Irmela Kästner
INDIVIDUELLE VERORTUNG:
DAS PORTRAIT IM ZEITGENÖSSISCHEN TANZ
Erschienen in: Housing the Temporary – Zugänge zur eigenen Geschichte – Tanz, Performance, Archiv; Hgg.: Micha Purucker, Daniela Rippl, Katja Schneider, München 2023
In den vergangenen Jahren habe ich mich mit zwei unterschiedlichen Formen des Portraits beschäftigt: Zum einen setzte ich mich als künstlerische Leiterin des Projekts „Zeugen desTanzes“mit einer Reihe von längeren filmischen Portraits über bekannte Persönlichkeiten im Tanz in Deutschland auseinander. Die Absicht war hier aus journalistischer Perspektive möglichst umfassend eine jeweilige Persönlichkeit und ihr Werk zu beleuchten. Zum anderen entwickelte ich in Zusammenarbeit mit der Fotografin Tina Ruisinger eine Serievon multimedialen Kurzportraits von Choreograf*innen, die eher ein Schlaglicht auf die jeweilige Person und ihr aktuelles künstlerisches Schaffen werfen. Im Gegensatz zu der Filmreihe, die mit bewegten Bildern arbeitet, setzt die Kurzportrait-Serie mit dem Titel „The Best. The Worst. My Everything!“ ganz auf die Ausdruckskraft der Fotografie.
Entscheidend ist in beiden Formaten, dass die Protagonist*innen die Geschichte(n) von sich und ihrer Kunst weitgehend selbst erzählen und somit selbst zu Dokumentarist*innen ihres künstlerischen Schaffens werden.
ZEUGEN DES TANZES
Das Projekt „Zeugen des Tanzes“ wurde in den Jahren 2015 – 17 vom Deutschen Tanzfilminstitut Bremen (Produzent) im Rahmen einer Förderung von TANZFONDS ERBE der Kulturstiftung des Bundes realisiert.
In einer Serie von Filmporträts von je 35 Minuten widmet sich das Projekt den Reflektionen prägender Akteureund Akteurinnen der Tanzlandschaft in Deutschland seit Mitte des 20. Jahrhunderts bisheute. Sechs Zeitgenoss*innen, die diedeutsche Tanzgeschichte im letzten Jahrhundert mitbestimmt haben, wurden ausgewählt: der Tanz- und Musikkritiker Klaus Geitel, die frühere Intendantin des Berliner Hebbeltheaters und Vizepräsidentin der Akademie der Künste Berlin Nele Hertling, die Pädagogin Gisela Peters-Rohse, die Choreografen Johann Kresnik und John Neumeier (noch nicht fertig gestellt), die Choreografin und Tänzerin Susanne Linke.
Das Anliegen ist – so lautete der Antragstext - die genannten Personen aus heutiger Perspektive über die historischen Marksteine deutscher Tanzentwicklung und ihre Rolle darin zu befragen. Jeweils ein Tanzjournalist / eine Tanzjournalistin übernimmt die Moderation eines Films. Das Filmprojekt knüpft an die Tradition der oral history an, um jenseits sonstiger Dokumente und Formate, den Protagonist / die Protagonistin in seiner / ihrer Reflektion und seinem / ihrem Umfeld zu zeigen.
Erzählt von lebendigen Menschen greift die Portraitserie "Zeugen des Tanzes" die Gelegenheit auf, das deutsche Tanzerbe in einem umfassenden Spektrum von Wissen und Erfahrungen, Errungenschaften und Entwicklungslinien einem breiten Publikum zugänglich zumachen. Um damit dem Tanz in Deutschland wiederum zu neuem Leben und mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen. Die Vermittlung war und ist ein wichtiges Ziel.
Drei Filme der Serie habe ich in Zusammenarbeit mitHeide-Marie Härtel / Deutsches Tanzfilminstitut Bremen von Anfang bis Ende realisiert: Nele Hertling, Susanne Linke, Gisela Peters-Rohse. Diese drei wurden beim Symposium „Housing the Temporary“ im Mai 2018 in München gezeigt und die Hintergründe ihrer Entstehung in einem Gespräch darüber vorgestellt. Für die Filme über Johann Kresnik und Klaus Geitel habe ich das Konzept entwickelt, die Dreharbeiten begleitet und zusätzliche Interviews mit Zeitzeug*innen geführt.
Auswahl der Protagonist*innen: Wer hat sich ein Portrait verdient?
Worum geht es, wenn wirvon einem Portrait als journalistisches Format sprechen? „Versuche dem Zeitgenossen das Zeitgeschehen klar zu machen anhand der Personen, die es vorantreiben!“. So hat es Rudolf Augstein für dieZeitschrift „Spiegel“ einmal beschrieben.
Die Auswahl erfolgte in erster Linie aufgrund eines gemeinhin als wichtig und außergewöhnlich angenommenen Beitrags innerhalb der Tanzlandschaft in Deutschland. Ein Beitrag, der neue Impulse setzte und in seiner Kontinuität Entwicklungen und nachfolgende Generationen beeinflusste und auch international Wirkung zeigte. Hinzukam, insbesonderebeiKlaus Geitel, dem einzigen noch lebenden Vertreter seiner Generation von Tanzkritikern, eine Dringlichkeit aufgrund seines fortgeschrittenen Alters.
Klaus Geitel ist denn auch nach Abschluss der Dreharbeiten leider vor Fertigstellung des Films 2016 im Alter von 92 Jahren gestorben. Knapp zwei Jahre nach der Premiere seines Films verstarb ganz plötzlich 2019 Johann Kresnik. Die Protagonist*innen selbst erzählen zu lassen, sie in ihrer gegenwärtigen Umgebung zu inszenieren, siemit der Vergangenheit aus ihrer heutigen Sicht zu konfrontieren, bildeten schließlich das Konzept. Dabei sollte nicht allein die Künstler*innenperspektive befragt werden sondern unter Einbeziehung von Tanzkritik und kuratorischer Praxis als Intendantin das Spektrum des Tanzschaffens umfassend dargestellt werden.
Zeugenschaft
Die journalistische Perspektive ist ein weiterer wesentlicher Aspekt der Filmserie. Namhafte Tanzjournalist*innen wurden eingeladen einem Protagonisten / einer Protagonistin zu begegnen und ein ausführliches Interview zu führen. Folgende Paarungen haben sich auf Anregung des Regie-Teams (Irmela Kästner in Zusammenarbeit mit Heide-Marie Härtel) ergeben: Nele Hertling trifft Arnd Wesemann; Gisela Peters-Rohse trifft Katja Schneider, Klaus Geitel trifft Günter Pick; Johann Kresnik trifft Gabriele Wittmann; Susanne Linke trifft Norbert Servos. Es waren also nicht die Protagonist*innen, die sich ihr Gegenüber ausgesucht haben. Es war auch nicht Voraussetzung, dass sich beide gut kennen, wiees bei Susanne Linke und Norbert Servos der Fall ist, der ihre Arbeit über viele Jahre eng begleitet und mehrere Bücher über sie geschrieben hat. Journalistisches Handwerk und in diesem Sinne eine gewisse kritische Distanz waren entscheidend.Demnach kann auch nur bedingt von oral history gesprochen werden. Eine Lenkung des Gesprächs, um einige im Vorfeld herausgearbeitete Themen einzubeziehen, war erwünscht. Überhaupt zielte das gesamte Setting der Begegnung nicht zuletzt auf eine Stärkung der Profession des Tanzjournalismus, dessen Niedergang allseits beklagt wird.
Was bedeutet vor diesem Hintergrund Zeugenschaft? Wie gesagt: Im Zentrum steht ein Interview, geführt zu einer Zeit, durchgehend an einem Ort. Es bildet den roten Faden und das maßgebliche Erzählelement durch den gesamten Film. Neben eingespieltem Archivmaterial und der Befragung von weiteren Zeitzeugen hält es an der Einheit von Ort und Zeit fest. Die Längeund stetige Weiterführung des Gesprächs erlaubt gedankliche Entwicklungen. Das hat durchaus etwas Emanzipatorisches. Aus meiner Perspektive als Journalistin bin ich davon überzeugt, dass es eine entscheidende Rolle spielt, wann und wound aus welchem Anlass ich einen auch noch so global agierenden Künstler interviewe. Eine Tatsache, die gern übersehen wird, wenn Interviewaussagen ohne Quellenangaben – die exakte Ortsund Zeitangaben enthalten sollten - zitiert werden und schließlich als universell einsetzbare Zitate durch die Medien schwirren und dabei zunehmend an Aussage und Bedeutung verlieren.
Ein Interview - wie auch eine Fotografie (vgl. Aussagen von Tina Ruisinger) - ist eine Momentaufnahme. Hier das Lokale herauszuheben, verleiht Komplexität sowie Einzigartigkeit. Und das macht schließlich den Gehalt einer journalistischen Arbeit aus.
Das Interview
Wie bereits erwähnt sind Eckpfeiler in Werk und Biografie zwischen Filmteam und Journalist*in im Vorfeld besprochen worden. Die Absprache war mitbedingt durch das verfügbare Archivmaterial, um das Gesagte zu bebildern.
Kindheit, Ausbildung und erste Berufserfahrungen führten meist in chronologischer Folge zu Schlüsselwerken bzw. wichtigen Karriereabschnitten. Wie gesagt, das Interview bildet den roten Faden. Die Reflexion von Werk und Leben aus heutiger Sicht befindet sich nach wie vor im Prozess. Die Protagonist*innen stehen mitten drin im Leben und in der künstlerischen Auseinandersetzung.
Wir haben bewusst entschieden wenig früheres Interviewmaterial zu verwenden, um einer „besser“ formulierten Aussage oder einer „stärkeren“ Präsenz willen. Möglicherweise würde das frühere Material den Protagonisten in Konkurrenz zu sich selbst stellen. Vor allem aber würde es das gewünschte Kontinuum von Ort und Zeit ständig unterbrechen.
Orte
Ideen zur Realisierung der Portraitserie „Zeugen des Tanzes“ gab eine arteFernsehreihe „Durch die Nacht mit...“. Zwei prominente Menschen treffen sich auf Einladung des einen ineiner Stadt, besuchen gemeinsam ausgesuchte Orte, unterhalten sich dabei über ihre Leben. Wenngleich uns die finanziellen Mittel zu einer derartigen Inszenierung fehlten, gehörte es dennoch zu den ersten Überlegungen bei der Konzeption der Filmreihe, einen oder mehrere Orte im Kontext der filmischen Portraits herauszustellen. Als biografische Ankerpunkte wurden sie gewissermaßen mit inszeniert. Dort begegnen sich Protagonist*in und Journalist*in. Und oftmals wirken diese Orte über den persönlichen, im Moment erlebten oder rückblickend reflektierten, Bezug hinaus, wenn es sich um Theater, Ausbildungsstätten, Akademien handelt.
Der aktuelle Arbeits- und Lebensmittelpunktwurde zum zentralen Ort der filmischen Inszenierung. Neben dem Interview wurden zeitgleich stattfindende künstlerische Ereignisse und Alltagsbegebenheiten in dieBegegnung einbezogen, um das Bild des Protagonisten / der Protagonistin durch verschiedene Aspekte zu ergänzen. Denn bis auf den Tanzkritiker Klaus Geitel waren alle noch beruflich aktiv und sehr agil. Susanne Linke hatte gerade eine Ballettdirektion in Trier angetreten und brachte dort ein erstes Stück mitihrer neu gegründeten Compagnie zur Premiere. Ein Ereignis für Susanne Linke und fürTrier. Die Aufführung inklusive der anschließenden Premierenparty haben wir selbstverständlich gefilmt. Das Interview fand in ihrer gerade bezogenen Privatwohnung statt. Wirbegleiteten sieauf ihrem Weg mit dem Fahrrad von der Wohnung zum Theater, filmten siemit Norbert Servos beim Essen in ihrem Lieblingsrestaurant.
Eine Gedenkveranstaltung zum 100. Geburtstag ihres verstorbenen Mannes und Archivgründers Kurt Peters im Deutschen Tanzarchiv Köln nahmen wir zum Anlass für das Interview mit Gisela Peters-Rohse. Neben ihrer pädagogischen Arbeit hatte auch sie als Herausgeberin der Zeitschrift Das Tanzarchiv an der Archivarbeit mitgewirkt. Somit filmten wir sie bei einen Gang durch die zeitgleich dort stattfindende Ausstellung „Das Echo der Utopien. Tanz und Politik“. Peters-Rohse und Katja Schneider treffen sich hier im Gespräch über ein Stück Tanzgeschichte, das über das Persönliche und Biografische hinausgeht und später im Interview thematisch aufgegriffen und mit persönlichen Erfahrungen verwebt wird. Bei Klaus Geitel, der damals nicht mehr die Wohnung verlassen konnte, behalfen wir uns, indem wir seinen Interviewer Günter Pick auf Geitels früheren Stammplatz in der Deutschen Oper Berlin setzten, um das Gespräch über das Arbeitsumfeld des Kritikers bildlich zu illustrieren und im Gespräch daran anzuknüpfen.
Lieblingsorte, Alltagsorte, aktuelle und frühere Arbeitsorte verankern Person und Werk im jeweiligen filmischen Portrait. Orte spielen hier eine zentrale Rolle als Impulsgeber. Die Protagonisten haben sie in Absprache mit dem Filmteam selbst gewählt. Die Interviews mit Susanne Linke, Nele Hertling und Klaus Geitel fanden zwar in deren privater häuslicher Umgebung statt. Der Begriff „homestory“ wäre dennoch zu eng gefasst.
Begleitung auf Reisen
Die Dreharbeiten für Interview und Ortsbegehungen wurden in zwei Tagen absolviert. Im Zuge der gesamten Arbeit an einem Film, versuchten wirdarüber hinaus möglichst viele aktuelle berufliche Aktivitäten derProtagonist*innen filmisch einzufangen um nichtausschließlich auf ältere Archivaufnahmen zurückgreifen zu müssen. So begleiteten wir Nele Hertling nach Leverkusen zu einerAufführung des „Triadischen Balletts“ von Oskar Schlemmer in der Rekonstruktion von Gerhard Bohner, ein Projekt, das sie an derAkademie der Künste Berlin mit initiiert hatte. Und wir hängten uns an Workshopeinladungen von Gisela Peters-Rohse nach Ungarn und in dieSchweiz an, wo sie regelmäßig bisheute an namhaften Tanzakademien unterrichtet.
Auswahl der Werkausschnitte. Hauptwerke. Schlüsselwerke, entlang derer sich die künstlerische Entwicklung einer Person und deren Beitrag zur Tanzgeschichte in Deutschland anschaulich darstellen
lassen, wurden aus den jeweils unterschiedlich umfangreichen Materialsammlungen herausgefiltert. Der Großteil der Dokumente stammt aus dem Archiv des Deutschen Tanzfilminstituts Bremen. 1989 gegründet hat ist es zu einer Präsenzbibliothek mit 35.000 Titeln angewachsen, ein Großteil davon sind Eigenproduktionen. Heide-Marie Härtel war eine der ersten, die das Tanzgeschehen in Deutschland, vor allem die Anfänge des Tanztheaters, mit der Videokamera begleitet hat. Bei Johann Kresnik hat sie selbst getanzt, Susanne Linke und Gisela Peters-Rohse ist sie auf Gastspielreisen rund um den Globus gefolgt. Somit finden sich im Archiv unzählige Versionen einzelner Stücke von Susanne Linke sowie Aufzeichnungen von Tanzworkshops mit Kindern aus aller Welt. Immer wiederdokumentierte das Tanzfilminstitut Veranstaltungen in der Akademie der Künste, kuratiert von Nele Hertling. Bei zahlreichen Diskussionsrunden saß die zeitgenössische Tanzprominenz versammelt auf dem Podium und im Publikum.
Gerade bei Susanne Linke zeigte sich, wie aufschlussreich die Gegenüberstellung von alt und neu sein kann, von Uraufführung und späterer Wiederaufnahme, nicht selten mit einer neuen Tänzer*innengeneration. Die junge Susanne Linke kreierte 1985 ihr bewegendes Solo „Schritte verfolgen“, übergab das Stück 2007 an drei Tänzerinnen verschiedener Generationen und tanzte den letzten Teil immer noch selbst. Und schuf damit ein sich wandelndes Kunstwerk, das weit über das Persönliche hinausweist.
Kommentartext
So wenig wie irgend möglich war das Ziel. Lieber mal das Geschehen laufen lassen. Längere Stückausschnitte anschauen, der Musik lauschen. Oder auch in die Stille hineinhören. Pausen zulassen und dabei zuschauen wie jemand nachdenkt. Mit Nele Hertling sind wir in die Akademie der Künste Berlin am Hanseatenweg gegangen und haben sie mitden Plakaten ihres ersten Festivals dort „Pantomime, Musik Tanz, Theater“ konfrontiert und gefilmt. Das Lächeln, das Staunen in ihrem Gesicht beim Lesen der Namen, beim Betrachten derBildmotive sagen mehr als alle Worte.
Dabei zuzuschauen wie sich jemand erinnert, wie sich die Gedanken formieren, wie die Begeisterung rückblickend auflebt, diese Qualität des Zeitnehmens sollte dem Zuschauer eines Films gegeben werden. Wenn der Protagonist / die Protagonistin dabei das verwendeteArchivmaterial spontan selbst kommentiert, ist das ein größerer Gewinn für ein Portrait als nachbereitete Kommentartexte, die eher eine generelle Einschätzung geben. Der Rückblick sollte seitens der Protagonist*innen erfolgen aus Sicht ihrer heutigen Erfahrung. Eine Momentaufnahme, in der sich die Einzigartigkeit von Ortund Zeit spiegeln.
„Was war ich doch für ein hübsches Kerlchen“, entfuhr es Klaus Geitel angesichts von Aufzeichnungen seiner früheren Fernsehauftritte, die wir ihm beim Interview vorspielten. Und als Susanne Linke eine Aufnahme von „Frauenballett“ anschaut, ist die Anstrengung, die es kostet die Stoffbahnen mit den Füßen zu schleifen, in ihrer Stimme und Gestik hautnah spürbar
Montage / Schnitt/ Ästhetik
Das ausführliche Interview als Gerüst für die Filmmontage anzulegen, bot eine ungemeine Stütze das Material des Films zu ordnen und ineinen thematisch logischen Fluss zu bringen. Wobeinicht notwendigerweise die Chronologie des Gesprächverlaufs eingehalten werden musste. Das vorhandene Material nicht nur inhaltlich sondern auch ästhetisch in eine Form zu bringen stellte den Cutter dennoch vor Herausorderungen. Unterschiedliche Formate und Qualitäten der Video- und Filmaufzeichnungen mussten angepasst werden. Bei Gisela Peters-Rohse bestand das Material zum großen Teil aus Fotografien von unterschiedlichem Format. Das Zusammenführen von bewegten und statischen Bildern verlangte eine besondere Fertigkeit das Fotomaterial entsprechend zu animieren.
Grundsätzlich sollte in diesem Projekt auf Effekte und technische Spielereien verzichtet werden, um eine ästhetisch möglichst neutrale Filmsprache zu erhalten, vom eigentlichen Portrait nicht ablenkt.
Landschaften
In den Erzählweisen wie Tanz zu einer Zeit sowohl kreiert als auch rezipiert wurde und wird, in welchem kreativen Umfeld er sich bewegt, welche Wandlungen er erfahren hat, spiegeltdie Filmportraitserie den Geist einer Zeit am Übergang zur Postmoderne wieder.
Drei Choreograf*innen, eine Intendantin, ein Kritiker, Pioniere in ihrem jeweiligen Bereich des Tanzes in Deutschland, die beginnend mitder 2. Hälfte des vergangenen Jahrhunderts bis in die heutige Zeit gewirkt haben, deren Wege sich immer wieder gekreuzt haben, deren Fokus wiederholt auf dieselben Ereignisse nicht nur im Tanz gerichtet war, standen hier mit ihrem Werk und mit ihrer Person Rede und Antwort. In unseren Filmen sieht man sie wiederholt auf ein und demselben Podium oder in ein und dem selben Publikum sitzen – beispielsweise bei der Verleihung des Deutschen Tanzpreises.Betrachtet man die Filmreihe als Ganzes so bildet sicheine Art(Tanz-)Landschaft heraus. Ein Netz von Kreuzungen und Referenzen wird sichtbar. Vor allem von Begegnungen, die sich in den filmischen Dokumenten zu allen Portraits zeigen. Ein spannungsvolles Feld kooperativer Vernetzung, das sich spätestens in den 1970er 80er Jahren aus innerer Notwendigkeit zu mehrOffenheit und Kooperation bereits gebildet hat, lange bevor Vernetzung zum Modebegriff wurde.
Die Premiere eines jeden Filmes fand bei Fertigstellung im Deutschen Tanzfilminstitut Bremen statt im Beisein des/der Portraitierten. Die Förderung von „Zeugen des Tanzes“durch den TanzfondsErbe sieht vor, dass alle Filme demnächst aufs Netz gehen und auf der Webseite Tanzfonds.de angeschaut werden können.
THE BEST. THE WORST. MY EVERYTHING!
Der Titel spielt nicht von ungefähr auf den Popsong von Barry White an: You are the first, my last, my everything! Schließlich gleicht das Verhältnis von Künstler und Künstlerin zur eigenen Kunst einer Liebesaffäre, die nach absoluter Hingabe verlangt. Denn darum geht es: Der Haltung zur eigenen Kunst sollte auf den Zahn gefühlt werden.
Anlass für die Serie von sechs Kurzportraits, realisiert in der Zusammenarbeit mit der Fotografin Tina Ruisinger, war eine zweiwöchige Werkstatt mit sechs Choreograf*innen, Angela Guerreiro, Arianne Hoffmann, Vania Rovisco, Josep Caballero García, Jochen Roller, Robert Steijn, die ich im Mai 2015 auf K3 - Zentrum für Choreographie auf Kampnagel Hamburg konzipiert und veranstaltet hatte.
Kritik üben lautete hier das Motto. DieVermittlung und gleichzeitig kritische Reflexion des eigenen künstlerischen Prozesses in Kollaboration und Abgrenzung zu den Positionen der anderen Choregraf*innen und Performer*innen bestimmten die praktische Auseinandersetzung. Die Choreograf*innen waren gefragt, in einem exakt definierten Raum und künstlerischem Rahmen Grundsätzliches über ihre Arbeit in einem Prozess der Begegnung herauszufiltern.
Die Portraitseriebildete hier den Versuch ein weiteres und ganz eigenständiges multimediales Format zu entwickeln, das eine, die Flüchtigkeit des Workshop- und Bühnenprozesses überdauernde Essenz herausfiltert. Ein Format, konzipiert für das Internet und somit global zugänglich, das sich dennoch eindeutig verorten lässt. Darüber hinaus arbeiten wir an einer inhaltlich sowie ästhetisch überzeugenden Sprache, die neben dem rein informativen auch einen künstlerischen Anspruch vertritt.
Ton
Die Fragen an die Portraitierten erfolgten hier nach einem streng gegliederten Schema. Im Anschluss an eine kurze Selbstdarstellung beantworteten alle die drei gleichen Fragen, die sich aus dem Titel des Werkstattprojekts ableiteten: The Best: Was ist das Beste, das Du erlebt hast? The Worst: Was ist das Schlimmste? My Everything: Was ist Dein Ein und Alles, was erachtest Du alsunverzichtbar? Die Fragen sind allerdings nicht zu hören, erschließen sich dem Zuschauenden nur aus dem Titel der Serie. Einzig die leicht bearbeiteten gesprochenen Antworten sind in der oben genannten Reihenfolge in einem den Bildernunterlegten durchgehenden Text zu hören.
Bild
Es gibt ein Vorbild für unsere Serie. „One in8 Million“ heißt das Projekt, 2010 in Auftrag gegeben von der New York Times und auf deren Webseiteanzusehen. Es sind 50 kurze intime Portraits von ganz unterschiedlichen Menschen, die in New York zuhause sind. Fotografien in ausdrucksvoller Schwarz-Weiß-Optik laufen über die Stimmen der Portraitierten, die geradeheraus aus ihrem Leben erzählen. Die Serie von dreiminütigen Foto-Essays, erstellt von namhaften Fotografen, hat zahlreiche Preise gewonnen u.a. für den besten Einsatz von Fotografie sowieeinen Emmy in der Kategorie „New Approaches to Documentary”.
Auch uns hat die Serie überzeugt. Daher entschieden wiruns, ausschließlich mit Fotografien zu arbeiten, wenn auch nicht in schwarz-weiß, und auf Videoeinspielungen, wie sie in Multimediaprojekten üblich sind, ganz zu verzichten. Hinzu kommt, dass sich Tina Ruisinger als Fotografin vor allem in der Portraitfotografie einen Namen gemacht hat.
Um die Perspektive der Fotografin und der Fotografie herauszustellen, zitiere ich daher jetzt sieaus einem Interview, das ich im September 2019 mit ihr über unsere gemeinsame Arbeit und über die Portraitfotografie im Allgemeinen geführt habe.
Irmela Kästner: Was kann ein Portrait in der Fotografie?
Tina Ruisinger: Im besten Fall und schönsten Fall, eine Seite vom Menschen zeigen, die mehr ist als nurdas konkrete Abbild. (...) Wenn ich jemanden portraitiere dann denke ich, alles spielt in dem Moment eine Rolle und ist wichtig. Ob das die Stimmung ist, die Laune, der Ort. Ich finde das gehört alles dazu. Deshalb ich für mich ein Portrait von einem Menschen - es ist echt schwierig – es zeigt vielleicht einfach eine Seite von diesem Menschen zu dieser Uhrzeit, in diesem Licht, in dieser Stimmung, an diesem Tag, in diesem Land, alles Dinge, die irgendwie dazu gehören.
IK: Hast du ein bestimmtes System, nach dem du beim fotografieren vorgehst?
TR: Ich bitte den Menschen nie irgendetwas zu machen. Viele irritiert das, weil sie meinen, sie müssten lachen, sie müssten freundlich schauen. Und das will ich nicht. Sie sind so wie siesind. (...) Ich fotografiere ja auch ausschließlich mit dem Licht, das ich vorfinde. Das ist ja immer ein Risiko. Aber das finde ich ein wichtiges Element. Ich lasse mich extrem drauf ein.
IK: Beeinflussen sich hier in unserem Fall für dich die Personen-und Bühnenaufnahmen gegenseitig?
TR: Für mich ist das alles ein Momentum. Es hält einen Moment fest in derArbeit, im Leben von diesen Künstlern. Siewaren auf der Bühne, ich habe sie fotografiert, es ist eine Stimmung gewesen, es ist ein Ortgewesen. Was diese Arbeit angeht, gehört das eine zum anderenund ich denke auch, das eine hätte ohne das andere nicht funktioniert. Ich habe den Einblick gehabt in den Gesamtprozess. (...) Dadurch dass ich mehr erfahren und mehr sehen konnte, was die Menschen dort geben, spiegelt sich das ganz stark indem Endergebnis wieder. Aber das spricht wahrscheinlich auch noch mal fürdiese Arbeit, dass sich schlussendlich in dem Portrait zeigt wie viel du von dem Künstler erfährst. Und miterlebst. Und beobachten kannst.
IK: Die Dramaturgie der Bilder erzählt die eine Geschichte?
TR: Ja, es hat ganz stark etwas Narratives. (...) Ein Portrait kann ein Bild sein. Es können aber auch zehn Bilder sein. Ich glaube, über die Jahre versuche ich mehr und mehr mit den Bildern wirklich eine Geschichte zu erzählen. Vielleicht hast du in einer Situation das eine Portrait, aber vielleicht hast du auch kleine Details, die etwas zusätzlich erzählen.
IK: Meinst Du, dass diese Serie etwas dazu beitragen kann, den zeitgenössischen Tanz zu vermitteln?
TR: Ich finde ja. Unbedingt. Im Idealfall ist ja wieder die Kombination aus beiden. Man geht sehr nah heran. Man bekommt etwas mit über die Persönlichkeit und gleichzeitig bist du sehr nah dran an der Arbeit. Es geht ja schlussendlich um den Tanz, um das, was sie ausdrücken wollen. Es gibt viele Texte und es gibt viele Fotos. Die Kombination setzt noch mal was drauf. Und das man auch ihre Stimmen hört. Das finde ich ganz wichtig. Die Stimme sagt viel überden Menschen aus. Das trägt viel dazu bei, über den Tanz mehr zu erfahren. Es gibt ja auch nicht so viel. Es gibt ein paar großartige Tanzfilme. Aber was wir hier machen ist ja etwas Intimeres.
Montage
Die Montage haben wir getrennt voneinander vorgenommen. Die Fotos illustrieren nicht den Text, die Worte kommentieren nicht das Bild. Tina Ruisinger hat ihre Dramaturgie in der Abfolge der Fotos entwickelt. Unabhängig vom Text. Auch ohne den Text zu kennen. Wenngleich die Textdramaturgie der Interviewausschnitte durch die Titel gebenden Fragen weitgehend vorgegeben war. Daraus folgte - innerhalb des strengen Rahmens - ein eher spielerischer Umgang mit dem Material, der diese Art von Portraits erst möglich machte.
Der künstlerische Ansatz, die beiden Teile getrennt voneinander zu bearbeiten und anschließend zu montieren, war für mich eine wichtige Komponente. Dabei schwebte mir die Arbeitsweise von John Cage und Merce Cunningham vor, die ihre jeweilige Kunst auch gleichberechtigt nebeneinander auf eine Bühne gestellt haben. Die Unabhängigkeit habe ich betont.
Dann wurde mir klar, nein, die Arbeit entsteht nicht völligunabhängig voneinander. Es werden nicht zwei Dinge - Text und Bild - die einzeln entstanden sind, zusammen gefügt. Das Entscheidende ist, dass wirdasselbe gesehen und erlebt haben, zur gleichen Zeit, in der gleichen Situation. Und das man intuitiv weiß, was der andere gesehen hat. Wie auch immer man dann die einzelnen Aspekte rauszieht und verarbeitet. Das Schöne ist, dass sich am Ende die Teile organisch zusammen fügen, dass man das Gefühl hat, es wäre aufeinander abgestimmtgewesen. Auch wenn es das gar nicht war.
Interview
Obwohl nicht explizit gefordert, bezogen sichdie Antworten vor allem auf das berufliche Umfeld als Tänzer*in und Choreograf*in. Zu The Best wurden oftmals Publikumsreaktionen und besondere positiveErlebnisse auf Gastspielreisen, geknüpft an bestimmte Orte, erinnert. Für Angela Guerreiro war es die erlebte Gastfreundschaft in Äthiopien, für Jochen Roller Respektbekundungen in Israel. Die Aussagen zu The Worst umkreisen oft die prekären Arbeitssituationen oder auch ein entgegen gebrachtes Unverständnis für die Tanzkunst. Bei My Everything überwog der Enthusiasmus fürdie Kunst und dafür im zeitgenössischen Tanz wie auch am Leben aktiv mitzuwirken. Vania Rovisco, beispielsweise, beschreibt es so: Mein „Everything“ wäre, auf der Bühne künstlerisch anerkannt zu sein und gleichzeitig am theoretischen Diskurs teilzuhaben. Präsent zu sein in beiden Welten.“ Für Josep C. García ist es „Interesse an Menschen, eine gewisse Ehrlichkeit, das Risiko zu nehmen, dass etwas schief gehen kann oder eben wunderbar laufen kann.“ Für Jochen Roller ist es: „Die Möglichkeit mit Kollegen zu arbeiten, die einen inspirieren, sich gegenseitig zu erzählen, wie dieWelt für einen aussieht, wie man diese Welt in Tanz übersetzt. Und dass das hoffentlich nieaufhören wird, die Freude, die das macht.“
Begegnung ist demnach das Ein und Alles. Ich fand es interessant, eine außen stehende Choreografin nach dem Interview-Schema zu befragen. Die Schweizer Choreografin Lea Moro hatte gerade Arbeit „Sketches of Togetherness #3“ in Zürich zur Premiere gebracht. Eine Begegnung mit dem spanischen Architekten Alberto Veiga, in der sich beide gegenseitig Fragen zu ihren Arbeitswelten stellen. Und Veiga fragte Moro auf der Bühne nach dem Besten und Schlimmsten, dass ihr in ihrem Tanzleben passiert ist. Moro antwortet höchst diplomatisch, man kann auch sagen:
ausweichend, dass das Beste sich ins Schlimmste verkehren kann und umgekehrt. Am nächsten Tag im Interview konfrontierte ich sie mit ihrer Antwort und erzählte ihr von meinem und TinaRuisingers Projekt, in dem ich genau diese Fragen gestellt hatte, darüber hinaus aber noch eine dritte Frage: My Everything! und ob das für sie Sinn mache. Bei The Best und The Worst blieb sie weiterhin abwägend ausweichend. Ganz anders bei My Everything!: „Das kann ich ganz spontan sagen: Der gestrige Tag. Die Aufführung. Der ultimative Ort. Diese Begegnung einzugehen. Man kann etwas teilen. Deshalbmache ich das.“
Anscheinend braucht es das Abwägende, um am Ende sehr klar und deutlich auf den Punkt zu kommen. Ähnlich war der Verlauf bei meinen Protagonist*innen. Die Dramaturgie der Fragestellung ging auf. Am Ende erklärten alle ihre wahre Haltung und Leidenschaft.
Teilen
Mit Photo-Essays bezeichnet One in 8 Million das Format. Wir haben die Reihe als als Künstler*innenportraitserie bezeichnet (Artist Portrait Series). Ihr Potential liegt in der Kürze, zumal das Format fürs Internet gedacht ist. Abgebildet ist ein Ausschnitt einer jüngeren Choreograf*innen / Tänzer*innen-Generation, die aus einer gewissen Erfahrung heraus in die Zukunft schaut, deren Karriere immer wieder im Wandel begriffen ist. Sie haben nicht die gleiche Herkunft und Ausbildung. Dennoch sind sie seit 20 Jahren Teil einer - wie global auch immer agierenden – Szene im zeitgenössischen Tanz, Teil eines künstlerischen Diskurses. Ihre Wege kreuzen sich an Orten, auf Bühnen, auf Festivals. In „The Best. The Worst. My Everything!“ findet eine Akkumulation statt. Die sechs Protagonist*innen teilen sich eine Bühne, letztlich um sich ihrer Einzigartigkeit gewahr zu werden. In einigen Fotografien der Multimediaportraits erscheinen sie im Bildderanderen, bezeugen die Einheit von Ort und Zeit, ihre gemeinschaftliche Teilhabe, aus der auch die Portraitserie entstanden ist. Und dennoch heben dieeinzelnen Portraits ihre jeweils unterschiedliche Persönlichkeit deutlich hervor.
Resümee
Die Frage: Wer hat ein Portrait verdient? beantworten beide Formate in ganz unterschiedlicherWeise. Gemeinsam ist ihnen jedoch die Herstellung einer Verknüpfung einer Person mit Ort und Zeit, um Geschichte lebendig und nachvollziehbar werden zu lassen, um Erinnerung eine Zukunft zu geben.
______ Irmela Kästner
Literatur und Webseiten
Tanzfonds Erbe / Zeugen des Tanzes: https://tanzfonds.de/projekt/dokumentation-2015/zeugen-des-tanzes/
Deutsches Tanzfilminstitut Bremen: http://www.deutsches-tanzfilminstitut.de
Irmela Kästner: “The Best. The Worst. My Everything! auf Vimeo”: https://vimeo.com/user51084128
Tanzinitiative Hamburg – Werkstatt: The Best. The Worst. My Everything! http://www.tanzinitiative.de/data/?p=1975&lang=de
One in 8 Million http://archive.nytimes.com/www.nytimes.com/packages/html/nyregion/1-in-8million/index.html
Syvia Egli von Matt, Hanspeter Gschwend, Hans Peter Peschke, Paul Riniker „Das Portrait“, UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2008