THEMENREISE – PEOPLE PROCESS PLACES
WEITER FÜHREND BLEIBEN WIE GELINGT WANDEL TROTZ ERFOLG?
2018 SEITE 26
INTERVIEW MIT FRANK STÜHRENBERG Phoenix Contact Die Zukunft steckt im Kerngeschäft
SEITE 58
INTERVIEW MIT FELIX FINKBEINER Plant-for-the-Planet Mit mehr Mut zum klimaneutralen Industriestandort
ASPEKTE DER ZUKUNFTSGESTALTUNG IM KONTEXT DER ANALOGEN UND N DIGITALEN TRANSFORMATIO
„WER AUFHÖRT, BESSER ZU WERDEN, HAT AUFGEHÖRT, GUT ZU SEIN.“ *
LESEN SIE DAZU ÜBER VERSCHIEDENEN ANSÄTZE DER THEMENREISE-TEILNEHMER.
*Philip Rosenthal (1916-2001), deutscher Industrieller und Politiker
VORWORT Wer sich nicht bewegt, den bestraft das Leben
2018 erlebte die deutsche Fußballnation ein historisches WM-Debakel: das Ausscheiden der Nationalelf aus einer WM-Vorrunde in nur 13 Tagen. Etwas überheblich hatte man sich mit einer falschen Strategie und einer fatalen Veränderungsresistenz in den Wettbewerb begeben und ist daraufhin gescheitert. Weltmeister sein ist das eine, es bleiben das andere – oder: Wer sich nicht bewegt, den bestraft das Leben. Diese mögliche Analogie zur Wirtschaft und zu den deutschen Weltmarktführern hatte man bereits auf der Themenreise 2017 diskutiert, ebenso die Leitfrage „Was muss sich ändern, damit der Erfolg bleibt?“. Wer selbst darauf noch mit „Nichts“ geantwortet hat, sollte spätestens seit der WM 2018 seine Strategie überdenken. Aus guten Gründen wurde daher in diesem Jahr der Titel WEITER FÜHREND BLEIBEN – Wie gelingt Wandel trotz Erfolg? gewählt. Im interdisziplinären Teilnehmerkreis diskutierte man an unterschiedlichen Veranstaltungsorten über Aspekte der Veränderungs-Exzellenz (Dialog 1 – Schwäbisch Hall), über die zwingend notwendige Energie- und Mobilitätsrevolution (Dialog 2 – Hannover Messe), über die Implementierung von zukunftsfähigen Start-up-Kulturen in bestehende Unternehmen (Dialog 3 – Nürnberg) sowie über mehrwertgenerierende Produktions-, Logistik- und Dienstleistungskonzepte in Mittelstand und Industrie (Dialog 4 – Essen). Wenn man dann außer der Reihe noch mit führenden Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik ins Gespräch kommt, dann erfährt man erneut, dass Tradition und Zukunft sich nicht ausschließen, sondern einander bedingen und dass der Mut zur Innovation und zum unternehmerischen Handeln sowie die fortlaufende Wandlungsfähigkeit zur DNA der deutschen Wirtschaft gehören. Das beruhigt und spornt gleichzeitig an, sich weiter AUF ZUM AUSSERGEWÖHNLICHEN zu machen, worüber wir im kommenden Jahr diskutieren werden – wie übrigens auch über die Frage: Was beeinflusst zukünftig den Unternehmenserfolg? Bevor wir uns wieder auf die Reise begeben, möchte ich allen Teilnehmern unserer Themenreise für ihr aktives Mitwirken und die innovativen Beiträge danken. Gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen von Drees & Sommer freue ich mich auf die Fortsetzung des Gedankenaustauschs mit Ihnen und Ihren Unternehmen im Jahr 2019. Der Themenkoffer ist wieder gepackt, Abfahrt ist am 5. Februar 2019! Bis dahin verbleibe ich mit bestem Gruß
Ihr Götz Schönfeld Leiter Transformations- und Netzwerk-Management (BTM) bei Drees & Sommer
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INHALT THEMENDIALOGE
Hannover
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Essen
THEMENDIALOG SCHWÄBISCH HALL Sich wandeln – oder einfach weiterwandeln?
20 THEMENDIALOG HANNOVER Nachhaltige Lösungen für Industrie und Mobilität
Nürnberg
34
Schwäbisch Hall
THEMENDIALOG NÜRNBERG Wandel beginnt im Kopf
48 THEMENDIALOG ESSEN Vernetzt denken und handeln
INTERVIEWS
10 ZUM THEMA
INTERVIEW ADWM Dr. Walter Döring
FACTS & FIGURES
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NACHGEFRAGT Die Positionen der Drees & Sommer-Experten
INTERVIEW PHOENIX CONTACT Frank Stührenberg
PERSPEKTIVEN Standort Deutschland // 3-D-Druck
64 FAZIT DER THEMENREISE 2018 Führend bleiben
65 PREVIEW 2019 Auf zum Aussergewöhnlichen!
38 INTERVIEW WILO Martin Linge-Boom
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46 HERAUSFORDERUNGEN Energiewende // Zukunftssichere Unternehmenskultur
INTERVIEW PLANT-FOR-THE-PLANET Felix Finkbeiner PEOPLE | PROCESS | PLACES 5
SICH WANDELN – ODER EINFACH WEITERWANDELN? Drees & Sommer-Themendialog 2018 in Schwäbisch Hall
Im Vorfeld des Weltmarktführergipfels trafen sich Ende Januar 22 Topentscheider auf Einladung von Drees & Sommer zu einem intensiven „Mittagsdialog“. In vier Vorträgen und angeregter Diskussion stand in Schwäbisch Hall die Frage nach dem Handlungsdruck angesichts des momentan nahezu allgegenwärtigen Erfolgs im Mittelpunkt.
„WEITER FÜHREND BLEIBEN – WIE GELINGT WANDEL TROTZ ERFOLG?“
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Der Sprung von einer Export- hin zu einer internationalen Unternehmensmentalität muss geschafft werden. Den deutschen Mittelstand sehe ich hier auf einem guten Weg.“ Peter Prischl, Global Head of Corporate Real Estate, Drees & Sommer International
In seiner Begrüßung ließ Dierk Mutschler, Vorstand bei Drees & Sommer, keine Zweifel aufkommen: Viele erfolgreiche Player müssten gerade in Boomphasen Veränderungsenergie ins Unternehmen bekommen – nicht wegen, sondern trotz ihres Erfolgs. Gefragt seien hier in erster Linie die Führungskräfte. Diese müssten den Wandel vorleben und ChangeProzesse proaktiv umsetzen. In Zeiten einer immer stärker durchgreifenden Digitalisierung sei es gleichzeitig wichtig, die Mitarbeiter als Menschen im Blick zu behalten und auf den Weg mitzunehmen. Anhand zahlreicher Beispiele aus der Drees & Sommer-Historie zeigte Dierk Mutschler, wie so etwas aussehen kann – etwa bei der Umsetzung neuer Bürokonzepte und Arbeitswelten oder bei der Einführung von Lean-Site-
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Management auf der Baustelle. Sein Resümee lautete denn auch: Vor dem Hintergrund disruptiver Methoden und neuer Spielregeln gelingt ein „AheadSein“ nur durch vernetztes Denken und Handeln nah am Kunden und an den eigenen Mitarbeitern!
„ADDITIVE FERTIGUNG UND DIGITALISIERUNG: INNOVATION FÜR EINE ENERGIEWELT IM WANDEL“ Alf Henryk Wulf, Vorsitzender des Vorstandes GE Power AG, zeigte in seinem Impulsvortrag, wie ein Unternehmen agiert, dessen Kernbranchen sich in einem fundamentalen Umbruch befinden. „Wir müssen unsere CO2Emissionen schnell dramatisch reduzieren“, stellte der Energieexperte eingangs fest. Das sei aber nur möglich, wenn man alle Emittenten miteinbeziehe. Momentan befinde sich der Energiemarkt noch in einer Übergangsphase – weg von zentra-
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Wenn in einem Unternehmen ein konkretes Zielbild von der Zukunft existiert, werden sich automatisch Leute finden, die dieses Bild unterstützen.“ Renate Phoenix Mahr, Geschäftsführerin, manageMENTOR
listisch organisierten Strukturen hin zu überwiegend dezentral und CO2neutral agierenden Akteuren. Vor diesem Hintergrund stelle sich die GE Power AG der Herausforderung eines tiefgreifenden Wandels. Hier setze man einerseits voll auf die Digitalisierung, etwa indem das Unternehmen bereits jetzt über Plattformen die Performance von bestimmten Assets verbessert oder über diesen Kanal neue Kundendienste anbietet. Eine zweite Stoßrichtung ist nach Alf Henryk Wulf der bereits vollzogene Einstieg in die additive Fertigung, wo man inzwischen etwa Turbinen in 3-D-Druckern aus nur einem Gussteil fertigt und auf diese Weise erhebliche Einspar- und Effizienzeffekte erziele.
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„LEADERSHIP & CULTURE TRANSFORMATION“
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Wir brauchen den Visionär mit Empathie, der spürt, was in seinem Unternehmen los ist.“ Dierk Mutschler, Vorstand, Drees & Sommer SE
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„Unsere Filter müssen intelligent werden“, gab Thomas Fischer, Aufsichtsratsvorsitzender Mann + Hummel GmbH, eingangs seines Impulsvortrags selbstkritisch zu – nur um sogleich zu zeigen, dass sich der Weltmarktführer in der Filtration hier längst auf einem guten Weg befindet. Auf diesem sei es ganz entscheidend, junge Menschen auch emotional zu gewinnen. Dies gelänge unter anderem dadurch, dass man interne Feedback-Strukturen stärke und aus dem Unternehmen heraus neue Formen der Innovationserzeugung – etwa Design Thinking oder Scrum – aufbaue. Mit Beispielen aus der operativen Praxis zeigte Thomas Fischer über-
dies, dass es – insbesondere in Deutschland – auch einer Kultur des Scheiterns (und Wiederaufstehens) sowie einer Ausweitung des Start-upGedankens bedarf. Nur so lasse sich die Produktivität erhöhen und die Erreichbarkeit verbessern.
„VERÄNDERUNGSEXZELLENZ – PFLICHT ODER KÜR?“ Den Abschluss bildete an diesem Tag der Impulsvortrag von Dr. Dieter Lederer. Dass Veränderungsexzellenz längst keine Kür, sondern ein Pflichtthema für Unternehmen darstellt – darüber war man sich in der Runde schnell einig. Dr. Dieter Lederer zeigte aber anschaulich, dass es zwar Fakten sind, die ein Umdenken anstoßen
können. Ein Anders-Handeln sei aber in den meisten Fällen durch Emotionen motiviert. Insofern müssten sich Führungskräfte die Frage stellen, wie sie für die richtige emotionale Basis sorgen, um bei ihren Mitarbeitern den „Schub“ für bevorstehende Veränderungen zu erzeugen.
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Disruption passiert momentan überall.“ Detlev Kühne, Direktor Mittelstandsvertrieb, Cisco Systems
Darüber hinaus zeichnet sich Veränderungsexzellenz für Dr. Dieter Lederer durch weitere Faktoren aus: Engagement und Einigkeit innerhalb der Führungsebene, klare Zielbilder für Veränderungsprogramme sowie ein aktives Zugehen auf Mitarbeiter, die verunsichert sind oder Widerstände aufbauen. „Freude, Vertrauen, Leidenschaft“, so das Fazit, seien die besten Treiber für erfolgreiche Change-Prozesse.
TEILNEHMER > Sascha Fink, BNP Paribas
> Detlev Kühne, Cisco Systems
> Gerold Scholze, Schüle Druckguss
> Thomas Fischer, Mann + Hummel
> Dr. Dieter Lederer, Der Veränderer
> Götz Schönfeld, Drees & Sommer
> Stephan Frigge, Phoenix Contact
> Rudolf Mietzner, bwcon
> Holger Seidel, Drees & Sommer
> J uergen Hansjosten, euromicron
> Michael Müller, Deutsche Telekom
> Mathias Stach, ASCon Systems
>D r. Jürgen Jähnert, bwcon
> Dierk Mutschler, Drees & Sommer
> Anke Stadelmeyer, Drees & Sommer
> Tina Kammer, InteriorPark
> Renate Phoenix Mahr, manageMENTOR
> Bernhard Tillmanns, Phoenix Contact
>H erbert Kemmerich, Jokey Plastik Wipperfürth
> Peter Prischl, Drees & Sommer
> Bettina Wörner, Wörner
>D r. Raphael Kromer, Vecara
> Andreas Schele, Drees & Sommer
> Alf Henryk Wulf, GE Power Deutschland
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KULTURELLE UNTERSCHIEDE IN DEN UNTERNEHMEN FÖRDERN INTERVIEW MIT DR. WALTER DÖRING, GRÜNDER DER AKADEMIE DEUTSCHER WELTMARKTFÜHRER UND EHEMALIGER WIRTSCHAFTSMINISTER VON BADEN-WÜRTTEMBERG
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„DER MITTELSTAND WIRD WICHTIG BLEIBEN“
AKADEMIE DEUTSCHER WELTMARKTFÜHRER (ADWM GMBH)
> Aufgabe und Ziel ist die Förderung von Wissenschaft und Forschung. > Organisator des jährlich stattfindenden Gipfeltreffens der Weltmarktführer, vormals Deutscher Kongress der Weltmarktführer, eines Kongresses für weltweit tätige, führende deutsche Unternehmen mit Experten aus Wissenschaft, Forschung, Wirtschaft, Unternehmen und Politik. > Eigene Forschungsreihen und die Vergabe von Forschungsarbeiten sowie die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen zu wirtschaftlich relevanten Themen, um damit Impulse an die gesamte deutsche Wirtschaft zu geben, getreu dem Motto: „Von den Besten lernen.“ > Im Bereich Forschung kooperiert die ADWM GmbH mit der Universität St. Gallen.
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DREES & SOMMER (DS): Die Akademie Deutscher Weltmarktführer (ADWM) arbeitet mit der Uni St. Gallen zusammen. Laut einer Studie belegt Deutschland mit 520 identifizierten Weltmarktführern Platz eins weltweit. Allein 170 davon befinden sich in Baden-Württemberg. Befinden wir uns in einer Erfolgsfalle? DR. WALTER DÖRING (WD): „Einmal Weltmarktführer, immer Weltmarktführer“, das gilt natürlich überhaupt nicht. An die Spitze zu kommen ist wahnsinnig schwierig, doch an der Spitze zu bleiben ist mindestens genauso schwierig. Daher glaube ich nicht, dass sich die Unternehmen in einer Erfolgsfalle befinden. Sie wissen, dass sie diese Position jeden Tag verteidigen müssen. Hinzu kommt die gewaltige globale Konkurrenz. Vor zehn bis fünfzehn Jahren war das allerdings anders. Damals dachten viele: „So jetzt bin ich Weltmarktführer und damit unantastbar.“ All diejenigen sind jetzt längst aus dem Geschäft, siehe die Schicksale von Kodak oder Nokia. Heute wird die Position insbesondere durch Innovation und Internationalisierung verteidigt. Hier sehe ich sehr große Herausforderungen für die deutschen Unternehmen. Was macht Amerika? Was kommt von China? Was machen die Inder? Was passiert in Israel? Sprich: Wo passiert etwas auf der Welt, das für mein Unternehmen relevant ist?
DS: Zahlreiche Unternehmen forschen und entwickeln beispielsweise in Singapur. Der Standort Europa ist immer noch wichtig und muss gehalten werden, aber die Musik spielt mehr und mehr in Asien. Verlagern wir teilweise auch aus dem Mittelstand heraus Innovationsentwicklungen ins Ausland und laufen so Gefahr, unseren Knowhow-Vorsprung zu verlieren? WD: Meiner Meinung nach ist das nicht generalisierbar. Das größte Forschungszentrum der Firma Stihl befindet sich in Waiblingen. Ein anderes Beispiel ist Kärcher, die in Baden-Württemberg stark investieren. Es verhält sich also von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich. Manchmal ergibt es sicher Sinn, in Zielländern zu entwickeln, weil es dort natürlich andere Anforderungen gibt. DS: Im internationalen Innovationsranking stehen andere Länder auf den ersten Plätzen (Schweiz, Singapur, Finnland). Wie gelingt uns eine Steigerung der Innovationskraft? WD: Diese Rankings sind immer mit Vorsicht zu genießen. In den meisten mir bekannten, wie dem Global Innovation Index 2017, ist Deutschland nach verschiedensten Berechnungen unter den Top 9 der innovativsten Länder der Welt. Ein spannender Aspekt bei den von Ihnen genannten Ländern ist meiner Meinung nach der Unter-
schied in der Quelle der Forschungsund Entwicklungsausgaben, die natürlich nicht die einzige Ursache für Innovationskraft sind.
„Gerade bei den mittelständischen Weltmarktführern gibt es keine großen Innovationssprünge, sondern es wird kontinuierlich optimiert und innoviert.“ Das Land Baden-Württemberg gibt nach Aussagen eines amtierenden Landesministers weniger als ein Prozent für Forschung und Entwicklung aus. Der restliche Anteil der 4,9 Prozent der Forschungs- und Entwicklungsintensität in Baden-Württemberg fällt auf die Investitionen der Unternehmen. Wir müssen uns also anschauen, wie viel von dem Geld von der öffentlichen Hand stammt und wie viel aus den Unternehmen kommt. Bei uns sind es eindeutig die Firmen, die ein Mehrfaches für Forschung und Entwicklung ausgeben als das Land selbst. Die Schweiz als Land gibt enorm viel aus, gerade weil das Land stark pharmageprägt ist. Dauerforschung ist hier essenziell. Wenn Sie heute ein Mittel zur Bekämpfung von Krebs auf den Markt bringen, haben Sie ein paar Milliarden Euro Forschungsgeld darin stecken. Singapur als Stadtstaat ist sicherlich
nicht vergleichbar mit einer föderalistischen Industrienation wie Deutschland. Finnland ist wiederum überraschend, es könnte jedoch an der sehr späten Industrialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg und den staatlichen Ausgaben in Hochschulforschung im Hochtechnologiebereich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion liegen. DS: Noch nie waren Innovation und Wandlungsfähigkeit für das Überleben von Unternehmen in ihren Branchen so wichtig wie heute. Wie innovativ und wandlungsfähig ist der deutsche Mittelstand? WD: Gerade bei den mittelständischen Weltmarktführern gibt es keine großen Innovationssprünge, sondern es wird kontinuierlich optimiert und innoviert. Auf schwäbisch: „Jeden Tag ein bissle besser.“ Das ist die eine Seite, die ich als sehr gut und wichtig empfinde, da sie erfolgsträchtig ist. Ganz essenziell für einen positiven Wandel ist die Unternehmensführung, sprich, wie jüngere Generationen mit den älteren zusammenarbeiten. Hier habe ich einen sehr interessanten Begriff gelernt: Reverse Mentoring. Junge Generationen zeigen älteren Generationen, wie sie mit neuen Technologien umgehen, und bringen den älteren Kollegen neue Kulturen näher. Hierfür ist es natürlich essenziell, dass Ältere sich von den Jüngeren auch leiten und in der Führung unterstützen lassen.
TOP
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Deutschland ist nach verschiedensten Berechnungen unter den Top 9 der innovativsten Länder der Welt.
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Gespräch in lockerer Atmosphäre: Thomas Jaißle (links) und Götz Schönfeld (rechts), beide Drees & Sommer, trafen sich mit Dr. Walter Döring in Schwäbisch Hall.
Und ich bin mir sicher, dass es nur noch sehr wenige und bald gar keine Unternehmen mehr gibt, die nicht auf diese Art arbeiten. Dann gibt es natürlich große Unternehmen, die einen Kern beibehalten, aber trotzdem eine Bereitschaft verkörpern, sich ständig zu wandeln. Bei Würth wird immer das großartige Handelsgeschäft das Zentrum bleiben. Die stilisierte Schraube wird sicherlich niemals verschwinden, aber mittlerweile wurde hinzugekauft. Ein Beispiel der zugekauften Unternehmen ist Paravan auf der Schwäbischen Alb. Die bauen Autos komplett um für Schwerstbehinderte. Autonomes Fahren spielt dort schon seit zig Jahren eine große Rolle. Dieses Hineinschauen in neue Märkte und Themen sowie ein Sich wandeln sind ganz entscheidend. Es muss vorsichtig agiert werden bei Zukäufen, dabei sind Topunternehmen und Topleute gefragt, um die richtigen Entscheidungen für Märkte und Themen zu treffen. DS: Stimmt es, dass die Besten der Besten, die Topleute der Universitäten, von erfolgreichen internationalen Unternehmen abgeworben werden, was hier den allgemeinen Fachkräftemangel ansteigen lässt?
„Natürlich gibt es, vor allem in der Provinz, den Fachkräftemangel, was allerdings nicht heißt, dass wir dort keine Topleute bekommen.“ WD: Ich glaube nicht, dass es sich hierbei um einen generellen Trend handelt. Natürlich gibt es, vor allem in der Provinz, den Fachkräftemangel, was allerdings nicht heißt, dass wir dort keine Topleute bekommen. Oft ist es auch so, dass mittelständische Maschinenbauer Spitzenmitarbeiter von Bosch bekommen, da diese dort andere Gestaltungsmöglichkeiten se-
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hen. Es ist immer wieder zu beobachten, dass Menschen am Anfang ihrer Karriere die großen Namen bevorzugen. Wenn sie sich dann auf einer bestimmten Hierarchieebene befinden, die sie nicht zufriedenstellt, gehen viele zum Mittelstand über wegen der größeren Gestaltungsmöglichkeiten. Ein Aspekt, der noch nicht erforscht ist und mit dem ich mich derzeit beschäftige, sind firmeneigene Akademien, die das Problem des Fachkräftemangels immens eindämmen. Viele Firmen setzen auf Outsourcing bei diesem Thema, denn selbstverständlich handelt es sich bei firmeneigenen Akademien um eine kostspielige Geschichte. Allerdings könnte man mit spezifischen Weiterbildungen der Fluktuation entgegenwirken. Auf rein internen Plattformen wird man nicht abgeworben. Hierzu gibt es aber kaum brauchbare Informationen. DS: Wir beraten viele führende Mittelständler. Sie sagen, deutsche Weltmarktführer sind zu 70 Prozent Mittelstand, in der Provinz angesiedelt und Familienunternehmen. Denken Sie, dieser Dreiklang ist zukunftstauglich? WD: Ich glaube, dass die mittelständische Struktur in Deutschland immer von Bedeutung sein wird. Das bringt uns viele Vorteile, wie beispielsweise nicht in Quartalen denken zu müssen. Man ist nicht an ein Datum gebunden, sondern verbessert sich kontinuierlich Tag für Tag. Das mit der Provinz hat historische Gründe. Vor 200 Jahren bestand Deutschland aus zig Einzelstaaten. Daher waren wir es auch schon immer gewohnt, über Grenzen Handel zu betreiben. Die Grenze zwischen Württemberg und Baden war eine Grenze wie zwischen Österreich und Italien. Außerdem haben die Leute hier früher Arbeitsplätze bekommen. Die Verwurzelung ist also historisch bedingt. Das Thema Familienbetrieb ist für mich ganz zentral. Ich bin fest davon über-
zeugt, dass die Unternehmensstruktur ganz entscheidend mitverantwortlich ist für die vielen Weltmarktführer, die wir hier haben. Woher kommt es denn, dass wir im Vergleich zu den USA oder China eine Vielzahl an Weltmarktführern haben? Weil die Familienbetriebe langfristig agieren! DS: Sind andere Unternehmen zu selbstverliebt, produkthörig und zu wenig fokussiert auf Geschäftsmodelle der Zukunft? WD: Auch hier muss man wieder unterscheiden. Ich glaube, in der Automobilindustrie haben wir uns sicherlich darauf ausgeruht, dass wir die besten Produkte der Welt haben. Ich erinnere mich noch, als in den 90er-Jahren die japanischen Autos auf den Markt kamen. Damals hat jeder gemeint, wer ein japanisches Auto fährt, hat kein Geld, sich einen vernünftigen Wagen zu kaufen. Längst sind die japanischen Autobauer ernst zu nehmende Konkurrenten. Wir bauen heute immer noch sehr gute Autos, allerdings sind wir nicht mehr alleine. Das trifft jedoch nicht auf den Maschinenbau zu. Hier haben wir weltweit immer noch einen großen Vorsprung. Warum? Weil die Hersteller sehr nah am Kunden sind und zusammen mit diesem das Produkt weiterentwickeln. DS: Man gewinnt den Eindruck, dass sich insbesondere die produktgetriebenen Weltmarktführer in Deutschland gerade in der Defensive befinden. WD: Unsere Automobilindustrie sehe ich derzeit in der Defensive. Wir haben die E-Mobilität und das autonome Fahren ein wenig verschlafen. Sicherlich nicht in der Defensive ist beispielsweise der Pharma-Maschinenbau. Hier sehe ich uns so weit, dass wir durchaus bestehen können. Das Besondere am Standort Deutschland ist, dass wir herausragende Kooperationen mit akademischen Institutionen haben. Sie werden hierzulande kaum einen
Weltmarktführer finden, der nicht in irgendeiner Weise mit einer Forschungseinrichtung, Universität oder Fachhochschule kooperiert.
„Das Besondere am Standort Deutschland ist, dass wir herausragende Kooperationen mit akademischen Institutionen haben.“ DS: Ein Fokus unserer Themenreise liegt auf der Frage, wie große Corporates mit Start-ups zusammenkommen und kooperieren können. WD: Hier spielt Offenheit eine große Rolle. Neben der generationsübergreifenden Offenheit gewinnt gerade die kulturelle Offenheit immer mehr an Bedeutung. Sie können heutzutage kein Weltmarktführer mehr sein, wenn Sie in der Führung nur Schwaben sitzen haben. Daher müssen wir kulturelle Unterschiede in unseren Niederlassungen nicht nur zulassen, sondern auch offensiv fördern. In Deutschland haben wir da einen gewissen Nachholbedarf. Die Internationalisierung setzt sich rasant fort, insbesondere weil unser Markt schlicht und ergreifend begrenzt ist. Neue Märkte und Geschäftsmodelle zu identifizieren und zu schauen, ob man auf diesen Märkten bestehen kann, ist die große Herausforderung für die deutsche Wirtschaft.
„Daher müssen wir kulturelle Unterschiede in unseren Niederlassungen nicht nur zulassen, sondern auch offensiv fördern.“ DS: Die Amerikaner haben ihr Silicon Valley. Wie empfinden Sie das Startup-Bild in den hiesigen Medien? WD: Das Silicon Valley ist in aller Munde, wir sehen in Deutschland in den Medien allerdings immer nur die 20, 30 Unternehmen, die durchgekommen
Unsere Automobilindustrie befindet sich derzeit in der Defensive.
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sind. Dass währenddessen aber selbstverständlich Tausende gescheitert und auf der Strecke geblieben sind, nimmt man nicht wahr. Hier ist daher eine Relativierung angebracht: Als seien alle Innovationstreiber im Silicon Valley und bei uns absolut niemand! An der Stelle der deutschen Unternehmen würde ich ohnehin viel mehr nach Israel, insbesondere auf Tel Aviv (Stichwort Silicon Wadi), schauen. In Israel spielt die Musik, was Start-ups angeht! DS: Wie erklären Sie sich die Zentralisierung durch Start-up-Hubs in den Großstädten? Diese Dare-to-try-Mentalität wird dort durchaus gelebt. In den ländlichen Regionen gibt es jedoch kaum eine Start-up-Szene. WD: Das liegt sicherlich nicht an der Mentalität in dem Sinne, sondern eher an den Chancen. In wirtschaftsstarken ländlichen Regionen verlässt man sich auf die bekannten Häuser der Gegend. Der Druck ist hier nicht so da. Wenn ich als Beispiele die Landkreise Schwäbisch Hall oder Hohenlohe heranziehe, sprechen wir im Grunde genommen von einer Vollbeschäftigung. Hier steht es einfach nicht an erster Stelle, sich selbstständig zu machen. Hier sind die Unternehmer gefordert, für Unternehmertum zu werben.
In den ländlichen Regionen gibt es kaum eine Startup-Szene.
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DS: Sie sprechen von den klassischen Branchen. Doch wo sind unsere künftigen Weltmarktführer im Bereich der digitalen Dienstleistungen oder der Plattformtechnologie? WD: Gefühlt gab es seit Gründung von SAP im Jahr 1972 kein Software-Unternehmen mehr, das halbwegs Weltgeltung erreicht hat. Es ist eine Frage des Durchhaltevermögens und der Möglichkeit, scheitern zu können. Wir haben bei uns viel zu wenig eine Kultur des Scheiterns etabliert. Das gehört aber dazu. Wenn jemand scheitert, hat er wenigstens etwas probiert.
Hierzulande herrscht aber eine Angst des Versagens und davor, keine zweite Chance zu erhalten. Wenn man in Deutschland eine Insolvenz hinlegt, ist man auf Jahre gebrandmarkt. Das halte ich für katastrophal und verheerend. Das liegt aber an uns allen und ist ein gesellschaftliches Problem. Wie gehen wir mit den Leuten um? DS: Vielen Ländern sagt man in dieser Hinsicht eine ganz andere Kultur nach. WD: „Give them a second chance“ ist dort das Normalste auf der Welt. Diese Philosophie fehlt bei uns, was ich in hohem Maß als unfair empfinde. DS: Ist die Suche des Mittelstandes nach digitalen Geschäftsmodellen etwas, das Sie bei Ihren Gesprächen mit den entsprechenden Unternehmen beobachten?
„Was ich immer wieder wahrnehme, ist, dass die Rahmenbedingungen fehlen. Die Bundesregierung tut seit Jahren nichts dafür.“ WD: Was ich immer wieder wahrnehme, ist, dass die Rahmenbedingungen fehlen. Die Bundesregierung tut seit Jahren nichts dafür. Auch nicht im neuen Koalitionsvertrag. Das macht mir die größte Sorge. Das fängt bei der Infrastruktur an. Wenn Sie von Schwäbisch Hall nach Stuttgart fahren und dabei telefonieren, wird die Verbindung mindestens fünfmal unterbrochen. Das Gleiche gilt fürs Internet. Dies zu verbessern ist Aufgabe der Regierung. Es darf nicht sein, dass Unternehmen Glasfaserkabel legen müssen, was manche durchaus schon tun. Natürlich nicht der Mittelstand, der kann sich das nicht leisten. Die Großen jedoch zahlen hier sehr viel Geld, weil sie nicht warten können,
bis die Politik aufwacht. Bis dahin ist der Wettbewerb weg. Daher müssen wir jetzt handeln. Wir haben die erste Halbzeit verschlafen, die zweite jedoch können wir noch gewinnen. Ein anderes Thema, das wir gut gemeint, aber schlecht verpackt haben, ist „Industrie 4.0“. Wo gibt es denn diesen Begriff noch, außer in Deutschland? In Amerika redet niemand von „Industry 4.0“. Hier gibt es also schon bezüglich der Begrifflichkeit Schwierigkeiten. Doch nicht nur hier müssen die Leute aufgeklärt werden. Viele Arbeitnehmer verbinden den Begriff Digitalisierung mit dem Verlust von Arbeitsplätzen und der Angst davor, dass es einen selbst treffen könnte. Hier muss den Leuten klargemacht werden, dass durch Innovationen in verschiedenen Branchen unter anderem neue Arbeitsplätze entstehen. In diesem Zusam-
menhang würde ich gerne noch einmal auf die firmeneigenen Akademien zurückkommen, die ich bereits angesprochen habe. Hier wird den Mitarbeitern die Chance gegeben, sich weiterzubilden, um bei Transformationsprozessen nicht auf der Strecke zu bleiben. Wenn in den Medien davon berichtet wird, dass in zehn Jahren 30 Prozent der Arbeitsplätze verschwunden sein werden, empfinde ich das als absoluten Quatsch. Dass die Digitalisierung beispielsweise neue Arbeitsplätze schafft, wird nicht erwähnt. Dass ein Herr Appel von der Deutschen Post der Meinung ist, er würde künftig 100.000 neue Stellen brauchen, wird ebenso wenig thematisiert. Es wird also nicht weniger Arbeitsplätze geben, sondern andere. Die alles entscheidende Frage ist, ob die Leute bereit sein werden, sich zu verändern.
DR. WALTER DÖRING
Dr. Walter Döring studierte Geschichte und Anglistik in Tübingen und promovierte dort zum Dr. phil. Von 1982 bis 1988 unterrichtete er an verschiedenen Gymnasien. Von 1985 bis 1988 war Dr. Walter Döring FDP-Landesvorsitzender und wurde 1995 erneut in dieses Amt gewählt. Von 1985 bis 1988 und von 1995 bis 2004 war er Mitglied des FDP-Bundesvorstands, von 1988 bis 2006 Mitglied des Landtags von Baden-Württemberg, darunter von 1988 bis 1996 als Vorsitzender der FDP/DVP-Landtagsfraktion. Von 1996 bis 2004 hatte er die Ämter des Wirtschaftsministers und des Stellvertretenden Ministerpräsidenten Baden-Württembergs inne. Seit seinem Ausscheiden aus dem Ministeramt ist Dr. Walter Döring als Aufsichts- und Beirat sowie Advisor für Unternehmen tätig. Im Jahr 2012 gründete er die ADWM GmbH, die Akademie Deutscher Weltmarktführer.
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FACTS & FIGURES Standort Deutschland
INNOVATIONSWELTMEISTER – DEUTSCHLAND GANZ OBEN AUF DEM TREPPCHEN“ „
DIE GLORREICHEN
DEUTSCHLAND
Score 87,5
USA
SCHWEIZ
Score 86,5
niedrige Schulden niedrige Inflation
! ! ! r e Ab
Fachkenntnisse Schulbildung Weiterbildung
DEUTSCHLAND wirtschaftliche Stabilität
Patentanmeldungen hoher Qualitätsanspruch
ZWISCHEN ALPEN UND NORDSEE HINKT MAN DIGITAL HINTERHER – HIERZULANDE STOCKT DIE DIGITALISIERUNG 73 %
DÄNEMARK 42 % 40 %
EU 28 ➜ Quelle: Statista
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wissenschaftliche Veröffentlichungen
➜ 2018 Global Competitiveness Index 4.0 Quelle: Global Competitiveness Report 2018 des World Economic Forum
DEUTSCHLAND
–
GUTE GRÜNDE FÜR DEN DEUTSCHEN SPITZENPLATZ
Score 82,1
➜ 2018 Global Competitiveness Index 4.0 Quelle: Global Competitiveness Report 2018 des World Economic Forum
7
42 %
Nur der deutschen Firmen haben schnelles Internet
Additive Manufacturing/3-D-Druck
DIE ZEICHEN STEHEN AUF WACHSTUM –
Das entspricht einem Umsatzwachstum von
700 %
2020 (geschätzt)
innerhalb von nur 7 Jahren!
DIE 3-D-DRUCKINDUSTRIE BOOMT 21,0
Mrd. $
2013
12,8
Mrd. $
DAS BESSERE IST DER FEIND DES GUTEN:
3,1
Mrd. $
2013
2018
2020
➜ Quelle: Printer Care
DER 3-D-DRUCK HAT VIELE VORTEILE ANPASSUNG UND PERSONALISIERUNG REDUZIERTE LAGERBESTÄNDE REDUZIERTE KAPITALKOSTEN REDUZIERTE TRANSPORTKOSTEN
AUF DEN 3-D-DRUCK BAUEN – DIE ERSTEN HÄUSER KOMMEN BEREITS AUS DEM DRUCKER PEKING / CHINA
AUSTIN / USA • Bauzeit: 48 Stunden • Kosten: 8.500 € • Fläche: 32 m2 • einstöckiges Haus
• Bauzeit: 6 Tage • Kosten: 140.000 € • Fläche: 1100 m2 • zweistöckige Villa
DUBAI / VAE • Bauzeit: 19 Tage • Kosten: 120.000 € • Fläche: 250 m2 • einstöckiges Haus
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NACHHALTIGE LÖSUNGEN FÜR INDUSTRIE UND MOBILITÄT Drees & Sommer-Themendialog 2018 in Hannover
In der Wirtschaft vollzieht sich momentan ein einschneidender Wandel, der speziell durch die Digitalisierung angetrieben wird. Extrem dynamisch ent-
wickeln sich hierdurch die Sektoren Energie und Verkehr. Auf der Hannover Messe 2018 lud Drees & Sommer im Rahmen des „Forum Tech Transfer – Gateway to Innovations“ Experten aus beiden Bereichen zur Diskussion.
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PANEL 1 ENERGIE UND MOBILITÄT Wie kann die Versorgungssicherheit in einem dezentralen Energiemarkt mit zunehmendem erneuerbaren Energieanteil gewährleistet werden, während weltweit die Nachfrage nach Mobilität weiter zunimmt? Und welchen Beitrag dazu muss die bauliche Infrastruktur leisten? – In das erste, mit diesen Leitfragen überschriebene Panel „Energie und Mobilität“ führten Götz Schönfeld und Anke Stadelmeyer von Drees & Sommer ein. Thomas Bareiß, Mitglied des Deutschen Bundestags und seit April 2018 Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie, unterstrich in seinem Grußwort, dass man vor einer doppelten Revolution stehe: derjenigen im Energie- und derjenigen im Mobilitätssektor. Der Hunger nach freier Bewegung und immer mehr Energie sei ungebrochen und werde weiter steigen. „Für die Unternehmen ist es wichtig, hier mit intelligenten Geschäftsmodellen anzudocken, um auch in Zukunft Wachstum generieren zu können“, so Thomas Bareiß. Mit einem Impulsvortrag steckten Dr. Markus Treiber und Ralf Wagner von Drees & Sommer zunächst das Themenfeld ab. Dr. Markus Treiber, Spezialist für energetisch optimale Gebäudelösungen, stellte die neue Rastanlage Fürholzen an der A 9 vor. Diese steht beispielhaft für die Verknüpfung von Energie- und Mobilitätswende, da sie erstmals über alle Tanksysteme der Zukunft verfügt. Neben den üblichen flüssigen und gasförmigen Tankmedien zählen dazu Medien für Antriebe wie Erdgas, Wasserstoff und eine moderne Schnellladeinfrastruktur für Elektroautos. Im Rahmen eines Power-to-Gas-Systems wird dort überschüssige Energie in Wasserstoff umgewandelt und vor Ort für Fahrzeuge
bereitgestellt. Ralf Wagner, E-MobilityExperte, zeigte in Verbindung damit, wie komplex die Fragestellungen rund um die Ladeinfrastruktur von Elektroautos noch immer sind. Eine professionelle Beratung in entsprechenden Projekten sei daher nach wie vor unabdingbar. In ihrem Vortrag hob Dr.-Ing. Ümit Can von der Linde AG hervor, dass das chemische Element Wasserstoff zwar seit über 100 Jahren industriell genutzt wird. Dennoch sei der Ansatz, die gesamte Wasserstoff-Wertschöpfungskette für Energie- und Mobilitätsfragen effektiv zu nutzen, heute eine Innovation. „Das Beispiel der Raststätte Fürholzen West zeigt, wie diese Kette von der Wasserstoff-Produktion mittels erneuerbarer Energien über die Verdichtung und Speicherung als Gas bzw. tiefgekühlte Flüssigkeit, den Transport bis zum Einsatz als Kraftstoff in Fahrzeugen reicht“, erläuterte Dr.Ing. Ümit Can. Johannes Brodführer von eliso, einem Unternehmen, das sich schwerpunktmäßig mit der Planung und Realisierung von Elektro-Ladeinfrastrukturen befasst, stellte klar, dass man in nächster Zeit eine parallele Entwicklung von Brennstoffzellen- und batterieelektrischen Fahrzeugen erleben werde. Tendenz werde insgesamt sein, dass man öfter geringere Mengen Strom tanken werde – also anders als heute einmal eine volle Tankladung Benzin. Bei der Ladehardware laufe es auf mehrere parallele Systeme hinaus, die sowohl off- wie auch online operierten. Johannes Brodführer fügte hinzu: „Auch für Bezahlvorgänge existieren momentan viele unterschiedliche Lösungen nebeneinander – die Zukunft könnte unter anderem so aussehen, dass das Auto hier direkt mit der Ladestation kommuniziert und ein ‚externer‘ Bezahlvorgang, etwa per Smartphone, dadurch überflüssig wird.“
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Auch für Bezahlvorgänge existieren momentan viele unterschiedliche Lösungen nebeneinander – die Zukunft könnte unter anderem so aussehen, dass das Auto hier direkt mit der Ladestation kommuniziert und ein „externer“ Bezahlvorgang, etwa per Smartphone, dadurch überflüssig wird.“ Johannes Brodführer, Geschäftsführer, eliso
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Paneldiskussion zu zukünftigen Mobilitäts- und Energiekonzepten
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Wir brauchen den Austausch und das gemeinschaftliche Arbeiten über die Schnittstellen der Technologien hinweg, um vorangehen zu können.“ Stephan Volgmann, Vice President, Phoenix Contact Energy
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Die anschließende Diskussion eröffnete Stephan Volgmann von Phoenix Contact Energy. Er betonte, dass die Herausforderungen einer im Aufbau befindlichen Energie- und Mobilitätsinfrastruktur nur zusammen gelöst werden könnten: „Wir brauchen den Austausch und das gemeinschaftliche Arbeiten über die Schnittstellen der Technologien hinweg, um vorangehen zu können.“ Ralf Wagner sah Sonne und Windkraft als Hauptquellen für die Versorgung mit Energie. „Außerdem kommen zunehmend Speichertechnologien auf den Markt. Auch das Elektrofahrzeug selbst kann die Funktion eines Speichers übernehmen und beispielsweise tagsüber Erzeugungsspitzen durch Fotovoltaik abfedern“, ergänzte der Elektromobilitätsexperte von Drees & Sommer.
Dr.-Ing. Ümit Can unterstrich diese Position mit Nachdruck: „Die Speicherthematik begleitet uns immer stärker. Fahrzeuge werden hier eine wichtige Rolle einnehmen.“ Johannes Brodführer bezeichnete Elektrofahrzeuge als regelrechte „fahrende Speicher, eine Entwicklung, die mit der zunehmend lokalen Erzeugung von Energie einhergeht und die in die richtige Richtung weist“. Stephan Volgmann strich heraus, dass es auch darum gehen müsse, das Zusammenwirken der verschiedenen Energieträger zu berücksichtigen. Auch die Zuhörer wurden in die Diskussion mit eingebunden. Hier zeigte sich beispielsweise, dass man auf dem chinesischen Markt Elektromobilität vielfach als Übergangslösung sieht – hin zu einer Mobilität, die auf der Wasserstoff-Brennstoffzelle basiert.
PANEL 2 MOBILITY REVOLUTION Dass bei der Mobilitätswende noch viele Herausforderungen gemeistert werden müssen, darüber waren sich die Teilnehmer des zweiten Panels schnell einig. Claus Bürkle, Mobilitäts- und Infrastrukturexperte, sowie Dr.-Ing. Burkhard Seizer, Spezialist für vernetzte Mobilitätsinfrastrukturen (beide Drees & Sommer), betonten in ihren einleitenden Vorträgen, dass sich das Thema einer Mobilitätsrevolution im Spannungsfeld zwischen Gesundheits- und Umweltfragen, technologischen Innovationen und einer zunehmenden Limitierung der Verkehrsinfrastruktur bewege. „Treiber ist vor allem die voranschreitende Urbanisierung, die einen wachsenden Warenund Personenverkehr nach sich zieht“, stellte Dr.-Ing. Burkhard Seizer fest. Er fügte hinzu: „Die Luftverschmutzung rückt zurzeit besonders in den Fokus auch des Gesetzgebers, sodass hier schnelle Entwicklungen zu erwarten sind.“ Er wies außerdem darauf hin, dass Arbeitgeber künftig verstärkt die Erreichbarkeit ihrer Arbeitsstätten in Betracht ziehen müssten – vor allem beim Wettbewerb um die besten Köpfe. Peter Lindlahr von hySOLUTIONS zeigte am Beispiel der Metropolregion Hamburg, wie Kommunen und Startups zusammenarbeiten, um eine zukunftsfähige Mobilität auf die Beine zu stellen. „Im Moment sehen wir bei den Stadtverwaltungen einen zunehmenden Handlungsdruck, der einen Rückenwind für die Entwicklung alternativer Antriebe darstellt. Insofern ist es jetzt an der Zeit, die Herausforderungen entschlossen anzugehen“, stellte er heraus. Er zeigte jedoch auch, dass das Ziel weitgehend emissionsfreier Innenstädte momentan noch durch das Henne-Ei-Problem ausgebremst wird: Die fehlende Infrastruktur mache
die Anschaffung von entsprechenden Autos unattraktiv. Und ohne Autos investiere niemand in die notwendige Ladeinfrastruktur. Allerdings habe es bereits in Form erster Verkehrssperrungen in europäischen und deutschen Städten einen Weckruf gegeben, auch verlange die EU ein rasches Handeln. Doch insgesamt geht es für Peter Lindlahr um einen Dreiklang aus Digitalisierung, Elektrifizierung und Autonomisierung des Verkehrs. Ein Problem sei, dass sich parallel zu den ersten Erfolgen immer mehr Pkw auf den deutschen Straßen bewegten. Wünschenswert seien deshalb beispielsweise Sharing-Konzepte. Multimobilität und Multimodalität seien weitere Ansatzpunkte für Veränderungen und – für Hamburg spezifisch – ein dichtes Netz an Schnellladestationen für Elektrofahrzeuge. „Städte müssen sich entscheiden, ob sie bei der urbanen Mobilität gestalten oder verwalten wollen“, so das Fazit von Peter Lindlar. Dr. Frank Pawlitschek von Ubitricity zeigte sich überzeugt, dass der Aufbau einer Elektro-Ladeinfrastruktur eine internationale Aufgabe sei und dass man hier an der Schnittstelle von neuer Mobilität und Energiewende stehe. Elektromobilität leiste insofern einen wichtigen Beitrag zum EE-Ausbau und zur CO2-freien Energieversorgung.
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Städte müssen sich entscheiden, ob sie bei der urbanen Mobilität gestalten oder verwalten wollen.“
Peter Lindlahr, Geschäftsführer, hySOLUTIONS
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Ich bin mir sicher: In zehn Jahren werden kaum noch Autos in den Verkehr geschickt, die auf dem Verbrennungsmotor basieren.“ Dr. Frank Pawlitschek, Geschäftsführer, Ubitricity
Die Elektromobilität der Zukunft erlaube es, die Wertschöpfung im Automobilsektor anders als heute zu organisieren. Zu bedenken sei, dass Technologie sehr schnell durch neue Arten von Technologie ersetzt werden könne – man denke an das Beispiel der Nokia-Telefonsparte: „Ich bin mir sicher: In zehn Jahren werden kaum noch Autos in den Verkehr geschickt, die auf dem Verbrennungsmotor basieren.“
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Wir brauchen dringend funktionierende Quartiere mit einer guten Nahversorgung und einem sinnvollen ÖPNV-Angebot.“
Claus Bürkle, Partner, Drees & Sommer
„Elektroautos sind große fahrende Batterien, die auch dann einen Mehrwert bieten, wenn sie stehen: dann nämlich, wenn man sie als Speicher kommerzialisiert.“ Ubitricity habe sich die Frage gestellt, mit welcher Technologie dies am besten geschehen könne. Es müssten die Autos, nicht in erster Linie die Ladesäulen intelligent werden. Ubitricity entwickelt hierfür intelligente Stromladegeräte, die an das Autoladekabel gekoppelt sind (und die das Auto mitführt). Steckdosen könne man dann auch in Straßenlaternen integrieren. „In London hat unser Unternehmen schon zahlreiche Laternen aufgerüstet“, so Dr. Frank Pawlitschek. In der anschließenden Diskussionsrunde gab es zahlreiche Wortmeldungen. Karl Oliver Stöckl von Phoenix Contact E-Mobility kam auf das Thema Effizienz bei den notwendigen Ladevorgängen zu sprechen – gerade im Hinblick auf die Nutzer, die schnell laden müssten wie Taxifahrer oder Logistik-
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unternehmen. Einen interessanten Einblick in die künftige Mobilität in den Niederlanden gab Prof. Jos Lichtenberg, als er schilderte, wie dort modulare und flexibel nutzbare Parkhäuser auch als Tank- und Ladestellen für die Elektro- und Wasserstoffmobilität genutzt werden könnten. Als eine weitere Frage wurde erörtert, wie Ladeinfrastrukturen eine Klammer zwischen den Mobilitätsbedürfnissen in der Stadt und auf dem Land bilden könnten. Rudolf von Bennigsen von der Beratungsgesellschaft Context stellte die Frage, wie man die vielen Autos aus der Stadt bekommen wolle, und verwies einmal mehr auf Ansätze des Carsharings. In dieselbe Richtung wies auch das Statement von Claus Bürkle: „Wir brauchen dringend funktionierende Quartiere mit einer guten Nahversorgung und einem sinnvollen ÖPNV-Angebot.“ Jeder ist selbst gefragt, auch das eigene Mobilitätsverhalten zu überdenken.
REDNER UND PANELTEILNEHMER > Thomas Bareiß, Parlamentarischer Staatssekretär, MdB Bundesministerium für Wirtschaft und Energie > Johannes Brodführer, eliso > Claus Bürkle, Drees & Sommer > Dr. Ing. Ümit Can, Linde > Peter Lindlahr, hySOLUTIONS > Dr. Frank Pawlitschek, Ubitricity > Götz Schönfeld, Drees & Sommer > Dr. Burkhard Seizer, Drees & Sommer > Anke Stadelmeyer, Drees & Sommer > Karl Oliver Stöckl, Phoenix Contact > Dr. Markus Treiber, Drees & Sommer > Stephan Voglmann, Phoenix Contact > Ralf Wagner, Drees & Sommer
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VIEL ZUKUNFT STECKT IM KERNGESCHÄFT INTERVIEW MIT FRANK STÜHRENBERG, VORSITZENDER DER GESCHÄFTSFÜHRUNG VON PHOENIX CONTACT
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PHOENIX CONTACT GMBH & CO KG
„VIEL ZUKUNFT STECKT IM KERNGESCHÄFT“
> Die Phoenix Contact GmbH & Co KG sitzt im nordrhein-westfälischen Blomberg und ist weltweiter Marktführer für Komponenten, Systeme und Lösungen im Bereich der Elektrotechnik, Elektronik und Automation. > Das Unternehmen beschäftigt heute mehr als 16.500 Mitarbeiter. > 2017 erwirtschafteten diese einen Umsatz von 2,2 Mrd. Euro.
DREES & SOMMER (DS): Was müssen erfolgreiche Unternehmen insbesondere im deutschen Mittelstand heute beachten, um auch in Zukunft führend zu bleiben? Wie lautet die Erfolgsformel von Phoenix Contact? FRANK STÜHRENBERG (FS): Die erste Antwort, die wir uns auf diese Frage gegeben haben, ist die, den bestehenden Erfolg nicht zu gefährden. Es ist immer leicht, im Neuen etwas Verheißungsvolles zu suchen. Und es ist ja im Augenblick manifest, dass sehr viele Dinge passieren, dass sehr viele Transformationen parallel im Gange sind. Aber wir haben ein erfolgreiches Geschäftsmodell. Unser Unternehmen wächst seit Jahren kontinuierlich. Der Umsatz hat sich in den vergangenen 15 Jahren verdreifacht. Die erste Aufgabenstellung lautete daher für uns, dass wir eine balancierte Vorgehensweise finden müssen.
„Wir sind ein produktorientiertes Unternehmen, und wir schämen uns nicht dafür.“ Wenn wir jetzt zum Beispiel plötzlich sagen würden, dass wir unser Heil nur noch in Software-Lösungen suchen, würde das unserer DNA widersprechen. Wir sind ein produktorientiertes Unternehmen, und wir schämen uns
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nicht dafür. Im Gegenteil: Unsere Produkte haben uns sehr erfolgreich gemacht, und bis heute kann uns niemand davon überzeugen, dass wir das aufgeben müssen. DS: Allerdings setzen Sie auch auf Innovationen. Wie gehen Sie da vor? FS: Wir haben über einen intensiven Austausch mit unseren Führungskräften weltweit eine Aufstellung gefunden, mit der wir einerseits unsere Erfolgsgeschichte weiterschreiben, wo wir aber andererseits auch neue Dinge ausprobieren können. Auch haben wir das bereits vor vielen Jahren so gemacht. Insofern sind Innovationen und Change-Prozesse für uns keine „Rocket Science“. Zum Beispiel sind wir Anfang der 1980er-Jahre die Internationalisierung dieses Unternehmens angegangen. Bis dahin hat Phoenix Contact 80 Prozent seines Geschäfts in Deutschland gemacht. Und das überwiegend in einer Industrie, nämlich der Energieerzeugung und -verteilung. Schon damals haben wir aber auf ein Gleichgewicht geachtet, denn wir wollten der sehr guten Entwicklung in Deutschland weiterhin eine hohe Priorität einräumen – und zusätzlich auch in internationale Märkte einsteigen. Heute machen wir zwar nur noch rund 30 Prozent unseres Geschäfts in Deutschland, aber das ist für uns ein 500-Millionen-Plus-Markt.
Mit genau solchen Erfahrungen gehen wir jetzt in die aktuellen Transformationen. Und dann sieht man, wo in unserer Unternehmenswelt sich die Treiber dieser ganzen Veränderungen verorten lassen. Verkürzt gesagt ist die digitale Transformation für unsere Märkte auf den vorausgehenden Schritt der Elektrifizierung angewiesen, so banal das zunächst klingen mag. Das bedeutet aber, dass damit ein wesentlicher Treiber der momentanen Entwicklungen schon ganz klar in unserem Kerngeschäftsbereich liegt. Da müssen wir uns gar nicht groß verändern. Nur müssen wir genau hinsehen, welche Applikationen sich zusätzlich daraus ergeben, und dann darauf mit den entsprechenden Produkten reagieren.
technischen Ebene ab, aber da geht es auch schon um die Vernetzung von Prozessen – etwa um die Frage, wie es uns gelingt, mit Datenmodellen unserer Produkte in die Engineering-Systeme unserer Kunden zu kommen. Informationen, die unsere Kunden dort erzeugen, sollen es dadurch idealerweise wieder in unsere Produktionsprozesse zurückschaffen. Das können wir in ersten Anwendungen schon sehr gut, andererseits ist da noch viel Raum.
DS: Das heißt, in Ihrem Kerngeschäft steckt bereits genug Zukunft? FS: Absolut. Jedoch müssen wir die aktuellen Trends herunterbrechen und sie in den unterschiedlichen Bereichen des Unternehmens verorten. Aber an der grundsätzlichen Themenbreite fehlt es Phoenix Contact nicht. Es gibt aber schon Entwicklungen, die über das Kerngeschäft hinausweisen. Beispielsweise erhalten Sie ein Signal, wenn Sie etwas digitalisiert haben. Dieses muss aber auch irgendwo hingehen, zum Beispiel in eine Automatisierung oder in eine Cloud. Das alles spielt sich zwar sehr auf der
DS: Das beantwortet fast schon unsere nächste Frage: Wie bleiben Sie Marktführer in der Automation und Elektrotechnik, wenn Sie beispielsweise auf die Wettbewerber in China blicken? Sehen Sie im internationalen Kontext eine Gefahr für Ihre Position als Weltmarktführer? FS: Gefahr ist vielleicht ein zu großes Wort, aber wir beobachten die Entwicklungen schon sehr aufmerksam. Wenn wir die Treiber Elektrifizieren, Vernetzen, Automatisieren in den Blick nehmen, dann sehen wir, wer sich als Wettbewerber in diesen Feldern positioniert. Und es gibt noch andere Felder,
„Informationen, die unsere Kunden dort erzeugen, sollen es dadurch idealerweise wieder in unsere Produktionsprozesse zurückschaffen.“
Erfolgsmodell Balance: Auf das Gleichgewicht aus Innovationen und bestehenden Geschäftsmodellen kommt es an.
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Frank Stührenberg sieht in der Beteiligung an innovativen Start-ups einen Ansatz, zukunftsfähige Geschäftsmodelle zu entwickeln.
beispielsweise die künstliche Intelligenz oder Plattform-Ökonomie, wo wir noch weit entfernt sind von einer marktführenden Stellung. Diese Felder beobachten wir eher noch am Rande. In unseren Kernbereichen – beispielsweise beim Thema Vernetzung – tauchen neben den angestammten industriellen Wettbewerbern momentan vermehrt Unternehmen mit einem anderen Hintergrund auf, etwa aus der Telekommunikationsbranche. Und die spielen schon nach anderen Regeln. Beispielsweise sind dort das, was bei uns Jahresbudgets sind, unter Umständen kleine Experimentiertöpfe. Oder was sich im Bereich Elektrifizierung bei der Energiespeicherung tut: Das sind Player, die wir bisher nicht im Blick hatten. Wir kannten bislang die Bereiche Energie erzeugen und verteilen und dann erzeugen klassisch und erzeugen erneuerbar. Und hier tauchen jetzt plötzlich Unternehmen auf, die eher aus dem Batterieumfeld kommen. DS: Das sehen wir auch bei der Elektromobilität sehr stark … FS: … exakt. Da geht es dann plötzlich um Netzstabilisierung und solche Dinge. Auf einmal sind andere Akteure da. DS: Wie beobachten Sie solche neuen Trends und Entwicklungen genau? FS: Aus unserer Sicht können wir viele der gegenwärtigen Treiber noch sehr gut aus unseren bestehenden Geschäftsmodellen bedienen. Daneben gibt es Themen, die wir organisatorisch im Unternehmen getrennt haben. Dazu haben wir neben unseren drei Kerngeschäftsfeldern eine Art Greenhouse-Ansatz gewählt. Aber selbst da sind wir sehr bodenständig und ad-
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ressieren die ganzen High-Fly-Themen wie etwa die Blockchain nicht. Dagegen gibt es für uns viele naheliegendere, aber trotzdem disruptive Themen. Beispielsweise haben wir einen Corporate-Venture-Fonds aufgelegt, mit dem wir uns an vielversprechenden Startups beteiligen. Für dieses Vorhaben haben wir intern relativ schnell Zustimmung erhalten – inzwischen sind wir mit sieben oder acht relativ breit gestreuten Beteiligungen am Start. Auch das sind alles Dinge, die nicht völlig fancy sind. Aber die sich zum Beispiel mit Spezial-Sensoriken beschäftigen. Oder mit induktivem Laden. Oder mit dem Vertrieb unserer Produkte auf Marktplätzen und Plattformen. Wir fokussieren zum Beispiel in unserem Start-up Protiq nicht vorrangig auf Additive Manufacturing, sondern wir lernen mit dem Marktplatz dafür. Plattformen werden für unser angestammtes Geschäft eine große Bedeutung erhalten, also sollten wir verstehen, was dort passiert.
„Plattformen werden für unser angestammtes Geschäft eine große Bedeutung erhalten.“ DS: Wie nehmen Sie Ihre Mitarbeiter auf diesem Innovationskurs mit, insbesondere die junge Generation, die ja hier oftmals viel schneller unterwegs ist? FS: Auch da muss man die Balance wahren. Wir haben einen sehr etablierten Innovationsprozess im Unternehmen. Wir entwickeln jedes Jahr ungefähr tausend neue Produkte, wobei das teilweise evolutionäre Weiterent-
wicklungen sind – so wird beispielsweise aus einer zweipoligen eine vierpolige Klemme. Aber mit darunter befinden sich eben auch immer eine Handvoll wirklicher Neuheiten. Für diesen etablierten, systematischen Innovationsprozess sprechen tausend gute Gründe – und daher führen wir den entsprechend weiter. An Stellen, wo wir glauben, dass dort andere Innovationstools und -Methoden sinnvoll sind, versuchen wir, diese zu etablieren. Beispielsweise könnte für uns der Minimum-Viable-ProductAnsatz interessant werden. Auf Deutsch: ein Produkt, das funktioniert. Mehr aber auch nicht. Beim Webseiten-Design ist dieser Ansatz zum Beispiel gängige Praxis. Wenn das Feedback hier nicht gut ist, wird das Feature weiterentwickelt, sonst nicht. Dieser Ansatz ist natürlich für den Entwickler einer Sicherheitssteuerung nicht gut. Aber bei unserem neuen Online-Shop für unsere Produkte, da machen wir das gerade. DS: Wie sehen Ihre Entwicklungsperspektiven an den unterschiedlichen Standorten aus? FS: Ich glaube, dass in den zehn oder zwanzig Jahren, die vor uns liegen, der physische Standort eines Unternehmens – egal ob ländlich oder urban – nicht mehr die zentrale Bedeutung hat wie heute noch. Schon heute arbeiten Menschen für uns, die zwar eingebunden sind – aber in ein Computernetzwerk. Und das können die von vielen Orten aus tun. DS: Und ist es dann völlig egal, von welchem Standort aus man arbeitet? FS: Ich würde mal sagen, dass es zu-
mindest „egaler“ ist, als es noch vor einigen Jahren war. Wir reagieren damit auf die vielleicht eher ländliche Lage eines Standorts. DS: Das Bild, das von Ihrem Unternehmen ausgeht, ist extrem gut. FS: Aber hätte dieses Außenbild keine Substanz, dann würde das auch nicht funktionieren. Und zwar ganz egal, ob Sie in der Provinz oder an einem A-Standort sitzen. Das heißt, hier müssen Sie Konsistenz zeigen und die Erwartungen, die Sie bei Bewerbern wecken, dann auch erfüllen.
„Ich glaube, dass in den zehn oder zwanzig Jahren, die vor uns liegen, der physische Standort eines Unternehmens nicht mehr die zentrale Bedeutung hat wie heute.“ Gerade im Moment bauen wir hier auf dem Gelände in Blomberg einen neuen Bürokomplex für einen unserer Kerngeschäftsbereiche – die klassische Leiterplattentechnik. Also genau da, wo man uns vor 20 Jahren gesagt hat, dass wir da aus den asiatischen Low-CostLändern Probleme bekommen werden. Aber wir haben dort die Prozesse inzwischen so hoch automatisiert, dass die vermeintlichen Lohnkostenvorteile kaum noch eine Rolle spielen. Und wir haben unsere Engineering-Kompetenzen hier zusammengezogen. Kurz: Ich sehe keinen Grund, ländliche Standorte nicht weiterzuentwickeln. Aber auch da gilt wieder: Das eine tun bedeutet nicht, das andere zu lassen. Beispielsweise haben wir vor Jahren intensiv damit begonnen, für unsere Standorte
1000 NEW!
N E W!
NEW!
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N E W! Rund tausend neue Produkte entwickelt Phoenix Contact jedes Jahr.
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in China und den USA Blaupausen des deutschen Headquarters in Blomberg zu entwickeln. Ausgangsthese war: Alle Funktionen, die wir hier können, sollen wir dort auch können. Im Prinzip betrifft das die gesamte Wertschöpfungskette. Das war ein Kultur-Change, hat aber eine Menge zusätzlichen Input und kreativen Output gebracht. Ähnliches machen wir gegenwärtig zum Beispiel auch in Berlin oder – seit einigen Jahren schon – in einem kleinen Software-Zentrum in Spanien. Das funktioniert sehr gut. DS: Sie identifizieren sich zudem mit dem Technologie-Cluster hier in der Region Ostwestfalen-Lippe … FS: … ja, hier sind sehr viele Unternehmen in diesem Segment angesiedelt und im Technologie-Netzwerk „it’s owl“ organisiert. Das Netzwerk ist toll, weil es etwas geschaffen hat, was vorher eher diffus war: vorwettbewerblicher Austausch zu wichtigen Trendthemen. Und dieses Angebot wird von allen Mitgliedern angenommen.
Bielefeld
Lemgo
Paderborn
Macht der Mittelzentren: Phoenix Contact setzt auch auf Standorte wie Bielefeld oder Lemgo.
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DS: Bieten Sie Incentives für neue Mitarbeiter an, die hier in die Region kommen? Oder setzen Sie eher auf die Arbeitskräfte vor Ort? FS: Sowohl als auch. Wir befinden uns in einer Mittelzentren-Gegend, und unser Einzugsgebiet reicht von Hannover im Norden bis Paderborn im Südwesten. Wir entwickeln uns also organisch aus der Region heraus, aber wir nutzen eben auch Mittelzentren wie Bielefeld oder Lemgo. DS: Wie gehen Sie das Thema Mobilitätswandel in Ihrem Hause an? FS: Unsere Tochtergesellschaft zur Elektromobilität hat zwei Stoßrichtungen. Die eine weist quasi in das Auto hinein, betrifft dort das Inlet, also die
Steckdose. Man könnte jetzt sagen, dass es sich dabei um ein relativ unspektakuläres Bauelement handelt. Wir aber beurteilen das anders. Grund ist, dass das Ladeinterface in Zukunft gleichzeitig zur Kommunikationsschnittstelle des Fahrzeugs zum Energienetz wird. Die Kommunikation wird über dieses Interface gesteuert, ob das der Ladevorgang selbst ist oder ob das Sicherheitsfragen wie „Darf das Auto losfahren? Steckt der Stecker noch?“ sind. Wir glauben daher, dass dieses Lade-Inlet eine echt systemische Schnittstelle werden wird. Da muss eine Integration der Autos in das Energienetz stattfinden.
„Ich sehe keinen Grund, ländliche Standorte nicht weiterzuentwickeln.“ Traditionell kommen wir dann zweitens eher von der Ladeinfrastruktur-Seite mit Steckern und Steuerungen für Ladesäulen. Eine ganz große Frage ist jetzt aber, wie wir es schaffen, ausreichend elektrische Energie zu erzeugen, für alles, was in der Zukunft elektrisch sein wird. Denn alles was elektrisch werden kann, wird auch elektrisch. Allein schon deswegen, weil es eine sehr effiziente und sehr einfach zu verarbeitende Energieform ist. Ich finde in diesem Zusammenhang die Idee der Energiewende in Deutschland nach wie vor ausgesprochen innovativ und richtig. Zwar wird uns das als Verbraucher ein paar Cent mehr kosten, da hängt vieles dran, was man kommerziell kurzfristig sehr kritisch diskutieren kann. Aber den Anspruch zu haben, das erste führende Industrieland zu sein mit einer echten, harten Energiebasis, das einen Erzeugungsanteil von über 50 Prozent erneuerbarer Energie
anstrebt, finde ich einfach spektakulär. Das könnte so ein Made-inGermany-Revival werden. Und ich glaube, dass das Problem dabei nicht einmal die Versorgungssicherheit ist, sondern nicht ausreichend gesteuerte Überbedarfe, nicht ausreichend intelligente Netze, nicht genügend Speicherkapazitäten.
„Ich finde die Idee der Energiewende in Deutschland nach wie vor ausgesprochen innovativ und richtig.“ DS: Wo setzt Ihr Unternehmen da an? FS: Phoenix Contact arbeitete an dieser Stelle sicher eher auf einer Micro-Ebene. Wir haben das Thema Energie aber als eines der aktuell noch unterautomatisierten Themenfelder identifiziert. Und wir haben überlegt, was wir dazu neben Komponenten noch beitragen können. Da waren wir dann schnell bei Themen wie der Netzleittechnik. Also
haben wir das mit dem Unternehmen Mauell zugekauft. Und dann haben wir schnell gemerkt, dass neben dem Netz-Leiten der Netzschutz eine zentrale Fragestellung ist. Dafür haben wir ein Unternehmen in der Schweiz gefunden, welches ein Top-Innovator im Bereich Netzschutz ist und welches wir übernehmen konnten. Wir glauben also an das intelligente Energienetz, das mit den volatilen Erzeugungs- und Abnahmezuständen bei den Erneuerbaren umgehen kann. Außerdem beschäftigen wir uns mit Steuerungslösungen rund um die Ladetechnik für Elektroautos. Wenn Sie sich vorstellen, dass es ein Parkhaus mit rund 30 Ladesäulen mitten in Köln geben wird, die auch alle gleichzeitig betrieben werden können – dann müssen wir dafür entweder die Straßen für entsprechend leistungsfähige Leitungen aufreißen oder Software-Lösungen entwickeln, die ein intelligentes Lademanagement möglich machen.
FRANK STÜHRENBERG
Frank Stührenberg ist seit 2015 Vorsitzender der Geschäftsführung (CEO) von Phoenix Contact. Der studierte Wirtschaftswissenschaftler begann seine berufliche Laufbahn 1989 bei der Nixdorf Computer AG. 1992 wechselte er zu Phoenix Contact. 1995 übernahm er dort die Leitung des internationalen Key-Account-Managements, 1998 die Leitung des Vertriebs Deutschland. 2001 wurde er in die Geschäftsführung berufen.
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WANDEL BEGINNT IM KOPF
Drees & Sommer-Themendialog 2018 in Nürnberg
Wollen etablierte Unternehmen weiter führend bleiben, müssen sie zur Veränderung bereit sein. Das Problem: Auf der Suche nach dem Plan fischen viele im Trüben. Ein Blick in die Welt der Start-ups kann helfen. Die dritte Station der Themenreise 2018 im Zollhof Tech Incubator Nürnberg belegt das.
Ein Leben ohne Hindernisse ist undenkbar. Wo bliebe die Herausforderung, wenn immer alles glattliefe? Hindernisse rütteln einen wach, wecken im besten Fall den Mut zur Tat oder zur Veränderung. Den Teilnehmern der Themenreise 2018 stellt sich am 21. Juni kurz vor ihrer Ankunft im Zollhof Tech Incubator in Nürnberg ein finales Hindernis in den Weg, das eigentlich gar keines sein dürfte: eine Treppe. Zum Hindernis werden die Stufen einzig durch die schweißtreibenden Temperaturen dieses Mittwochs. Auf halbem Weg in den dritten Stock kommt einem der Gäste prompt ein teuflischer Verdacht: „Die wollen bestimmt testen, wie dynamisch wir noch sind“, ächzt er. Das ist freilich nicht der wahre Grund, warum die dritte Station der interdisziplinären Themenreise im Gründerzen-
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trum des Zollhofs über die Bühne geht. Der Geist der Location mit ihren Sonnenstühlen und dem Tischkicker im Zentrum des Raums soll ausstrahlen. Mehrere führende Unternehmen, darunter die Siemens AG, haben hier mit der Stadt Nürnberg, der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Prof. Dieter Kempf, dem Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, einen Kristallisationspunkt für die digitale Gründerszene aufgebaut, wie ihn Nürnbergs Wirtschaftsreferent Dr. Michael Fraas nennt. „Dieses Areal verkörpert den Strukturwandel wie kein anderes in der Region“, sagt Fraas. Und Benjamin Bauer, Geschäftsführer der Zollhof Betreiber GmbH, fügt hinzu: „Wir wollen Welten zusammenbringen, die der Tech-Start-ups und die der etablierten Unternehmen.“
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Es besteht kein Zweifel daran, dass Arbeitswelten flexibel und dynamisch sein müssen.“ Thomas Braun, General Manager, Siemens Real Estate
FUSSBALL-WELTMEISTERSCHAFT ALS MAHNENDES BEISPIEL Kein Wunder, dass solche Worte bei Götz Schönfeld auf offene Ohren stoßen. Der Head of Business Transformation and Network Management (BTM) bei Drees & Sommer hat sich für den Nachmittag in der Frankenmetropole vorgenommen, darüber zu diskutieren, was gegenwärtige Weltmarktführer von innovativen Gründern lernen müssen und umgekehrt – damit bewährte und neue Produktionsprozesse und Geschäftsmodelle einander sinnvoll ergänzen. Denn wer sich zu lange im eigenen Erfolg sonne und ignoriere, dass nur derjenige weiter führend bleibe, der bereit ist, permanent Schritt zu halten mit neuen Begebenheiten, dem ergehe es wie Jogis Jungs bei der Fußball-WM. Sie erleben in diesen Juni-Tagen 2018 in Russland ein Desaster. Die Mannschaft geht sang- und klanglos unter, weil andere Nationen ihr altes Erfolgsmodell entschlüsselt haben und weil die Weltmeister von 2014 eben nicht mehr dynamisch sind. Zwar garantiert Veränderung nicht automatisch Erfolg, ist in jedem Fall aber wirkungskräftiger als Stillstand. „Dare to try and dare to fail“, ruft Schönfeld
deshalb seinen Gästen entgegen. Das Motto zeichnet junge Gründer aus, bestimmt aber auch immer mehr die Überzeugungen amtierender Branchengrößen. „Es besteht kein Zweifel daran, dass wir flexibel und dynamisch sein müssen. Unsere Mitarbeiter schreien danach“, berichtet Thomas Braun, General Manager des „Siemens Campus Erlangen“. Der 1847 gegründete Technologiekonzern baut in Erlangen gerade seinen weltweit größten Standort neu mit der Absicht, nicht nur agile Arbeitswelten zu schaffen, sondern obendrein ein offenes, lebendiges Stadtquartier. Es ist ein Prestigeprojekt aus Überzeugung. „Der Vorstand“, sagt Braun, „pusht den Willen zum Wandel immer stärker.“
NEUE DENKWEISEN VERINNERLICHEN Sehr gut, findet das Benno Bartels, Gründer des Software- und Beratungsunternehmens insertEFFECT und Botschafter neuer Ideen für den digitalisierten Mobilitätsmarkt. Denn: der Paradigmenwechsel müsse ganz oben beginnen. Es reiche nicht, neue Arbeitswelten zu schaffen, die Führungsetage müsse die neue Denkweise selbst verinnerlichen und „ak-
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Aktuell wirtschaften zwar alle diese neuen Anbieter noch defizitär, aber ihr Geschäftsmodell ist in die Zukunft gerichtet.“ Benno Bartels, Geschäftsführer, insertEFFECT
zeptieren, dass plötzlich alles auf Augenhöhe geschieht und ein junger Typ ankommt, der sagt: ‚So machen wir das jetzt aber nicht.‘“ Bartels selbst verkörpert mit seinem Outfit – T-Shirt und Jeans – den Schwung und die Ungezwungenheit der Gründerszene perfekt. In seinem Vortrag „Disrupting Mobility – Algorithmen und Start-upSpeed stellen den traditionellen ÖPNV auf den Kopf“ erklärt er anschaulich, was unternehmerischer Stillstand für Gesellschaften des öffentlichen Nahverkehrs bedeuten kann: Auf lange Sicht werden sie überholt. Ausgebremst von Carsharing-Anbietern oder Dienstleistern wie Uber, die verstanden haben, was der Nutzer von heute will. „Aktuell wirtschaften zwar alle diese neuen Anbieter noch defizitär, aber ihr Geschäftsmodell ist in die Zukunft gerichtet“, sagt Bartels. Nach Erfahrung der Netzwerkmanagerin Renate Phoenix Mahr sind es jedoch gar nicht unbedingt die Vorstände, die unbewusst Änderungsprozesse bremsen, sondern die Vertreter der Ebene darunter: das Management. Vielen Führungskräften fehle das Verständnis für eine neue Unternehmenskultur, die erst den Raum für die Veränderung schafft. „Die Bereitschaft zum Wandel ist auf allen Ebenen gegeben. Was fehlt, ist der Plan.“ Mit ihrem Unternehmen manageMentor hat sich Mahr darauf spezialisiert, Licht ins Dunkel zu bringen, ähnlich wie
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der Business-IT-Transformations-Berater Senacor. „Zukunft entwickeln – die digitale Transformation erfolgreich umsetzen“, heißt der Vortrag des Senacor-Partners Dr. Florian Springer, der darin über zwei Stellschrauben spricht. Die technologische und – bedeutend wichtiger – die organisatorische. Denn: „A fool with a tool is still a fool.“
DIE GESAMTSTRATEGIE NICHT AUS DEN AUGEN VERLIEREN Dem stimmt Guido Sommer von Cisco Systems zu, der sagt: „Technik ist nur eine Lösung für den Mangel, den Sie haben.“ Die Frage, die sich Unternehmen aber zuvorderst stellen müssten, sei, wo sie morgen sein wollen mit ihren Produkten. „Den strategischen Fokus nicht verlieren“ nennt das Dr. Roland Haas von QSO Technologies aus dem indischen Bangalore. Und auch das Fazit, das sich aus Florian Springers Vortrag ziehen lässt, lautet: Der Wandel beginnt im Kopf, beim individuellen unternehmerischen Denken und Handeln. „Ein Patentrezept gibt es leider nicht.“ Somit lässt sich auch nicht pauschal sagen, welche Finanz- oder Immobilienstrategien denn nun zukunftstauglich sind – eine Frage, der sich Klaus Busch von CoRE Solutions in seinem Impulsvortrag „Wer zahlt, schafft an! Oder die Suche nach dem richtigen Kapitalgeber“ stellt. Sagen lässt sich
nur, dass Hindernisse als Chance gesehen werden sollten, sie zu überwinden. Wie? Dadurch, in die Hände zu spucken, statt dieselben in den Schoß zu legen. Diese Lehre hat der jüngste Teilnehmer des Nachmittags im Zollhof für seine Tischnachbarn übrig. Der Teenager Paul Wabnitz vertritt ein ganz besonderes Start-up: Plant-for-thePlanet, gegründet 2007 vom damals neunjährigen Felix Finkbeiner, inzwischen Träger des Bundesverdienstkreuzes. Die Kinder- und Jugendorganisation pflanzt im Kampf gegen den Klimawandel Bäume als Symbol globaler Gerechtigkeit, bislang mehr als 15 Milliarden weltweit. Wabnitz steigt nach der Kaffeepause auf die Bühne, entschlossen, ein größeres Bewusstsein für klimaneutrales Handeln bei den Unternehmern zu schaffen. „Sie tun schon viel, aber Sie müssen noch mehr tun“, sagt er und wirbt um Unterstützung für sein Herzensprojekt. Er tut das mit einer solchen Verve, dass seine Zuhörer ihm bereitwillig lauschen. Plant-forthe-Planets Ziel sind 1000 Milliarden gepflanzte Bäume weltweit, wovon die Organisation noch ein gehöriges Stück entfernt ist. Aber wer vor Herausforderungen zurückschreckt, der hat von vornherein verloren.
TEILNEHMER > Michael Albert, Sparkasse Nürnberg
> Dr. Roland Haas, QSO Technologies
> Peter Scharf, Phoenix Contact
> Benno Bartels, insertEFFECT
> Senad Kapetanovic, Cisco Systems
> Götz Schönfeld, Drees & Sommer
> Benjamin Bauer, Zollhof
> Renate Phoenix Mahr, manageMENTOR
> Holger Seidel, Drees & Sommer
> Thomas Braun, Siemens Real Estate
> Christopher Maier, LEONI Kabel
> Guido Sommer, Cisco Systems
> Klaus Busch, CoRE Solutions
> Frederick Meulenkamp, MPC Parking
> Dr. Florian Springer, Senacor
> Kim Dannhäußer, Drees & Sommer
> Frank Pickel, Drees & Sommer
> Dick van Wijgerden, MPC Parking
> Dr. Michael Fraas, Wirtschaftsreferent Nürnberg
> Michael Plentinger, Fachkräfterekrutieren.de
> Paul Wabnitz, Plant-for-the-Planet
> Dirk Graewe, MPC Parking
> Harald Reitze, Rödl & Partner PEOPLE | PROCESS | PLACES 37
SICH AUF VERÄNDERUNGEN EINLASSEN INTERVIEW MIT MARTIN LINGE-BOOM, VICE PRESIDENT, CORPORATE REAL ESTATE MANAGEMENT BEI WILO
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WILO SE
„SICH AUF VERÄNDERUNGEN EINLASSEN“
> Die WILO SE mit Hauptsitz in Dortmund ist einer der weltweit führenden Hersteller und Anbieter von Pumpen und Pumpensystemen für die Heizungs-, Kälte- und Klimatechnik sowie die Wasserversorgung und Abwasserentsorgung. > Das Unternehmen wurde bereits 1872 gegründet, beschäftigt heute rund 8.000 Mitarbeiter weltweit. > 2017 erwirtschaftete WILO einen Umsatz von 1,425 Milliarden Euro.
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DREES & SOMMER (DS): Seit vielen Jahren verfolgt Wilo eine erfolgreiche Internationalisierungsstrategie. Was sind die wichtigsten Lehren, die Sie daraus für Ihr Unternehmen, aber auch für die deutsche Wirtschaft ziehen? Wie lauten die entscheidenden Faktoren, auf die es im internationalen Wettbewerb ankommt? MARTIN LINGE-BOOM (MLB): Wir haben uns früh angewöhnt, unsere Standards mitzunehmen, wenn wir ins Ausland gehen. Das ist nach wie vor richtig, sowohl wenn es um die Produktion als auch um unsere Unternehmenskultur geht. Aber Wilo hat als Unternehmen auch gelernt zuzuhören und unsere Anforderungen an regionale Gepflogenheiten anzupassen. Wir mussten also herausfinden, worin jeweils der Gap zwischen unseren Standards, unseren Forderungen, unserer Kultur und den Gegebenheiten vor Ort besteht. Diese Punkte diskutieren wir dann offen mit den Kolleginnen und Kollegen vor Ort. Für handfeste Ergebnisse muss man dabei genau definieren, wie unsere Unternehmenskultur angepasst wird oder welches Bindeglied es gibt, um unsere Anforderungen im regionalen Markt oder in der regionalen Kultur zu verankern. Denn wenn eine Übertragung in die jeweiligen ausländischen Standorte nicht funktioniert, funktioniert sie auch nicht beim Kontakt zum dortigen
Kunden. Das heißt, dass wir uns dafür Zeit nehmen müssen. Vor allem aber: dass wir die verbindenden „Links“ definieren und wieder zurück ins Hauptquartier transferieren müssen.
„ … wir denken uns immer als Netzstruktur.“ Diese Links sammeln wir und versuchen so herauszufinden, wo die Differenzen bestehen. Denn genau daraus können wir regionale Strömungen ablesen, die uns bei der Produktentwicklung und bei der Kundenansprache oder bei Forschung und Entwicklung wesentlich helfen. Darüber hinaus sorgen wir für eine erhebliche Mitarbeiterdurchmischung. Sie werden – wenn Sie hier mal durch die Flure gehen – Mitarbeiter aus allen unseren Werken von fast allen Kontinenten finden. Das ist ein weiterer Punkt, den wir sehr schnell gelernt haben: Es geht hier nicht um eine Headquarter-, also eine Sternstruktur, sondern wir denken uns immer als Netzstruktur, vor allem im Hinblick auf Know-how und Kompetenzen. Erst daraus entwickelt sich dann die eigentliche Unternehmenskultur, die sehr international ist, die aber immer noch durch unsere Eigentümerfamilie und den Geist des Gründers Wilhelm Opländer geprägt wird.
DS: Es geht also nicht nur darum, wie man erfolgreich ins Ausland kommt, sondern auch, wie man das Ausland aktiv in die Region einbinden kann. Wird das angenommen? Lebt sich das am Unternehmenssitz in Dortmund? MLB: Ich glaube, mittlerweile sind es alle Kollegen gewöhnt, nicht nur mit internationalen Kollegen zusammenzuarbeiten oder die Unternehmenssprache Englisch zu sprechen, sondern auch daran, sich auf einer internationalen Ebene zu präsentieren und dort zu agieren.
„Man muss sich darauf einlassen, dass man sich durch die internationale Ebene, die sich da auf einmal einschiebt, auch selbst kulturell ein Stück verändert.“ DS: Ihre Netzstruktur klingt sehr spannend. Und auch das Thema „Unternehmenssprache Englisch“. War es eine große Herausforderung, das einzusetzen? MLB: Nicht wirklich. Der Wunsch nach dem Englischen kommt übrigens nicht nur top down, sondern auch bottom up. Ich muss manchmal noch meine Kolleginnen und Kollegen – gerade die Jüngeren unter ihnen – daran erinnern, dass sie doch bitte ihre Texte so verfassen, dass auch der Kollege,
der gerade mit am Tisch sitzt, sie lesen kann. Weil der vielleicht aus Frankreich kommt, von dem man das aber gar nicht gewusst hat. Unsere Mitarbeiter sind es im Arbeitsalltag gewohnt, mit anderen Kulturen umzugehen. Ob es um Essen, um Kleidung, um das einfache Willkommen geht: Alle erhalten ein interkulturelles Training und wissen danach etwa, in welchem Kulturkreis man die Hand zur Begrüßung reicht und wo nicht. DS: Das sind Best-Practice-Beispiele wahrscheinlich nicht nur für die Region, sondern eigentlich auch für Gesamtdeutschland? MLB: Ja, aber man muss sich darauf einlassen, dass man sich durch die internationale Ebene, die sich da auf einmal einschiebt, auch selbst kulturell ein Stück verändert. Und dann ist es eben wichtig zu überlegen, was ich in meinem Rucksack unbedingt mitnehmen will: Was möchte ich von dem, was sehr lokal deutsch ist, unbedingt auf dieser internationalen Plattform wiederfinden? Und das sollte jetzt nicht unbedingt Weißbier sein (lacht). DS: Sie hatten ja vorhin von den Produktionsstandards gesprochen … MLB: … richtig. Die nimmt man mit, aber man muss sie übertragen. Ich stelle immer wieder fest, dass sie sich an bestimmten Orten umsetzen
Raus aus der Headquarter-Peripherie-Falle: WILO setzt auf effiziente Netzstrukturen.
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lassen, an anderen nicht. Es sind beispielsweise viele asiatische Kollegen, die mir sagen, dass sie das mal so hatten, aber selbst vor Ort inzwischen schon weiter sind. Dann packt man seine Standards wieder ein und bekommt etwas Besseres – gerade was das Thema Hygiene und Ordnung am Arbeitsplatz angeht, haben wir einige asiatische Ideen übernommen. Also da wird man schon „gechallenged“! DS: Im April 2018 lautete die WiloSchlagzeile „Beste Ergebnisse der Unternehmensgeschichte“. Das hat sich kontinuierlich so entwickelt, obwohl Ihre Produkte auf sehr wettbewerbsorientierten Märkten bestehen müssen. Gar nicht so einfach also, da das beste Ergebnis zu erzielen. Wie schreiben Sie Ihre Erfolgsgeschichte? MLB: Wir laufen auf zwei Schienen. Auf der einen Seite sehen wir zu, dass wir gute deutsche und auch internationale Technologien bieten, und bleiben fest auf dem Standpunkt stehen, durch Hocheffizienz zu punkten. Wir wollen beispielsweise nicht unbedingt den unteren Teil des Marktes abgraben. Da sehen wir nicht unseren Fokus. Auf der anderen Seite spielt die Digitalisierung eine Rolle. Dort, wo uns die Digitalisierung in der Produktion, in der Logistikkette, im Management hilft, dort hilft sie uns auch beim Produkt selber. Das haben wir zum Beispiel letztes Jahr auf der ISH in München gezeigt, und das werden wir jetzt mit unserer neuen Produktserie belegen. Es geht dabei um die Vernetzbarkeit von Komponenten, die durch ihre Schnittstellen „digital ready“ sind für alles, was in Zukunft kommt. Die sehr frühe Marktführerschaft im Bereich Digitalisierung haben wir unter anderem dadurch erreicht, dass wir uns getraut haben, solche Komponenten – obwohl wir noch gar nicht wussten, ob der Häuslebauer sie wirklich anwenden kann – einzubauen und die entsprechenden Anwendungsfelder mit-
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zugeben. Ein weiterer Punkt ist, dass wir dem Kunden ja nicht nur das Produkt vermitteln wollen, sondern in Zukunft gleich den ganzen Rundumservice, also etwa die Dienstleistungen rund um seine Heizungspumpe, mit anbieten. Der Kunde erhält dadurch dann eine Preis- und Kostensicherheit, und wir sorgen dafür, dass alles steht. Das bedeutet aber auch, dass wir uns auf die eigenen Produkte doppelt verlassen können müssen. Und zum Zweiten, dass wir unsere Marktführerschaft durch den Zukauf von Start-ups mit neuen Ideen ausbauen ...
„ … dem Kunden ja nicht nur das Produkt vermitteln, sondern gleich den ganzen Rundumservice, …“ DS: … etwa beim Water Management. Dort bieten Sie ähnliche Services an … MLB: Wir haben uns auf diesem Gebiet jetzt um einen ehemaligen Wettbewerber erweitert. Wir bieten da schon lange Infrastruktur-Produkte an, bei denen das Gleiche gilt: Die Kommunen wollen den Service, sie wollen die Digitalisierung und sie wollen Vernetzungsideen. In Polen haben wir gerade ein Pilotprojekt erfolgreich abgeschlossen. Dort sorgen unsere Water-Management-Pumpen, die immer schon digital vernetzt waren, durch intelligente Vernetzung dafür, dass das Abwassernetz immer gleichmäßig gespült bleibt. Wir können durch einen Probeversuch nachweisen, dass wir dadurch die Managementkosten der Infrastrukturbetreiber erheblich gesenkt haben. Solche proaktiven Projekte bekommen wir in unserem Wings-Bereich, der letztlich ein effektives Sammelbecken für Ideen ist. DS: Sie ebnen durch Ihre Innovationsund Technologieführerschaft den Weg zu einer starken Marke. Dieses Markenbild ist immens wichtig für Wilo.
Wie können die vielen Hidden Champions hierzulande wie Sie zu Visible Champions werden? MLB: Wir haben diesen Switch im Verlauf des vergangenen Jahres vollzogen, als wir zum zweiten Mal den German Brand Award bekommen haben. Da war klar, dass wir kein Hidden Champion mehr sein können. Uns ist das damals bewusst geworden, das war aber kein direktes Ziel. Wir haben einfach gesagt, wir konzentrieren uns auf das, was wir können. Wir pumpen ja auch „nur“ Wasser und machen „nur“ Wassermanagement: Waste Water, Fresh Water. Aber wir machen diese Dinge sehr profitabel, sehr margenstark. Und wir bleiben bei dem, was wir können, und wollen das weiter optimieren. Dafür leben die Ingenieurinnen und Ingenieure im Haus auch. Und es ist ja nicht nur, dass wir dieses Marktsegment hier in Deutschland oder Mitteleuropa besetzen, sondern das tun wir mittlerweile auch in allen großen Weltmärkten. Und dann wird man irgendwann zwangsläufig sichtbar.
„ …wir bleiben bei dem, was wir können, und wollen das weiter optimieren.“ DS: Wilo ist Weltmarktführer für die Produktgruppe Pumpen, Schläuche und Verbindungselemente. Das ist das eine. Das andere ist, diese Position auch zu halten. Können Sie den Lesern einen Tipp geben: Wie bleibt man erfolgreich Spitzenreiter? MLB: Wir sind ja schon seit über 20, 30 Jahren in den Märkten und zum Teil sogar noch länger. Wir haben in Deutschland die erste Heizungs-Zirkulationspumpe damals im Infrastrukturbereich und später dann erste Hocheffizienzpumpen vorgestellt. Unsere Lösungen haben sich also langfristig bewährt. Hinzu kommt inzwischen, wie bereits gesagt, die dadurch entstandene Brand und die Brand Awareness.
Außerdem hat man uns schon früh eine Lern- und Entwicklungskurve zugetraut, die wir bis heute fortsetzen und weitergehen. Ich glaube, dadurch halten wir uns zumindest sehr gut im Sattel. Mittlerweile können wir die Partner davon überzeugen, dass digitalisierte Projekte, dass Netzwerkprojekte, dass auch Services, die gar nichts mehr mit Hardware zu tun haben, zu unserem Portfolio gehören. DS: Nachhaltigkeit ist in aller Munde. Sie leben diese für und in Ihrem Unternehmen. Ist das ein Wettbewerbsvorteil, den Sie ausbauen möchten? MLB: Wir müssen unterscheiden zwischen dem Produkt und unserem Handeln, beides muss nachhaltig sein. Bei Letzterem verfolgen wir dieses Ziel zum Beispiel in unseren Bauprojekten. Wir dokumentieren das durch unser Campus-Projekt oder viele andere Gebäude, die wir als Green Buildings haben zertifizieren lassen. Dadurch zeigen wir, dass wir diese Werte leben. Gleiches gilt für die Digitalisierung, die bei uns im Unternehmen sehr stark voranschreitet und durch die Hebung von Effizienzen immer wieder für neue Produktionsabläufe und eine Energieeinsparung sorgt. Da sind wir sehr ressourcenschonend unterwegs und werden das auch weiter kontinuierlich ausbauen, weil das allein unser Geld ist, mit dem wir hier arbeiten. Wir können das nicht in allen Fällen alleine, wir können das manchmal nur vernetzt mit unseren Kunden und Partnern tun.
„Da sind wir sehr ressourcenschonend unterwegs und werden das auch weiter kontinuierlich ausbauen.“ DS: Wenn wir uns weitere Megatrends angucken … MLB: … wie Energieknappheit, Wasserknappheit oder eine endliche Infrastruktur, die aber eine wachsende
2x BRAND AWARD
Bereits zweimal wurde WILO mit dem German Brand Award ausgezeichnet.
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Weltbevölkerung und ein höheres Logistik- und Transportaufkommen bewerkstelligen muss. Das bedeutet aber, dass sich unsere Kunden zunehmend in einer Art Zwangslage befinden, sich in Richtung Effizienz und Energieneutralität zu entwickeln. Dabei können wir sie unterstützen, denn dafür haben wir die Produkte und Ideen. Was wir in Zukunft stärker forcieren werden, ist, uns dazu zu einem Effizienznetzwerk zu vernetzen, um Gesamtlösungen anbieten zu können. Ein weiterer Ansatz, die kommenden Herausforderungen zu meistern, kann aber auch in der Auslegung von Infrastrukturen liegen. Wobei wir auch hier in Zukunft unsere Partner und unsere Kunden noch stärker unterstützen werden. Was hilft beispielsweise die beste Wilo-Pumpe, wenn das Rohrnetz nicht stimmt? Kurz: Alleine schaffen wir das nicht. Aber mit unseren Produkten schaffen wir es gemeinsam mit allen anderen – und da sind wir, denke ich, auf einem guten Weg.
„Was wir in Zukunft stärker forcieren werden, ist, uns dazu zu einem Effizienznetzwerk zu vernetzen.“
Nur wenn wir mit unseren Kunden und Partnern auf Augenhöhe zusammenarbeiten, ist wirtschaftlicher Erfolg auch in Zukunft gesichert.
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DS: Wir Menschen können die planetaren Grenzen nun einmal nicht überschreiten – was wir jedoch nichtsdestotrotz permanent tun. Wie stehen Sie dazu bzw. bekommen wir nicht alle langsam mal „Fracksausen“, wie der Berliner sagt? Wie können wir die Welt sanieren und mit guten Ansätzen vorangehen, wenn die Zerstörung dieser Welt viel schneller voranschreitet? MLB: Wir müssen unsere selbst gesetzten Standards schon viel früher und vor allem flächendeckend umsetzen! Wir leben da ja immer noch auf der Insel der Glückseligkeit und mer-
ken das, wenn wir mit unseren Salesund Ingenieurkollegen aus anderen Teilen der Welt, ja aus anderen Teilen Europas reden. Wie sieht denn da die Infrastruktur aus? Wie gehen die mit Energie um? Die sagen uns, Effizienzpumpen interessieren dort niemanden. Die sind buchstäblich froh, wenn es sich dreht. Kollegen aus Südeuropa haben uns in diesem Sommer über die dortige Wasserknappheit berichtet. Daher entstehen nun eine Reihe von Projekten, in denen wir jetzt gemeinsam mit Partnern überlegen, wie wir durch höhere Effizienz über das Jahr hinaus die verbrauchten Wassermengen reduzieren.
„Wir müssen unsere selbst gesetzten Standards schon viel früher und vor allem flächendeckend umsetzen!“ DS: Gleichzeitig beobachten wir den gegenteiligen Effekt: vermehrte Starkregenereignisse. Wir haben jetzt bei Drees & Sommer einen sogenannten Starkregenmanager, der Kommunen berät. Auch dabei spielen Pumpen – neben anderen Maßnahmen – eine entscheidende Rolle. MLB: Wir haben hier auf dem WiloCampus in Dortmund über 70.000 m² Dachfläche, die wir momentan als Flachdach-Retentionsfläche umsetzen. Unsere gesamte Wasserfläche ist überdies an ein zentrales Regenwassermanagementsystem angeschlossen. Daraus stellen wir das Wasser zunächst einmal für Kühlungszwecke, die Außenbewässerung und weitere Nutzungen. DS: Wir alle haben gegenwärtig die Möglichkeit für ein digitales Wirtschaftswunder. Die Frage ist nur, ob und – wenn ja – wie es in Deutschland stattfindet. Bei vielen Entwicklungen stecken
wir noch in den Kinderschuhen. Und wenn einzelne Akteure vorausgehen, wenn sie als Leuchttürme fungieren, dann bleibt es drumherum trotzdem oft recht dunkel. MLB: Das ist etwas, das uns auch sehr stört. Wir haben vor zweieinhalb Jahren schon digitale Strategien und Konzepte untersucht, mit einem Portfolio von Partnerunternehmen. Mit dabei waren große Firmen, die die Ressourcen hatten, sehr tief in solche Entwicklungen zu investieren und sehr weit zu schauen. Mit von der Partie waren aber auch kleine und mittelständische Unternehmen. Wir haben einen Teil der dort entwickelten Konzepte weiterverfolgt und möchten sie gerne umsetzen, stoßen aber auch auf Hindernisse. Entweder sind Innovationen nicht marktfähig, weil es legale Restriktionen gibt. Oder wir stolpern über unseren hohen An-
spruch an das Produkt, es zum Beispiel zwei, drei, vier Jahre zunächst getestet zu haben, bevor wir es in den Markt geben. Oder wir stellen fest, dass es zwar technische Lösungen gibt, aber der User Case, der dazu führt, gar nicht ausbuchstabiert ist. Das ist – eine Art deutsches Daniel-Düsentrieb-Wesen, dem aber die Verbindung zu den Anwendern fehlt. DS: Viele reden zurzeit über die Drohnentechnologie. Beim diesjährigen Automobillogistik-Kongress in Bremen hat sich gezeigt, dass mancher Visionär mit seinen Ideen hier noch Lichtjahre der Realität voraus ist und dass der Markt nicht hinterherkommt. Welche Erfahrungen hat Wilo auf diesem Gebiet? MLB: Wir benutzen Drohnen zur Dokumentation der Baustelle und zu vielen anderen Dingen. Das setzen letztlich
aber Dienstleister für uns um. Wenn ich dann mal nachfrage, wie wir als großer Betreiber, der auch im Fokus der Behörden steht, diese Technologie und mögliche Anwendungen als festes System implementieren können – ja dann werde ich sofort gefragt, auf welcher gesetzlichen Grundlage denn. Es gibt da ganz viel, was gesetzlich verboten ist. Das ist einerseits gut, weil es einen verlässlichen Rahmen schafft. Aber das, was erlaubt ist, müssen wir zunächst mühsam „rausschälen“ und daraus einen klar definierten Handlungsrahmen konstruieren. In Zukunft muss das deutlich schneller gehen! Wir wünschen uns da klarere und zukunftsweisendere Vorgaben.
MARTIN LINGE-BOOM
Nach seinem Studium der Architektur an den Universitäten in Dortmund und Lawrence, Kansas, absolvierte Martin Linge-Boom eine Ausbildung zum Lichtplaner an der TH Ilmenau. Im Anschluss an eine Tätigkeit als freier Architekt, Stadt- und Lichtplaner arbeitete er viele Jahre als Architekt und Projektleiter für namhafte Planungs- und Baufirmen. Seit 2014 verantwortet Martin Linge-Boom als Vice President Corporate Real Estate Management die Immobilienstrategie der Wilo SE. Gegenwärtig beinhaltet diese unter anderem den Neubau des Wilo Campus am Unternehmenssitz in Dortmund sowie zahlreiche Bauvorhaben in Osteuropa und Asien.
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FACTS & FIGURES Herausforderungen der Energiewende
FOSSILE ENERGIETRÄGER: SO WAS VON GESTERN – WACHSENDER ANTEIL VON ERNEUERBAREN AM PRIMÄRENERGIEVERBRAUCH Naturgase 23,8 %
Kernenergie 6,1 % Erneuerbare Energien 13,1 % Sonstige Energieträger 0,3 % Steinkohle 10,8 %
Mineralöl 34,4 %
Braunkohle 11,1 %
216,4
Installierte Mrd. kW/h 105,2
WIND OF CHANGE –
36,2
2000 2010 2017
WINDKRAFT TREIBT DIE ENERGIEWENDE VORAN
➜ Quelle: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie
➜ Quelle: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie
WIE KOMMT DER OFFSHORE-WINDSTROM ZU UNTERNEHMEN UND PRIVATEN HAUSHALTEN?
Rostock Hamburg Emden
Hannover
rrichtung großer Leitungen für die HochspannungsgleichstromüberE tragung (HGÜ) von Nord- nach Süddeutschland. Stand 2. Quartal 2018: 9 % realisiert, genehmigt oder im Bau
Berlin
Leipzig
Düsseldorf
erausforderungen für den Netzausbau sind beispielsweise Widerstand H in der Bevölkerung und technische Schwierigkeiten (etwa bei Erdverkabelung) lternativen zum Netzausbau sind unter anderem die Erhöhung des A Anteils der Onshore-Windenergie in Süddeutschland oder der Aufbau intelligenter Ortsnetzstationen ➜ Quelle: Bundesnetzagentur
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Nürnberg Stuttgart München
WELCHE FAKTOREN BEEINFLUSSEN KÜNFTIG OPTIMALES ARBEITEN?
Zukunftssichere Unternehmenskultur
Open Office or P a y f o r m a n ce Per f
A gile M
ethode
n
Desk Sharing
Branding
kultur Vertrauens
Digitale Kommunikation
Flexible Strukturen
Kommunikations- und Kollaborations-Tool s
Sinn Führung mit ion at ir sp In d un
Kollabo
TOOLS
PEOPLE PLACES
rations for men
Ortsunabhängigkeit
lung Weiterent wick management & Kompetenz Choice and Autonomy
Gesundheitsförderung
Individualisierte Arbeit
Identifikation
Raumgestaltung Cloud-Lösungen
Immobilienmanagement Mobiles Arbeiten
Balanced Workplace
➜ Quelle: Kienbaum
HOFFNUNG HOMEOFFICE?
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IMMER MEHR UNTERNEHMEN UND ARBEITNEHMER SETZEN AUF MOBILE LÖSUNGEN h/Woche
spart ein Beschäftigter in Deutschland im Schnitt, wenn er mobile Arbeitsformen nutzt (z. B. durch das Wegfallen von Wegzeiten)
93
%
der Nutzerinnen und Nutzer von Homeoffice-Angeboten erleben eine leichtere Vereinbarkeit von Familie und Beruf
WER DIE WAHL HAT, HAT DEN VORSPRUNG – WAHLFREIHEIT ALS EFFEKTIVITÄTSUND INNOVATIONSTURBO
50
%
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer würden gerne mobil arbeiten, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern
➜ Quelle: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
80 %
kommen ins Büro, obwohl sie Homeoffice machen könnten.
➜ Quelle: Gensler
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VERNETZT DENKEN UND HANDELN Drees & Sommer-Themendialog 2018 in Essen
Im Schulterschluss mit Phoenix Contact lud Drees & Sommer im September zum Themenforum nach Essen ein. Einen besseren Ort für das Finale der Themenreise 2018 hätten die Gastgeber kaum finden können. Die geschichtsträchtige Zeche Zollverein ist der Inbegriff eines erfolgreichen Wandels.
Es ist kein Wetter zum Verweilen an diesem Donnerstagmorgen im September. Der Wind weht frisch, der Regen nieselt. Und dennoch: Vor diesem majestätischen rostroten Förderturm muss man einfach stehen bleiben, denn er ist ein Zeuge der Zeitenwende. Fast eineinhalb Jahrhunderte lang war das Steinkohlebergwerk Zeche Zollverein der Stolz einer ganzen Region. Fotos von Männern mit von Schmutz und Schweiß beklecksten Gesichtern erinnern an die harte Arbeit der Kumpels. Doch 1986 war Schicht im Schacht – und die Zeche musste sich neu erfinden. Es ist ihr gelungen. Der Industriekomplex ist heute ein pulsierender Ort für Kultur und Innovation – und UNESCO-Welterbe. „Meine erste Assoziation bei diesem Begriff waren die Pyramiden“, sagt Prof. Dr. Hans-Peter Noll, der Vorstandsvorsit-
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zende der Stiftung Zollverein und Generalmanager des Areals. Pyramiden sind Grabstätten, erinnert Noll. Sie seien als solche konzipiert worden und würden heute als solche bewundert. „Diese Zeche ist keine Grabstätte. Sie ist ein Ort des Wandels.“ 53 Betriebe mit 1.300 Beschäftigten und eine Hochschule mit 500 Studenten haben Stand Herbst 2018 ihre Heimat auf Zollverein gefunden.
AUFSTEHEN UND QUERDENKEN LAUTET DIE DEVISE Noll glaubt fest daran, dass Zäsuren Chancen sein können. Dass, wenn ein Turm fällt, dies kein Anlass für lähmende Trauer ist, sondern dafür, in die Hände zu spucken und Neues zu schaffen. Mehrfach spricht er an diesem Tag des Themenforums zu seinen Zuhörern. Zu den Gestaltern und Entscheidern füh-
render deutscher Unternehmen, die hergekommen sind, weil sie die Frage umtreibt, was sie tun müssen, um weiter führend zu bleiben. Im schicken Oktogon, einem achteckigen Bau, sitzen sie in einer Sofa-Landschaft, die Götz Schönfeld, Head of Business Transformation und Network Management bei Drees & Sommer, kurzerhand zur Diskussionslounge erklärt. Schließlich dürfe man es sich bei all dem aktuellen Erfolg nicht bequem machen. „Wenn wir Zukunft gestalten wollen, müssen wir aufstehen und querdenken“, sagt Schönfeld. Drees & Sommers Co-Gastgeber Phoenix Contact hat das schon getan – obwohl das Kerngeschäft blendend läuft. Das 1923 gegründete Unternehmen für Elektrotechnik und Automation hat mehr als 80.000 aktive Produkte, sein Umsatz und seine Mitarbeiter-
zahl stiegen in den vergangenen 15 Jahren jeweils um das Dreifache. In seinem Vortrag erklärt Frank Stührenberg, Vorsitzender der Phoenix-Contact-Geschäftsführung, warum er es dennoch für richtig und wichtig hält, der industriellen Routine eine digitale Aufbruchsstimmung beizumischen. Die Herausforderung der „95 Jahre vs. Day 1-Challenge“, wie sie heißt, ist es, das organische technologie- und produktgetriebene Wachstum voranzutreiben und gleichzeitig neue Welten zu erschließen. Mit PROTIQ, einem eigenen Start-up für Additive Manufacturing, will Phoenix Contact eine Plattform für 3-D-Druckanbieter aufbauen. Es ist die Erprobung eines neuen Geschäftsmodells und Stührenberg wählt dafür das Bild eines Gewächshauses. Weil er dem Projekt die Zeit und Freiheit geben will zu gedeihen, auch wenn dessen Gelingen nicht garantiert ist.
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Jedes Geschäftsmodell braucht eigene Ingredients für die Magic Sauce.“ Tobias Grün, Digital Transformation Leader, Schacht One
ERFOLGSFORMEL IN DYNAMISCHEN ZEITEN Es ist der Geist des Wagemuts, der Stührenberg mit weiteren Impulsvortraggebern des Vormittags verbindet. Dr. Stefan Müller vom Industrie-4.0-Pionier KUKA AG – Anspruch seit eh und je: die besten Roboter zu bauen und Menschen das Leben und Arbeiten zu erleichtern – spricht von einer neuen Erfolgsformel für Wachstum und Wandel in Zeiten hoher Dynamik, sprunghafter Innovationen und verkürzter Produkt- und Marktlebenszyklen. Sie lautet: Erfolg ist gleich Technologie-Know-how mal Markt-Know-how mal Ecosystem-Know-how. „Wenn ein Faktor null ist, wird alles null.“ Und Tobias Grün von Schacht One, dem Digitalunternehmen der 1756 gegründeten und noch immer in Familienhand befindlichen Franz Haniel & Cie. GmbH, berichtet von der Suche nach der Magic Sauce, dem Rezept für erfolgreiche Digitalisierung. Innovation und Inkubation, so Grün, setzten zweierlei voraus: ein tiefgreifendes Kundenverständnis und viel Geduld, weil die Suche erst einmal nur Kosten produziere. „Die eine Magic Sauce“, verrät er, „haben wir nicht gefunden. Jedes Geschäftsmodell braucht eigene Magic Ingredients für die Sauce.“
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Noll, Stührenberg, Müller und Grün haben gemein, dass sie Enthusiasten sind und dies andere spüren lassen. Sie brennen für den Wandel, sie wollen vorangehen und sie suchen nach Gleichgesinnten in ihren Unternehmen und außerhalb. Menschen, die ein positives Beispiel abgeben. „Dann gehen nämlich ganz normale Reflexe los, dass andere auch so sein wollen“, sagt Frank Stührenberg. „Aufbruch geht nur mit Begeisterung“, findet Hans-Peter Noll und Tobias Grün lässt das Schlagwort „Walk the Talk“ fallen. Man müsse Dinge ausprobieren – und auch das transparent machen, was nicht so gut gelaufen ist, „was wir in den Sand gesetzt haben“, wie er unverblümt und ohne Scheu sagt. „Einfach um zu zeigen: Wir machen trotzdem weiter.“ Doch wie lassen sich Skeptiker unter den Mitarbeitern mitreißen, die mit Transformationsprozessen vor allem die Furcht vor dem Verlust des eigenen Arbeitsplatzes verbinden? Das will Christoph Oesterheld von der Kienbaum Consultants International GmbH wissen. Stefan Müllers Antwort: indem man offen kommuniziert, offen diskutiert, um Vertrauen wirbt und Vertrauen gewährt. Hans-Peter
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Nolls Tipp: „Evolution vor Revolution“, sprich: Nicht alle Mauern und Strukturen gnadenlos umwerfen, sondern bedächtig vorgehen – freilich ohne die Entschlossenheit aufzugeben.
WORKSHOPS VERTIEFEN DIE ZAHLREICHEN THEMEN Oesterhelds Kienbaum-Kollegin Joana-Marie Stolz und Sinan Eliguel von Drees & Sommer spitzen bei der Frage und der Antwort besonders die Ohren, leiten die beiden doch gemeinsam einen der neun Workshops am Nachmittag, für die die Teilnehmer des Themenforums ihre Sofas verlassen. „Re-Design HR: Moving up to the next level!“ heißt der Workshop von Stolz und Eliguel, der einer These folgt: Wenn Personaler die Mitarbeiter vom unternehmerischen Wandel überzeugen sollen, müssen sie selbst die strategische Entwicklung mitgestalten. Die Workshops bilden praktisch die ganze Klaviatur der Herausforderungen und Möglichkeiten auf unterschiedlichen Feldern ab. Thomas Rist von der Protema Unternehmensberatung und Drees & Sommers Logistikex-
perten Janine Dietze und Markus Sauer lassen ihre Teilnehmer auf einem Modell mit Lego-Steinen City Micro Hubs planen. Kleine, dezentrale Warenverteillager, die den Erwartungen des Konsumenten an schnelle Lieferungen gerecht werden. André Diener von Cisco Systems und Martin Kapralek von Philips/Signify nehmen ihre Teilnehmer mit auf eine Reise in die prognostizierte Zukunft mit 3-D-Avataren, die Smartphones obsolet machen, oder Kommunikation via Telepathie, um dann zurück in die nähere Zukunft zu kommen und über Ethernet und Licht zu sprechen, wie es Cisco in seinem Innovationscenter openBerlin bereits nutzt. Die anderen Workshops widmen sich Produktionskonzepten der Zukunft, nachhaltigen Industriestandortentwicklungen, smartem Facility Management, Wettbewerbsvorteilen durch Klimaneutralität, intelligenten Bürogebäuden und ihrer Einbindung des Nutzers. All das zeigt: Die Herausforderungen sind gewaltig, die Möglichkeiten aber auch – weil es bereits viele Lösungen gibt und neue zu erwarten sind. Die Kunst ist, die passende individuelle Strategie zu finden, wie Frank Schnitz-
ler aus dem ICT-Expertenteam von Drees & Sommer betont. In seinem Vortrag über digitale Industriestandorte nennt er leuchtende Beispiele von Gebäuden, die sich nicht das zunutze gemacht haben, was technisch möglich ist, sondern das, was sinnvoll ist: das Cube by CA Immo in Berlin etwa, Europas schlaustes Gebäude. Oder „The Ship“ in Köln, das besonders schnell und flexibel auf wandelnde Bedürfnisse seiner Nutzer reagiert.
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Aufbruch geht nur mit Begeisterung“ Prof. Dr. Hans-Peter Noll, Geschäftsführer, Stiftung Zollverein
VOM THEATER-PROFI LERNEN Visionen haben und sie richtig kommunizieren – das ist die Quintessenz des Themenforums auf Zeche Zollverein. Und als hätten es die Organisatoren geahnt, tritt zum Abschluss des Tages Michael Bandt auf die Bühne, Künstlerischer Leiter beim Hamburger Scharlatan Theater für Veränderung, in dem professionelle Theatermacher Unternehmen und Organisationen in Strategie- und Veränderungsvorhaben beraten. Wobei „auf die Bühne treten“ bei einem Mann vom Theater natürlich viel zu statisch klingt. Bandt trippelt, er tänzelt, er schwingt, reibt sich dabei die Hände und zwinkert dem
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Publikum vor seinem „szenisch-interaktiven Vortrag“ mit den Worten „An Ihrer Stelle wäre ich mir gegenüber misstrauisch“ zu. Doch genau darum, Misstrauen und Missverständnisse abzubauen, geht es dem Hierarchiedesigner, wie er sich nennt. Bandt lässt seine Zuhörer in Zweiergruppen König und Diener spielen, jeder mal das eine und mal das andere. Er selbst mimt in einer Doppelrolle den unterwürfigen, verdrucksten Nokia-Mitarbeiter und dessen dominanten, selbstgefälligen Chef, der im Jahr 2007 nichts von der Idee des Untergebenen hören will, den kapazitiven Touchscreen zu entwickeln. Warum auch? Man ist ja schließlich Handy-Weltmarktführer. Bandts Botschaft ist klar: Um zeitgemäße und Erfolg versprechende Unternehmenskulturen zu schaffen, genügt es nicht, die formalen Hierarchien umzubauen. Man müsse auch ein Bewusstsein für die informelle Hierarchie schaffen, man müsse auf Augenhöhe kommunizieren und alternative Belohnungssysteme schaffen statt des bisherigen „Aufstiegs bis zur Inkom-
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petenz“. Der Scharlatan-Mann erntet für seinen Vortrag viel Gelächter, aber auch Nachdenklichkeit. Möglicherweise hat er etwas bewegt bei seinen Zuhörern. Und als die Entscheider und Gestalter am Donnerstagabend aus dem Oktogon treten, da nieselt der Regen nicht mehr auf Zeche Zollverein, da weht auch kein kalter Wind mehr, da scheint sogar ein wenig die Sonne.
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An Ihrer Stelle wäre ich mir gegenüber misstrauisch.“ Michael Bandt, Künstlerischer Leiter, Scharlatan Theater
TEILNEHMER
> Stefan Ahlers, ABB
>R ené Habers, Georg Fischer
> Hanna Müller, Drees & Sommer
> Frank Schröder, Phoenix Contact
> Martin Altmann, Drees & Sommer
>D r. Johannes Hagemann, Drees & Sommer
> Dr. Steffan Müller, KUKA
> Lars-Oliver Schröder, Philips/Signify
> Axel Bagszas, Bagszas Industrial Logistics
>P eter Helbig, Peters & Helbig
> Prof. Dr. Hans-Peter Noll, Stiftung Zollverein
> Ludger Schulze-Beckendorf, Wieder
> Michael Bandt, Scharlatan
> Stefan Heselschwerdt, Drees & Sommer
> Jörg Nolte, Phoenix Contact
> Dr. Otmar Schuster, GEOHAUS
> David Bokemeyer, Steinbeis School of International Business and Entrepreneurship
>P hilipp Hinz, Siemens
> Christoph Oesterheld, Kienbaum
> Martin Sembach, Flex Lighting Solutions
>M artin Hugo, IHS
> Sebastian Palmer, Phoenix Contact
> Anke Stadelmeyer, Drees & Sommer
> J ulia Kammerer, Drees & Sommer
> Kathrin Pazer, Drees & Sommer
> Joana-Marie Stolz, Kienbaum
> F rank Kamping, Drees & Sommer
> Gisela Petzold, Plant-for-the-Planet
> Frank Stührenberg, Phoenix Contact
>M artin Kapralek, Signify
> Dr. Jörg Pirron, PROTEMA
> Eric Swehla, Wirtschaftsförderungszentrum Lünen
> Wolfram Kittel, GDELS-G
> Michael Plentinger, Greple
> F rank Knafla, Phoenix Contact
> Marc Puschmann, Cisco Systems
>R aphael Kromer, Vecara
> Jan-Marc Raitz, Favendo
>P eter Löck, Peter Löck Mobilitätsberatung
> Thomas Rist, Protema
>R enate Phoenix Mahr, manageMENTOR
> Max Rüger, Plant-for-the-Planet
>M ichael Mergenthal, VDI Verlag
> Markus Sauer, Drees & Sommer
>D r. Hans-Peter Mertens, Lenze Operations
> Jürgen Schlichting, Lenze Operations
> F rederick Meulenkamp, MPC Parking
> Frank Schnitzler, Drees & Sommer
>H enning Meyer, EnOcean
> Nicole Schöbel, Drees & Sommer
> J an Meyers, MPC Parking
> Götz Schönfeld, Drees & Sommer
> Dr. Jörg-Matthias Böttiger, Drees & Sommer > Nadin Bozorgzadeh, Drees & Sommer > Gaetano Camilleri, Siemens > André Diener, Cisco Systems > Janine Dietze, Drees & Sommer > Matthias Dingendorf, Deutsche Post DHL > Jens Eglit, Schenker > Sinan Eliguel, Drees & Sommer > Oliver Fronk, PRIOR1 > Enno Fuchs, Bochum Perspektive 2022 > Dirk Graewe, MPC Parking > Prof. Dr. Viktor Grinewitschus, EBZ Business School > Tobias Grün, Schacht One > Dr. Roland Haas, QSO Technologies
> Christian Terwey, Drees & Sommer > Julian Teuffel, Drees & Sommer > Stefan Thulmann, Drees & Sommer > Bernhard Tillmanns, Phoenix Contact > Ömer Toy, Klinikum Westfalen > Dick van Wijgerden, MPC Parking > Alexa Waldow-Stahm, Stahm Architekten > Patrick Weber, ENGIE Deutschland > Sebastian Westerwinter, WATERKOTTE
> L ouis Motaal, Plant-for-the-Planet PEOPLE | PROCESS | PLACES 53
Nachgefragt
WAS SAGEN SIE EIGENTLICH ZUM THEMA …
?
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Auch die Experten von Drees & Sommer beschäftigen sich mit der Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft. Auf den folgenden Seiten erfahren Sie, welche Meinung wir zu einzelnen Fragen vertreten und wo wir die Chancen und Herausforderungen sehen.
… DIGITALISIERUNG KLAUS DEDERICHS HEAD OF ICT DREES & SOMMER
… WIRTSCHAFTSSTANDORT NRW STEFAN HESELSCHWERDT PARTNER DREES & SOMMER
Nordrhein-Westfalen ist als Region einer der Wirtschaftsmotoren in Deutschland, viele Spitzenunternehmen haben dort ihren Sitz. Wie müssen diese sich auf die momentanen Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft einstellen? Viele Unternehmen in NRW müssen sich aktuell mit der Frage beschäftigen, wie sie sich in Zeiten des digitalen Wandels für die Zukunft aufstellen können. Wollen sie weiter führend bleiben, müssen sowohl Mittelständler als auch Konzerne in der industriellen Kernregion Deutschlands hinterfragen, wie ihr Produkt- und Serviceangebot an die veränderten Marktbedingungen angepasst werden kann, denn die Digitalisierung verändert die Wettbewerbsfaktoren: Wertschöpfungsprozesse werden auf den Prüfstand gestellt und bestehende Geschäftsmodelle neu definiert. Industrie 4.0 bedeutet flexible Fertigung, und hybride Geschäftsmodelle dominieren die aktuellen Diskussionen in der Branche. Das größte Risiko der Digitalisierung besteht darin, ihre Chancen nicht zu nutzen!
Wenn Gebäude künftig denken lernen, wenn also smarte Technologien nicht nur im Bauprozess selbst, sondern auch im fertigen Produkt Einzug halten: Wie ändert sich dann unser Umgang mit den Gebäuden – und für welche Gruppe sind die Veränderung am gravierendsten? Wer morgen gute Geschäfte machen will, muss heute über Investitionen in Informations- und Kommunikationstechnologien nachdenken. An der Digitalisierung von Gebäuden wird künftig kein Weg vorbeiführen, da sie Mehrwerte für alle Beteiligten generiert. Für den Nutzer werden smarte Technologien zum Einsatz kommen, die ihm sowohl die „Bedienung“ des Gebäudes erleichtern als auch vollkommen neue Nutzungsmöglichkeiten eröffnen. Radikaler sind allerdings die Veränderungen für die Entwickler, Eigentümer und Betreiber der Immobilien, da Entwickler und Eigentümer in der Zukunft auch zu Plattformbetreibern werden. Bereits in der ersten Konzept- und Planungsphase wird es künftig unerlässlich sein, eine bedarfsorientierte Digitalisierungsstrategie zu entwickeln. Idealerweise gibt es für jedes Gebäude einen digitalen Zwilling, der die Immobilie über den gesamten Lebenszyklus begleitet. Begonnen bei der Anwendung von Building Information Modeling in der Planung über 3-D-Laserscanning in der Ausführungsphase bis zu Smart-Building- und Cyber-Security-Konzepten für den späteren Betrieb lässt sich für jedes Gebäude ein digitales Abbild erschaffen. Wenn dann noch eine zentrale Steuerungseinheit sämtliche Gebäudeautomationssysteme und eingesetzte Technologien miteinander vernetzt, kann das Gebäude lernen und Prozesse verbessern. Zum Beispiel benötigen nicht genutzte Flächen weder Heizung noch Kühlung, Lüftung oder Licht – und müssen auch nicht unnötig gereinigt werden. Ausgehend vom Sharing-Economy-Gedanken ist es außerdem möglich, Arbeits- oder Parkplätze mehrfach zu vermieten und neue Einnahmequellen zu generieren.
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… KUNDENNÄHE JANINE DIETZE HEAD OF LOGISTICS DREES & SOMMER Umbrüche allerorten – vor allem durch die Digitalisierung und ein dadurch verändertes Kaufverhalten. Besonders für die Logistikbranche zieht dies Veränderungen nach sich. Wie gelingt dort der Wandel, um weiterhin erfolgreich zu sein? Die Logistikbranche ist mitten im Umbruch: Veränderte Warenströme in Industrie und Einzelhandel, komplexer werdende Lieferketten sowie der steigende Kosten- und Termindruck stellen die Akteure vor große Herausforderungen. Wer aber auf neue Probleme mit alten Lösungen reagiert, läuft Gefahr, im globalen Wettbewerb an Boden zu verlieren. Beispielhaft dafür ist der Bau von Logistikzentren, der sich seit Jahrzehnten kaum verändert hat. Nach wie vor werden hauptsächlich große Flächen vor der Stadt mit guter Anbindung an den Fernverkehr gesucht. Für die letzte Meile bedeutet das aber nach wie vor einen hohen Zeitaufwand und höhere Kosten. Warum nicht auf die vorhandenen freien Flächen in der Stadt setzen? Diese können zu sogenannten Urban Hubs, also zu kleinen, dezentralen Logistikeinheiten, entwickelt werden, die nah am Kunden sind. Das könnten etwa moderne Neubauten sein, aber auch weniger attraktive oder antizyklisch genutzte Flächen, wie beispielsweise die oberen Geschosse von Shoppingcentern, Freiflächen in Bürogebäuden, ungenutzte Parkplätze oder Bereiche in Sportstadien. Dabei geht es längst nicht nur um spezifische Lagerflächen für Einzel- oder Lebensmittelhändler, Hotelketten oder Handwerksbetriebe. Es geht vielmehr darum, Serviceleistungen anzubieten, die einen konkreten Mehrwert schaffen. Ein Urban Hub kann sieben Tage die Woche rund um die Uhr einen kontinuierlichen Warenein- und -ausgang ermöglichen. Als Baustein in einem ganzheitlichen City-Logistikkonzept sorgen die Urban Hubs für effizientere, schnellere und kostengünstigere Lieferungen.
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… I NDIVIDUALISIERUNG STEPHAN THULMANN HEAD OF INDUSTRY DREES & SOMMER Deutsche Industriekonzerne und Mittelständler sind seit vielen Jahrzehnten Spitzenreiter bei Innovationen und Produkten. Doch Erfolg macht träge, das lehrt die Erfahrung. Wie gelingen Wandlungsprozesse in der Branche dennoch? Wer sich auf dem Erfolg der letzten Jahrzehnte ausruht, läuft Gefahr, im globalen Wettbewerb an Boden zu verlieren. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen Mittelständler ebenso wie große Konzerne hinterfragen, wie ihr Produkt- und Serviceangebot an die veränderten Marktbedingungen angepasst werden kann. Die immer kürzeren Produkt- und Innovationszyklen sowie die hohe Variantenvielfalt zu den Preisen einer Massenproduktion sind nur einige Beispiele für die Herausforderungen, denen sich die Industrie heute stellen muss. Wenn sich aber die Produktion wandelt, muss sich das Gebäude mit verändern. Ein Beispiel hierfür ist der Trend zur Individualisierung, der im Extremfall zu einer Ausrichtung der Fertigung in Richtung Losgröße 1 führt. Aus der traditionellen Anordnung der Lieferkette wird dann zunehmend ein integriertes Wertschöpfungsketten-Ökosystem. Dem muss sich die Fabrikplanung ebenfalls anpassen – weg von starren Anlagen hin zum flexiblen System, das mehrere Typologien darstellen kann. Und das Gebäude muss diesen Wandel hin zur „Fabrik der Zukunft“ überhaupt erst möglich machen.
… INDUSTRIELLE WERTSCHÖPFUNG PHILIPP SPÄTH PARTNER UND HEAD OF AUTOMOTIVE DREES & SOMMER Wie gelingt in Zeiten fundamentaler Verschiebungen im Mobilitätsverhalten der Menschen der notwendige Wandel in der Automotive-Branche? Die Automobilindustrie ist der wichtigste Wachstumsmotor in Deutschland. Mit einem Umsatz von 423 Mrd. Euro hat die Vorzeigebranche im vergangenen Jahr ein neues Rekordniveau erreicht, und trotz Dieselgate und Brexit laufen die Geschäfte weiterhin gut. Das liegt vor allem daran, dass es den Automobilherstellern gelingt, ihre alte Stärke – das Produktionshandwerk – in eine Zeit zu übertragen, die mit dem alten Produktionsprozess nicht mehr viel zu tun hat. Wer heute auf einer Produktionslinie unterschiedliche Modelle vom Band laufen lassen will, setzt auf flexible Montagelinien, die mehrere Typologien und Produkte darstellen können. Die großen Vorteile liegen in der verbesserten Kapazitätsauslastung und in der Möglichkeit, Nachfrageschwankungen bei einzelnen Modellen einfach auszugleichen. Dies ist allerdings nur möglich, wenn auch das Produktionsgebäude selbst vernetzt und flexibel ist. Montagelinien, die sich je nach Bedarf vergrößern oder verkleinern lassen, Assistenzroboter, welche die Montageinseln mit Bauteilen versorgen, oder fahrerlose Transportfahrzeuge, die über Induktionsschleifen im Hallenboden aufgeladen werden – für diese „Fabrik der Zukunft“ muss das Gebäude die ideale Plattform schaffen.
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MIT MEHR MUT ZUM KLIMANEUTRALEN INDUSTRIESTANDORT INTERVIEW MIT FELIX FINKBEINER, GRÜNDER DER INITIATIVE PLANT-FOR-THE-PLANET, DIE WELTWEIT 1.000 MILLIARDEN BÄUME GEGEN DEN KLIMAWANDEL PFLANZEN WILL
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„MIT MEHR MUT ZUM KLIMANEUTRALEN INDUSTRIESTANDORT“
PLANT-FOR-THEPLANET
> Plant-for-the-Planet ist eine Bewegung, die von Kindern und Jugendlichen getragen wird. Ihr Ziel ist es, weltweit 1.000 Milliarden Bäume gegen die Klimakrise zu pflanzen und dadurch gleichzeitig ein Bewusstsein für globale Gerechtigkeitsfragen zu schaffen. > Die Initiative, die heute in 67 Ländern über 70.000 Mitglieder zählt, wurde 2007 vom damals neunjährigen Felix Finkbeiner ins Leben gerufen.
DREES & SOMMER (DS): Unsere Themenreise richtet sich an deutsche Mittelständler und große Unternehmen. Im Zentrum steht die Frage, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, um weiter an der Spitze zu bleiben. Inwiefern unterstützt Plant-for-the-Planet Unternehmen, um dieses Ziel zu realisieren?
„Wir bieten den Unternehmen an, sich als First Mover freiwillig klimaneutral zu stellen.“ FELIX FINKBEINER (FF): Wer an der Spitze bleiben will, muss die nächste Generation begeistern. Das sind die Kunden und die hoch qualifizierten Mitarbeiter von morgen. Und genau da setzen wir an: Wir bieten den Unternehmen an, sich als First Mover freiwillig klimaneutral zu stellen. Zusätzlich zu allem, was sie sonst schon in Sachen Nachhaltigkeit machen. Denn die bittere Wahrheit ist: Ohne massive Wiederaufforstung werden wir auf eine Klimakatastrophe zusteuern. Wer jetzt etwas dagegen unternimmt, und das freiwillig, ist unser Held. DS: Deutschland soll der erste klimaneutrale Industriestandort weltweit werden. Klimaneutral und Industriestandort? Ist das nicht ein Widerspruch? Wie kann man diesen auflösen?
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FF: Das ist überhaupt kein Widerspruch. Wie werden Sie denn klimaneutral? Erstens, Sie reduzieren die Emissionen, etwa, indem Sie Ihren Fuhrpark auf E-Autos umstellen, indem Sie Strom aus erneuerbaren Energien einkaufen, Emissionen vermeiden und Energie-Effizienz-Maßnahmen anwenden, wo immer es geht. Das alles passt sehr gut zu einem Industriestandort! Ergänzt wird das alles durch neue Bäume, die das CO2 aufnehmen, das Sie nicht einsparen können.
DS: Wer sind die größten Verhinderer und wer die Treiber von nachhaltigen Veränderungen? Wie gelingt es, die Verhinderer zu ökonomischen Profiteuren der Veränderung zu machen? FF: Immer dort, wo kurzfristige ökonomische Interessen und Klimaschutz nicht zusammenpassen, wird auch nichts passieren. Aber was wird sich denn langfristig verändern? Wir sehen das heute schon: Kriege werden geführt, weil die Klimaveränderung Menschen ihre Lebensgrundlagen nimmt. In Syrien ging laut einer NASA-Studie dem Bürgerkrieg eine jahrelange Dürre voraus, die die Menschen zwang, in andere Gebiete umzusiedeln. Aber das ist nicht alles: Gebiete werden überschwemmt, sind von Regenfällen und Wirbelstürmen bedroht, Ernteausfälle und Wasserknappheit bringen Geschäftsgrundla-
gen ins Wanken. Und schließlich können Unternehmen auch kein Interesse daran haben, wenn rechte populistische Parteien angesichts von immer mehr Klimaflüchtlingen unsere Volkswirtschaften abschotten.
„Wir sehen das heute schon: Kriege werden geführt, weil die Klimaveränderung Menschen ihre Lebensgrundlagen nimmt.“ DS: Die Bauindustrie gehört zu den ressourcenintensivsten Wirtschaftszweigen. Was müsste sich Ihrer Meinung nach innerhalb der Bauindustrie ändern, damit wir eine nachhaltigere Entwicklung/Bauproduktion erzeugen? FF: Es steckt unheimlich viel Potenzial in der Baubranche, was Emissionseinsparung betrifft. Das fängt bei den Baustoffen an – bei der Zement- und Stahlproduktion werden zehn Prozent des weltweit menschengemachten CO2 freigesetzt, Holz bindet CO2. Wir müssen also so viel wie möglich mit Holz bauen. Auch beim Energieverbrauch der Gebäude gibt es enormes Potenzial und großartige Möglichkeiten, erneuerbare Energien zu erzeugen. DS: Derzeit gibt es sehr viel menschliches Elend durch humanitäre Katastrophen wie Dürren, Überschwemmun-
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gen, Bürgerkriege und vieles mehr. Die grundsätzliche Bereitschaft zu einem Nachhaltigkeitswandel, der nötig ist, um dieses Elend zu beenden, scheint in der Breite vorhanden.
„Was wir brauchen, ist eine positiv-emotionale Kommunikation.“ Problematisch ist jedoch, dass viel zu wenig gehandelt wird. Die FAZ schreibt hierzu: „Der Sachverhalt der anthropogenen Ursachen des Klimawandels ist trivial: Verfügbares Wissen wird nicht
Felix Finkbeiner gründete 2007 die Initiative Plant-for-the-Planet. Für sein Engagement erhielt er inzwischen zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier 2018 das Bundesverdienstkreuz. Seit diesem Jahr studiert er Ökologie an der ETH Zürich.
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verhaltenswirksam.“ Haben wir ein Umsetzungsproblem? FF: Tatsächlich bewirkt Wissen allein noch kein anderes Verhalten. Wir haben hier ein Kommunikationsproblem: Was wir brauchen, ist eine positiv-emotionale Kommunikation aus einer vertrauenswürdigen Quelle mit einem einfachen Handlungsanreiz. DS: Wie gelingt der Schritt vom Wissen zum Handeln? FF: Wir Kinder und Jugendliche haben gemerkt, dass Erwachsene auf uns hören, denn es geht hier um unsere Zukunft. Wir haben keine versteck-
ten Interessen, wir wollen einfach nur überleben! Und helfen kann uns jeder ganz einfach: indem er Bäume pflanzt. DS: Was erwarten Sie von den führenden Industrie-, Automotive- und Logistikunternehmen im Hinblick auf das Thema CO2-Reduktion?
„Das nächste Jahrzehnt zählt.“ FF: Dass sie mutig sind! Dass sie jetzt Lösungen angehen, und zwar mit aller Kraft. Wir haben keine Zeit mehr. Das
nächste Jahrzehnt zählt. Danach ist es zu spät. DS: Sie studierten International Relations in London. Was ist Ihre Strategie, um Plant-for-the-Planet international noch besser aufzustellen? FF: Möglichst viele der großartigen jungen Erwachsenen aus unseren 70.000 jungen Botschaftern für Klimagerechtigkeit als Mitarbeiter engagieren, um in den armen Ländern des Südens Pflanzprojekte voranzubringen und in den reichen Ländern Unternehmen zu überzeugen, dass Klimaneutralität unsere und ihre Zukunft sichert.
FELIX FINKBEINER
Felix Finkbeiner (21) entwarf als Neunjähriger während eines Schulreferats zum Thema „Klimakrise“ seine Vision: Lasst uns in jedem Land der Erde eine Million Bäume pflanzen. Inspiriert von der Friedensnobelpreisträgerin Wangari Maathai († 2011), die mit vielen Frauen in 30 Jahren über 30 Millionen Bäume in Afrika gepflanzt hat, ruft er alle Kinder auf, mitzupflanzen. Kinder aus über 100 Ländern gründen daraufhin gemeinsam die Kinder- und Jugendinitiative Plant-for-the-Planet. Mit nur 13 Jahren hält Felix eine Rede vor der UN-Vollversammlung in New York. Darin appelliert er an die Welt, 1.000 Milliarden Bäume zu pflanzen. Diese würden ein Viertel der menschengemachten CO2-Emissionen binden und so der Menschheit Zeit verschaffen im Kampf gegen die Klimakrise. Um ihre Zukunft zu retten, fordern Felix und die Kinder und Jugendlichen von Plant-for-the-Planet das Ende der fossilen Energiegewinnung sowie eine Senkung des weltweiten CO2-Ausstoßes auf null. Bis dahin setzen sie sich für eine gerechte Verteilung der CO2-Emmissionen ein (Klimagerechtigkeit). Schon 70.000 Kinder aus 67 Ländern sind ausgebildete Botschafter für Klimagerechtigkeit. Die UNEP, das Umweltprogramm der Vereinten Nationen, hat ihnen die Verantwortung für den Weltbaumzähler übertragen. Seither melden Regierungen, Unternehmen, Organisationen und Privatpersonen den Kindern, wie viele Bäume sie gepflanzt haben. Gemeinsam sind es schon 15,2 Milliarden.
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FÜHREND BLEIBEN Fazit der Themenreise 2018
Wie gelingt Wandel trotz Erfolg? Welche Stellschrauben der Zukunftsge-
staltung sind zu betätigen, um in den relevanten Branchen auch in Zukunft führend zu bleiben? Erkenntnisse aus der Themenreise 2018.
FÜHREND BLEIBEN DURCH INNOVATIONS- UND INTERNATIONALISIERUNGSEXZELLENZ Innovation und Internationalisierung verlangen fortlaufend ein exzellentes Change-Management. Dieses sollte kontinuierlich und mit Begeisterung auf Innovation setzen und keine Mauern und Strukturen einreißen. Dabei sollte eine Unternehmens-(Start-up-) Kultur erzeugt werden, bei der auch das Scheitern erlaubt ist. Mittels eines veränderten Hierarchiedesigns, neuer interner Feedback-Strukturen, wie Reverse Mentoring, sowie effektiver For-
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men der Innovationserzeugung (Scrum etc.) können neue Mitarbeiter gewonnen und gleichzeitig vorhandene Mitarbeiter gebunden werden.
FÜHREND BLEIBEN DURCH DIE BEWUSSTE REDUZIERUNG DES ROHSTOFF- UND ENERGIEVERBRAUCHS Wer beabsichtigt, die Menschen und Märkte von morgen zu gewinnen, muss Vorbild sein, insbesondere im Energieund Ressourcenverbrauch. Denn in der Übergangsphase von einem zentralistisch organisierten zu einem dezentralen und CO2-neutralen Energiemarkt kann durch intelligente Gebäude-, Logistik- oder Smart-Factory-Konzepte deutlich CO2 eingespart und das Verkehrsaufkommen reduziert werden. Aus einer übergreifenden Zusammenarbeit der Branchen Industrie, Automotive und Logistik werden somit an entsprechenden Technologieschnittstellen neue Geschäftsmodelle und damit neue Perspektiven generiert. Mittels additiver Fertigungsverfahren (3-D-Druck), moderner Schnellladeinfrastrukturen für Elektroautos oder innovativer Energiespeicher-Technologien in Gebäuden lassen sich erhebliche Einsparungen und Effizienzeffekte erzielen.
FÜHREND BLEIBEN DURCH FLEXIBILISIERUNG, PLATTFORMISIERUNG UND DIGITALISIERUNG Um führend zu bleiben und flexibel auf die veränderten Kundenbedürfnisse eingehen zu können, muss der industriellen Routine eine digitale Aufbruchstimmung beigemischt werden. Bei dieser Stimmungslage kommt weniger dem physischen Standort als vielmehr der digitalen Plattform die höchste Bedeutung zu, die mehr und mehr zur Drehscheibe der Zukunftsgestaltung wird. Diese Plattformwirtschaft gilt es zu verstehen, dann zu nutzen und später zu steuern und zu betreiben. Tech-Start-ups haben hierbei weniger Berührungsängste und sind somit für etablierte Unternehmen von entscheidender Bedeutung. Mittels digitaler Plattformen können somit neben dem Kerngeschäft neue Dienstleistungen und Kundenservices angeboten werden.
PREVIEW 2019 THEMENREISE 2019 – PEOPLE PROCESS PLACES
AUF ZUM AUSSERGEWÖHNLICHEN! lg? Was beeinflusst zukünftig den Unternehmenserfo unterstützt durch
DIE NÄCHSTE INTERDISZIPLINÄRE THEMENREISE IN DIE ZUKUNFT VON INDUSTRIE, AUTOMOTIVE UND LOGISTIK PEOPLE – Wie wird man außergewöhnlich? Mit welcher Differenzierungsstrategie lassen sich neue Märkte und Mitarbeiter überzeugen? Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine oder Produzent und Konsument? PROCESS – Wie kann der Produktionsprozess fortlaufend und cybersicher angepasst werden? Was geschieht mit den klassischen Produktionslinien, wenn das Additive Manufacturing die Just-in-time-Delivery verdrängt? PLACES – Bedarf es neuer Unternehmens- und Standortentwicklungen, um schneller, offener und CO2-neutraler zu werden? Welchen Einfluss übt die Mobilität der Zukunft aus? Welche neue Immobilienstrategie macht den Unterschied? Kontakt: Drees & Sommer, Anna-Sophia Darimont, +49 711 1317-1073, themenreise@dreso.com
03.04.2019 HANNOVER 06. – 07.03.2019 BAD PYRMONT
SAVE THE DATE
13.06.2019 AACHEN
14. – 18.05.2019 FRANKFURT – TOKIO 05.02.2019 SCHWÄBISCH HALL
17.10.2019 ROTTWEIL
unterstützt durch
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Herausgeber Drees & Sommer Untere Waldplätze 28 70569 Stuttgart Deutschland themenreise@dreso.com
Bildnachweise: Seite 6-9, 66-67: © Christian Back Seite 20-25, 66-67: © Iris Klöpper Seite 34-37, 66-67: © Michael Steiner Seite 48-52, 66-67: © Christian Reger
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