, konzentrierten und besonnenen Art hat er wesentlich zur Stabilisierung und Beruhigung des gesellschaftlichen Klimas beigetragen. Den großen Themen seiner Zeit und Präsidentschaft begegnen wir auch heute, wenn auch in abgewandelter Form, wieder: Die Unternehmensmitbestimmung steht nach knapp 30-jähriger Praxiserfahrung heute auf dem

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Prüfstand. Die europäische Einigung, die europäische Gesetzgebung und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zwingen uns, die Mitbestimmung in Deutschland zu überprüfen und einem gewandelten internationalen Umfeld anzupassen. Denken Sie auch an das 1986 entscheidende Thema »Arbeitskampfparität« und seine Bedeutung für die Funktionstüchtigkeit der Tarifautonomie insgesamt. Heute sind Streiks und Aussperrungen Relikte einer vergangenen Epoche unter besonderen historischen, so nicht mehr existierenden Bedingungen. Und deshalb diskutieren wir heute wieder die Fortentwicklung des Tarifrechts, um eine neue Balance in der modernen Tarifautonomie zu schaffen. Erwähnen will ich auch die Arbeitszeitflexibilisierung auf betrieblicher Ebene durch den Leber-Rüthers-Kompromiss nach dem schweren Arbeitskampf 1984. Hier wurden Grundlagen für eine größere Flexibilisierung im Branchentarifvertrag und damit für die Diskussion um die betrieblichen Bündnisse für Arbeit gelegt, ohne die mancher Arbeitsplatz heute schon lange verloren gegangen wäre. Eine weitere verdienstvolle Initiative Otto Essers ist heute ebenfalls so aktuell wie 1982: Damals rief er die Unternehmen zu einer Ausbildungsplatzoffensive auf. Die Zukunft der jungen Menschen, ihr Eintritt in die Arbeitswelt und ihre Integration in die Gesellschaft lagen ihm am Herzen. Durch die umfassenden Anstrengungen der Unternehmer gelang es, die Herausforderung zu meistern. Wir stehen heute mit dem Ausbildungspakt vor derselben Aufgabe – mit ähnlichem Erfolg bei vergleichbar schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und entsprechenden Mühen der Unternehmen. »Gelebte Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft« – unter diesem Leitgedanken steht unser heutiges Symposium zu Ehren Otto Essers, und die Frage nach der Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft, die er so beispielhaft gelöst hat, stellt sich auch heute unverändert. Das belegen auch die immer wieder aufkommenden heftigen öffentlichen Diskussionen über die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmern. Leider mischen sich in die notwendige Debatte nur allzu oft polemische und unsachliche Argumente, die dem Unternehmerbild in Deutschland insgesamt schaden. Dabei werden die Bürgerinnen und Bürger in höchstem Maße verunsichert: Es ist eben nicht einfach mit ein oder zwei Sätzen zu erklären, welchem Wettbewerbsdruck deutsche Unternehmen heute ausgesetzt sind und wie sie darauf reagieren müssen, um Betriebe rentabel zu halten. Dass zahlreiche Unternehmen internationale Produktionsstandorte aufgebaut haben, um auch das Kerngeschäft und Arbeitsplätze in Deutschland abzusichern, wird allzu oft unterschlagen. Und natürlich gibt es auch bei den Unternehmern

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schwarze Schafe, die unserem Image schaden. Aber eines ist auch klar: Die weit überwiegende Zahl aller Unternehmer und Manager in Deutschland handelt im höchsten Maße verantwortungsbewusst. Auf dem heutigen III. Arbeitgeberforum Wirtschaft und Gesellschaft stehen »die sozialen Fragen des 21. Jahrhunderts« im Mittelpunkt. Vor einem Jahr hat der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Lehmann, gesagt: »Viele Unternehmer, gerade im breiten Mittelstand, sorgen sich um das Wohl ihrer Mitarbeiter, durch ihren menschlichen Umgang, aber auch durch ihren täglichen Kampf um den Erfolg ihres Unternehmens. Ich bin dankbar für die Unternehmer, die um der Menschen willen so handeln. Und es sind sehr viele.« Auf dem II. Arbeitgeberforum im März dieses Jahres ist die Rolle der Unternehmen in unserer Gesellschaft Schwerpunkt gewesen. Bundespräsident Köhler sagte dabei: »In Deutschland gilt es zuweilen als moralisch verdächtig, Gewinn zu machen. Das ist falsch. Wer als ordentlicher Unternehmer Gewinne erzielt, der hat andere von seiner Leistung überzeugt und ihnen geholfen. Und nur wer Gewinne erwirtschaftet, kann den Fortbestand seines Unternehmens durch Investitionen sichern, seine Mitarbeiter weiterbeschäftigen und zusätzliche Arbeitsplätze schaffen.« Markt und Moral sind keine Gegensätze, sondern gehören zusammen. Wirtschaftlicher Erfolg ist die Basis unseres gesellschaftlichen Wohlstands. Ein Unternehmen, das nicht rechtzeitig die Voraussetzungen für Wachstum und Gewinne schafft, wird auch nicht in der Lage sein, Arbeitsplätze zu erhalten oder positiv zur Entwicklung unserer Gesellschaft beizutragen. Ich halte es für außerordentlich wichtig, all jenen Kritikern, die Unternehmen vorschnell an den »Pranger der Ausbeutung« stellen, deutlich zu machen, dass Unternehmen sich zuallererst im Wettbewerb behaupten müssen. Dass eine Standortverlagerung oder, noch schmerzlicher, der Abbau von Arbeitsplätzen dazu dient, dauerhaft die Marktposition und damit auch den Bestand des Unternehmens insgesamt zu sichern, wird leider allzu oft übersehen. Zur Orientierung gehören Werte, die gewissermaßen die Leitplanken für das eigene Handeln sind. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir in Deutschland eine grundsätzliche Debatte über die Ausrichtung unserer Gesellschaft brauchen. Wir brauchen eine Wertedebatte, die sich auch mit dem Unternehmerbild in Deutschland beschäftigen muss. Unser Land braucht eine Vision – denn ein Land ohne Vision verspielt schnell seine Zukunft. Dabei sind diejenigen, die Verantwortung im Staat, in den Unternehmen, in der Gesellschaft übernommen haben, in besonderem Maße gefordert, Beispiel und Orientierung zu geben; sie können sich ein Beispiel an Otto Esser nehmen.

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ANSPRACHE ZUM GEDENKEN AN OTTO ESSER Dr. Otto Graf Lambsdorff, Ehrenvorsitzender FDP, Bundesminister a. D.

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eute vor einer Woche rief mich Herr Göhner an und fragte, ob ich an Stelle von Bundeskanzler a. D. Helmut Kohl die Gedenkrede auf Otto Esser halten könne. Ich erbat mir Bedenkzeit, und das aus zwei Gründen. Meine respektvolle Erinnerung an Otto Esser gebot eine Zusage. Aber könnte ich diese Aufgabe in so kurzer Vorbereitungszeit einigermaßen angemessen bewältigen? Und würde Helmut Kohl einverstanden sein, wenn ich ihn vertrete? Die erste Frage habe ich bejaht. Und ich überlasse es dem Urteil der Zuhörer, ob das richtig war. Zur Beantwortung der zweiten Frage habe ich im zweiten Band der Erinnerungen von Helmut Kohl nachgelesen. Und ich komme darin ganz gut weg und so denke ich, dass er den Ersatz durch mich gutheißen würde. Jedenfalls wünsche ich ihm, ebenso wie Sie es getan haben, auch von hier aus gute Besserung. Während meiner Amtszeit als Bundeswirtschaftsminister war Otto Esser der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände – die volle Amtszeit. In der Bundesregierung war selbstverständlich der Arbeitsminister sein wichtigster Gesprächspartner. Aber Otto Esser war sich der engen Zusammenhänge zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik immer

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bewusst. Und so gab es häufig Begegnungen, sowohl im kleinen Kreis wie auch bei den alljährlichen Vortragsveranstaltungen der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände in der Bad Godesberger Stadthalle, die ihren herben Charme bis heute bewahrt hat. Ob im persönlichen Gespräch oder in öffentlicher Rede, immer beeindruckten mich sein Ernst, seine Zurückhaltung und gleichzeitige Entschiedenheit, wenn es um die Kernfragen der auf Privateigentum gegründeten Wirtschaftsordnung, um die Tarifautonomie oder die Sozialpartnerschaft ging. Otto Esser hielt auf Distanz. Sein Privatleben war privat. Und darauf achtete er. Wenig oder nichts wurde bekannt, wie zum Beispiel nur, dass er ein Liebhaber und Kenner der Burgen und Schlösser am Rhein war. Umarmungen und Trinkgelage, das war seine Umgangsform nicht. Er dürfte verwundert beobachtet haben, welche Art von Umgangsformen sich später, besonders in der Berliner Republik, entwickelt haben. Ob jetzt wieder mehr Distanz und Nüchternheit angesagt ist? Es wäre gut. Jedenfalls sehe ich die Bundeskanzlerin nicht auf Umarmungstour von Peking über Paris nach Moskau. Folgen Sie mir bitte gedanklich in den Herbst 1977. Den Herbst, der durch die Terrorismusattacken der Rote-Armee-Fraktion in Deutschland geprägt war. Zuerst wurde Jürgen Ponto ermordet. Sein Nachfolger bei der Dresdner Bank wurde Hans Friedrichs, dem ich daraufhin im Amt des Bundeswirtschaftsministers folgte. Meine ersten Tage der Zugehörigkeit zum Kabinett verbrachte ich nahezu Tag und Nacht im Krisenstab, weil nunmehr nicht nur Hanns-Martin Schleyer entführt worden war, sondern auch noch ein Flugzeug der Lufthansa in Mogadischu stand, um dort mitsamt

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allen Geiseln gesprengt zu werden, um der Entführung Nachdruck zu verleihen. Keiner der damals Beteiligten wird je vergessen, wie vorsichtig uns Helmut Schmidt an die grausame Wahrheit heranführte, dass die Staatsräson vorzugehen habe. Und diese Maßstäbe gelten bis heute, so bedrückend die Situation heute auch wieder ist. In diesen schrecklichen Wochen trat Otto Esser ohne Zögern die Nachfolge des ermordeten Hanns-Martin Schleyer als Präsident der BDA an. Gewählt wurde er dann im März 1978. Welch ein Mut dieses so zerbrechlich wirkenden Mannes! Alle, die ihn persönlich gekannt haben, erinnern sich an einen besonders vornehmen und verlässlichen Herrn, der ein außerordentlich leises und bescheidenes Auftreten hatte. Er wirkte mit seiner großen Höflichkeit, seiner feinen Bildung, seinen festen Prinzipien für damalige und erst recht für heutige Verhältnisse etwas altmodisch, fast möchte man sagen, unzeitgemäß. In den neun Jahren seiner Präsidentschaft standen große und uns heute noch tief prägende Themen zur Diskussion und Entscheidung an. Herr Hundt hat einige davon erwähnt. Mitbestimmung, Ausbildung und Beschäftigung Jugendlicher, Weiterentwicklung der Tarifautonomie, Arbeitszeitflexibilisierung, § 116 Arbeitsförderungsgesetz. Das erforderte einen standfesten Mann, und das war er auch. Ich war an der Ausformulierung des Mitbestimmungsgesetzes 1976 in harten Verhandlungen mit den Sozialdemokraten für die damalige FDPFraktion federführend beteiligt. Besonders hart war der Widerstand gegen die Forderung nach einem Doppelstimmrecht des Aufsichtsratsvorsitzenden. Aber nur so konnte nach unserer Überzeugung ein enteignungsgleicher Eingriff vermieden werden. Die letzte Entscheidung muss dem Anteilseigner bleiben. Das überzeugte dann auch das Bundesverfassungsgericht, das gleich zu Beginn der Amtszeit Otto Essers zur Frage der Unternehmensmitbestimmung angerufen worden war. Ich habe diesen Gang zum Verfassungsgericht für aussichtslos gehalten. Die konzertierte Aktion wurde von den Gewerkschaften abgesagt. Das war kein großer Verlust, weil sie ohnehin zu einem Ritual erstarrt war und aus ihr nichts mehr herauskam. Die Klage wurde dann abgewiesen. Aber das Gericht hat im Ergebnis eben doch eindeutig aufgezeigt, wo die Grenzen der Einschränkung der unternehmerischen Freiheit liegen. Und Otto Esser kommentierte das so: »Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass das Mitbestimmungsgesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist, und wir werden diese Entscheidung selbstverständlich respektieren. Wegen der in dem Urteil vorgenommenen Grenzziehung kann die Entscheidung nicht als verfassungsrechtliche Unbedenklichkeitsbescheinigung für eine weitergehende gewerkschaftliche Mitbestimmungsvorstellung verstanden werden.« Und an anderer Stelle sagte er: »Die Entscheidung hat damit die Ordnungsfunktion des Eigentums marktwirtschaftskonform festgestellt.«

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Wir haben eben nach meiner Überzeugung keine paritätische Mitbestimmung, obwohl dieser Begriff immer wieder fälschlicherweise verwandt wird. Und wenn jetzt zu Recht Missstände aufgezeigt werden, so liegt das nicht an den formalen Macht- und Stimmstrukturen nach dem Gesetz, sondern häufig an der Schieflage bei der Besetzung. Ich persönlich halte es nicht für richtig, Gewerkschaftsvertreter grundsätzlich aus Aufsichtsräten zu verbannen. Richtig wäre es, die Belegschaften darüber entscheiden zu lassen, ob sie Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat haben wollen oder nicht. Die Größe von Aufsichtsräten ist ein weiteres Problem. Runden von 20 Mitgliedern sind sinnlos. Hier tut eine Verschlankung Not. Aber über die maximale Größe des Aufsichtsrats soll die Hauptversammlung der Unternehmen befinden. Die Missstände auf vielen Führungsetagen sollten nicht den Blick auf die grundlegenden Errungenschaften und auch Vorzüge des deutschen Mitbestimmungsmodells trüben. Es kann ein Erfolgsmodell sein. Aber täuschen wir uns nicht, ein Exportmodell, ein Exportschlager wird es ganz gewiss nicht. Alle Reaktionen machen das klar. Und Sie haben mit Recht, Herr Hundt, darauf hingewiesen, dass die Entwicklung in Europa uns hier zum Nachdenken zwingt. Jedenfalls sollte das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden. Modernisierung und Befreiung von Auswüchsen, das ist das Gebot der Stunde. Die Arbeitnehmer unseres Landes sind in der harten Realität angekommen – schmerzlich oft genug. Die Führungsgremien vieler Unternehmen sind es noch nicht immer – leider. Das gilt für Manager ebenso wie für Gewerkschaftsführer. Die jetzt häufiger zu beobachtenden Exzesse wären Otto Esser nicht nur ein Gräuel gewesen, ich glaube, er hätte sie schlichtweg nicht verstehen können. Sein ganzes berufliches Handeln war geprägt von der katholischen Soziallehre. Aus ihr leitete er den Glauben an die Sozialpartnerschaft ab und die Orientierung am Gemeinwohl. Dies wird besonders deutlich bei seinem zweiten großen Thema, dem der Beschäftigung und Ausbildung junger Menschen. Durch alle seine Reden ziehen sich immer wieder die Ermahnungen. Und ich zitiere: »Die Aufgabe des Unternehmers gegenüber dem Gemeinwesen erschöpft sich nicht in seiner Mitverantwortung für das Sozialprodukt oder für die Mitfinanzierung der sozialen Sicherungssysteme. Sie zeigt sich auf zahlreichen Gebieten und lediglich beispielhaft nenne ich die Berufsausbildung junger Menschen. Die Unternehmerschaft hat ein hohes Maß an gesellschaftspolitischer Verantwortung bewiesen, als es ihren Anstrengungen in besonderer Art gelang, nahezu allen ausbildungsfähigen und ausbildungswilligen Jugendlichen eine Lehrstelle zur Verfügung zu stellen. Diese Leistungen, die gerade auch von kleineren und mittelständischen Unternehmen erbracht wurden, sind ein Zeichen dafür, dass die Unternehmerschaft im

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Interesse der jüngeren Generation, im Interesse der Gesellschaft, im Interesse der Glaubwürdigkeit unserer Ordnung bereit ist, unter großem und nicht nur bedeutendem finanziellem Einsatz, jungen Menschen berufliche Chancen zu eröffnen.« Hier klingt Esser tatsächlich etwas altmodisch für unsere Ohren, die nur noch an Kostenminimierung im internationalen Wettbewerb gewöhnt sind. Aber falsch sind die Worte deshalb noch lange nicht. Mit Recht hob er die Haltung der kleinen und mittleren Unternehmen hervor. In den Großunternehmen sah das oft anders aus. Ich erinnere mich an die völlig unangemessene Erhöhung der Ausbildungsvergütung im Haustarif der Volkswagen AG mitten in die Kampagne für mehr Ausbildungsplätze hinein. Otto Esser redete nicht nur, er handelte auch. Er versprach 50.000 zusätzliche Lehrstellen, was ihm viel Kritik aus den Unternehmen eintrug. Aber das Ergebnis sprach für seine Überzeugungskraft. Die Zahl 50.000 wurde nur ganz knapp verfehlt. Wenn es Not tat, dann konnte Otto Esser die tarifpolitische Auseinandersetzung in aller Härte mittragen. Darunter das Beispiel aus der Chemieindustrie, das Herr Hundt bereits erwähnt hat. Der Arbeitskampf in der Metallindustrie in Baden-Württemberg im Jahre 1984 war ein anderes herausragendes Beispiel. 13 lange Wochen wurde gestreikt. Aber am Ende war das Ergebnis der Anfang einer flexiblen Arbeitszeitregelung. Was heute selbstverständlich ist, musste 1984 noch erkämpft werden. Otto Esser hatte einen erheblichen Anteil daran. Die Tarifautonomie blieb erhalten und die Sozialpartnerschaft hat dieser Arbeitskampf nicht zerstört. Das waren für Esser wesentliche Gesichtspunkte. Bei der Auseinandersetzung um § 116 Arbeitsförderungsgesetz trug die Politik, vor allem die damalige Koalition, selbstverständlich die Hauptlast. Es handelte sich um eine Gesetzesänderung. Bundestag und Bundesrat mussten zustimmen. In meiner Zeit als Abgeordneter habe ich nur einmal erlebt, dass die Bannmeile um das Gebäude des Bundestages in Bonn durch die Polizei geschützt werden musste. Bei dieser Auseinandersetzung standen Otto Esser und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zuverlässig auf Seiten der Bundesregierung und der damaligen Koalition. Das war verständlich, denn es entsprach auch ihrer Interessenlage. Es entsprach aber auch dem ordnungspolitischen Leitbild, dass bei einem Arbeitskampf nicht unbeteiligte Dritte geschädigt werden sollen.

Das ist weder Zufall noch Vernachlässigung wesentlicher Elemente. Ziel jeder Sozialpolitik ist und bleibt der Schutz des Einzelnen gegen Risiken, gegen die zu schützen seine eigenen Kräfte nicht ausreichen. Dieser Schutz kann nur durch solidarisches Verhalten von Gemeinschaften erfolgen und er wird auf Dauer nur gegeben und angenommen werden können, wenn er als gerecht empfunden wird. In diesem so verstandenen Gerechtigkeitsmoment liegt ein hohes Maß an Verantwortung der Solidargemeinschaften, Verantwortung aber auch für den Staat in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung. Der einzelne Bürger, ob als steuerzahlender Staatsbürger oder als Leistungsempfänger, wird bewusst oder unbewusst seine Verantwortung von einer möglicherweise sehr subjektiv empfundenen Gerechtigkeit abhängig machen. Freiheit bleibt ein wesentliches Ziel aller Sozialpolitik. Es kann einfach nicht Zielvorstellung und Leitbild der Sozialpolitik sein, möglichst viele oder gar alle Menschen durch möglichst vielfältige und hohe Sozialleistungen von staatlicher Wohlfahrt abhängig zu machen, ihnen immer mehr eigene Verantwortung zu nehmen und schließlich den alles umfassenden Sozialstaat zu schaffen. Im Gegenteil«, führt Esser weiter aus, »Sozialpolitik sollte dem einzelnen Menschen vor dem Hintergrund gesicherter Existenz Hilfe zur Freiheit geben, das heißt zur individuellen Freiheit und damit auch zur persönlichen Verantwortung.« Er beendete diesen Gedankengang mit den Worten: »Es ist höchste Zeit, einem solchen Zusammenhang von Sozialpolitik, Freiheit und Verantwortung mehr Gewicht in aller staatlichen und nichtstaatlichen Sozialpolitik zu geben.« Diese Worte sind gewiss nicht nur in meinen Ohren Musik. Hier spricht ein Mann, der sich als mitverantwortliches Mitglied der Gemeinschaft verstand. Heute würde man sagen, als aktiver Teil der Zivilgesellschaft. Dieses Verantwortungsbewusstsein führte Otto Esser dazu, die Funktion des Ehrenamtes in unserer Gesellschaft zu bejahen. Sein ganzer Berufs- und Lebensweg war von der Bereitschaft gekennzeichnet, nicht nur die Gewinn- und Verlustrechnung seines Unternehmens zu sehen, sondern sich auch den ehrenamtlichen Herausforderungen der deutschen Wirtschaft zu stellen – als Bürger unseres Gemeinwesens, als ein Mann, der in Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft gelebt hat. Ich gratuliere den Veranstaltern zu dem Motto dieses Symposiums zum Gedenken an Otto Esser und wünsche uns allen eine anregende Diskussion.

Otto Esser dachte in Ordnungen der Verantwortung. So stellte er seine Abschiedsrede als Präsident der BDA unter das Motto »Sozialpolitik in Freiheit und Verantwortung«. Er führte darin aus, und ich zitiere wiederum: »Vielleicht wird mit einer gewissen Verwunderung vermerkt, dass in der Formulierung des Themas die Worte Solidarität oder Gerechtigkeit fehlen.

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»MARKT UND MORAL – DIE GESELLSCHAFTLICHE VERANTWORTUNG

Adam Smith 1776 in seinem Werk »Reichtum der Nationen« auf das Paradoxon aufmerksam gemacht, dass die Habgier des Einzelnen dem Gemeinwohl diene:

VON UNTERNEHMEN IN DEUTSCHLAND« Prof. Dr. Michael Burda, Humboldt-Universität Berlin

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ach der Ermordung von Hanns-Martin Schleyer hat Otto Esser ehrenhaft und mit großem persönlichem Opfer die Führung der Arbeitgebervertretung zu einem äußerst schwierigen Zeitpunkt übernommen. Damals wie jetzt wird von der Wirtschaft viel erwartet; es ist angemessen, dass man diese Gedächtnisfeier zu Ehren Otto Essers als Anlass nimmt, zu fragen, welche Verantwortung die Wirtschaft in solch schwierigen Zeiten trägt. Meine Ausführungen drehen sich um zwei Fragen. Die erste lautet: Was hat die Wirtschaft mit Moral zu tun? Die zweite wird lauten: Was hat die Wirtschaft mit Verantwortung zu tun? Zur ersten Frage: Was hat die Wirtschaft mit Moral zu tun? Vielleicht nur wenig. Denn was ist »Wirtschaft«? Wirtschaft hat zunächst mit der Entstehung, der Nutzung und der Bewirtschaftung knapper Ressourcen zu tun. Diese Aktivitäten werden in der Regel, aber müssen nicht unbedingt, in privaten Wirtschaftsunternehmen stattfinden, wo nicht Moral, sondern wirtschaftlicher Erfolg die Oberhand zu haben scheint. Dennoch hat uns

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»In einer zivilisierten Gesellschaft ist der Mensch ständig und in hohem Maße auf die Mitarbeit und Hilfe anderer angewiesen, [...] wobei er jedoch kaum erwarten kann, dass er [diese Hilfe] allein durch das Wohlwollen der Mitmenschen erhalten wird. Er wird sein Ziel wahrscheinlich viel eher erreichen, wenn er deren Eigenliebe zu seinen Gunsten zu nutzen versteht, indem er ihnen zeigt, dass es in ihrem eigenen Interesse liegt, dies für ihn zu tun, was er von ihnen wünscht. [...] Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen.« Seit Adam Smith besteht eine der zentralen Aufgaben der Nationalökonomie darin zu erklären, ob und inwieweit man diese Habgier bremsen, kanalisieren oder zügeln soll. Damals gab es bereits große Diskussionen um die Ethik, die durch eine gerechtere, markt- und leistungsorientierte Verteilung entsteht – Smith hat damit sogar seine Theorie der »Moral Sentiments« begründet. Nur: Später fingen die moralischen Philosophen an, über die Verteilung des Wohlstands zu diskutieren. John Rawls fragte, ob es uns gleichgültig sein könnte, in welchem System wir leben, wenn wir wüssten, in einem System gäbe es viel mehr Ungleichheit im Allgemeinen als im anderen, ohne über unser individuelles Schicksal Bescheid zu wissen. Der Schleier der Ignoranz würde schon einige von uns bewegen,

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jenes System zu wählen, welches weniger Ungleichheit zulässt, als der ungezügelte Markt erzeugt. Heutzutage wird die »Totalökonomisierung der Gesellschaft« beim Umgang mit den Problemen der Gegenwart beklagt. Philologen haben sogar den ökonomisch sinnvollen Begriff »Humankapital« zum Unwort des Jahres gekürt – eine Verunglimpfung meiner Wissenschaft. Doch das grundsätzliche Problem in Deutschland ist eher ein akuter Nachholbedarf an Ökonomisierung. Die Konflikte der Gesellschaft waren schon immer von der Natur her ökonomisch, sie haben meist mit dem Maximieren von Gewinn, mit dem Egoismus und mit der Rationalität zu tun. Nur: In den vergangenen Jahrzehnten wurden diese Wirtschaftsthemen immer wieder von den führenden Köpfen der Gesellschaft als »sekundär« oder sogar vulgär abgetan – verglichen mit anderen, vermeintlich höheren Werten. Fakt ist, dass Deutschland seit dem wundersamen Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg, und im Lichte der Zwänge zum Wachstum und Aufholen, den Fragen der Verantwortung des Unternehmens und des Unternehmertums weitgehend aus dem Weg gehen konnte. In Zeiten des stets wachsenden Wohlstands Westdeutschlands konnte man sich eher auf Verteilungsfragen konzentrieren. In Zeiten der goldenen 60er Jahre, als das Wirtschaftswachstum in Deutschland real bis 10 % jährlich betrug, haben sich Politiker mit sozialen Aufgaben wie dem sozialen Netz, der Mitbestimmung, dem Kündigungsschutz und anderen Errungenschaften beschäftigen können. Jetzt ist die Lage aber anders. Heute lautet die Herausforderung: Wirtschaftswandel, Strukturwandel, Globalisierung. Die Menschen spüren den neuen Wettbewerb, der durch die Deregulierung, die deutsch-deutsche Wiedervereinigung, den europäischen Binnenmarkt, die Osterweiterung und den Zuzug von 2 Milliarden Arbeitskräften auf dem globalen Weltmarkt entstanden ist. Es ist nicht unmoralisch, vor diesen unaufhaltsamen Zwängen Acht zu geben; es ist eher unmoralisch, sich davor zu verstecken. Es ist vor allem verwerflich, dass Politiker aller Parteien den einfachen Menschen nach Jahrzehnten aufgestauter Wirtschaftsprobleme erst jetzt reinen Wein einschenken. Offenbar hat der politische Markt für Wirtschaftspolitik in den letzten 30 Jahren massiv versagt. Nur so kann man den Anstieg der Arbeitslosigkeit von 2 % in den 60er Jahren auf mehr als 11 % gegenwärtig erklären. In diesem Moment scheint erst wahrgenommen zu werden, woher Wohlstand und Wachstum überhaupt kommen. Die Entstehung der Wertschöpfung und die Schaffung von Arbeitsplätzen sind auf die Taten Einzelner zurückzuführen, die nach dem Trieb der ökonomischen Selbstverbesserung handeln. Hierbei geht es vor allem um die Gründer, die neue Ideen in

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Produkte ummünzen und dafür Mitstreiter und Mitarbeiter suchen. In diesem Sinne erhalten die Wirtschaftsunternehmen erst jetzt den Respekt der deutschen Gesellschaft, den sie immer verdient haben – als die einzig wirkliche, langfristig taugliche Quelle von Arbeitsplätzen. Umso mehr ist der Respekt vor den kleinen und mittelständischen Unternehmen gefragt, aus welchen die Großunternehmen entstehen. Für mich ist das leuchtende Beispiel in Deutschland Werner von Siemens, der 1847 mit Professor Halske in einem Hinterhof in Kreuzberg die »Telegraphen-Bauanstalt von Siemens & Halske« gründete, ein Unternehmen, das später Hunderttausende beschäftigen würde. Doch obwohl die Wirtschaft, und nicht etwa der Staat, die nachhaltige Quelle von Arbeitsplätzen ist, werden jene Unternehmen kritisiert, die in einer anscheinend unaufhaltsamen Welle von Entlassungen, Schließungen und Produktionsverlagerungen dem deutschen Standort den Rücken kehren. Wie kann das etwas mit Verantwortung zu tun haben?, fragt man sich. Vielleicht hat das damit sogar sehr viel zu tun. Die Wirtschaft handelt nicht in einem rechtsfreien Raum, sie handelt auch nicht in einem rechenschaftsfreien Raum. Die Verantwortlichkeiten der Wirtschaft sind eigentlich sehr klar definiert, sowohl juristisch und legalistisch als auch implizit und unausgesprochen. Hierzu möchte ich zwischen zwei Formen der Verantwortung unterscheiden: Verantwortung im Geschäft und Verantwortung in der Gesellschaft. Zum Ersteren: Wirtschaft heißt Wirtschaften, Mehrwert schaffen, Geld verdienen. Die Eigentümer eines Unternehmens erwarten, dass sich Manager den bestmöglichen Einsatz ihres Kapitals ausdenken und ihn durchführen. Es steht außer Zweifel, dass die Verantwortung gegenüber den Kapitalgebern bzw. Anteilseignern zu den Kernverantwortungen der Wirtschaft gehört. Verantwortung gegenüber den Kunden dürfte allen klar sein, denn Kundenbeziehungen basieren auf Vertrauen, welches zum größten Teil nicht explizit in einem Vertrag steht. Ebenso zählt auch die Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern dazu. Werner von Siemens hat sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts sehr für das Wohl und die Absicherung seiner Mitarbeiter eingesetzt. War das Unsinn, was Siemens damals gemacht hat? Wurde er von anderen Zielen als der bloßen Gewinnmaximierung geleitet? Was ist heute anders? Siemens hat sich aus Geschäftskalkül für diese Wohltaten entschieden – um die Arbeitnehmer besser zu stellen und dadurch das Unternehmen auf dem Wachstumskurs zu halten. Ihm ist diese Strategie nachweislich gelungen. Aber in einer globalisierten Welt des verschärften Wettbewerbs müssen solche nicht unmittelbar der Fortführung und der Existenz des Unternehmens dienenden zusätzlichen Verantwortungen kürzer treten.

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Siemens konnte sich üppige Entlohnung und Zusatzleistungen für seine Arbeitnehmer leisten, weil sein Unternehmen eines der erfolgreichsten Unternehmen der industriellen Revolution war. Heutzutage sieht die Lage anders aus, denn Siemens konkurriert rund um den Globus um die Erhaltung seines Kerngeschäfts und um seine Innovationen, die neue Märkte eröffnen. Daher darf es nicht überraschen, wenn global agierende deutsche Unternehmen gleichzeitig steigende Gewinne und schrumpfende Beschäftigung im Inland nachweisen. Allerdings ist Verantwortung nicht nur juristisch und legalistisch. Sie ist auch eine subjektive Wahrnehmung. Die Wirtschaft wird von der Gesellschaft nicht immer so wahrgenommen, wie sie wahrgenommen werden möchte. Unternehmen werden gesehen als: Quelle von Arbeitsplätzen, aber auch mit der eher paternalistischen als wirtschaftlichen Verantwortung für die Inhaber dieser Arbeitsplätze, Nutznießer der Infrastruktur, die zur Finanzierung herangezogen werden sollten, aber auch Partner des Staates, um Gemeinnütziges bereitzustellen, Aus- und Weiterbilder von Arbeitnehmern, aber auch Abnehmer von Humankapital, das in den Schulen und Universitäten produziert wird, Aufklärer, aber auch Interessenvertreter. Wie können Wirtschaftsunternehmen, groß oder klein, diesen offenbar überzogenen und teilweise widersprüchlichen Erwartungen gerecht werden? In den kommenden Jahren werden viele dieser impliziten Verträge einfach gebrochen. Es ist eine Entwicklung, die man in den 80er Jahren in den Vereinigten Staaten mit der Welle von Unternehmensübernahmen hat beobachten können. Damals wurden mit Hilfe von Investmentbanken riesige Konzerne wie RJR-Nabisco und US-Steel geschluckt. Letztendlich haben viele Arbeitnehmer in den USA ihre sozialen Errungenschaften verloren. In Europa kommt es derzeit, mit etwas Verzögerung, zu ähnlichen Entwicklungen. Die Initiativen der EU-Kommission und der Parlamente belegen die wachsende Sorge, dass die Globalisierung das gesamte soziale Netz in Europa zerreißen könnte. Man würde in anderen europäischen Ländern wie in Dänemark, den Niederlanden oder Finnland allerdings keine ernsthafte politische Auseinandersetzung über die Rolle ausländischer Investoren in der nationalen Wirtschaft führen – geschweige denn über Heuschrecken – wie hierzulande. Mir schweben zwei Erklärungen vor: Erstens sind die Steuern in jenen Ländern viel höher und progressiver ausgestaltet als in Deutschland, so dass die »gefühlte« Ungerechtigkeit kleiner ausfällt. Zweitens ist die Mehrheit der Arbeitnehmer in diesen Ländern mittlerweile zu Investoren geworden, da sie für ihre Rente vorsorgen müssen und deshalb in den Aktienmarkt

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investieren. Als Eigentümer finden sie es gar nicht so unerträglich, wenn die Unternehmen ihren ursprünglichen Auftrag der Gewinnmaximierung erfüllen. Für diese Menschen ist der unternehmerische Erfolg der persönliche Gewinn, denn mit solchen Wertpapieren sind die privaten Rentenfonds abgesichert. Die Globalisierung läutet einen Konflikt der Kulturen der Unternehmen ein. Aber sie läutet – was viel wichtiger ist – auch ein Zeitalter ein, in dem Stakeholder-Values von einer schrumpfenden Minderheit der Kapitalgeber und Arbeitnehmer in der globalen Wirtschaft eingefordert werden. Die Verfügungsrechte der Eigentümer von Unternehmen setzen sich überall in Europa, mit den fallenden Grenzen, wieder durch. Die zunehmende Kapitalmobilität der Globalisierung bedeutet eine tektonische Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten des Kapitals und zuungunsten der Arbeit. Diese Verschiebung kann man seit den 80er Jahren weltweit beobachten, in Deutschland etwa seit der Wiedervereinigung. Man könnte sie als Spiegelbild jener Machtverschiebung sehen, die in den 60er und 70er Jahren weg vom Kapital hin zur Arbeit stattfand. Deutschland sitzt derzeit zwischen den Stühlen – es will keine Aktien- und Analystenkultur, wie sie in den USA oder Großbritannien herrscht. Dennoch ist die Ära der Universalbanken eindeutig vorbei, denn die deutschen Banken wollen dieses Modell nicht mehr. Anscheinend besitzen derzeit weder Shareholder noch Stakeholder ausreichende Macht, um Manager wirksam zur Rechenschaft zu ziehen. Es gibt die Gefahr, dass es gerade in dieser Zeit am Zwang zur Verantwortung mangeln könnte, der für das Ziel der Fortführung des Unternehmens angemessen wäre. Für mich ist die Verantwortung der Wirtschaft – und vor allem der Wirtschaftsverbände – in folgender Hinsicht deutlich: In Deutschland wird es im Wesentlichen darauf ankommen, die Bürger über die wachsenden Gefahren und Chancen der Globalisierung ehrlich und rechtzeitig zu informieren, ohne dabei die Risiken zu leugnen. Es wird zu den größten Verantwortungen der Wirtschaft in der heutigen Zeit gehören, die Öffentlichkeit kreativ auf diese neuen, existenziellen Herausforderungen vorzubereiten und die gesellschaftlichen Kräfte für die Überwindung der Probleme zu mobilisieren.

Zum Gedenken an Otto Esser – Prof. Dr. Michael Burda

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PODIUMSDISKUSSION ZU »MARKT UND MORAL – ÜBER DIE GESELLSCHAFTLICHE VERANTWORTUNG VON UNTERNEHMEN IN DEUTSCHLAND« Prof. Dr. Michael Burda, Humboldt-Universität Berlin Dr. Eckart John von Freyend, Vorstandssprecher Walter-Raymond-Stiftung Prof. Dr. Bernd Rüthers, Vorstand Stiftung Demoskopie Allensbach Michael Sommer, Vorsitzender DGB

Dr. Bernd Rüthers, und der DGB-Vorsitzende Michael Sommer. Moderiert wurde die Podiumsdiskussion vom freien Journalisten Dr. Hugo Müller-Vogg. Am Anfang der Diskussion stand die Frage, ob der Abbau von Arbeitsplätzen prinzipiell unmoralisch sei. Dabei betonte Herr Sommer, dass man nicht alle Unternehmen über einen Kamm scheren dürfe. Es gebe sehr viele verantwortungsbewusste Unternehmer in Deutschland, aber auch Auswüchse, über die man reden müsse. Herr Prof. Rüthers legte dar, dass der Abbau oder die Verlagerung von Arbeitsplätzen nicht ein moralisches Fehlverhalten der Wirtschaft, sondern Resultat einer fehlerhaften Wirtschaftsund Tarifpolitik sei. Die Verkürzung der Arbeitszeit ohne Kürzung der Löhne habe dazu geführt, dass Arbeit in Deutschland zu teuer geworden sei. Die moderaten Lohn- und Tarifabschlüsse der letzten fünf Jahre, die auch zu einer deutlich verbesserten Arbeitszeitflexibilisierung und Lohndifferenzierung geführt hätten, zeigten dagegen in eine neue, viel versprechende Richtung.

Moderation: Dr. Hugo Müller-Vogg

»M

arkt und Moral – über die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen in Deutschland« – diesem Thema widmete sich die Podiumsdiskussion des III. Arbeitgeberforums Wirtschaft und Gesellschaft. Teilnehmer waren der Ordinarius der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, Prof. Dr. Michael Burda, der Vorsitzende der Walter-Raymond-Stiftung, Dr. Eckart John von Freyend, der Vorstand der Stiftung Demoskopie Allensbach, Prof.

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Aus diesen Äußerungen lässt sich zunächst der Schluss ziehen, dass öffentliche Kritik an Unternehmen und ihrem Handeln immer auch die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen berücksichtigen muss. Diese Sicht wurde von Herrn Prof. Burda unterstützt, der darauf verwies, dass jene Länder, die in den vergangenen 20 Jahren in Europa die Arbeitszeit am deutlichsten verkürzt hätten, nun über die höchste Arbeitslosigkeit verfügten. Insofern seien die Ergebnisse verfehlter Wirtschaftspolitik heute deutlich sichtbar.

Zum Gedenken an Otto Esser – Podiumsdiskussion

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Die Frage, inwieweit Kritik an unternehmerischen Entscheidungen Ausdruck mangelnder Kommunikation und Transparenz zwischen Wirtschaft und der Öffentlichkeit sei, rückte anschließend in den Mittelpunkt der Debatte. Herr Dr. John von Freyend machte deutlich, dass die Anforderungen an die Öffentlichkeitsarbeit von Unternehmen deutlich gestiegen seien, diesen Anforderungen aber in allen größeren Unternehmen nachgekommen werde: »Ich glaube, mehr Offenheit, als es im Augenblick gibt, mehr Zeit, die wir für die Kommunikation des Unternehmens nach außen aufwenden, gab es noch nie.« Herr Prof. Rüthers wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass nicht nur Unternehmen ihre eigenen Ziele erklären müssten, sondern dass Politik und Wirtschaft der Öffentlichkeit gegenüber auch die Aufgabe und die Funktionsweise der deutschen Volkswirtschaft besser darzustellen hätten: »Die Vermittlung der Funktionsweisen der Marktwirtschaft ist weit im Rückstand. Und dazu trägt natürlich auch die gegenwärtige Situation am Arbeitsmarkt maßgeblich bei. Es ist nicht gelungen, dieses Wirtschaftssystem, das alternativlos ist, wenn man Wohlstand will, der Bevölkerung plausibel zu vermitteln.« Herr Prof. Burda machte anschließend deutlich, dass das amerikanische Wirtschaftswachstum ein Beispiel dafür sei, wie durch einen entschlossenen Ausbau des Dienstleistungssektors neue Arbeitsplätze entstehen und abwandernde Arbeitsplätze ersetzt werden könnten. Der Behauptung, dieser Ausbau habe in den Vereinigten Staaten zu einer Zunahme der Armut trotz Arbeitsplatz, dem so genannten Working-Poor-Phänomen, geführt, trat Burda entschieden entgegen. Die Akzeptanz eines Wirtschaftssystems steige mit seiner Fähigkeit, Arbeitsplätze zu schaffen. Darüber hinaus müsste der Öffentlichkeit klar gemacht werden, dass unternehmerische Entscheidungen, die die Rendite eines Unternehmens erhöhen und auf diese Weise ausländische Investoren anlocken, aus betriebs- und volkswirtschaftlicher Sicht zu begrüßen sind: »Ob Sie es mögen oder nicht, es ist so. Die internationalen Investoren schauen auf eine Rendite. Und dabei handelt es sich nicht um so genannte Heuschrecken, sondern um milliardenschwere private Pensionsfonds. Ist die Rendite in Deutschland zu niedrig, fließen diese Gelder woandershin. Wenn Deutschland diese Kapitalquelle anzapfen kann, um die dringend nötige Modernisierung durchzuführen, wäre das ein Gewinn für das Land.«

Ethik entstanden, die die Leute wirklich nicht mehr akzeptieren. Das hat dann auch weniger mit der reinen Kapitalrendite zu tun, sondern mit dem, was sich mit diesem Begriff der Kapitalrendite alles verbindet.« Herr Dr. John von Freyend betonte, dass sich die Öffentlichkeit nicht darüber im Klaren sei, was passiere, wenn ein Unternehmen zu Lasten seiner Wettbewerbsfähigkeit auf den Abbau von Arbeitsplätzen verzichten würde: »Dann muss man fragen, was täte es, wenn es sich im Weltmarkt gegenüber seinen Wettbewerbern weiter verschlechtern würde? Wie viel Arbeitnehmer müsste es dann entlassen?« Deutlich wurde, dass der internationale Wettbewerbsdruck deutsche Unternehmen heute früher zu Maßnahmen greifen lässt, die den Handlungsspielraum und die Überlebensfähigkeit des Unternehmens stärken, auch wenn dies im ungünstigsten Fall den Abbau von Arbeitsplätzen mit einschließt. Dass die Bewertung politischer und unternehmerischer Entscheidungen ganz wesentlich von dem individuellen Verständnis des Begriffes »Soziale Gerechtigkeit« abhängt, wurde von allen Teilnehmern der Podiumsdiskussion bestätigt. Herr Sommer definierte soziale Gerechtigkeit mit dem Satz »Sozial ist, wenn jeder menschenwürdig leben kann«, räumte aber zugleich ein, dass es durchaus unterschiedliche Auffassungen zu diesem Thema geben könne. Herr Prof. Rüthers bemerkte dazu: »Sozial ist ein Wort, das mit beliebigem Inhalt füllbar ist. Mir ist es nie gelungen, eine allgemein verbindliche Definition für ›Gerechtigkeit‹ zu finden. Ich habe festgestellt, dass es je nach Gruppen, nach Herkunft, nach Kulturen, nach weltanschaulichen Vorverständnissen geprägt ist. Das heißt, wir haben, und das ist das Wesensmerkmal einer freiheitlichen Gesellschaft, eine Pluralität konkurrierender Gerechtigkeitsbegriffe. Das heißt also, jeder bringt aus seiner Prägung seine Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit mit.«

Der DGB-Vorsitzende Sommer widersprach in diesem Zusammenhang der Vorstellung einer zu engen Anlehnung an das amerikanische Vorbild und warnte vor einer Überbetonung des so genannten Shareholder-Values: »Diese Debatte hat ja auch ihren Grund darin, dass Deutschland mittlerweile in vielfacher Hinsicht angloamerikanischen Einflüssen gegenüber nicht nur offen ist, sondern sich ihnen hingegeben hat. Und so ist eine

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SCHLUSSWORT

Eggert Voscherau, Präsident BAVC

E

s ist keine ganz einfache Aufgabe, das zusammenfassende Schlusswort zu sprechen – insbesondere dann nicht, wenn so illustre Redner und eine in hohem Maße anregende Podiumsdiskussion vorangegangen sind. Wir haben uns heute hier versammelt, um der Persönlichkeit Otto Essers zu gedenken und seine Verdienste zu würdigen. Otto Esser war nicht nur Arbeitgeberpräsident und als solcher Nachfolger von Hanns-Martin Schleyer. Insgesamt 13 Jahre, von 1965 bis 1978, war er auch Präsident des »Arbeitsringes der Arbeitgeberverbände der Chemischen Industrie«, wie der Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) früher hieß. Noch heute sind in der politischen Ausrichtung und in der Arbeit des BAVC jene Prinzipien spürbar, die Otto Esser zeit seines Lebens mit Nachdruck verkörpert hat: ein klares, eindeutiges Bekenntnis zur Sozialpartnerschaft, Verhandlungsbereitschaft mit Standhaftigkeit in der Sache, verbunden mit einer Politik der ausgestreckten Hand. Wir haben Otto Esser sehr viel zu verdanken, und ich bin stolz, als Präsident des BAVC dieses Erbe fortführen zu dürfen.

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Charakteristisch für das Denken und Wirken Otto Essers ist sicher sein erfolgreiches Handeln anlässlich des Streiks in der chemischen Industrie im Jahre 1971 – zum damaligen Zeitpunkt der erste Streik nach 50 ruhigen Jahren und bis heute der einzige. Herr Dr. Hundt hat es in seinen Eröffnungsworten bereits anklingen lassen: Unter der Führung Otto Essers gelang es den Arbeitgebern nicht nur, die Streiks zusammenbrechen zu lassen – die Sozialpartner in der chemischen Industrie fanden in der Folge auch zu einer dauerhaften Form des Miteinanders, um die uns so manche andere Branche heute noch beneidet. Diese Entwicklung war keineswegs selbstverständlich und einfach; die Gegner saßen auf Arbeitgeber- wie auf Arbeitnehmerseite und diskreditierten diese Form der Sozialpartnerschaft als »Harmonisiererei«. Letztlich haben sich jedoch Weitblick und Verantwortungsbewusstsein durchgesetzt. In diesem Sinne verstand Otto Esser und verstehe auch ich heute Sozialpartnerschaft. Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften suchen nach der besten Lösung, um die langfristigen Ziele der Unternehmen mit den Interessen der Mitarbeiter zu vereinen. Es gehört zum Geschäft, dass es bei diesem Einigungsprozess gelegentlich zu Auseinandersetzungen oder auch Spannungen kommt. Aber am Ende wissen beide Seiten, dass sie nur gemeinsam ihr Ziel erreichen können. Die chemische Industrie ist mit diesem Kurs einer »großen Koalition« – oder besser »großen Kooperation« – in der Vergangenheit gut gefahren, und wir werden ihn in der Zukunft auch im gegenseitigen Einvernehmen fortsetzen.

Zum Gedenken an Otto Esser – Eggert Voscherau

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Doch die Sozialpartnerschaft allein ist keine Garantie, dass wir alle Herausforderungen der Zukunft meistern können und werden. Um die sozialen Fragen des 21. Jahrhunderts bewältigen zu können, brauchen wir auch Mut und Weitblick, Ehrlichkeit und Verantwortungsbewusstsein – das haben alle Redner und Podiumsteilnehmer heute eindrucksvoll bestätigt.

Für uns Unternehmer geht es um Wirtschaft und Gesellschaft. Hier ist im Übrigen kein Gegensatz zu sehen, Wirtschaft und Gesellschaft stehen sich nicht gegenüber, sondern bedingen sich gegenseitig. Aber, und das will auch ich noch einmal betonen, ein Unternehmen, das keine Gewinne erzielt, nützt keiner der beiden Seiten.

Die Globalisierung der Wirtschaft beschert uns allen eine Fülle neuer Chancen und Möglichkeiten – sofern wir die Chancen sehen und nutzen können. Denn mit der weltweiten Arbeitsteilung sind auch neue soziale Fragen aufgetaucht, oder besser: die »alten« sozialen Fragen im neuen Gewand. Die Diskussionen um Teilhabe, Verantwortung und Gerechtigkeit, das hat auch der heutige Tag gezeigt, haben eine neue Dimension erreicht. In der Öffentlichkeit stehen schon seit langem immer weniger die Chancen als vielmehr die Risiken der Globalisierung im Vordergrund. Dabei gehört Deutschland als stark exportorientiertes Land bislang eindeutig zu den Gewinnern des globalen Wettbewerbs.

Nach allen theoretischen Überlegungen in der Wissenschaft und vor allem nach den praktischen Erfahrungen wissen wir: Die zentrale Verantwortung des Unternehmers liegt in der Existenzsicherung seines Unternehmens. Denn ohne Unternehmen gibt es keine Produkte, auch keine Arbeitsplätze oder Steuereinnahmen. Der Unternehmer ist der Organisator, der Mittel und Wege für die Überwindung der Knappheit findet. Und in der Erfüllung dieser Aufgabe liegt die zentrale, die erste gesellschaftliche, das heißt soziale Verantwortung des Unternehmers.

Die Globalisierung ist keine Naturkatastrophe, vor der wir in einen Schutzraum fliehen müssen und auch nicht sollten. Nicht mit Zähneklappern, sondern mit Optimismus meistern wir diese neuen Herausforderungen. Natürlich darf dabei nicht verschwiegen werden, dass nicht alle Veränderungen, die wir jetzt bewältigen müssen, problemlos umzusetzen sind. Der Aufbruch zu neuen Ufern, das Ändern alter Gewohnheiten ist nie ganz einfach. Aber eines ist deutlich: Es ist unser aller und auch unsere gemeinsame Verantwortung, diesen Wandel anzugehen und zu gestalten. Die Frage nach der Rolle und der Verantwortung des Unternehmers stellt sich in einer globalisierten Wirtschaft vielleicht schärfer und eindringlicher als je zuvor. Auch wenn Ton und Richtung der Debatte manchmal alles andere als positiv zu bewerten sind, so halte ich es dennoch für wichtig und richtig, dieses Thema öffentlich zu diskutieren.

Ich halte es für eine unserer wichtigsten und lohnendsten Aufgaben, diese grundlegenden Zusammenhänge in das öffentliche Bewusstsein zu bringen und dort zu halten. Herr Dr. Hundt hat in seiner Rede darauf hingewiesen, dass bereits frühere Arbeitgeberforen sich dieser Aufgabe gewidmet haben. Sollten wir auch mit der heutigen Veranstaltung einen Beitrag dazu geleistet haben, wäre dies voll und ganz im Sinne Otto Essers. Standhaftigkeit in der Sache, Verlässlichkeit und Partnerschaftlichkeit im Umgang miteinander – meine Damen und Herren, Otto Esser hat uns gezeigt, wie wir Unternehmer die Zukunft gestalten können. Ich bin froh, seinem Beispiel zu folgen.

Die Reden und die heutige Podiumsdiskussion haben gezeigt, dass die Debatte um den Verantwortungsbereich der Unternehmer mit Klärungen in der Sache beginnen muss. Hier sind alle gesellschaftlichen Akteure und auch die Medien gefragt. Ökonomische und ethische Prinzipien schließen sich keineswegs aus – auch das hat unsere Podiumsrunde noch einmal deutlich werden lassen. Unternehmer tragen dabei zunächst die unmittelbare Verantwortung für ihren Betrieb, sie müssen sich dem weltweiten Wettbewerb stellen und sich auf veränderte Rahmenbedingungen einlassen. Denn eines ist auch klar: Die beste Unternehmensethik nützt nichts, wenn die Insolvenz und damit der Verlust aller Arbeitsplätze droht! Auch dies haben die vorangegangenen Reden, dies hat die Podiumsdiskussion mehr als deutlich gemacht.

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Zum Gedenken an Otto Esser – Eggert Voscherau

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ARBEITGEBERFORUM ARBEITGEBERFORUM

WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

»REFORMEN OHNE BUNDESPRÄSIDENT

SOZIALE GERECHTIGKEIT?«

HORST KÖHLER

»DIE ORDNUNG DER FREIHEIT«

2. ARBEITGEBERFORUM WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT, 15. März 2005 Haus der Deutschen Wirtschaft, Berlin

26. Oktober 2004 Haus der Deutschen Wirtschaft, Berlin

I. ARBEITGEBERFORUM

II. ARBEITGEBERFORUM

WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

»Reformen ohne soziale Gerechtigkeit?«

Bundespräsident Horst Köhler »Die Ordnung der Freiheit«

Arbeitgeberforum Wirtschaft und Gesellschaft – »Reformen ohne soziale Gerechtigkeit?« Dr. Reinhard Göhner

Werte und Wandel »Welche Orientierung erwartet die Wirtschaft von den Kirchen?«

Vorwort Arbeitgeberpräsident Dr. Dieter Hundt »Die Ordnung der Freiheit« Bundespräsident Horst Köhler

Arbeitgeberpräsident Dr. Dieter Hundt

Profilschärfung oder Konzentration auf das Kerngeschäft »Was kann die Kirche von der Wirtschaft lernen?« Kardinal Karl Lehmann

Die Kirchen als sozialer Dienstleister »Zwischen sozialpolitischem Reformdruck und dem Anspruch christlicher Nächstenliebe« Bischof Dr. Wolfgang Huber

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Arbeitgeberforum Wirtschaft und Gesellschaft

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Impressum Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Breite StraĂ&#x;e 29 10178 Berlin www.bda-online.de Konzept & Gestaltung Nolte | Kommunikation www.nolte-kommunikation.de Fotografie photothek.net GbR

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