16. Ausgabe März 2012
H ORIZONT
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Selbstverschuldete Unmündigkeit Ladenöffnungszeiten entmündigen die Bürger.
Der Horizont Eine philosophische Analyse.
Unendliche Scheisse Eine physisch literarische Auseinandersetzung mit dem Nichts.
INHALT
16. Ausgabe, März 2012
EDITORIAL
IMPRESSUM
seite 03: wenn affen schreiben und zeitungen drucken
REDAKTION verein dieperspektive, simon jacoby, conradin zellweger, manuel perriard, postfach, 8036 zürich TEXT
HINTERGRUND
s.a.j. | p.w. | m.s. | m.b. | t.b. | o.b. | c.z. | c.j. | l.l. | d.t. | e.d. | a.h.b.
e seite 04: das duell #6 mn u l seite 05: selbsverschuldete unmündigkeit ko seite 06: wollen wir nicht alle foucault heissen seite 06: steuer für kinderlose
ILLUSTRATION / BILD c.b. COVER yves sinka LAYOUT per rjard LEKTORAT
KULTUR seite 07: von kunst, kultur und schuhen
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mara bieler & daniela bär WEBDESIGN timo beeler | timobeeler.ch REDAKTIONSMITARBEITER jonas ritscher & konstantin furrer
HORIZONT
DRUCK zds zeitungsdruck schaffhausen ag
seite 08: rückwärts zum horizont seite 09: horizont seite 10: der horizont seite 11: sunset seite 12: die möglichst billige horizonterweiterung seite 14: horizonterweiterung e seite 14: unendliche scheisse mn seite 15: sprich mal bildlich kolu
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EDITORIAL 16. Ausgabe, März 2012
Wenn Affen schreiben und Zeitungen drucken Es ist bereits alles gesagt worden, was gesagt werden kann. Egal was du für eine Idee hast, es hatte sie schon jemand vor dir. Irgendwo auf dieser Welt. Also versichere dich, bevor du dein ganzes Geld in deine Rückwärts-laufende-Uhren-Fabrik investierst (gibt’s nämlich schon, hab ich grad gegoogelt). Wegen Internet und Globalisierung können wir nicht mal mehr beweisen, dass wir die Idee unabhängig von anderen Personen mit der gleichen Idee hatten. Früher war das nämlich so. Das Rad, das Telefon und die Farbfotografie sind nur drei Beispiele für Dinge, die gleichzeitig und unabhängig voneinander erfunden wurden (auch das hab ich gegoogelt). Zumindest beim Rad konnten die Erfinder auf verschiedenen Kontinenten mit absoluter Sicherheit nichts voneinander wissen. Heute ist das nicht mehr möglich. Hat man eine zündende Idee, ist diese garantiert schon im Internet auffindbar und hat am besten noch ein ©-right oder ist mit einer ®-rademark versehen. Dann hat man schwuppdiwupp Anwälte am Hals. So gings uns übrigens auch mit der 20-Minuten Ausgabe, das war eigentlich unsere Idee – aber das glaubt uns ja niemand. Darum müssen wir jetzt Verfahrenskosten bezahlen und Sozialdienst leisten. An dieser Stelle könnte ich jetzt natürlich etwas von Bereicherung erzählen und davon, wie mich diese Erfahrung als Mensch weitergebracht hat, wie sie mir die Augen geöffnet hat etc., aber das könnt ihr euch ja sicher vorstellen. Zurück zum Thema. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich alles wiederholt. ALLES. Sogar deine Gedanken. Da mag man noch so freidenkend und kreativ sein. Diesen Text hat wahrscheinlich auch schon jemand anderes vor mir geschrieben oder hat zumindest die genau gleichen
Ideen gehabt. Wenns so ist, wusste ich es nicht und ich hab ihm oder ihr auch nicht abgeschrieben! Ich schwörs! Ich mag das Gleichnis von den Affen und Shakespeare. Ja, sogar Affen können einen Shakespeare schreiben. Wenn sie nur genug lange auf der Tastatur rumhämmern und ohne ein Wort Englisch zu kennen. Wenn man dazu noch beachtet, dass die Affen einen Vorsprung von etwa 55 Millionen Jahren haben, verlieren die Werke Shakespeares doch recht an Glanz. Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass die Affenromane Shakespeare sogar übertreffen würden. Hätten sie bloss Schreibmaschinen, diese miesen Viecher. Da wird mir doch ein bisschen elend zumute. Was will ich denn mit diesem Text, wenn sogar Shakespeare ganz offensichtlich nicht so einzigartig war? Aber es gibt einen hoffnungsvollen Gedanken: Vielleicht kommt es ja gar nicht so sehr darauf an, was man macht, sondern vielmehr, dass mans macht. Denn genau dort hat sich die Frage, ob Shakespeare oder die Affen besser schreiben, entschieden. Beide können gut schreiben, aber Shakespeare hats getan, während die Affen nur dasassen und ihre affigen Freunde lausten. So hast du es in der Hand. Du stammst zwar von den Affen ab, aber du beherrschst das Zehnfinger-System, während Shakespeare nur Feder und Papier besass. Aber dein eigentlich grösster Vorteil gegenüber Shakespeare ist, dass du noch lebst, Affe! Conradin Zellweger Für die Redaktion
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HINTERGRUND 16. Ausgabe, März 2012
Das Duell #6 {Text} * Simon A. Jacoby und Peter Werder
Peter Werder
Simon A. Jacoby
Der Horizont ist eine Illusion. Eigentlich schon irritierend: «Horizont» scheint auf den ersten Blick ein positiv besetzter Begriff. Wenn man aber genauer hinsieht, merkt man, dass es den Horizont gar nicht gibt. Die Linie zwischen Himmel und Land beziehungsweise Wasser kann man nicht greifen. Sie verschwindet, wenn man sich ihr nähert. Sie ist immer weit weg. Vor Kopernikus markierte sie das Ende der Welt. Und trotzdem: «Horizont» klingt romantisch und weltoffen. Der Horizont steht für Weite – und wenn wir ihn erweitern, werden wir erfahrener und klüger. So ist es auch mit anderen Begriffen. Zum Beispiel mit «Gerechtigkeit», «Gleichheit» und «Solidarität». Oder mit «sozial». Hier bräuchte es auch mal eine kopernikanische Wende – jemanden, der die verklärten Weltbilder kräftig durchschüttelt. Dabei wären wir eigentlich auf einem guten Weg dieser Entzauberung. Die aktuelle Krise ist in erster Linie eine Krise der Staaten. Aufgeblähte Umverteilungsapparate stehen vor dem Kollaps. Frühpensionierungen, Ponyhof-Arbeitsbedingungen, Streichelzoo-Sozialstaat. Natürlich: Superreiche zahlen gar keine Steuern, das geht auch gar nicht. Aber das Grundübel ist der umfassende Glaube an einen Staat, der für Gerechtigkeit sorgen soll. Das kostet Unsummen, demotiviert, führt zu Faulheit, bringt keine Qualität. Es befriedigt nur den Wunsch nach Gerechtigkeit – eben der Begriff, der mich so an den Horizont vor der kopernikanischen Wende erinnert. Bedenklich ist, dass es noch immer Menschen gibt, die an solchen Blödsinn glauben. Herr Jacoby, als sozialistischer Gemeinde-Politiker wollten sie letzthin eine Anstellungsgarantie für Lehrlinge im Betrieb der Stadt Adliswil. Sie glauben tatsächlich, dass es keine Rolle spielt, wie gut jemand arbeitet. Hauptsache, er hat die Lehre abgeschlossen, dann soll er auch eine Stelle haben. Wie wärs mit einem bedingungslosen Grundeinkommen? Mit einem Anrecht auf eine Stelle für Studierende nach Abschluss? Wollen wir der Menschheit nicht direkt absolute Gleichheit aufzwingen? In Ihrer Partei versammeln sich Menschen, die am liebsten händchenhaltend im Kreis stehen, in verklärter Schwingung dem naiven Ziel des kollektiven Glücks und des ach so Guten hinterherrennen und dabei dem Horizont immer näher kommen, ihn aber nie erreichen werden. Wann kommt Kopernikus mal bei Ihnen vorbei und klopft diesem Sozialgerechtigkeits-Selbsthilfegrüppchen mal so richtig auf die Finger? Reichen Ihnen die Staatspleiten nicht? Brauchen Sie noch mehr Umverteilung und Streben nach Kollektiv-Harmonie? Ihr Horizont ist ein ou topos, eine Utopie im Sinn des Nichtortes. Diesen Horizont werden Sie nie erreichen. Machen Sie es wie ich: Schauen Sie von Weitem zu, geniessen Sie den Anblick, wissend, dass Freiheit das höchste Gut ist. Freiheit ist der eu topos, der schöne Ort.
Mein lieber Herr Werder, nach Ihren poetischen Ausführungen muss ich ja aufpassen, dass ich vor lauter Romantik die Schärfe nicht verliere. Wie schon bei der Ausgabe zum Thema «Die Qual der Wahl» liegen Sie auch dieses Mal wieder gründlich und nicht nur in der Kernaussage daneben. Wenn Sie so viele Punkte anschneiden, die mit der unbequemen Stimme der Ernsthaftigkeit korrigiert werden müssen, bleibt mir nichts anderes übrig, als wiederum mit einer Liste zu antworten. 1. Die aktuelle Krise ist tatsächlich eine Krise von Staaten und wir können gottenfroh sein, dass wir da nicht selbst tief drin stecken. Allerdings sollte Kopernikus Ihr Verständnis von Korrelation durcheinanderwirbeln. Denn die Ursachen dieser Krise von Staaten liegen viel tiefer: Die EU hatte sich die politische Integration zum Ziel gesetzt. Geworden ist daraus eine wirtschaftliche Koalition unter der Führung Deutschlands und Frankreichs. Eine wirtschaftliche Integration in diesem Sinne muss darauf achten, dass sie ein Club der Mächtigen bleibt, und daher konsequenterweise keine schwachen Staaten in ihren Verbund aufnehmen. Verstehen Sie mich nicht falsch, Herr Werder. Das ist nicht meine Traumvorstellung. Ich wünsche mir eine demokratische EU mit dem ehrlichen Ziel der politischen Integration. Nun leiden alle darunter, dass die wirtschaftliche Koalition nicht so recht funktionieren mag. Nehmen wir das Beispiel Griechenland. Die Griechen sind nicht faul. Und die Griechen sind keine schlechten Händler. Aber die Griechen haben ein komisches Staatsverständnis und ein fatales Zweiparteiensystem. Die beiden Parteien wechseln sich an der Macht ab und die Siegerin setzt jeweils gut 10’000 Parteimitglieder als Beamte ein, ohne die der vorherigen Partei zu entlassen. Aufgebläht – ja, Umverteilung – ja, aber von unten nach oben. Ihre Angriffe treffen mich nur, weil Sie unsachlich an diese ernsten Themen herangehen. In der Schweiz sind solche Probleme undenkbar. 2. Mein lieber Wortverdreher, mit meinem Postulat wollte ich keinen schlechten Angestellten eine Arbeitsplatzgarantie geben. Das Ziel und die Fakten waren sonnenklar: Wenn ein Lehrling bis zum Ende der Ausbildung im gleichen Betrieb bleiben kann, arbeitet er gut. Dann soll er nicht in die Arbeitslosigkeit entlassen werden, nur weil der Stadt die Mittel für den vollen Lohn fehlen. 3. Dass der Horizont niemals erreicht werden kann, ist klar. Und das ist gut so. Hatten Sie schon mal eine Sehnsucht, die Sie erreicht haben? Dann fühlen Sie sich, als wären Sie hinter dem Horizont runtergefallen. Ziele, die knapp nicht erreicht werden, verhindern unproduktive Selbstzufriedenheit. 4. Das bedingungslose Grundeinkommen ist übrigens eine sehr liberale Idee. Und da bin ich dafür, denn Freiheit ist das höchste Gut. Das bedingungslose Grundeinkommen bringt auf dem Boden der Gerechtigkeit allen die gleichen Chancen und die gleichen Freiheiten, das zu tun, was sie am liebsten tun. Ohne dauernd auf den volkswirtschaftlichen Nutzen zu schielen. Leider verstehen Sie, Herr Werder, unter «liberal» und «frei» nur noch Wirtschaftsliberalität und Marktfreiheit.
* Dr. Peter Werder ist bürgerlicher Politiker, Dozent an der Universität Zürich und leitet die Kommunikation eines Konzerns im Gesundheitswesen
* Simon A. Jacoby, 22, Co-Chefredaktor von dieperspektive, Student der Politologie und Publizistik- & Kommunikationswissenschaft und aktiver Politiker, aus Zürich
DAS DUELL Beim Duell stehen sich jeden Monat Peter Werder und ein Mitglied der Redaktion zum aktuellen Thema der Ausgabe gegenüber. Abwechslungsweise schreibt einer zuerst, worauf der andere eine Replik verfasst.
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POLITKOLUMNE 16. Ausgabe, März 2012
Selbstverschuldete Unmündigkeit {Text} * Mario Senn
Mit den geltenden Ladenschlussgesetzen masst sich der Staat mit Hilfe absurder Schutzargumente Entscheide an, welche mit einer Entmündigung der Menschen einhergehen. Wovor die Bürgerinnen und Bürger damit geschützt werden sollen, ist unklar. Zu den sonderbarsten Vorschriften in unserem Land gehören die Ladenöffnungsbeschränkungen. Sie sind Ausdruck eines zutiefst paternalistischen Staatsverständnisses, welches mit einer haarsträubenden Bevormundung einhergeht. Die Gegner einer Lockerung der Ladenöffnungszeiten glänzen dabei mit erstaunlich irrelevanten Argumenten. So wird angeführt, es gäbe dann einen Zwang, dauernd offen zu haben. Und dieser Zwang würde dann kleine Geschäfte gefährden und grosse Ladenketten bevorzugen. Die Behauptung, dass durch den Wegfall eines Verbotes (am Sonntag geöffnet zu haben) ein gegenteiliges Gebot (man muss am Sonntag offen haben) entsteht, ist absurd. Mit der gleichen Logik müssten ja alle, die früher per Verbot am Absinth-Brennen gehindert wurden, nun zu dessen Produktion gezwungen sein. Die zweite Befürchtung, kleinere Geschäfte könnten gefährdet sein, ist unbegründet. Jedenfalls konnte mir noch niemand erklären, weshalb beschränkte Ladenöffnungszeiten für kleine Geschäfte gut sein sollen. Denn der Produktivitätsvorteil grösserer Läden hat mit deren Grösse und sicher nicht mit den Ladenöffnungszeiten zu tun. Kleine Geschäfte schützen sich am besten, indem sie sich dem Wettbewerb stellen und Nischen besetzen (beispielsweise, indem sie lokale Produkte anbieten), und nicht, indem sie ihre Konkurrenz behindern. Dies ginge zwangsläufig auf Kosten der Kunden. Häufig wird auch angeführt, man müsse nicht immer mehr Kommerz haben und der Sonntag sei doch einfach ein Ruhetag. Diese weltanschauliche Ansicht darf man durchaus vertreten. Sie jedoch Anderen mit Hilfe des staatlichen Gewaltmonopols aufzwingen zu wollen, ist meines Erachtens eines aufgeklärten Staatswesens unwürdig. Mit einem laizistischen Staatsverständnis, welchem sich gerade auch sozialdemokratische Kreise verbunden fühlen, hat diese Bevorzugung des Sonntages gegenüber den anderen sechs Wochentagen jedenfalls nichts zu tun. Vor allem wird es der gesellschaftlichen Entwicklung nicht gerecht.
So gehören immer weniger Bewohner unseres Landes einer christlichen Kirche an. An Sonnund Ruhetagen stehen einem bereits unzählige Konsummöglichkeiten zur Verfügung: Jeder kann ins Kino, auswärts essen oder in die Badi gehen. Und gegen diese Möglichkeiten wehren sich die Kirchen auch nicht. Inwiefern sich diese Aktivitäten jedoch vom verbotenen Einkaufen unterscheiden sollen, ist mir schleierhaft. Die ganze Debatte ist zudem von einer kaum zu überbietenden Heuchelei geprägt. Sind es doch gerade auch sozialdemokratische
«Unser Staat leistet sich eine imposante Kontrollbürokratie, um nicht notwendige Ladenschlussgesetze durchzusetzen.» Kreise, die eine Ausdehnung von Nacht-Bussen und Nacht-S-Bahnen fordern. Alle Argumente, die zum Schutz der Angestellten im Verkauf angeführt werden, gelten demnach weder für ÖV-Mitarbeiter noch für das Personal in Bars, Clubs und Restaurants. Ich frage mich allerdings, was den Staat berechtigt, gewisse Konsumbedürfnisse (wie spätabends in den Ausgang zu gehen) gegenüber anderen (wie spätabends einkaufen zu gehen) so krass zu bevorzugen. Wieso soll mir nachts um drei Uhr niemand einen Schinken verkaufen dürfen, ein Bier hingegen schon? Einem modernen, liberalen Staat würde es anstehen, sich zwischen diesen Bedürfnissen neutral zu verhalten. Stattdessen gilt das Motto «links reden, rechts leben» ganz besonders für die sozialdemokratischen Stammlande, die Stadtkreise 4 und 5: Nirgendwo sonst in Zürich ist die Dichte rund um die Uhr geöffneter Läden grösser. Auch wenn es nie zu der von Marx vorhergesagten «Ausbeutung» der Arbeiterschaft gekommen ist, mag ein gewisses Schutzbedürfnis für Arbeitnehmer bestehen. Deshalb ist unbedingt darauf hinzuweisen, dass auch nach Abschaffung jeglicher Ladenschlussgesetze und der entsprechenden Bestimmungen im Arbeitsgesetz die arbeitsrechtlichen Bedingungen unverändert bleiben. Auch ohne Ladenschlussgesetze besteht eine gesetzliche Höchstarbeitszeit
und die Nachtarbeit wird zusätzlich entschädigt. Diese Regelungen genügen vollauf. Die Gewerkschaften behaupten, sie würden mit ihrer ablehnenden Haltung gegenüber längeren Ladenöffnungszeiten Arbeitnehmerinteressen vertreten. Sie verkennen dabei, dass sie höchstens die Interessen jener vertreten, die bereits im Detailhandel arbeiten, nicht aber all jener, die sehr gerne – zu höherem Lohn – während der Nacht oder am Sonntag arbeiten würden. Sie tun dies freiwillig und unser Staat verbietet ihnen das mit Scheinargumenten. Eines davon ist, es gäbe dann solche, die zu diesen Unzeiten arbeiten müssten. Das Bild vom wehrlosen Angestellten, der ausgebeutet wird und nirgendwo sonst einen Job findet, entspricht jedoch einfach nicht der Realität. Jedenfalls hört man dieses Argument bei Kinomitarbeitern, Lokomotivführern und Serviceangestellten nie. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass in der kanadischen Provinz BritischKolumbien die Gewerkschaft der staatlichen (!) «Liquor-Shops» für eine Ausdehnung der Öffnungszeiten einsteht. Sie hat erkannt, dass Arbeitnehmerinteressen nicht geschützt werden, indem man Arbeitsmöglichkeiten vernichtet. Wie so häufig vernichtet bei uns der «Schutz» der Gewerkschaften die Schaffung von mehr Stellen. Nicht zuletzt würden auch Stellen geschaffen, die sich hervorragend für Studenten eignen würden. Ich selber habe während meiner Gymnasialzeit und während des Studiums sehr gerne am Wochenende gearbeitet, allerdings – mangels Alternativen – bei einem Unternehmen des öffentlichen Verkehrs. Unser Staat leistet sich eine imposante Kontrollbürokratie, um nicht notwendige Ladenschlussgesetze durchzusetzen. Dabei wird übersehen, wie sehr die Mündigkeit jener Bürger missachtet wird, die ein Kaufbedürfnis haben und hierfür bereit sind zu zahlen, und auch jener, die man davor «schützt», für einen höheren Lohn zu heute noch ungewohnten Stunden zu arbeiten. Meiner Vorstellung eines aufgeklärten Staates entspricht dies nicht. Stattdessen erinnert die Situation an Kants «selbstverschuldete Unmündigkeit».
* Mario Senn ist Volkswirt und liberaler Politiker in Adliswil ZH, er schreibt monatlich zum Thema Politik Antworte Mario Senn auf leserbriefe@dieperspektive.ch
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HINTERGRUND 16. Ausgabe, März 2012
Wollen wir nicht alle Foucault heissen {Text} * Marco Büsch
Alexis de Tocqueville. Lassen Sie sich das auf der Zunge zergehen: Alexis. De. Tocqueville. Extra mit einem «c», damit es einem nicht zu einfach gemacht wird. Oder Émile Durkheim. Mit einem grossen Aigu, welches in Worddateien zu schreiben die hohe Kunst des Tastaturschreibens beansprucht. Das haben sich Émiles Eltern damals wahrscheinlich nicht so gedacht, aber es verleiht dem Namen noch zusätzliche Würze. Nicht, dass er das nötig hätte, Durkheim selbst ist schon genial genug. Sie haben vielleicht bemerkt, ich habe eine Schwäche für wohlklingende Namen, besonders französische. Ich meine, eigentlich kann sich jeder einen Namen machen, aber es gibt nichts Komfortableres als schon einen guten Namen zu besitzen. So wie zum Beispiel Michel Foucault. Michel ist zwar etwas langweilig, weil konventionell, dafür ist Foucault umso strahlender. Es gibt nichts Besseres als in einer hitzigen Diskussion «Foucault!» zu schreien, das beendet jedes Wortgefecht. Foucault klingt so endgültig, es setzt einfach einen Punkt. Oder Claude Longchamp. Zumindest namenstechnisch ist er seinen Konkurrenten Michael Hermann oder
Regula Stämpfli Äonen voraus. Regula Stämpfli. Das ist für mich irgendwie so etwas wie der Anti-Name. Gut, das ist jetzt vielleicht ein bisschen gemein und auch ein bisschen unfair, weil ich eine leichte Antipathie gegenüber die-
«Auf Französisch zu fluchen ist wie sich mit Seide den Arsch abzuwischen.» ser Person empfinde, aber ich glaube, bünzliger kann man nicht mehr heissen. Nun denn, kommen wir zu meinem eigenen Namen, «Marco Büsch». Der ist ganz okay. Marco ist cool. Nicht zu gewollt speziell, aber auch nie ganz zuoberst auf der Liste mit den Namen des Jahres. Und Büsch ist halt Büsch. Je nachdem, wie man es ausspricht, wirkt der Name richtig gut oder einfach nur plump. Ich für meinen Teil bevorzuge es, wenn man ihn so leicht französisch ausspricht, so leicht gedehnt. «Büüsch». Einfach nicht so vorschlaghammermässig, so wie
bei «gömmer no i d’Büsch». Das ist grauenhaft. Aber ich denke, man könnte jeden Namen böswillig unschön aussprechen. Ausser halt eben Alexis de Tocqueville oder Émile Durkheim. Wie der Merowinger in «Matrix Reloaded» so schön sagt: Auf Französisch zu fluchen ist wie sich mit Seide den Arsch abzuwischen. Man entschuldige die etwas raue Umgangsprache, aber inhaltlich kann man diesen Ausspruch sicherlich auch auf Namen anwenden. Und schlussendlich ist der Name ja auch nicht mehr so wichtig. Zumindest auf Facebook oder in Chats können Sie sich Ihren eigenen Namen geben wie «Ghettoking» oder «**sWeEt_ bAbY**», das sollte Entschädigung genug sein. Ich selbst überlege mir, mich in «Marco S. de Büschville» umzubenennen. Wobei «Marco Büsch» eigentlich doch ganz okay ist, so für den Hausgebrauch.
* Marco Büsch, 21, Politologiestudent aus Zürich, Serienjunkie, Filmfan und Hobbyrapper marcob@cubic.ch
Steuer für Kinderlose {Text} Titi Bonheur
Alle paar Jahre wieder ist in Deutschland die Debatte aktuell, ob kinderlose Leute eine Steuer bezahlen sollen. Quasi als Ausgleich, weil diejenigen, die Kinder haben, ja so unglaublich viel für die Gesellschaft leisten. Diese Diskussion findet auch hier in der Schweiz gelegentlich statt. Aus mehreren Perspektiven ist sie oberflächlich und kurzsichtig gedacht. Bestraft würden durch das System diejenigen, die sich zuerst ihrer Ausbildung und damit auch einer finanziell sicheren Zukunft widmen, bevorzugt hingegen jene, die früh Kinder kriegen. Dass letzteres oftmals – und in speziellem Ausmass für Frauen – einen Schritt in Richtung Armut bedeutet, sollte jedem einleuchten. Eine Frau, die früh Kinder hat, hat eine geringere Ausbildung, ist einem höheren Risiko ausgesetzt, allein erziehend zu werden und hat auch schlechtere Chancen, wieder in das Berufsleben einzusteigen. Die junge Familie driftet ab, lebt von der Sozialhilfe, welche wiederum von der Gemeinschaft getragen wird. So gesehen ist die «Nuggisteuer» eine vom Staat geförderte Abkürzung zum Leben als Sozialfall.
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Dem gegenüber widmen sich kinderlose Leute ihrer Ausbildung, können einige Reserven zurücklegen und überlegen sich gut, wann das Kind in ihre Lebensplanung passt. Selbst wenn jemand sein Leben lang ohne Kinder
«Wer der Gesellschaft einen Dienst erweist, soll finanziell bevorzugt werden.»
bleibt, leistet die Person eventuell einen grossen Beitrag an die Bevölkerung. Sei dies als Wissenschaftler, als Sozialarbeiter oder als Onkel, der die überforderten Eltern seiner Neffen und Nichten unterstützt. Sollen diese Leute bestraft werden? Das Kinderhaben und das Nichtkinderhaben können egoistisch motiviert sein. Leute mit fehlenden Kapazitäten und Fähigkeiten haben im Interesse des nicht geborenen Nachwuchses und der Gesellschaft keine Kinder. Da
können altruistische Gedanken im Vergleich zum egoistisch motivierten Fortpflanzungstrieb durchaus in ein kinderloses Leben weisen. Des Weiteren könnte diese Steuer als Präzedenzfall dienen. Wer der Gesellschaft einen Dienst erweist, soll finanziell bevorzugt werden. Wie wird das denn bei den Leuten handgehabt, die auf ihre Gesundheit achten und dadurch das Gesundheitssystem weniger belasten? Wie wird eine – selber finanzierte – Ausbildung, welche zu einem hohen Einkommen und entsprechend hohen Steuern führt, entschädigt? Wie werden die Leute, welche einen kleinen ökologischen Fussabdruck haben, belohnt? Oder all die Leute, die aus ideologischen Gründen auf einen höheren Lohn verzichten und sich stattdessen für einen Beruf entscheiden, der wertvoll für die Gesellschaft ist? Eine solche Debatte ist daher unsinnig. Wir leben in einer Gesellschaft, in der jeder auf freiwilliger Basis für die Allgemeinheit beiträgt, was seinen Fähigkeiten entspricht. Das fällt zugegebenermassen sehr unterschiedlich aus, wird sich aber durch monetäres Zutun nicht oder aus falschen Motivationsgründen ändern.
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KUNST- & KULTURKOLUMNE 16. Ausgabe, März 2012
Von Kunst, Kultur und Schuhe {Text} * Dr. oec. HSG Olivia Bosshard
Schuhe sind ein essentieller Bestandteil unserer Kultur! Das muss einmal gesagt sein. Und die besten Freunde der Frau sind auch nicht Diamanten (viel zu teuer), sondern Schuhe. Die sind zwar auch nicht billig, aber wenigstens erschwinglich. Schuhe sind aber nicht nur ein Kulturgut, sondern lebensnotwendig – und das nicht nur für Frauen. Ohne Schuhe kann man in mitteleuropäischen Breitengraden nicht überleben, sofern man kein Yeti ist, man kann keinen Beruf ausüben und sich in der Gesellschaft nicht zeigen. In anderen Breitengraden werden Schuhe noch zu weiteren sinnvollen Zwecken eingesetzt, und zwar besonders von Männern. So dient der Schuh beispielsweise hervorragend dazu, einem allfälligen Unbehagen verstärkten Ausdruck zu verleihen. Seit der irakische Journalist Montasser al-Saidi 2008 den früheren USPräsidenten Bush mit seinem Schuh bewarf, hat das Beispiel Schule gemacht. Auch Chinas Regierungschef Wen Jiabao ist bei einer Rede an der Cambridge University mit einem Schuh beworfen worden und in Sevilla hat ein Mann einen Schuh auf Recep Tayyip Erdogan abgefeuert. Der Schuhwurf ist heute eine allgemein
anerkannte Unmutsäusserung, vor allem gegenüber Regierungschefs, der fliegende Schuh ein weltweites Symbol des Protests. Aber Schuhe sprechen auch noch weitere Sprachen: Wer hat noch nicht vom «PFMShoe» gehört und die eindeutigen Worte verstanden, die die Trägerin gar nicht mehr sagen muss...
Abgesehen davon, dass es eine wahre Kunst ist, in manchen Schuhen überhaupt zu gehen, sind Schuhe aber auch eine Quelle der Inspiration - besonders in der Kunstwelt. Kunst kommt auf Schuhen vor, Schuhe werden zu Kunstwerken und Kunstwerke zu Schuhen. Das wohl berühmteste Paar Schuhe der Kunstgeschichte geht auf Vincent van Gogh
zurück. Darüber, ob es sich bei van Goghs Bild «Ein Paar Schuhe» (siehe Abb. oben links) um Männer- oder Frauenschuhe, nämlich die einer Bäuerin, handelt, entbrannte eine langjährige Diskussion, die sich zu einem regelrechten Streit entwickelte, und zwar unter Männern. Den Anfang des Gelehrtenstreits machte Martin Heidegger mit seinem Essay «Der Ursprung des Kunstwerkes". Gegen seine Interpretation, es handle sich um die Schuhe einer Bäuerin, erhob der Kunsthistoriker Meyer Schapiro Protest, nicht mittels Schuhwurf, sondern ebenfalls in schriftlichen Abhandlungen, in welchen er darauf bestand, dass van Gogh die Schuhe nicht nur selbst gemalt, sondern auch selbst getragen habe. Der Französische Philosoph Jacques Derrida nahm in den 70er-Jahren in einem Aufsatz Stellung zu dieser Schuhdebatte und stellte darin die berechtigten Fragen: «Was für Schuhe? Was, Schuhe? Wessen Schuhe sind es? Woraus sind sie? Und sogar, wer sind sie?» * Dr. oec. HSG Olivia Bosshard ist Leiterin der Zürcher Veranstaltungsplattform KION, sie schreibt monatlich zu den Themen Kunst & Kultur Antworte Olivia Bosshard auf leserbriefe@dieperspektive.ch
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HORIZONT 16. Ausgabe, März 2012
Rückwärts zum Horizont {Text} Christian Zürcher
Ist er nah, ist er fern? Schwer zu sagen. Der erste Gedanke ist: fern. Weit, weit weg, am Horizont. Dort, wo die Erde endet, am äussersten Rand des Bekannten, am Anfang des Nichts. Unweigerlich denkt man an Seefahrt, an frühe Schiffskapitäne und deren völlig logische Annahme, dass man diesen Ort irgendwann erreicht, wenn man nur die Kraft und Geduld hat, so lange zu fahren. Mir persönlich kommt immer dieser Asterix-Film in den Sinn, in dem die Römer versuchen, Miraculix über den Horizont zu befördern und ihn damit endgültig zu besiegen. Da sie nicht wissen, wie weit und beschwerlich eine Reise dorthin für sie selbst sein könnte, haben sie praktischerweise ein handliches Katapultgerät dabei, das ihnen die Aufgabe bedeutend erleichtert. Und manchmal ist er aber doch sehr nah? Man stelle sich zum Beispiel eine steile Bergwand vor, die fast gerade vor einem aufragt. Dann muss man ironischerweise senkrecht (und nicht horizontal) hinaufschauen, nur um ihn überhaupt zu erkennen, zumindest wenn man davon ausgeht, dass der Horizont die Grenze zwischen Himmel und Land ist (was ich, und das sei an dieser Stelle erwähnt, hiermit offiziell tue). Selbst der steilste Berg muss nicht besonders hoch sein. Die Distanz zum Horizont ist dann viel kleiner, was nicht heisst, dass sie leichter zu überbrücken ist. Scheinbar näher rückt der Horizont auch, wenn er mit Hoffnung verbunden ist, wenn etwas greifbar ins Sichtfeld kommt, das vorher so nicht da war. Der Silberstreif am Horizont. Licht am Horizont. Die Hoffnung gründet sich natürlich darauf, dass dieses Etwas dann noch näher kommt, wenn es schon aus dem Nichts an den Horizont gelangt ist. Durchaus berechtigt, wenn man bedenkt, wie schnell Licht unterwegs ist.
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In unserer vorwärtsgewandten Gesellschaft herrscht aber ein anderer Konsens vor. Hoffnung und Glück kommen nicht einfach auf einen zu, sondern bewegen sich in die entgegengesetzte Richtung. Und der hat man zu
«Es muss legitim sein, den Horizont nicht erforschen zu wollen, sondern ihn einfach als einen Ort wahrzunehmen.»
folgen, wenn man nicht stehenbleiben und seine Wünsche und Ziele am Horizont entschwinden sehen will. Es geht darum, den Horizont zu erweitern, immer nach dem Unerreichbaren zu streben, im Wissen, dass es unerreichbar bleibt. Auf in die Welt hinaus, entdecken, aufdecken, Neues kennenlernen, Altes zurücklassen und zu sich selbst finden auf der unaufhörlichen Reise. Es ist die offene Art, mit Grenzen umzugehen, sie wann immer möglich auszuweiten, zu ignorieren und zu überschreiten. Es ist die mutige Art, die unerschrockene, die pionierhafte und gefährliche. Der Weg ist das Ziel, und allfällige Ängste vor dem Scheitern werden wütend überrannt, ja geradezu zertrampelt. Man wächst an den Herausforderungen, die man erfolgreich bewältigt. Und wer grösser ist, sieht auch mehr, sieht weiter, treibt den Horizont hinaus. Erfahrungen und Wachstum kaschieren schnell einmal Selbstüberschätzung und mangelnde Rück- und Übersicht. Sie vermitteln eine Ahnung vom Ganzen, vom Grossen, Schönen, Rätselhaften.
Gerne belächelt werden jene Kurzsichtigen, bei denen selbst ein naher Horizont vor den Augen verschwimmt, die nicht erforschen wollen, was sie nicht erforschen können. Jene rückwärtsgewandten Tölpel, die zu ängstlich sind und ihr Glück deshalb im abgesteckten Gebiet suchen, das sie kennen. Bewahrer, Schätzesammler, Geheimniskrämer, beeindruckt von den Berichten der Grenzgänger zwar, aber immer darauf bedacht, die eigenen sicheren vier Wände zu schützen. Für sie ist der Horizont an sich das grosse Mysterium, ein Ort mit einer anderen Macht, die zu beeinflussen ein törichtes Unternehmen wäre. Sie sind nicht bereit dazu, aufzuwühlen, umzugraben und dabei womöglich auf Dinge zu stossen, die eine Neudefinition erfordern würden. Der Horizont, ihr Horizont, ist das grosse Hindernis, die Erinnerung daran, dass alles Grenzen hat und nichts endlich ist. Der Horizont fasziniert und interessiert sie über alle Massen. Und trotzdem gehen sie nicht hin, mag er noch so nah sein. Auch diese Sicht auf die Dinge hat doch etwas Edles an sich. Die Lebenseinstellung, auf der sie gründet, mag eng gefasst sein, weltfremd sogar, und mit Sicherheit stur. Aber mit ihr einher gehen auch eine gewisse Bescheidenheit sowie Respekt vor Gegebenheiten, die vielleicht unangetastet bleiben wollen. Es gibt Grenzen, die nicht gesprengt werden wollen, Grenzen, die einen Sinn haben. Es muss legitim sein, den Horizont nicht erforschen zu wollen, sondern ihn einfach als einen Ort wahrzunehmen, wo es sehr heiss ist, weil die Sonne zweimal am Tag so nah vorbeigleitet. Und damit zufrieden zu sein. Es ist unbestritten, dass es vielen gut tun würde, mal mit einem Katapult über den Horizont geschleudert zu werden. Miraculix hat dabei sogar Amerika entdeckt. Doch so geht es längst nicht allen.
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HORIZONT 16. Ausgabe, M채rz 2012
Horizont
carolebirou.ultra-book.com
* Carole Birou
{Illustration} * Carole Birou
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HORIZONT 16. Ausgabe, März 2012
Der Horizont {Text} * Carl Jauslin
Der Horizont (griechisch οριζοντας = ‚der Gesichtskreis‘, vgl. auch griech. horizein = ‚begrenzen‘) stellt im allgemeinen Sprachgebrauch die Trennlinie zwischen Himmel und Erde dar. Meistens wird dieses Bild als Verkörperung der Sehnsüchte und Wünsche angesehen, das dem Betrachter ein inneres Gefühl der erhöhten Wahrnehmungsintensität, der Freiheit und der inneren Ruhe schenkt. Doch worin liegt die eigentliche Faszination des Horizonts? Oder um genauer zu fragen: Worüber werden wir uns bewusst, wenn wir den Horizont betrachten? Im Betrachten des Horizonts werden wir uns unserer Begrenztheit bewusst. Die Begrenztheit in Bezug auf unsere Erkenntnisgewinnung definiert gewissermassen unsere persönliche Welt des Erfahrens und Erkennens. Konrad Adenauer sagte dazu, indem er den griechischen Fabeldichter Aesop rezitierte «Wir leben alle unter dem gleichen Himmel, aber wir haben nicht alle den gleichen Horizont.» Unser persönlicher Horizont, der durch unser intellektuelles Vermögen Form annimmt, bildet unsere persönliche Welt. Doch egal wie gross dieses intellektuelle Vermögen auch sein mag, werden wir immer in unserem Wissen und Handlungsvermögen begrenzt sein. Aber gerade diese Erkenntnis des «begrenzt-seins» öffnet uns neue Tore. Einer der wohl berühmtesten philosophischen Sätze Sokrates` «Ich
weiss, dass ich nichts weiss» ergibt sich genau aus dieser Erkenntnis; aus diesem Bewusstsein, dass unser Wissen begrenzt und endlich ist. Das «bewusste Nichtwissen», das in diesem Satz manifestiert wird, ist der erste entscheidende Schritt zu neuen Horizonten. Durch das Erkennen, das man nicht weiss, können falsche Vorurteile eliminiert werden und es entsteht Platz für die Erweiterung unseres Gesichtskreises. Im Leben geht es darum, sich den einfachsten Dingen bewusst zu werden. In unserer Gesellschaft besteht die Gefahr der Automatisierung und der Banalisierung von scheinbar einfachen aber doch so komplexen Dinge. Die Festsetzung auf Normalitäten schadet dem bewussten Leben. Denn genau in dem Moment, wo wir etwas als normal hinnehmen, entweicht uns die Komplexität aus der Sache. Wir müssen wieder lernen wie kleine Kinder uns über noch so Alltägliches zu wundern. Dann fangen wir wieder an, bewusst zu leben. Der Horizont bildet die Linie zwischen dem, was wir wissen und dem, was wir nicht wissen. Wie für das Wissen gilt es auch für das Können im handlungstechnischen Sinne, denn jedes Können im Sinne einer Handlung verlangt von uns das jeweilige Wissen darüber. Der Horizont zeigt uns unser Handlungsraum, unsere Begrenztheit und erinnert uns, das Unausweichliche vom Änderbaren zu trennen. Der
Horizont zeigt uns, was in unserer Macht liegt und was nicht. Worüber wir keine Macht haben und dies auch nicht ändern können, sollten wir uns nicht weiter unnötig Gedanken machen, so dass die ganze Energie darin eingesetzt werden kann, die Dinge anzupacken, die im eigenen Machtbereich sind. Somit entsteht aus dem Bewusstsein der eigenen Begrenztheit zugleich ein erhöhtes Bewusstsein der eigenen Freiheit innerhalb seiner eigenen Grenzen. Wir werden durch unsere Begrenztheit zum Handeln aufgefordert. Unter der Annahme, dass unser Können unbegrenzt ist, wäre Freiheit bedeutungslos. Unseren Ziele und unserem Handeln würde es an Bewusstsein fehlen, denn ohne unsere Begrenztheit würde deren Bedeutung vollständig entfallen, weil sie kein Bezugspunkt mehr hätte. Unsere Begrenztheit schenkt uns die wahre Freiheit. So verspüren wir im Anblick des Horizonts, der unser Gesichtskreis und unsere Begrenztheit darstellt, ein Gefühl der Freiheit, die über die Selbstreflexion unserer Begrenztheit entsteht.
* Carl Jauslin, 19, Student der Philosophie und Rechtswissenschaft an der Universität Basel. Wohnhaft in Basel, hat römische Wurzeln und bereist und interessiert sich für die ewige Stadt
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HORIZONT 16. Ausgabe, März 2012
Sunset {Text} * Leon Ludwig
Wie jeden Freitagabend liessen Christoph, Klaus und Ronny die Arbeitswoche gemeinsam in ihrer Lieblingsbar, dem «Sunset», ausklingen. Diesmal waren jedoch alle schlecht gelaunt und es herrschte eine bedrückte Stimmung, irgendwie plagte sie alle der gleiche Gedanke. Alle drei fragten sich, ob ihr Leben ihnen schon alles gezeigt hatte, was es zu zeigen gibt. Sie sehnten sich nach etwas Neuem, nach einer Erweiterung ihres Horizontes. Kurz vor Ende des Abends, als der allgemeine Alkoholspiegel am höchsten war, kam die gemeinsame Sorge zur Sprache und das Trio verfiel in eine heftige Diskussion. Obwohl man sich schnell einig war, dass es viele Möglichkeiten gibt, den Horizont zu erweitern, konnte über die beste Methode kein Konsens gebildet werden. Für Christoph war klar, dass man nur durch das Bereisen der grossen, weiten Welt, durch den Kontakt zu fremden Kulturen, durch das Erkunden neuer Gebiete den Horizont ideal erweitern kann. Er war zwar schon oft auf Reisen gewesen, schwärmte aber noch von unendlich vielen Reisezielen. Klaus dagegen schwor auf die Welt der Bücher. Seien es Sachbücher oder literarische Werke, die Bücher würden einem die Augen schon öffnen.
Mit Lesematerial hatte er schliesslich schon immer gute Erfahrungen gemacht, deshalb auch sein starker Glaube an die Macht des Buches. Ronny konnte angesichts dieser Ansichten nur den Kopf schütteln. Wenn er eines in seiner Schulzeit gelernt hatte, dann das, dass Drogen einem Welten zeigen können, die einem sonst verwehrt bleiben. Dabei hatte er bisher nur mit harmlosem Zeug hantiert und konnte sich kaum vorstellen, wie richtige Drogen einfahren würden. Da jeder von seiner Methode überzeugt war, beschlossen sie, das Ganze in die Praxis umzusetzen. Sie wollten nach einem Jahr vergleichen, wer seinen Horizont am besten hatte erweitern können. Und so verbrachte jeder das folgende Jahr auf seine Weise, entweder mit Reisen, Lesen oder dem Konsum diverser Drogen. Endlich, nach genau einem Jahr, war wieder einmal ein normaler Freitagabend angesagt. Die Freunde waren wieder vereint und tauschten sogleich ihre Erlebnisse aus. Christoph berichtete von Übernachtungen im Iglu, von einem Marsch durch die Wüste und einer Romanze mit einem japanischen Medium. Zwar fühlte er sich viel erfahrener, aber sein
Horizont war unverändert geblieben. Klaus begann zu erzählen, wie er jedes Lexikon studiert hatte, bei den spannendsten Geschichten mitgefiebert und wie er herausgefunden hatte, dass jeder Idiot heutzutage ein Buch schreibt. Zwar fühlte er sich viel erfahrener, aber sein Horizont war unverändert geblieben. Ronny dagegen sagte nicht viel. Er war nicht mehr ganz der Gleiche. Er zählte eine Reihe von Drogen auf und schaffte es einfach nicht, das Erlebte in Worte zu fassen. Auch wenn Ronny sein Fazit nicht aussprechen konnte, wussten die andern Bescheid, dass dieses bei ihm nicht anders ausfallen würde. Nachdem die Kellnerin Ronnys apathisches Verhalten bemerkt hatte, erzählten die Freunde ihr von dem ernüchternden Unterfangen. Diese überlegte kurz und sagte: «Wie wärs, wenn jeder mal die Methode des Anderen ausprobiert, anstatt nur das zu machen, was ihm im Grunde bereits vertraut ist?» Christoph, Klaus und Ronny, naja, Ronny eher weniger, schauten sich lange verdutzt an. Aber auf diese Idee hatte dann doch keiner Lust. * Leon Ludwig, 21, Taugenichts und Publizistik-Student im 4. Semester
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HORIZONT 16. Ausgabe, März 2012
Die mögllichst billige Horizonterweiterung {Text} David Thamm
Die zunehmend nur in die Breite wachsende, überdimensionierte Auswahl von Nahrung, Verbrauchsartikeln und Luxusgütern überfordert unsere Wahrnehmung zusehends. Sie stimmt mich pessimistisch in der Hinsicht, dass Kinder weniger mit und in der echten Natur experimentieren und Eltern nur mehr Geld für die äusserliche und virtuelle Scheinwelt ihrer Zöglinge einsetzen. Das reduziert das Wissen über die Herkunft der Güter, vor allem wenn die Gewissheit des eigentlich natürlichen Ursprungs unauffindbar bleibt. Die individuelle Kaufkraft ist seit einiger Zeit der wichtigste Indikator für die Wohlfahrt einer Gesellschaft. Es werden, wie ich es höre und empfinde, weniger emotionale Investitionen für zwischenmenschliche Beziehungen und den kontinuierlichen, nachhaltigen Aufbau einer sozial gefestigten Umgebung getätigt. Als mir eine desillusioniert wirkende Mutter vor Kurzem erzählte, dass sie ihren zwölfjährigen Sohn darauf aufmerksam machen musste, dass er seine Kollegen auch ausserhalb des Chatrooms treffen und sogar gemeinsam etwas mit ihnen unternehmen könnte, verschlug es mir ob ihrer Ernsthaftigkeit ziemlich die Sprache. Sie meinte das wirklich todernst. Ich hoffe aber, die Lehrer legen ihren Schülern die biodiversitären Kreisläufe eines Waldes nicht nur anhand von
Wikipedia und irgendwelchen Bildern von Google Earth nahe. Weil die Kinder und Jugendlichen die Horizonterweiterung durch Erforschen und Entdecken während des Reisens mit dem eigenen Leibe im eigenen Land nicht als Erlebnis sehen. Multikonzerne überbieten die Nachfrage des realen Brotsortiments derart, dass der Dorfbäcker nicht mehr benötigt wird. Die Nachfrage an Brot der gesamten Schweizer Bevölkerung wird heute bereits von haltbar gemachten Ruf-Backprodukten mehr als gesättigt. In meinem Dorf verschwanden innert fünf Jahren ein Dorfmetzg, eine Bäckerei, ein Milchladen, ein Herrenmodegeschäft und nun schliessen auch zwei Bars, welche vor den massiven Mieterhöhungen und Rauchergesetz-Massnahmen kapitulieren, da der Getränkekonsum zu wenig einbringt. Dafür sind an dieser Stelle jetzt Büros, obskure Heilungspraxen oder Kosmetikstudios eingezogen. Ausserdem überwuchern hässliche, graue Betonklötze – ob an Autobahnausfahrten oder bei Dorfeingängen –, das einst idyllisch angepasste, ruhige Leben. Deutsche Aldis und Lidls, ein neues Migros-Center, ein Spar und ein neuer Coop sind dafür in der billigsten Art sesshaft geworden. Wenn ich nunmehr einen Elektroartikel von der Migros will, muss ich unwohl oder übel – gefühlt – zur Autobahn
«Der Gott des Konsums erhielt längst überall seine Tempel. Diese Pilgerstätten sind multifunktionell und möglichst unoriginell, weil das nur von der Kauftätigkeit abhält.»
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ICH FÜHLE MICH NACKT OHNE MEINE BRILLE!
hinaufwandern! Der «Fairkauf» nahe am Wesen geht verloren, so wie die Kassiererin im Supermarkt oder im Discounter verschwindet. Das «PayPal by myself»-System zum Kostensparen hält Einzug und das Zentralisieren an peripheren Orten wird an den kleinen Dörfern vorbei zersiedelt. Die vermindert frei einzuplanende Zeit für Einkäufe muss möglichst effizient genutzt werden und provoziert das billigste Verfahren, um zu seinen Sachen zu gelangen. Der Gott des Konsums erhielt längst überall seine Tempel. Diese Pilgerstätten sind multifunktionell und möglichst unoriginell, weil das nur von der Kauftätigkeit abhält. Dafür nehmen subversive Psychotricks von marktführenden Monopolanbietern zu. Unter künstlich rotem Licht sieht das Fleisch an der Theke immer frisch aus, sobald es aber wieder Tageslicht erblickt, fällt es in seine normale, industrielle, gräuliche Farbgebung zurück. Egal, es war superbillig und das ist Geiz so! Seit der Entscheidungskraft durch das Internet zusätzlich jegliche Vorstellung einer Identität oder Authentizität eines Verkaufsstandortes abhanden kam, wird die Dienstleistung schon gar nicht mehr als zwingend vorausgesetzt. Man schmeisst und wirft lieber weg und konsumiert anderswo Neues. Und bald einmal verlassen wir mit Raketen die vergiftete Erde und werden Einkaufstouris, die zur Shoppinggalaxie auf Uranus fliegend pilgern. Ende
Brille:
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16. Ausgabe, M채rz 2012
Ruf Lanz
HORIZONT
Da isst jeder gern vegetarisch. thema der n채chsten ausgabe: pop(p)artig | beitr채ge bis 15. m채rz an artikel@dieperspektive.ch
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HORIZONT 16. Ausgabe, März 2012
Horizonterweiterung {Text} * Esther Dürr
Wahl macht Schicksal – Transzendieren, integrieren, partizipieren «Weg von Schmerzen, Gedanken, Worten hin zu extremen Erfahrungen, dem Erhabenen, den Drogen; dann zurück zu Worten, Gedanken, Schmerzen über den Umweg erhabener Dichtung. Auf die Art nährte die Flucht genau den Zwang, dem sie entkommen wollte.» So schreibt es Tim Parks in seinem Buch «Die Kunst stillzusitzen». Ein Beispiel: «Das war bei einem jungen Mann so, der am Abend seine Freundin nach Hause begleitete. Beim Abschied verspürte er meistens den Wunsch, sie zu küssen. Er konnte aber nicht aktiv werden, sondern im Gegenteil, er erwartete, dass seine Freundin ihm nicht nur den Wunsch von den Augen ablas, sondern dass sie die Initiative ergriff und ihn küsste. Wenn das nicht geschah, wurde er böse und jetzt kippte ganz plötzlich die Passivität in Aktivität um, und er hatte aggressive Impulse. Er musste sich rasch von seiner Freundin verabschieden, sonst hätte er sie geschlagen.» Dieses
Beispiel stammt von Friedjung Jüttner aus dem Buch «Wähle, was Du bist!» Leopold Szondi erfasst alle Grundbedürfnisse, Strebungen, die auf der sozial positiven und negativen Seite stehen, und zeigt die innerseelische Dynamik dazu auf. Die polaren Strebungen der guten und bösen Seiten, des Kains und des Abels, wirken meist mit einer grossen Dynamik in uns und beeinflussen unser Alltagsleben. Kennen wir nicht die Opfer- und Täterrolle, grobe und zarte Gefühle, die Habund Seinsmacht, den Wunsch nach Geltung und Anerkennung? Wir wünschen uns Nähe, lehnen sie aber gleichzeitig wieder ab. Wir suchen die Veränderung, kleben aber immer noch am Alten. Wir wiederholen immer wieder die gleichen Verhaltensmuster, stellen fest, dass es auch in der Familie und in der Ahnengeschichte gleiches Verhalten gibt. In der Schicksalsanalyse sprechen wir daher vom Zwangsschicksal. Jean-Jacques Rousseau formuliert es wie folgt: «Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will.»
Eine Horizonterweiterung, ein Transzendieren nach Szondi, kann dann geschehen, wenn wir Grenzen überschreiten, uns Neuem zuwenden, sei es, indem wir uns mit einem neuen Thema, einem neuen Fachgebiet befassen, oder auf der psychologischen Ebene mit uns und unseren Schattenseiten. Mit der Integration unserer guten und bösen Seiten ist die Vereinigung und Verbindung gemeint. Die Integration strebt nach Ganzheit unserer Persönlichkeit. Und die Partizipation ermöglicht, dass wir uns in unserer Ganzheit annehmen. Es eröffnen sich dadurch neue Perspektiven: Wir erkennen das Zwangsschicksal, wenden uns aber der Wahlfreiheit zu, den Wegen zu einem freien und menschlichen Leben, ganz im Sinne von «Wähle, was du bist!». Und Leopold Szondi sagt dazu: «Freiheitsschicksal heisst die Wahl der Menschwerdung».
* Esther Dürr, www.szondi.ch, info@szondi.ch
Unendliche Scheisse {Text} * Leon Ludwig
Verfluchte Scheisse! Wie konnte das nur passieren. Man würde meinen, diese Dinger seien sicher. Aber nein, «no risk, no fun». Wie konnte ich diesen Spruch nur je gut finden? Jetzt bin ich des verdammten Todes. Und heiss ist es, verdammt heiss. Was soll diese Hitze, du bescheuerter Gott? Was macht es für einen Sinn, solch einen Ort zu «schöpfen»? Um Idioten wie mich zu strafen, sagst du? Ja, du hast recht... Verfluchte Scheisse! Vielleicht ist das hier die Hölle. Ganz ruhig, Karlchen. Stell dir vor, du bist im Fernsehen. Du kriegst das schon hin. Irgendwo hin. Wenn ich nur wüsste, wo ich anfangen soll. Mit all diesem bescheuerten Sand hier. Sand und sonst nichts. Nichts, keine Orientierung, nur der Himmel und die Erde. Und elender, glühender, kratzender Sand. In meinen Socken! Bitte nein. Ich will leben. Scheisse, es tut mir leid, was muss ich tun? Ich muss mich bewegen. Aber wohin? Weiss nicht mal mehr, woher ich gekommen bin. Typisch. Idiot! Warum ich? Egal. Wenn’s hier nur Himmel und Erde gibt, dann geh ich eben dorthin. Dorthin, wo die beiden sich grüssen und sich bestimmt über mich armen Teufel lustig machen. Ich zieh’s einfach durch. Irgendwann muss es ja vorbei sein. Oder?
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Du bist ja immer noch da! Du beschissener Sand! Und warum zur Hölle bist du so tief? Wie soll ich dich loswerden, wenn du mir jeden Schritt dreimal so schwer machst? Du kannst mich mal! Jaja, lach nur. Lach mich zu Tode! Ha! Hahahahaha... Wenigstens weiss ich jetzt, was ich will. Zu dieser waagrechten Linie da. Bald bin ich da. Irgendwie hab ich das Gefühl, ich komm ihr sogar näher... Was? Darf ich jetzt nicht mal mehr wirres Zeug reden? Hallo, ich sterbe hier bald. Blöder Gott, blöde Sünden, die es eigentlich nicht gibt. Soll ich jetzt etwa bereuen, dass ich nicht stets ein Engel war? Mich dafür entschuldigen, dass ich ein richtiges Arschloch bin? Dass ich damals... Fuck you, Gerhard! Wasser. Wer hätte das gedacht. Ich brauche es auch. Das ist hier tatsächlich wie im Fernsehen. Aber es hat auch jetzt nur eines hier: elenden, verfickten Sand. Wie lang willst du mich noch verfolgen? Vielleicht find ich ja Treibsand. Wehe, ich finde hier Treibsand, ich werde den einfach trinken. Mir egal, was die Vernunft einwendet. Was sagst du? Lieber gleich reinspringen? Gut kombiniert, Watson. Aber eines musst du mir mal erklären: Wieso komme ich der elenden Linie immer näher?
Ich dreh durch. Die Linie wird immer grösser. Sie kommt mir entgegen! Ich komme ihr entgegen! Das ist besser als Sand zu fressen. Endlich passiert mal etwas. Sei es auch nur der totale Kollaps meiner Gehirnfunktionen. Ich krieg dich, du verfluchte Linie! Das gibt’s nicht. Es klappt. Komm schon... Oh mein Gott. Oh, mein, Gott! Das glaubt mir keiner. Unmöglich. Ganz ruhig, ich streck meine Hand aus und... ich kann sie berühren! Den Himmel, die Horizontlinie, den Sand, wie eine Wand. Eine verfluchte bemalte Glaswand, oder was!? Hier? Willst du mich verarschen? Scheisse... Das war’s. Mein Körper gehorcht mir nicht mehr. Zu heiss, zu trocken. Nichts geht. Ich werde sterben. Ich sitze hier auf dem glühenden Boden, gelehnt an eine unmögliche Wand. Das Ende der elenden Welt genau hinter mir. Das Ende meines sinnlosen Lebens genauso dicht vor mir. Egal. Entdeckung dieser Wand hin oder her. Sinnlos ist das alles sowieso. Wen kümmert’s? Scheisssand... Egal.
* Leon Ludwig, 21, Taugenichts und Publizistik-Student im 4. Semester
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STADTKOLUMNE 16. Ausgabe, März 2012
Sprich mal bildlich {Text & Illustration} * Apachenkönig Huntin’Beer
Malen mit Zahlen kann doch jeder. Darum versuchen wir’s mal mit Buchstaben. Wir brutzeln die Buchstäbchen. Oder doch lieber die Buchstäbchensuppe schlürfen? Eigentlich Wurst. Äh, ich meine Wasser. Wurstwasser. Schnaps? Oder war’s doch was anderes? Dummheit frisst, Intelligenz säuft, das Genie macht beides. Ein wirklich guter Vorsatz. Wer möchte nicht ein dicker Alkoholiker sein? Ich jedenfalls tue mein Bestes. Zum Teufel mit der Diät! Ja genau, weil der Teufel steckt im Detail. Oder war’s doch die Taille? Eine Diät reduziert doch die Taille, oder nicht? Jedoch im Jojo-Effekt, da liegt der Hund definitiv begraben. Hunde, die begraben sind, beissen nicht. Habe ich etwas übersehen? Ja, vermutlich ständig. Aber von immer nur Abwarten und Tee trinken krieg ich Blähungen. Krieg, Krieg, Krieg! Man kriegt den Hals einfach nicht voll.
Es bringt mich manchmal schier zum Platzen. Darum: Krieg den Synapsen! Weil die besten Vergrösserungsgläser für die Freuden dieser Welt sind die, aus denen man trinkt. Aber ein guter Schwimmer sollte man schon sein. Oder anders formuliert: schwimmfest. Weil im Becher ersaufen mehr Leute als im Bach. Recht auf Dummheit Darum! Spuck dem Spiegel ins Gesicht. Er liegt vor dir. Zerbrochen. Das heisst nicht unbedingt sieben Jahre Pech. Aber erst musst du noch durch die Scherben robben. Tut weh, klar. Aber nachher hast du’s hinter dir. Auch klar, auf fremdem Arsch ist gut durch Feuer reiten, aber aus Schaden wird man ja bekanntlich klug. Oder wie ein kluger Mann aus Missouri mal gesagt hat: «Das Recht auf Dummheit gehört zur Garantie der freien Entfaltung der
Persönlichkeit.» Aye! Schlüpf aus deinem Kokon, du wunderschöner Schmetterling... Egal. Für Malen mit Buchstaben braucht es mehrere Komponenten. Diese wären erstens ein grosser Malkasten, zweitens ein Bild (siehe unten) und drittens Buchstaben (musst du selber einsetzen). Zum Beispiel: A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K, L, M, N, O, P, Q, R, S, T, U, V, W, X, Y, Z. Anmerkung des Autors: Dieser Text ist kein Freischein zum Saufen, sondern zum Malen. Wer säuft oder nicht, soll nicht den Verfasser dieses Textes dafür verantwortlich machen, sondern sich selber an der Nase nehmen oder sich von jemand anderem auf die Schulter klopfen lassen. Danke und Prost. * Apachenkönig Huntin’Beer ist aus Zürich, deshalb schreibt er auch die Stadtkolumne. Antworte dem König auf leserbriefe@dieperspektive.ch
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