EB Kurs - Magazin der EB Zürich Frühling 2007

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Magazin der EB Z체rich Kantonale Berufsschule f체r Weiterbildung Nr. 13 M채rz bis Juni 2007

THEMA: ILLETTRISTEN SIND NICHT DUMM

INTERVIEW: ANDREAS THIEL, SPRACHARTIST


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EB AUF KURS

Aktuell

Agenda

Informatik-Führerschein

Vormerken!

Freie Fahrt. Wer die European Computer Driving Licence (ECDL) besitzt, weist sich über standardisierte Anwendungskenntnisse aus. Neu können die Prüfungen auch an der EB Zürich abgelegt werden.

Nächste Veranstaltungen im Lernfoyer (Auswahl)

Die ECDL ist Standard in vielen Ländern. Eine gute Schulung am Computer ist Gold wert, mit oder ohne Zertifikat. Manchmal aber fragen Personalchefinnen und -chefs nach einem Ausweis. Da profitiert, wer einen vorweisen kann.

ECDL setzt sich durch. Die European Computer Driving Licence hat sich mit vier Millionen Teilnehmenden weltweit als der führende Standard durchgesetzt. Sie gilt in 138 Ländern und wird in 32 Sprachen ausgestellt. Inzwischen empfiehlt auch die Europäische Kommission die ECDL als Ausbildungsstandard für die EU. Verschiedene Stufen. Die ECDL ist konsequent modular organisiert. Die Modulprüfungen können in beliebiger Reihenfolge abgelegt werden. Das erlaubt ein selbst bestimmtes Lernen mit einem eigenen Rhythmus. Wer sich nur über ganz bestimmte Kompetenzen ausweisen will, kann mit «ECDL Start» anfangen. Wer fortgeschrittene Fertigkeiten am PC belegen möchte, strebt die «ECDL Advanced» an. Prüfungen an der EB Zürich. Die EB Zürich gehört neu zu den autorisierten Zentren, welche die ECDL-Prüfungen abnehmen dürfen. Zum Angebot gehören selbstverständlich auch Vorbereitungskurse und individuelle Unterstützung im Lernfoyer. Damit werden gute Grundlagen für einen Prüfungserfolg gelegt.

«Wir sind überzeugt, dass die ECDL eine gute Sache ist, auch wenn wir nicht nur auf Zertifikate setzen», sagt Felix Ritter, Bereichsleiter Informatik an der EB Zürich. «Es ist uns ein Anliegen, für Interessentinnen und Interessenten möglichst ein breites und qualitativ gutes Angebot bereitzustellen.»

Controlling – finanzielle Führung Dienstag, 6. März 2007, 18.00–19.00 Uhr Tonaufnahmen ohne Nebengeräusche Mittwoch, 7. März 2007, 17.00–18.00 Uhr Ein Tag im Leben von... Dienstag, 13. März 2007, 17.00–18.00 Uhr Zeitmanagement Dienstag, 17. April 2007, 17.00–17.45 Uhr

Die Teilnahme an diesen Veranstaltungen ist kostenlos. Weitere Veranstaltungen unter www.lernfoyer.ch


EDITORIAL – INHALT

Editorial

Inhalt

Fehlendes Puzzleteilchen Das Problem ist bekannt: Zu viele Menschen in der Schweiz können nicht richtig lesen oder schreiben. Jüngste Studien sprechen von 800 000 Personen. Fachleute bezeichnen diese Tatsache mit Illettrismus. Wer genau hinschaut, entdeckt hinter diesem abstrakten Wort Frauen und Männer, die sich aus unterschiedlichen Gründen schwer tun mit Lesen und Schreiben. Ein Formular auszufüllen wird zur Riesenaufgabe, den Behördenbrief zu verstehen, fast unmöglich. Im Artikel ab Seite 6 geht es darum, wie dieses Problem entschärft werden kann. Illettrismus darf kein Tabuthema sein. Wer eine Lese- und Schreibschwäche hat, ist nicht dumm. Oft ist nur ein Puzzleteilchen verloren gegangen, das sich leicht wieder findet. – Die Bilder zum Thema machte der Fotograf Fritz Franz Vogel: Was heisst es, nicht alles lesen zu können? Schauen Sie selbst. Serge Schwarzenbach, Herausgeber

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Versteigerung Der Hausrat im Online-Geschäft.

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Illettrismus Wenn Lesen und Schreiben nicht so gut klappen.

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Wörtersee Ivar Breitenmoser ist (R)auch Sprachkünstler.

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Büffeln für die BMS Das Lernen geht weiter.

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Wortkaskaden Andreas Thiel im Gespräch.

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Galerie Silvia Voser stellt aus.

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EB auf Kurs

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Editorial Bemerkenswert

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Tipps und Tricks Kultur: Lesen, hören, sehen Comic

• IMPRESSUM • EB KURS NR. 13 / MÄRZ BIS JUNI 2007 MAGAZIN DER EB ZÜRICH • KANTONALE BERUFSSCHULE FÜR WEITERBILDUNG ZÜRICH • BIZE • RIESBACHSTRASSE 11 • 8090 ZÜRICH • TELEFON 0842 843 844 • FAX 044 385 83 29 • INTERNET WWW.EB-ZUERICH.CH • E-MAIL EB-KURS@EB-ZUERICH.CH • AUFLAGE 33 000 • HERAUSGEBER (FÜR DIE GESCHÄFTSLEITUNG:) SERGE SCHWARZENBACH • REDAKTION CHRISTIAN KAISER, FRITZ KELLER, SILBENSILBER, ZÜRICH • GESTALTUNG ATELIER VERSAL, PETER SCHUPPISSER TSCHIRREN, ZÜRICH • TEXTE ANJA EIGENMANN, ANOUK HOLTHUIZEN, FRITZ KELLER • FOTOS LUC-FRANÇOIS GEORGI, RETO SCHLATTER, FRITZ FRANZ VOGEL • ILLUSTRATIONEN EVA KLÄUI, RUEDI WIDMER • DRUCK GENOSSENSCHAFT ROPRESS ZÜRICH

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BEMERKENSWERT

Gesehen, Gehört PHILOSOPHIEREN SIE GERNE? Die Zukunft ist ethisch – oder gar nicht. So lautet der Titel des neuen Buches, das EB-Zürich-Kursleiter Thomas Gröbly zusammen mit dem Philosophen Hans Ruh geschrieben hat. Ethik bekomme für die Zukunft einen besonderen Stellenwert, sagen die beiden Autoren. Sie zeigen dies an aktuellen Problemen wie Umweltzerstörung, Gewalt, Arbeitslosigkeit, Armut, ungerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen. Sie prangern aber nicht nur an, sondern stellen Lösungsansätze vor. Dabei dient ihnen die Ethik als Leitprinzip, mit dem sich eine lebenswerte Gesellschaft für die Zukunft entwickeln lässt. (Waldgut Verlag, Frauenfeld, Fr. 38.–)

KÖNNEN SIE SINGEN? Music Star. Es ist zwar schon einige Zeit her, dass die Sekundarschülerin Börni Höhn an der EB Zürich einen Videokurs in Montage und Nachbearbeitung besuchte. Aber schon damals zeigte die junge Frau aus Wollishofen viel Engagement, wie Kursleiter Thomas Geser berichtet. Nun setzt Börni Höhn ihre ganze Energie ein, um Music Star zu werden. Sie schaffte es nämlich mit ihrer kräftigen Stimme in den Final der zehn besten Kandidatinnen und Kandidaten und ist für viele die Geheimfavoritin. Falls sie es nicht schafft, «gross herauszukommen», wie sie sich das in einem Interview gewünscht hat, will sie trotzdem weitermachen. Gut so.

SPRECHEN SIE UBUNTU? Offene Quellen. Noch nie war das Umsteigen simpler und schonender für das Budget: Immer mehr Open-Source Programme präsentieren sich als ebenbürtige und kostenlose Alternative zu teurer Software. Paradebeispiel ist das unabhängige Betriebssystem Linux. Wie leicht die Umstellung auf Linux ist, zeigte der Open-Source-Förderer Matthias Stürmer Ende Januar in einer Präsentation im Lernfoyer am Beispiel von Ubuntu, der derzeit populärsten Linux-Distribution. Die Botschaft: Ubuntu beherrscht man schnell. Das Wort stammt aus Xhosa und Zulu und bedeutet sinngemäss: «Ich bin – weil ihr seid» und nimmt so die Open-Source-Idee des Teilens auf.

MÖGEN SIE HÜTE? Hauptsachen. Die Kopfbedeckung – Schutzfunktion, Mode und Machtdemonstration, heisst eine Ausstellung im Rätischen Museum Chur, in welcher sich alles um Hüte dreht. Alte und neue. Die Kuratorin Anna Barbara Müller-Fulda hat dafür zusammen mit dem Journalisten Michael T. Ganz einen Dokumentarfilm realisiert: In «Eugen Fiebiger-Hüte und Mützen» zeigt ein Churer Hutmacher wie ein Hut entsteht; Fiebiger betreibt an der Oberen Gasse in der Altstadt das letzte Churer Hutgeschäft – mit 86 Jahren. Hut ab! Das Video- und Dokumentierhandwerk haben Müller-Fulda und Ganz an der EB Zürich gelernt. Die Ausstellung wurde bis 9. April verlängert.


PORTRÄT Hansueli und Luzia Lüdi planen den Einstieg ins Online-Geschäft.

Wenn die Schränke überquellen Unterm Hammer. Hansueli (57) und Luzia (55) Lüdi aus Au bei Wädenswil haben gemeinsam an einem eintägigen Kurs über Online-Auktionen an der EB Zürich teilgenommen. Sie wollen Wein, chinesische Nippes und hundert Kochbücher übers Internet versteigern. Von Anja Eigenmann. Bild: Luc-François Georgi. Er: Wir sind ziemlich häufig an der EB Zürich. Sie (zu ihm): Du häufiger als ich. Abgesehen von den Online-Auktionen habe ich nur noch einen Photoshop-Kurs besucht. Er: Meiner Frau ermöglicht auch ihr Arbeitgeber Weiterbildung. Ich hingegen bin selbständig in der Weinvermittlung tätig. Ich bilde mich ständig weiter, seit 2000 an der EB Zürich. Meist besuche ich Computerkurse. Der komplexeste Brocken war der Office Supporter SIZ. Sie: Bezüglich der Online-Auktionen dachten wir, «learning by doing» ist zwar gut, aber wir haben die Informationen schneller, kompakter und aktueller beisammen, wenn wir einen Samstag lang zur Schule gehen. Er: Wenn wir etwas machen, machen wir es richtig. Zum Beispiel habe ich mit Hilfe eines Coachings an der EB Zürich ein Weindegustationsprogramm entwickelt. Damit kann ein Weindegustator seine Notizen abspeichern. So etwas hat bisher nicht existiert. – Viele sagen, ich hätte doch keinen OnlineAuktionskurs nötig gehabt, ich hätte selber herausgefunden, wie das funktioniert. Aber auch wenn man kochen kann, geht man gerne mal ins Restaurant. Ich finde, der Kursbesuch hat sich gelohnt und ich habe doch einiges profitiert.

Sie: Auf jeden Fall! Unsere Schränke sind voll mit Dingen, die wir loswerden wollen. Zum Beispiel chinesische Nippes sowie Dekorationsartikel und Liebhabergeräte zum Thema Wein. Er: Im Keller lagern ausserdem 100 Kochbücher. Wir wollen auch Wein für einen Franken versteigern. Das Wertvollste am Online-Auktions-Kurs war für mich, dass ich das Umfeld kennen gelernt habe. Jetzt kann ich die Geschäfte professionell abwickeln. Wir haben uns eine Strategie für die Versteigerungen erarbeitet. Der Account bei Ricardo ist bereits eingerichtet. Sie: Mit den Auktionen begonnen haben wir aber noch nicht. Wir werden das Schritt für Schritt anpacken. Schliesslich müssen wir die Dinge erst noch fotografieren. Aber neben meinem kaufmännischen Job bei der Swiss Life mache ich auch noch die Buchhaltung für unser Weingeschäft. Er: Und ich stehe im Winter drei Monate auf den Skiern. Dieses Jahr allerdings wurde ich an der Achsel operiert, nun bin ich im Büro einer Skischule. Im Sommer bin ich mit dem Camper unterwegs: Zuerst ist die Vinexpo in Bordeaux, da kriegt man meist kein Hotelzimmer mehr. Danach fahre ich nach Spanien und besuche die Produzenten. Sie: Campieren ist unser Hobby. Gerade über Neujahr waren wir in Willerzell am Sihlsee.

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ILLETRISMUS

Was steht da geschrieben? Illettrismus. Gemäss der jüngsten Studie können in der Schweiz 800 000 Erwachsene weder richtig schreiben noch lesen. Um diesen Missstand zu beheben, braucht es Anstrengungen auf verschiedenen Ebenen. Von Fritz Keller. Bilder: Fritz Franz Vogel.


ILLETTRISMUS «Am ersten Abend im Kurs brach für mich eine Welt zusammen. Es war das Eingeständnis, dass ich tatsächlich eine Lese- und Schreibschwäche hatte. Zum Glück wurden diese Gefühle im Kurs gut aufgefangen, das hat mir geholfen.» Sandra G.* (Name von der Redaktion geändert) ist ausgebildete Kleinkindererzieherin. Inzwischen ist die 46-Jährige froh, dass sie den Schritt in einen Lesen-und-Schreiben-Kurs gemacht hat. Nach eindreiviertel Jahren fühlt sie sich deutlich sicherer. «Auch wenn ich im Beruf nicht so viel schreiben muss, ich will es für mich können.» Der 52-jährige Fredi Z. stand schon immer zu seiner Lese- und Schreibschwäche. Zwar wollte er bereits vor längerer Zeit das Problem anpacken, mit Familie und Beruf aber fehlte die Musse. Nachdem die Kinder grösser geworden waren, brachte eine Sendung im Fernsehen den entscheidenden Kick. «Jetzt ist der Moment gekommen, sagte ich mir. Als Klärmeister einer Abwasserreinigungsanlage muss ich hin und wieder etwas aufschreiben. Irgendwie ging es immer, aber mir fehlte die Sicherheit.» Was heisst Illettrismus? So wie Sandra G. und Fredi Z. geht es vielen. Sie wissen um ihre Lese- und Schreibschwächen, haben aber gelernt, damit umzugehen. In Beruf und Alltag haben sie es sich so gut wie möglich eingerichtet. Sie holen sich wenn nötig Hilfe bei Freunden und Bekannten, vertrauen auf verständnisvolle Kolleginnen und Kollegen und Vorgesetzte. So funktionieren sie bestens, verkaufen sich und ihre Anliegen so, dass andere nichts von ihrer Lese- und Schreibschwäche wissen. Nur in den Betroffenen selber zehrt die mangelnde Sicherheit im Lesen und vor allem beim Schreiben. Die Wissenschaft bezeichnet dieses Phänomen als Illettrismus. Dieser unterscheidet sich vom Analphabetismus; letzterer betrifft Personen, die nie eine Schule besucht haben und also nie die Gelegenheit gehabt haben,

lesen, schreiben und rechnen zu lernen. Illettristen konnten das, haben es aber irgendwie «verlernt». Unterstützungsangebote. Auch wenn die meisten Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten integriert sind und eine Arbeit und eine Familie haben, so ist es für sie doch schwierig, mit ihren Bildungslücken zu leben. Deshalb brauchen sie Unterstützung. In erster Linie ist hier der Staat gefordert. Als Antwort auf eine Petition mit dem Titel «Lesen und Schreiben: ein Recht!» (1999) beauftragte denn auch der Bundesrat das Bundesamt für Kultur (BAK), den Kampf gegen den Illettrismus als vorrangig ins Pflichtenheft aufzunehmen. Das BAK koordiniert seither verschiedene Initiativen und Massnahmen und sorgt für finanzielle Unterstützung. Sichtbarer Ausdruck dieser Vernetzungsarbeit ist das Webportal www. lesenlireleggere.ch. Konkrete Angebote sind in der föderalistischen Schweiz Aufgabe der Kantone. Im Kanton Zürich ist es die EB Zürich, die zweijährige Lesen-und-Schreiben-Kurse anbietet. Parallel werden pro Semester fünf bis sechs Kurse geführt mit circa 60 bis 70 Teilnehmenden. Worauf gilt es bei der Arbeit mit lese- und schreibschwachen Erwachsenen besonders zu achten? «Wich-

tig ist es, die Teilnehmenden davor zu bewahren, dass sie traumatisierende Schulerfahrungen nochmals erleben müssen», sagt Adrian Tuchschmid, der zusammen mit seiner Kollegin Silvia Herdeg, ein Fachbuch (siehe Kasten S. 11) zum Thema geschrieben hat. «Der Unterricht muss unbedingt an den Alltagserfahrungen der Teilnehmenden anknüpfen. Aus der Schule bekannte Bewertungsmuster haben da keinen Platz.» Deshalb ist es auch wichtig, dass die Teilnehmenden ihre Leistungen und Lernfortschritte selber beurteilen können. Selbstvertrauen stärken. Es geht also nicht hauptsächlich darum, zum x-ten Mal Rechtschreibregeln und Grammatik zu vermitteln. Bevor überhaupt Neues – oder Altes neu – aufgenommen werden kann, müssen oftmals negative Lernerfahrungen aufgearbeitet werden. Dazu gehört jenes Verfahren, das Herdeg und Tuchschmid entwickelt haben, um diese unerfreulichen Erlebnisse in früheren Lernphasen zu verarbeiten. (siehe Kasten S. 11). Oftmals mangelt es auch nur am Selbstvertrauen. Um auch diesen «aussersprachlichen» Problemen genügend Raum zu geben, werden die Kurse an der EB Zürich immer mit zwei Lehrpersonen durchgeführt, im Idealfall von einem Mann und einer

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ILLETTRISMUS Frau. Die eine Person deckt eher den methodisch-didaktischen Teil ab, die andere den psychologischen Teil.

Einmal las ich ein Inserat in der Zeitung… Einmal las ich ein Inserat in der Zeitung von einer Stelle in einer Brockenstube. Ich rief an, hoppla, eine Bewerbung schreiben. Scheisse, das kann ich nicht. Blitzschnell kombinierte ich und sagte, ich hätte den rechten Arm gebrochen und könne nicht schreiben, ob ich nicht einmal vorbeikommen könnte. Ich könne vorbei gehen, hörte ich aus dem Hörer. So, was nun? Den Arm brechen? Ich holte schnell Gips und Verbandsstoff und gipste mir den Arm ein. Die Stelle habe ich bekommen. Aus dem Buch: Der Direktor gibt der Sekretärin den Auftrag, einen Rolls Royce zu kaufen. Lesen und Schreiben für Erwachsene. Erschienen im Verlag mit dem Pfeil im Auge, Einsiedlerstrasse 34, 8820 Wädenswil.

Ziel ist es nicht, dass die Teilnehmenden fehlerfrei schreiben können. Aber sie sollen Vertrauen fassen, um sich schriftlich auszudrücken. Und diese Sicherheit eröffnet neue Horizonte. «Spannend ist es, wenn die Teilnehmenden durch positive Lernerfahrungen sich dann auch in andern Bereichen neue Ziele setzen», sagt die erfahrene Kursleiterin Ursula Bänninger. «Plötzlich traut sich jemand zu, die Autofahrprüfung zu machen oder gar eine Ausbildung zu beginnen.» Es müssen aber nicht immer die grossen Lernschritte sein. «Wenn einer der Teilnehmenden den andern ein Buch vorstellt, das er gelesen hat, dann ist das sehr ermutigend», meint Bänninger. Zu solch eigenständigen Aktivitäten möchte sie ihre Teilnehmenden führen. Öffentlichkeitsarbeit. Wer also einen Kurs besucht, hat alle Chancen, seine Lese-und-Schreib-Probleme in den Griff zu bekommen. Genau besehen sind diese Kurse jedoch nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Gemessen an der Zahl von lese- und schreibschwachen Personen in der Schweiz, nimmt nur ein kleiner Bruchteil der Betrof-

fenen daran teil. «Das ist unsere grosse Schwierigkeit, die Leute dazu zu bringen, etwas an ihrer Situation zu ändern», sagt Hans-Peter Hauser, Rektor der EB Zürich. Vor kurzem ist er in den Vorstand des Ende letzten Jahres neu gegründeten Schweizer Dachverbandes Lesen und Schreiben gewählt worden. «Es gehört zu unseren Prioritäten, eine umfassende Sensibilisierungskampagne zu lancieren. Lese- und Schreibschwäche darf kein Tabuthema sein. Wer einen Lese-undSchreiben-Kurs besucht, darf nicht diskriminiert werden.»

Tatsache ist, dass oft Jahre vergehen, bis Betroffene ihre Lese- und Schreibschwäche angehen. Die Teilnahme an einem Kurs führt praktisch immer über Umwege. Viele wissen gar nicht, dass es ein solches Angebot gibt und müssen von Freundinnen oder Bekannten darauf hingewiesen werden. Auch bei Sandra G. war es ein befreundeter Arzt, der sie motiviert hat. Bis sie sich tatsächlich anmeldete, musste sie nochmals eine innere Barriere überwinden. Wer nicht lesen und schreiben kann, wird schnell einmal als dumm abgestempelt. Verständlich, wenn Einzelne sich nicht trauen, in ihrem Umfeld vom Besuch des Lese- und Schreiben-Kurses zu erzählen.

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ILLETTRISMUS Bündelung der Kräfte. Aufklärungsarbeit ist also vonnöten. Das betont auch die Bildungsforscherin Silvia Grossenbacher, die sich als Mitglied des Schweizerischen Komitees zur Bekämpfung des Illettrismus für dieses Ziel einsetzt. «In einer modernen Wissensgesellschaft wie der unseren werden die Menschen stark über ihre Sprachfähigkeiten, übers Lesen und Schreiben definiert», betont Grossenbacher, «wer da nicht mithalten kann entwickelt schnell einmal Schamgefühle.» Das Komitee versuche insbesondere aufzuzeigen, dass die Risiken des Illettrismus auf die ganze Lebensspanne verteilt sind. «Wichtig ist deshalb, dass die beteiligten Organisationen und Institutionen zusammenarbeiten, um dieses Problem in den Griff zu bekommen», fügt Grossenbacher hinzu.

Neben der Notwendigkeit von Aufklärung und Prävention besteht aber ohne Zweifel konkreter Handlungsbedarf. Das zeigt auch die sogenannte ALL-Studie (Adult Literacy an Life Skills Survey), die 2003 in verschiedenen Ländern startete, gewissermassen als «Pisa-Test» für Erwachsene. Gemäss dieser Studie können in der Schweiz 800 000 Erwachsene weder richtig lesen noch schreiben. Wenig überraschend sind viele Immigrantinnen

Arbeit an der Lernbiografie In fünf Sequenzen wird versucht, einschneidende Schulerlebnisse zu integrieren, gewissermassen mit ihnen ins Reine zu kommen. Was hier etwas verkürzt wiedergegeben wird, ist in der Praxis ein Prozess, für den einige Zeit aufgewendet wird. 1. Sequenz: Text erstellen Die Teilnehmenden erinnern sich an ein eigenes, negativ belastetes Ereignis und bringen dies zu Papier. Beispieltext: In der Schule musste ich manchmal vorlesen. Das konnte ich nicht gut. Dann lachten die Schüler. Ich fühlte mich ganz schlecht. Der Lehrer sagte nichts.

2. Sequenz: Brief an verletztes Kind Die Teilnehmenden werden aufgefordert, sich in das Kind von damals einzufühlen und zu fragen, was es braucht bzw. was ihm gut tun würde. Das soll in einem Text festgehalten werden. Beispieltext: Liebe kleine Regula Ich weiss, dass du dich geschämt hast. Du musst dich nicht schämen. Du wirst später noch lernen. Es ist nie zu spät. Viele Grüsse von Regula

3. Sequenz: Brief an verletzende Person Die Teilnehmenden schreiben als heutige Erwachsene einen anwaltschaftlichen Brief für das kleine Kind. Beispieltext: Sehr geehrter Herr Weber Wenn mich die Schüler auslachten, weil ich nicht gut lesen konnte, haben Sie nichts gesagt. Sie hätten sagen sollen: «Lacht nicht!» Das hätte mir gut getan. Mit freundlichen Grüssen Regula Berger

4. Sequenz: Brief von verletzender Person Die Teilnehmenden sollen aus Sicht der verletzenden Person einen Brief schreiben. Beispieltext: Sehr geehrte Frau Berger Es tut mir Leid, dass ich nichts gesagt habe. Ich hatte nicht genügend Verständnis damals. Ich entschuldige mich. Gustav Weber

5. Sequenz: Abschlussritual Die Teilnehmenden scheiden ihre einzelnen Texte aus und kleben sie auf ein grosses, farbiges Papier. Somit liegt die über einen längeren Zeitraum verteilte Arbeit als Ganzes überschaubar vor. Mit einem Versöhnungsritual wird die Arbeit zu einem Abschluss geführt. Beispiel aus dem Buch: Lesen und Schreiben für Erwachsene, Silvia Herdeg und Adrian Tuchschmid, Bern 2003, Fr. 39.–

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ILLETRISMUS und Immigranten darunter. Doch zu glauben, die hohe Zahl von leseund schreibschwachen Menschen setze sich nur aus Ausländerinnen und Ausländern aus bildungsfernen Schichten zusammen, ist falsch. Zwei Drittel dieser Personen sind Schweizerinnen und Schweizer, die durchaus Zugang zum Schulsystem hatten. Bemerkenswert ist, dass die Lese- und Schreibkompetenzen mit zunehmendem Alter eher abnehmen. Wo liegen die Ursachen? Als Projektleiter ist Philipp Notter vom Institut für Bildungsevaluation in Zürich daran, den Ursachen des Illettrismus im mittleren Erwachsenenalter nachzuforschen. «Grundsätzlich gibt es drei Hypothesen: eine schulische, eine historische und eine biografische», sagt der Forscher. Bei der ersten, so wird angenommen, läuft in der Schule einiges falsch, so dass viele Personen in eine Lese- und Schreibschwäche hineinrutschen. Bei der historischen Hypothese wird angenommen, dass die Ausbildung zu bestimmten Zeiten nicht optimal war, zum Beispiel nach dem Krieg, so dass vor allem Vertreterinnen und Vertreter einer bestimmten Generation betroffen sind. Die biografische Hypothese geht von individuellen Gründen aus, die zu einer Lese- und Schreib-

schwäche führen. «Wir konzentrieren uns auf die biografische Hypothese. Konkrete Resultate können wir aber im Moment noch nicht vorweisen», sagt Notter.

Sind die Ursachen des Illettrismus dereinst bekannt, so kann noch gezielter etwas dagegen getan werden. Sicher muss das Problem von verschiedenen Seiten her angegangen und mit verschiedenen, koordinierten Ansätzen im ganzen Bildungsbereich bekämpft werden. Das beginnt in der Primarschule, wo laut neuster Pisa-Studie erste Erfolge zu verzeichnen sind. HansPeter Hauser zeigt sich auch zuversichtlich, was die Arbeit mit Erwachsenen anbelangt: «Wichtig ist es, dass wir uns intensiv und professionell um Lösungen bemühen und lese- und schreibschwache Personen nicht einfach ausgrenzen. Was sie brauchen, ist Unterstützung, damit sie zu ihrer eigenständigen Sprache finden.» Mittwochabend. Konzentriert schreiben Sandra G. und Fredi Z. und ihre Kolleginnen und Kollegen die Sätze auf, die sie gemeinsam entwickelt haben und sich nun gegenseitig diktieren. Nun schreiben alle die Sätze der andern auch noch auf. Bevor die Teilnehmenden die Sätze selber korrigieren, machen sie für sich noch eine Fehlerprognose. Das

Illettrismus oder Illetrismus? Ist das die Ironie der Rechtschreibung, dass gerade bei diesem Wort, das eine Schreibschwäche bezeichnet, niemand im deutschsprachigen Raum ganz sicher ist, wie es sich schreibt. Der Duden gibt die Version mit einem t vor, wer googelt findet rund 20 000 Einträge mit zwei t und nur 1700 mit einem t. Wer kann das erklären? Wir haben uns für die Version mit zwei t entschieden; sie ist in der Schweiz üblicher. ist spielerisch wie beim Differenzler: «Null angesagt und null gemacht» oder «Drei angesagt und fünf gemacht». Die Selbsteinschätzung hilft, das Resultat, so wie es ist, zu akzeptieren.

Sandra G. und Fredi Z. sind sich einig. Der Lese-und-SchreibenKurs hat sie vorangebracht. Genossen haben beide, dass sie in einer Gruppe mit andern an ihrem Problem arbeiten konnten. Und positive Rückmeldungen sind da. «Mein Chef hat mir gesagt, dass er die Fortschritte merke, das hat mich sehr gefreut», sagt Fredi Z. und seine Augen leuchten. Sandra G. ist ein wenig zurückhaltender: «Ganz so weit, wie ich gerne möchte, bin ich leider nicht. Wie gut ich schreibe, hängt stark davon ab, wie ich mich fühle. Aber ich mache weiter, denn jedes Mal, wenn ich am Mittwochabend den Kursraum verlasse, mache ich das mit einem guten Gefühl.


TIPPS UND TRICKS

Viren, Würmer, Trojaner Nicht lustig. Der Boom des Internets in den vergangenen Jahren führte dazu, dass sich elektronische Schädlinge rasant in der ganzen Welt verbreiteten. Was als Jugendspass begann, kostet die Wirtschaft mittlerweile Millionen. Viren und Co. grassieren immer noch im Netz. Aber heutige Cyberkriminelle haben es nicht unbedingt auf Zerstörung abgesehen. Sie entwickeln immer raffiniertere Methoden, um an vertrauliche Daten von Internetnutzern zu gelangen. Sie wollen Bankkunden dazu bringen, ihre sensiblen Kontodaten auf gefälschten Servern einzugeben. Tätigt der Kunde dann eine Überweisung, so gibt er seine Zugangsdaten zu seinem Konto direkt an die Hacker weiter. Für die ist es dann ein Leichtes, die Daten zu ihrer finanziellen Bereicherung zu nutzen. Auch hinter der Flut von unerwünschten und zeitraubenden Werbemails (SPAM) steckt mittlerweile ein kriminelles Millionengeschäft. Spammer und Hacker arbeiten dabei zusammen, um E-Mail-Systeme nach Schwachstellen abzusuchen und über Hintertüren in private PCs einzudringen. Einmal eingenistet, merken sich Programme die Passwörter für Online-Auktionen, Zugangsdaten zu Konten oder Kreditkartennummern und leiten diese automatisch an ihre «Auftraggeber» weiter.

Wie schützen? Die folgende Checkliste zeigt, welche Sicherheitsvorkehrungen auf dem eigenen PC zu treffen sind : 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Antivirensoftware installieren und regelmässig aktualisieren Software- oder Hardware-Firewall korrekt einrichten Anti-Spy-Software installieren SPAM-Filtersoftware installieren Automatische Windows-Updates herunterladen Einstellungen im Betriebssystem, Browser und E-Mail-Programm restriktiv handhaben Risikoarmes Verhalten im Internet pflegen und verdächtige Websites meiden

Kurse aus dem Bereich Informatik: Schutz vor Gefahren aus dem Internet Treffen Sie die richtigen Vorsichtsmassnahmen. Einführung ins E-Banking Richtig verschlüsselt besteht keine Gefahr. Weitere Infos und Anmeldung unter www.eb-zuerich.ch

Illustration: Eva Kläui

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PERSÖNLICH

Flüchtiger Rauch und Von Flüchtigkeit und Erdung. Ivar Breitenmoser vermittelt Fremdsprachigen an der EB Zürich die Bedeutung wichtiger Wörter. Privat liebt er es, Wörter zu verfremden. Als Plakatkünstler regt er eilige Passanten zum Nachdenken an. Von Anouk Holthuizen. Bilder: Reto Schlatter. «Goethe schrieb: Das Rauchen macht dumm, es macht unfähig zum Denken und Dichten.» Ivar Breitenmoser zündet sich eine Davidoff Tubos No. 2 an. Er zieht daran, bläst aus und sagt: «Was für ein Schwachsinn. Freud, Einstein, Brecht und die ganze Denk- und Künstlerszene – sie alle haben Zigarren geraucht. Zigarren-, Pfeifen- und Zigarettenrauch sind mit grossen Kulturleistungen verbunden.» Rauchen, spricht Breitenmoser durch die Wölkchen, sei ein bedeutender Brennstoff der Kultur. Und weiter: «Durch das Rauchen bekommt der Mensch Distanz zum Geschehen, sagt Brecht.» Auch Ivar Breitenmoser – der selbstverständlich für Nichtraucher- und Jugendschutz ist – gewinnt Abstand und Übersicht, wenn er sich daheim beim Arbeiten eine Zigarre anzündet. Und das nicht erst, seit er an einem Essay über die «Liaison zwischen Tabakgenuss und Schöpferkraft» schreibt. Nein, die Zigarren gehören zu seinem Leben wie die Wörter. Beide sind für ihn ein «Triebstoff». Wörter im Ruhestand. Doch zuerst zu den Wörtern, die in Ruhe gelassen werden wollen. Es sind diejenigen Wörter, die Ivar Breitenmoser nicht verfremden darf, weil er sonst seine fremdsprachigen Schülerinnen und Schüler verwirren würde: Seit 32 Jahren erläutert Ivar Breitenmoser im Kurs Deutsch für Fremdsprachige der EB Zürich die wichtigsten Wörter für den Schweizer Alltag. So hat er bereits sein Germanistikund Geschichtsstudium finanziert. Zu unterrichten ist bis heute ein geliebtes und starkes Standbein geblieben. Genauso wie Zürich seine Heimat geblieben ist. 1972 zog er aus der «beengenden Kartonschachtel» des Kantons Glarus in die Zwinglistadt. Seither hat er die Stadt nie für längere Zeit verlassen. Zwar wäre er gern einmal für eine Weile ins Ausland gezogen. Doch er wollte seine Familie in Zürich verwurzeln und scheute die finanzielle Unsicherheit, die das Aufgeben seiner Anstellung mit sich gebracht hätte. Der Mann mit dem Wikinger Vor- und dem Urschweizer Nachnamen harrte aus, wo er war. Dafür kam die Welt mit ihren bunten Gesichtern in seinen Kursraum. Wörter gegen das Schweigen. Und dann gibt es noch die anderen Wörter, mit denen Ivar Breitenmoser als wortverdrehender Lyriker und Plakatkünstler bekannt wurde. Die knappe Frage «Schweigz?» prangte auf Fahnen in der Ostschweiz und auf Plakatständern im Vorfeld der Abstimmung über den Beitritt der Schweiz zur UNO. Sie verlangte Antwort


PERSÖNLICH

nd bleibende Wörter Für Ivar Breitenmoser ist blauer Dunst Treibstoff für seine Kreativität. auf die Frage: Will die Schweiz mitreden oder draussen bleiben? Breitenmosers «künstlerischer Einwurf für eine Schweiz in der UNO» wurde von Privaten finanziert. Die Tatsache des (Ver)Schweigens benutzte Breitenmoser auch als Motiv für die Kampagne gegen Steuerhinterziehung der Nichtregierungsorganisation Erklärung von Bern im Jahr 2004. Dieses Mal wies er mit der Abbildung eines geschlossenen Mundes, der sich beim Vorbeigehen öffnete, darauf hin, dass Stummheit bei gewissen Themen nicht erwünscht ist. Für dieses animierte Bild arbeitete Breitenmoser mit der Lentikulartechnik. Findige Tochter. Subtiler war sein grosses, blaues «Zzart», welches er über die letzte Seite des Stadtzürcher Telefonbuchs druckte. Das Sujet hing im Grossformat in der ganzen Stadt und in den VBZ. Inspiriert hatte ihn seine 10-jährige Tochter, die im allerletzten Namen des Telefonbuches, Zzart, ein z zu viel fand. Breitenmoser erkannte in dem sonderbaren Namen den Gegenentwurf zum kühlen, unzarten, vom Z (wie Zaster?) dominierten Zürich und konfrontierte die Stadtzürcher Öffentlichkeit entsprechend mit seiner Plakatlyrik. Lyrik multimedial. Seine Plakataktionen sind für Breitenmoser «engagierte Poesie, die den rasanten Schritt des Passanten abbremsen will». Plakatlyrik sieht er als seine Erfindung. Einige seiner Gedankenanschübe werden von Firmen und Organisationen getragen oder in Auftrag gegeben. Andere finanziert die Allgemeine Plakatgesellschaft APG, die normalerweise für kommerzielle Unternehmen wirbt. Andere Künstler sind inzwischen auf diesen Zug aufgesprungen. Und für noch eine Darbietungsart der Poesie beansprucht der Mann mit der charakteristischen Glatze Urheberschaft: der Poesie-Clip, ein computeranimiertes Gedicht. Sein Lyrikprojekt «Zürich tanzt Bolero» etwa ist ein Mix aus Wörtern, Bildern und Tönen – eine Einladung zu einer City Tour in Buch- und DVD-Form. Bodenständiger Künstler. In der Verdichtung von Sprache kann Breitenmoser Gefühle und Gedanken «erden». «Erst wenn ich sie sprachlich erfasst habe, ruhen sie in mir. Unausgesprochenes befindet sich in flirrendem Schwebezustand. Eine sprachlich geglückte Formulierung ist für mich ein Glücksmoment.» Und weil er gerne erdet, fühlt sich Ivar Breitenmoser heute auch zu Naturwissenschaften hingezogen, die Erden studieren, die eigene (Geologie) oder fremde (Astronomie). Etwas, das ihn während seiner Studienzeit nicht interessierte. Als typischen Künstler sieht sich Ivar Breitenmoser jedenfalls nicht. «Ich habe drei Kinder, fahre gerne Töff-Cruiser und gehe drei Mal die Woche ins Fitnesscenter». So etwas sei in der Künstlerszene verpönt. «Das einzige, was ich mit Künstlern gemeinsam habe, ist meine Liebe für gutes Essen und Saufen.» Sagts und zündet sich die zweite Zigarre an.

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KURSFENSTER

Die Berufsmatura lässt sich auch nach einer Lehre noch nachholen. Der Zugang zur Berufsmaturitätsschule führt über eine Aufnahmeprüfung. Um diese zu bestehen, frischen junge Frauen und Männer ihre Kenntnisse auf. Von Anouk Holthuizen. Bilder: Reto Schlatter.

Durch die grosse Halle der Berufsmaturitätsschule (BMS) an der Lagerstrasse in Zürich tönt zart Sirtaki-Musik. Ansonsten ist es still. Nur ganz oben im vierten Stock ist leises Gemurmel aus vier Klassenzimmern zu hören. In einem sitzen achtzehn junge Frauen und Männer lauschen ihrem Lehrer Martin Waldmann – und dabei ist ihnen ganz und gar nicht nach griechischem Tanz zumute. Das Thema Zinsrechnungen verursacht Stirnrunzeln und zusammengekniffene Augen. «Ich chume überhaupt nöd druus», stöhnt Sabrina Looser. Sie ist im letzten Jahr ihrer Lehre als Dentalassistentin. Die letzte Mathematikstunde liegt drei Jahre zurück, und schon damals bestand keine enge Freundschaft zum Fach. Immerhin hat sich die Beziehung dank des Intensiv-Vorbereitungskurses für die Aufnahme in die Berufsmittelschule verbessert. Wenn es zeitlich drin liegt, löst sie jeweils die freiwilligen Aufgaben für die nächste Lektion. Zehn Lektionen à 135 Minuten sind bereits hinter ihr, die letzten acht will sie auch schaffen. Unbedingt. Denn sie möchte nicht länger als Dentalassistentin arbeiten, sondern als Hebamme oder Physiotherapeutin. Und für die Ausbildung an der Fachhochschule braucht sie die Berufsmatur. Im März und Mai sind die Aufnahmeprüfungen. Immer mehr Frauen. Als Frau ist Sabrina Looser im Kurs in der Mehrheit. Frauen, die den gesund-

Ihre Köpfe rauchen für die heitlich-sozialen Sektor zahlenmässig dominieren, haben im Fach Mathematik grössere Lücken als die Lehrenden in technischen und gewerblichen Berufen, die mehrheitlich männlich sind. Erstere haben viel weniger Mathematik in der Ausbildung. In den letzten Jahren hat die Zahl der Frauen in den BMS-Vorbereitungskursen noch zugenommen. Grund dafür ist die seit 2002 neu bestehende Ausbildung zur Fachangestellten Gesundheit. Sie ist beliebt – doch viele stellen während der Lehre fest, dass die Möglichkeiten für eine berufliche Weiterentwicklung gering sind. Türöffner. Die Schranken des Arbeitsmarktes zu überwinden ist für alle Teilnehmenden des BMS-Vorbereitungskurses Mathematik die Motivation, in ihrer Freizeit zu büffeln. Die 18-jährige Katharina Müller zum Beispiel kommt direkt von der Arbeit in den Kurs, das Abendessen nimmt sie im Bus ein. Die Lehre als Landschaftsgärtnerin entfachte in ihr kein Feuer. Einen konkreten Berufswunsch hegt sie zwar nicht, aber: «Ich möchte, dass mir mehr Türen offen stehen als jetzt», sagt sie, «irgendwas im Bereich Architektur kann ich mir vorstellen.» Mit der Mathematik hat sie bisher kaum Probleme. Auch für Leo Dietrich war eine unbefriedigende Lehre der Antrieb, die BMS-Vorbereitungskurse zu besuchen. Als Medien-Dokumentalist fühlt er sich unterfordert – der Sektor gefällt ihm aber. An der Uni möchte er gerne Kommunikationswissenschaften studieren. Anders als Katharina findet er den Mathe-Kurs schwierig. «Ich bin eher der Sprachen-Typ», sagt er. Um sich gut für die BMS vorbereiten zu können, hat er sein Arbeitspensum extra auf vierzig Prozent reduziert. Seinen Versuch im letzten Jahr, die kantonale Maturität für Erwachsene (KME) berufsbegleitend zu absolvieren, musste er aufgeben: «Zu stressig!» Jetzt geht er den Weg via BMS und anschliessender einjähriger Passerelle.


KURSFENSTER

Konzentration ist angesagt, die Aufnahmeprüfung in Mathematik motiviert.

e Zukunft Lieber Fachhochschule als Uni. Wer die Berufsmatur absolviert, ist danach an einer Fachhochschule zugelassen, ebenfalls zur verkürzten Ausbildung an der KME und eben für eine Passerelle. Letztere dauert nochmals zwei bis drei Semester und eröffnet die Teilnahme an der Aufnahmeprüfung für die Universität oder die ETH. Doch laut Martin Waldmann ist ein universitärer Abschluss für die wenigsten Kursteilnehmenden ein Thema. «Sie haben alle eine Berufsausbildung und möchten in der Praxis bleiben. Sie erhoffen sich mit der Berufsmatur ganz allgemein auf dem Arbeitsmarkt bessere Chancen.» Im BMS-Vorbereitungskurs Mathematik wird der ganze Sekundarschulstoff in achtzehn Lektionen durchgenommen. «Die Mehrheit der Kursabsolventen erzielt gute Resultate bei der BMS-Aufnahmeprüfung», erzählt Waldmann. Und das, obwohl die Teilnehmenden oft seit Jahren wenig bis keine Mathematik angewandt hätten. Freiwillig können sie zu Hause Aufgaben lösen, laut Waldmann umfasst der wöchentliche Arbeitsaufwand zirka zweieinhalb Stunden. «Viele der Teilnehmenden sagen, dass sie gerne mehr üben würden, aber sie sind zu stark in den Arbeitsprozess eingebunden und bringen keine Energie auf.» Dennoch spüre er eine hohe Motivation. Waldmann legt den Kurs so, dass auch mitkommt, wer die Hausaufgaben nicht gelöst hat. Wichtig ist das Ziel, die Prüfung zu bestehen. Der Weg dahin ist bisweilen verschieden. Wie finanzieren? Rund die Hälfte der Kursteilnehmenden befindet sich noch in der Lehre, die andere Hälfte hat sie abgeschlossen. Mit 27 Jahren ist Kilian Marty der älteste. Er liebäugelt mit dem Beruf Physiotherapeut, obwohl er aus einer ganz anderen Ecke kommt. Der gelernte Automechaniker und Detailhandelsspezialist kam auf unkonventionellem Weg zu seinem Traumberuf: Der leidenschaft-

liche Snöber lernte durch seine vielen Unfälle die Arbeit der Physiotherapeuten kennen. Während er sich auf einer langen Reise Gedanken über die berufliche Zukunft machte, kam ihm die Erleuchtung. Mit seinen Ersparnissen will er sich die nächsten Jahre an der BMS und der Fachhochschule finanzieren. Auch darin unterscheidet sich Kilian von seinen Mitschülern: Er, der seit Jahren alleine lebt und berufstätig war, muss alleine für die Weiterbildung aufkommen, während die meisten der restlichen Teilnehmenden noch bei den Eltern wohnen und von diesen auch finanziell unterstützt werden. Nicht auf viel Unterstützung kann Olivier Mächler zählen. Auch er muss dazuverdienen. Der Hochbauzeichner im dritten Lehrjahr träumt von einem Beruf im Bereich Design. Doch er wartet nicht nur ab. Der 19-Jährige ist am Aufbau einer Uhren- und Kleidermarke. «In zwei Jahren möchte ich damit Geld verdienen. Wenns gut läuft, bezahle ich damit die BMS. Sonst muss ich jobben gehen.» Die Aufnahmeprüfung für die BMS macht er im März extra ein Jahr vor seiner Lehrabschlussprüfung. «Damit es keinen Stress gibt.» Den Kurs findet er einfach. «Ich bin wohl einer der wenigen, die drauskommen», sagt er selbstbewusst. Die anderen haben ja auch noch zwei Monate Zeit.

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INTERVIEW

Im Gespräch. Als scharfzüngig, arrogant und teuflisch provokativ gilt der Satiriker Andreas Thiel. Kaum jemand vermutet, dass der 36-Jährige für Gottes Lohn vor katholischen Ordensschwestern und -brüdern in Taiwan spielt. Und dass es ihm als Privatmann zuweilen die Sprache verschlägt. Von Anja Eigenmann. Bilder: Bruno Alder, Vinzenz Wyser.

EB Kurs: Man hört, du seist ein Dandy mit scharfer Zunge und gefährlichen Gedankengängen, der Intellekt sei deine erogene Zone, die Sprache dein Laufsteg. Was stimmt von diesen Aussagen? Andreas Thiel: In jeder Bühnenfigur steckt ein Teil des Schauspielers drin. Du nimmst deine entsprechenden Charakterzüge und blähst sie auf. Meine Figur ist arrogant. Darin kommt meine eigene Arroganz zum Zug. Daneben bin ich – wie viele Komiker – ein eher ernsthafter Mensch. Ich kann dasitzen, zuschauen. Ich bin Pessimist, was das Weltgeschehen betrifft. Wenn man die Zeitung liest, begegnen einem Mord und Totschlag und Vergewaltigung – grausam! Im Grunde kann man sich gleich die Kugel geben. Mein Umgang damit ist der Galgenhumor. Den bringe ich auf die Bühne. Ich reisse dem Teufel die Maske vom Gesicht und lasse die Leute das Böse auslachen. Also steckt hinter deiner Satire ein sehr pessimistisches Weltbild? Sagen wir: ein gemischtes. Ich glaube beispielsweise nicht daran, dass der Mensch grundsätzlich gut und alles eine Frage der Erziehung und des gesellschaftlichen Umfeldes ist. Ich glaube, dass jeder für sich verantwortlich ist, egal, wie er erzogen wurde. Wenn jemand einen anderen umbringt – auch im Affekt – hat er sich dazu entschieden. Und das kann man mit nichts entschuldigen. Ich glaube, dass es immer Krieg, Mord und Totschlag geben wird.

Ein eloquenter


INTERVIEW Und wo bleibt in diesem Weltbild das Positive? Ich finde, in der Welt herrscht ein erstaunliches Gleichgewicht zwischen Gut und Böse. Deswegen bin ich gegen die Todesstrafe. Ich habe das Gefühl, wenn man einen Mörder hinrichtet, wird bereits der nächste geboren, weil es wieder Platz hat für einen. Ich bin ein gläubiger Christ. Ich glaube an Reinkarnation, sehe das Leben als eine Art Bewährungsprobe. Ich denke, es wird immer so viel Gutes geben, dass das Leben auszuhalten ist. Man erlebt dich immer als eloquent und treffsicher. Gibt es auch Situationen, in denen es dir die Sprache verschlägt? Natürlich bin ich auf der Bühne treffsicher, weil ich gut auswendig gelernt habe. Im Alltag bin ich fast ein bisschen Legastheniker, ich stottere leicht. Ich weiss oft nicht, was sagen. Aber im Hinterkopf beschäftige ich mich damit. Nach einem langen Prozess kommen mir Gedanken dazu, und daraus entstehen dann Kolumnen oder Texte für die Bühne. Dies meist in Form von Satire. Aber das ist ein gefährliches Metier, denn Satire wird oft falsch aufgenommen. Denkst du, du wirst vom Publikum verstanden? Meine Satire richtet sich eher an ein gebildetes Publikum. Menschen, welche politisch nicht gebildet sind oder keine zwei Stunden Text an einem Abend aufnehmen können, sind bei mir falsch, deswegen spiele ich lediglich in Kleintheatern. Nur, weil die meisten Leute den «Blick» lesen, muss man ja nicht die «NZZ» abschaffen. Ich versuche, meine Auftritte so zu gestalten, dass ich mindestens 70 Prozent des Publikums erreiche. 10 bis 30 Prozent sind immer dabei, denen eine Darbietung nicht gefällt. Auf älteren Fotos hast du geschorene Haare, eine runde Brille, Bart – du warst der Intellektuelle. Jetzt mit den langen Locken bist du eher der Mafioso, der Dandy. Ist das nur eine Wandlung der Bühnenfigur oder steckt auch eine Persönlichkeitsveränderung dahinter? Da steckt Verschiedenes dahinter. Ich war 25, als ich zusammen mit Jean-Claude Sassine mit literarischem Kabarett begann. Damals hatte ich so lange Haare wie heute. Mein Regisseur, Paul Weilenmann, sagte, das geht so nicht, du siehst zu jung aus für deine Figur, du musst so alt und elitär wie möglich wirken. Also schnitt ich mir eine Glatze und liess mir einen Schnauz wachsen. Plötzlich kam die Mode, alle hatten Glatzen. Folglich liess ich die Haare wachsen. Ausserdem wollte ich nicht mein Leben lang zusammen mit Sassine «die zwei Glatzen» sein. Und mit den langen Locken hast du eine neue Bühnenfigur erschaffen? Sie hat eine Kurve gemacht. Zuerst war sie der harte Oberlehrer, der Böse. Jetzt ist sie der sophisticated Geniesser, der Dandy mit dem Champagner in der Hand, der sich herablassend über die Welt äussert und ein bisschen über Gott philosophiert. Aber im Grunde trägt er einfach nur schöne Kleider. Die Figur hat weiche Züge bekommen, ist aber noch immer elitär.

r Stotterer

«Ich bin Pessimist, was das Weltgeschehen betrifft. Mein Umgang damit ist der Galgenhumor. Den bringe ich auf die Bühne. Ich reisse dem Teufel die Maske vom Gesicht und lasse die Leute das Böse auslachen. » Als diese Figur hast du Auftritte am Humorfestival Arosa, in Burgdorf, Zürich, auch im Ausland. Du schreibst Kolumnen für den Nebelspalter und die Berner Zeitung. Du moderierst die Sendung «Comedy im Casino». Du tanzt auf vielen Hochzeiten. Ist das nicht stressig? Ich fühle mich sicher ein- bis zweimal pro Jahr überlastet. Aber im Gegensatz zu Stress in einem Bürojob sind die Spitzenzeiten im Theater verbunden mit einer grossartigen Abwechslung: Mehr verschiedene Orte, mehr Reisen, mehr neue Erlebnisse, mehr neue Leute. Im Theater ist alles überdimensioniert: Wenn etwas schlecht ist, ist es grässlich schlecht. Eine missglückte Vorführung bedeutet nicht nur, dass du ein schlechtes Resultat abgeliefert hast. Das ganze Publikum sieht es, du spürst es am Applaus. Auf der anderen Seite kann ein gutes Resultat viel befriedigender sein, als wenn dir der Chef anerkennend auf die Schulter klopft. Du hast 2004 und 2005 ziemlich Preise abgeräumt. Angefangen hat es 1999 mit dem «Salzburger Stier». Steigt dir das nicht langsam zu Kopfe? Es ist lustig mit diesen Preisen: 1997 gingen Sassine und ich zusammen auf die Bühne. 1998 wurde entschieden, dass wir den Stier bekommen. Wir waren total überrumpelt. Mit der Zeit merkten wir: Es gibt Preise wie Sand am Meer – und die müssen immer jemandem verliehen werden. Das heisst, früher oder später muss man jeden Preis mal bekommen. Das ist gut, das ist Gratiswerbung. Deine Waffe ist ja hauptsächlich die Sprache. Und du warst mehrmals im asiatischen Raum auf Tournee, vorwiegend in Taiwan. Dort greift diese Waffe gar nicht. Bist du vor Auslandschweizern und -deutschen aufgetreten? Ich habe auf diesen Tourneen ganz viel Verschiedenes gemacht. Unter anderem Auftritte, die von Goethe-Insti-

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INTERVIEW tuten für Deutschsprachige organisiert wurden. Zudem habe ich meine Texte auf Englisch übersetzt für Auftritte in American Clubs, Business Chambers und dergleichen. Zu den Aufführungen kamen jeweils auch deutsch- und englischsprachige Asiaten, aber sie haben oft die Pointen verpasst. Man hat gegenüber einer Fremdsprache so eine Unsicherheit, dass man die Ironie nicht vermutet. Bei der letzten Tournee habe ich begonnen, mit einer englischsprachigen Dolmetscherin die Texte vom Englischen ins Chinesische zu übersetzen. Dann habe ich vor einheimischem Publikum mit chinesischen Untertiteln gespielt. Untertitel – wie geht das? Die Schriftzeichen werden mit Powerpoint riesig an die Wand hinter mir und der Klavierbegleitung projiziert. Und wie hat das Publikum die Übersetzungen goutiert? Der Erfolg war riesengross! Wenn die Chinesen die Texte in ihren Schriftzeichen sehen, ist das ein grosses Entgegenkommen, und das wird sehr geschätzt. Sonst sind die Einheimischen der Teil des Publikums, der einfach lacht, wenn die anderen auch lachen. Mit der chinesischen Bearbeitung wurde es anders: Wenn ich einen englischen Satz mit zwei Nebensätzen sagte, standen auf der Leinwand nur zwei Schriftzeichen. So hatten die Chinesen die Pointe schneller als die Europäer. Die Chinesen lachten zuerst, und das gab die schönere Stimmung. Haben dich die anderen asiatischen Länder weniger interessiert, dass du vorwiegend durch Taiwan getourt bist? Ich habe gemerkt: In China kann ich höchstens etwas für kleine, elitäre Veranstaltungen an Goethe-Instituten machen. Nur eine dünne Eliteschicht verfolgt dort die Politik. Thailand ist eine Plakatdemokratie. Die Leute interessieren sich nicht für Politik. Gut fürs Geschäft sind nur Japan, teilweise Hongkong und am meisten Taiwan, dort kann jeder seine Meinung frei äussern, jeder versteht Betrachtungen über Kriege. So setze ich jetzt immer mehr den Fokus auf Taiwan. Was bedeutet das konkret? Unterdessen halte ich dort Vorlesungen für Theaterwissenschafter und -wissenschafterinnen an der Uni, gebe Pekingoper-Studierenden Workshops in europäischem Theaterstil – alles mit Dolmetschern. In Taitung spiele ich für Immensee-Missions-Ordensschwestern und -brüder, die schon seit 30, 40 Jahren da leben und inzwischen besser Chinesisch als Schweizerdeutsch sprechen. Die fallen um, wenn bei ihnen ein Schweizer Cabaret vorbeikommt. Ich trete dort gegen Kost und Logie auf. Es ist lustig, nachher mit den Ordensschwestern und -brüdern ein Bier zu trinken. Dann kommt jeweils einer von der Botschaft vorbei und bringt eine Flasche Kirsch mit. Schweizer Kirsch? Dein Name lässt an deutsche Vorfahren denken. Mein Opa kam tatsächlich als Kind aus Berlin in die Schweiz. Leider konnte ich nicht von deutschen Wurzeln profitieren, um das Bühnendeutsch zu erlernen. Ich brauchte zwei Jahre intensives Training, bis ich es drin hatte. Ich mag diese Sprache nicht! Es ist eine grossartige Arbeitssprache, für die Satire fantastisch! Sie passt zu

Andreas Thiel lernte Bauzeichner und schloss 1995 die «Desmond Jones School of Mime and Physical Theatre» in London ab. Ab 1997 trat er zusammen mit Jean Claude Sassine auf, ihr erstes Programm trug den Titel «Einsames Literarisches Kabarett». Dafür wurde ihnen 1999 der «Salzburger Stier» verliehen. 2004 erhielt Thiel den Kleinkunstpreis «Goldener Thunfisch», 2005 den «Prix Walo» und den «Prix Pantheon». Thiel war Mitbegründer und Hausmoderator des «Bösen Montags» im «Theater am Hechtplatz» in Zürich sowie Mitgründer des «Tintensaufens» in Bern. Er war Moderator bei «Comedy im Casino» und ist Mitwirkender des Rateteams in «Genial daneben» des Schweizer Fernsehens. Er schreibt regelmässig Kolumnen für die «Berner Zeitung» und den «Nebelspalter». Thiel wohnt in Bern. meinen Themen, Mord und Totschlag und Krieg, denn sie ist hart, präzise, schwarz-weiss. Schweizerdeutsch ist eher bildhaft, farbig – und lässt deswegen die scharfe Satire nicht zu: Man kann kein scharfes Messer wetzen mit Schweizerdeutsch. Spricht deine arrogante Figur deswegen Hochdeutsch? Einerseits ist Bühnendeutsch für mich die natürliche Bühnensprache, sie bringt mich genügend weit weg von mir selber. Zudem habe ich das grössere Publikum, wie wenn ich Dialekt spreche, und Bühnendeutsch verleiht der Figur etwas Elitäres, Geschliffenes. Was machst du am liebsten: Auf der Bühne stehen, Kolumnen schreiben, Karikaturen zeichnen, unterrichten... Ich mag die Abwechslung. Ich möchte bei nichts das Gefühl haben, ich muss das machen. Natürlich bin ich gerne auf der Bühne. Applaus hat ein Suchtpotenzial. Jeder will im Grunde weg von der Bühne: Es belastet die Beziehung, wenn man jeden Abend weg ist. Es ist auch nervenaufreibend, wenn man sich jedes Mal voll ausliefert, man ist fast gezwungen, Erfolg zu haben, das Publikum erwartet zu Recht, dass die Vorstellung ihren Preis wert ist. Man ist erleichtert, wenn die Sommerpause da ist. Aber nach einer, zwei Woche wartet man darauf, wieder auf der Bühne zu stehen, den Applaus entgegenzunehmen, sich zu verneigen. Dann kann man ein Bier öffnen und denken: Ha, das war ein schöner Auftritt!

«Meine Satire richtet sich eher an ein gebildetes Publikum. Menschen, welche politisch nicht gebildet sind oder keine zwei Stunden Text an einem Abend aufnehmen können, sind bei mir falsch, deswegen spiele ich lediglich in Kleintheatern.»


GALERIE

Der Syrer Ali Barzan bei seiner Arbeit in einer Alutafelfabrik.

Menschen – wie du und ich Die Zürcher Fotografin Silvia Voser hat Migrantinnen und Migranten unterschiedlichster Herkunft sowie Schweizerinnen und Schweizer getroffen. Bei ihren Begegnungen interessierte sie sich vor allem für das, was Menschen über alle kulturellen Grenzen hinweg verbindet. Familie, Arbeit und Tod sind für Voser solche Grundthemen, die «im Kern alle Menschen verbinden». Deshalb hat sie alle am Projekt Beteiligten zu diesen drei Themen interviewt und nach dem immer gleichen Muster ins Bild gesetzt: am Arbeitsplatz und in der guten Stube. Was daraus entstanden ist, zeigt nicht nur ein im Benteli-Verlag erschienener Fotoband, Vosers dritter nach zwei Russlandbüchern, sondern auch eine sehenswerte Ausstellung an der EB Zürich: «Menschen wie du und ich. Familie, Arbeit und Tod aus der Sicht von Migranten und Schweizern.» Das Hin- und Herschauen zwischen den Bildern und das vergleichende Lesen der dazugehörigen Texte ermöglichen, im Fremden das Bekannte zu entdecken – oder umgekehrt. Galerie EB Zürich 1. März bis 2. Juni 2007 Bildungszentrum für Erwachsene, BiZE, Riesbachstr. 11 im Zürcher Seefeld.

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KULTUR Kursleitende und Mitarbeitende der EB Zürich geben Tipps zu interessanten Büchern, CDs und Videos.

Suzanne Blaser, Kursleiterin Deutsch

Christina Landolt, Mitarbeiterin Administration

Martin Enkelmann, Kursleiter Informatik

Lesen

Hören

Sehen

Robert Louis Stevensons Abenteuerroman «Die Schatzinsel» aus dem Jahr 1881 ist weltberühmt. Und wer hat nicht auch schon davon geträumt, den unermesslichen Schatz zu bergen? – Alex Capus hat den Sommer 2004 auf Samoa verbracht, um zu beweisen, dass es Stevensons legendäre «Schatzinsel» gibt, aber woanders als Heerscharen von Schatzsuchern gesucht haben und dass der lungenkranke Stevenson einzig und allein deshalb die letzten fünf Jahre seines Lebens, 1889–1894, auf der Südseeinsel verbrachte. Capus ist ein herrlich feinsinniger Roman gelungen über einen aussergewöhnlichen Schatzsucher, Schriftsteller und Reisenden «im Lichte der Sterne».

Pippo Pollina sagt von sich, er sei überall und nirgendwo zu Hause. Der ehemalige Strassenmusiker begeistert mit Stimme und Sprachenvielfalt. Es ist für mich immer wieder überraschend, dass aus so einem kleinen, hageren Mann eine so volle und schöne Stimme klingt. Er singt nicht nur auf Italienisch, sondern auch auf Englisch, Spanisch, Hochdeutsch und Schweizerdeutsch. Seine Texte sind tiefgründig und regen zum Nachdenken und Träumen an. Das Repertoire des sizilianischen Cantautore geht von Liebesliedern über Balladen bis zu Rockstücken. Pippo Pollina ist ein Sänger für alle Stimmungslagen und fasziniert immer wieder von Neuem.

Mel Gibson schuf einen hektischen Actionfilm. Wer einen Dokumentarfilm erwartet, muss «Apocalypto» nicht sehen. Gut, es könnte so gewesen sein, wie Gibson es inszeniert. Genaueres weiss niemand Menschen reissen anderen die Herzen raus, essen Hoden, foltern und quälen mit Lust. Tatzeit: Untergang der Maya-Kultur. Der im Film zentrale Gefangenentransport ist eindrücklich und gut gespielt. Ansonsten huschen für mich Gesichter und Geheimnisse des Waldes zu schnell über die Leinwand, dafür mit zu vielen Wiederholungen. Wer versucht, sich Gedanken über die nicht bekannten Gründe der KulturTalfahrt zu machen, kann ins Schwitzen kommen.

Pippo Pollina Rossocuore 1999

Alex Capus Reisen im Licht der Sterne 2005

Mel Gibson Apocalypto 2006


WEITERBILDUNG

Comic: Ruedi Widmer

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EB Zürich Kantonale Berufsschule für Weiterbildung Bildungszentrum für Erwachsene BiZE Riesbachstrasse 11 8090 Zürich Telefon 0842 843 844

Weiterbildung – wie ich sie will

www.eb-zuerich.ch – lernen@eb-zuerich.ch


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