SFE Report 2012

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CONNECTED Vom E im E-Learning Dieter Euler, Heide Lukosch, Martin Raske, Andréa Belliger, Gilbert Gress

Bildungszentrum für Erwachsene BiZE-Report 6 Dezember 2012


Impressum Herausgeber Bildungszentrum für Erwachsene BiZE, Zürich Konzept und Redaktion Serge Schwarzenbach, EB Zürich Christian Kaiser, silbensilber Fritz Keller, silbensilber Gestaltung Philipp Schubiger, Hubertus Design Fotos Reto Schlatter Druck Kantonale Drucksachen- und Materialzentrale KDMZ

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5 Editorial Lernen bedeutet für den Rektor der EB Zürich heute auch, «connected» zu sein.

6 Dieter Euler «Oberstes didaktisches Ziel sollte es sein, den Paradigma-Wechsel vom Lehren hin zum Lernen zu organisieren. Weg von der Vermittlung von Inhalten hin zur Entwicklung von Kompetenzen.»

10 Heide Lukosch «Niemand überblickt, was da eigentlich beim Learning on the Job geschieht; einzelne Lernende oder ganze Teams organisieren ihr Lernen selber, Wissensquellen im Internet werden angezapft usw.»

14 Martin Raske «Warum bieten wir E-Learning an? Wir sind davon überzeugt, weil wir mit Erwachsenen arbeiten, die gewohnt sind, ihr Leben selbst zu steuern und selber zu entscheiden. Auch beim Lernen.»

18 Round Tables Die Teilnehmenden brachten ihre Sichtweisen und Erfahrungen an sechs Round Tables ein und präsentierten die Ergebnisse dem Plenum.

22 Andréa Belliger «Das Internet verändert unser Leben mehr als jede andere Technologie zuvor. Der Change, den wir jetzt erleben, ist gleichzusetzen mit der 68er-Bewegung. Alte Besitzstände werden wertlos.»

26 Gilbert Gress «Stimmen die Daten im Internet auch? Bei mir zum Beispiel sind der Vorname und der Name richtig, aber das Geburtsdatum nicht: Die haben mich drei Tage älter gemacht.»

31 DIE VERANSTALtung Das Schweizerische Forum für Erwachsenenbildung SFE fördert den Gedankenaustausch rund um Lernen und Weiterbildung.

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Editorial Liebe Leserinnen, liebe Leser Geht es nach dem Willen der New York Times wird das Jahr 2012 als «Year of the MOOC» in die Geschichte eingehen. Denn die MOOCs (Massive Open Online Courses), wie die von Universitäten angebotenen Online-Kurse für die breite Öffentlichkeit heissen, sind seit diesem Jahr kräftig auf dem Vormarsch: Die Zahl der bei den drei grössten Anbietern (Coursera, Udacity, EdX) eingeschriebenen Studentinnen und Studenten beläuft sich auf rund 2,5 Millionen Menschen – Tendenz stark wachsend (Stand November 2012). Das Erfolgsrezept der MOOCs: «Die sich stark entwickelnde Lernform verknüpft Bildung, Unterhaltung (auch Spielen) und soziales Netzwerken miteinander», schreibt die New York Times im vergangenen November. Der Schlüssel liegt also im Verknüpfen und Netzwerken. «Lernen heisst vernetzen», lautete schon das Motto des dritten Schweizerischen Forums für Erwachsenenbildung (SFE) 2010: Der Neurowissenschafter Lutz Jäncke und die Lernforscherin Elsbeth Stern legten eindrücklich dar, dass Lernen durch neue Verknüpfungen im Gehirn geschieht und dass Lernen heisst, an bereits Gelerntes anzudocken. Unter dem Titel «Connected» ging nun das fünfte Forum der Frage nach, was die digitalen Medien dazu beitragen können, dass in unseren Hirnen ein paar neue Knoten und Verbindungen hinzuwachsen. Die Referentinnen waren sich einig, dass den äusseren digitalen Netzwerken (Stichwort: Social Networks) dabei eine besondere Rolle zukommt. Sie stützen sich dabei auf die Theorie des Konnektivismus: Diese geht davon aus, dass Lernen immer über die Vernetzung von Knoten und Verbindungen geschieht. Nicht nur von (neuem) Wissen mit (bereits gemachten) Erfahrungen in unseren Hirnen. Zu verbindende Knoten im Lernprozess können auch äussere Datenbanken oder andere Menschen mit ihrem Wissen, Können und ihrer Erfahrung sein. Da wir nicht alles selber erfahren können, werden im Zeitalter des Web 2.0 die Erfahrungen anderer, und damit «die anderen» selbst, zur wichtigsten Quelle für unser Lernen. Es verwundert nicht, dass es ebenfalls die Begründer des Konnektivismus (George Siemens und Stephen Downes) sind, die MOOC wesentlich mitgestaltet haben. Das fünfte Forum versuchte Antworten zu finden, wie solche Entwicklungen das Lernen und Lehren in Zukunft verändern werden – und wie die Weiterbildung sie sich zunutze machen kann. Hans-Peter Hauser Rektor EB Zürich

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Dieter Euler

«Duschen oder Zähne putzen? Natürlich beides!» Versprechen oder Versprecher? Dieter Euler von der Universität St. Gallen nahm die Teilnehmenden mit auf eine Tour d’Horizon über die hochgesteckten und meist enttäuschten Erwartungen, welche mit dem E-Learning in den letzten 40 Jahren verbunden waren. Euler bot einen fundierten Einblick, welche Technologien bereits auf dem «digitalen Friedhof» gelandet sind, und formulierte Voraussetzungen, damit E-Learning-Konzepte funktionieren.

«Manchmal habe ich den Eindruck, dass es ist wie in dem berühmten Film ‹Und täglich grüsst das Murmeltier›. Der Hauptdarsteller hört jeden Morgen das Gleiche: dieselben Nachrichten, das gleiche Wetter – es bewegt sich nichts, obwohl die Tage durchaus hektisch sind. So ähnlich ist es mit dem E-Learning: Es gibt immer wieder neue Technologien – jetzt das iPhone 5, Social Networks – und mit diesen verbinden sich jeweils Versprechungen, dass das Lernen motivierter, aktiver, wirksamer, kostengünstiger wird. Solche technologischen Meilensteine waren früher die Einführung des Buchdrucks oder von PCs Ende der Siebziger, heute sind es

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E-Books: In den USA werden schon 30 Prozent der Belletristik-Bücher als E-Books gelesen. Immer waren die technologischen Innovationen mit grossen Versprechungen verbunden, was die Zukunft des Lernens anbelangt. Peter Drucker, der Altmeister der Managementlehre, sagte vor gut 30 Jahren: ‹30 years from now the big university campuses will be relics.› Prophezeiungen mit Marketingspeck ‹From bricks to bits›, dass das Lernen am Computer das Lernen in Universitätsgebäuden ersetzt, ist also eine Vorstellung, die schon seit gut 30 Jahren existiert. Noch viel früher hat-

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te Thomas Edison prophezeit, dass das Lehrbuch verschwinden und durch den Film ersetzt werde. Cisco machte 1999 die mit viel Marketingspeck versehene Aussage: ‹One day, training for every job on earth will be available on the Internet.› Heute haben wir immer noch Universitäten, an welchen sehr traditionell gelehrt wird. Wir haben weiterhin Lehrbücher – und davon nicht zu knapp. Es gibt dazu den schönen Satz: ‹Bevor ein Professor das Lehrbuch eines Kollegen nimmt, benutzt er eher dessen Zahnbürste.› Lehrbücher gehören zum Inventar jeder Bildungsinstitution. Und auch in der beruflichen Bildung läuft das Training noch sehr konventionell ab. Wir haben also etwas, was ich gern den bildungstechnologischen Friedhof nenne. Auf diesem Friedhof finden wir die Versprechungen der Vergangenheit wieder. Aus den 70er Jahren liegen dort etwa der programmierte Unterricht oder das Sprachlabor, später kamen CBT (Computer Based Training), WBT (Web Based Training) oder E-Learning 1.0 dazu. Auch andere Innovationen sind inzwischen verschwunden. Werden also die Technologien, an welche gegenwärtig die höchsten Erwartungen in Bezug auf E-Learning geknüpft sind, auch auf dem bildungstechnologischen Friedhof landen? Praktisch jedes Jahr kommen neue Vorstellungen hinzu, was das Lernen verändern beziehungsweise revolutionieren soll. Gemäss dem Horizon Report 2011 heissen die kommenden Lernmedien u.a. E-Books, Mobile Learning oder spielbasiertes Lernen. Im Bereich des betrieblichen Lernens werden die grössten Hoffnungen derzeit auf Blended Learning, Apps oder soziale Netzwerke gesetzt (siehe Grafik). Unterschiedliche Medien und Lernformen Es stellen sich also zwei zentrale Fragen: 1. Wieso kommt es zu diesen typischen Verläufen ‹neue Technologie – grosse Versprechungen – vieles landet auf dem Friedhof›? Neue Versprechungen – neue Versprecher Welche Tools haben eine zentrale Relevanz für betriebliches Lernen in den nächsten drei Jahren? Twitter/ Micro-Blogging Blogs / Weblogs Podcasts Serious Games Simulations Wikis Virtual Classrooms Web Based Trainings Learner Communities / Social Networks Mobile / Apps Blended Learning 0

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Geringe Relevanz Quelle: MBB-Institut 2011, n=76 E-Learning Experts, in %

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2. Wie kann man aus einer didaktischen Perspektive das Potenzial, das in den neuen Technologien steckt auch nutzen? – Beispiel Khan Academy (www.khanacademy.org): Die ‹Learning Nuggets›, kurze Lernvideos im Internet, des ehemaligen Investment-Bankers Khan sind klassischer Frontalunterricht, eigentliche Steinzeit-Didaktik. Trotzdem sind sie sehr erfolgreich. – Beispiel Mobile-Learning via Tablet-PCs: Tablets können genutzt werden, um Internet-Ressourcen abzurufen, also sehr rezeptiv zu lernen. Gleichzeitig bieten sie aber auch die Möglichkeit zu filmen, zu fotografieren, bestimmte Themen auch visuell aufzubereiten; man kann selbst als Medienproduzent aktiv werden.

«Wir haben also etwas, was ich gern den bildungstechnologischen Friedhof nenne. Auf diesem Friedhof finden wir die Versprechungen der Vergangenheit wieder.» E-Learning kann also mit ganz unterschiedlichen Medien stattfinden – und mit diesen Medien sind wiederum ganz unterschiedliche Lernformen möglich; von konsumistischrezeptiv bis zu aktiv-produzierend. Diesen Hint­ ergrund sollte man immer vor Augen haben, wenn man von E-Learning spricht: Eine Vielzahl von Tools ist mit einer Vielzahl von Umsetzungsmöglichkeiten verbunden. Daraus ergeben sich vier Funktionen, welche die digitalen Medien erfüllen können. Sie können: 1. das (formale) Lehren und Lernen unterstützen (E-Learning im engeren Sinne), 2. das arbeitsintegrierte, informelle Lernen unterstützen, 3. selbst Gegenstand des Lernens sein (Stichwort Medienkompetenz), 4. Auslöser von Wirkungen auf individueller, zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Ebene sein (Cyber-Mobbing, Spielsucht, digitale Medien als Zeitfresser, Monopolisierung der Information, Plagiarismus, digitale Demenz usw.). High Tech versus High Teach Digitale Medien können aber auch sozial positive Wirkungen haben, die fürs Lernen relevant sind: Zum Beispiel mache ich die Erfahrung, dass schüchterne Studierende, die im Hörsaal nicht in Erscheinung treten, sich in Foren sehr aktiv beteiligen. Die alte Frage aus der Medienwirkungsforschung, ob E-Learning besser sei als das analoge Lernen ist natürlich völlig unsinnig:

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Sie ähnelt der Frage, ob der Film besser ist als das Buch. High Tech ist nicht automatisch auch High Teach.

«Vor diesem Hintergrund sollte man sich auch vergegenwärtigen, dass E-Learning nicht automatisch mit Innovation verbunden ist. Es kann innovativ sein, in aller Regel verstärkt es aber nur eine bereits vorhandene Tendenz.» E-Learning kann immer beides sein; besser oder schlechter, es kommt ganz auf die Ausprägung an. Auch ein CBT oder ein WBT kann eine höchst interaktive Veranstaltung sein oder sehr instruktiv-reglementiert. Genauso wie eine traditionelle Präsenzveranstaltung sowohl dröger Frontalunterricht oder eine gute Anregung zu selbstständigem, aktivem Denken sein kann. Die dahinter steckende Fragestellung ist so unsinnig wie die, ob ich morgens duschen oder Zähne putzen soll – natürlich braucht es beides. Den Gegensatz E-Learning versus traditioneller Unterricht gibt es also gar nicht. E-Learning ist aber kein Selbstzweck sondern ein Mittel. Und um den Einsatz dieses Mittels sinnvoll planen zu können, muss man bei

den Zielen beginnen. Da kann man grob zwischen ökonomischen und didaktisch-pädagogischen Zielen unterscheiden. Und im Grunde kann man sagen, dass E-Learning-Tools oft ökonomisch sinnvoll sind, aber didaktisch keineswegs besser als die Alternativen. Ein entsprechendes CBT verfolgt einen ökonomischen Zweck, didaktisch bringt es im Vergleich zum Seminar keinerlei Mehrwert. Vor diesem Hintergrund sollte man sich auch vergegenwärtigen, dass E-Learning nicht automatisch mit Innovation verbunden ist. Es kann innovativ sein, in aller Regel verstärkt es aber nur eine bereits vorhandene Tendenz. Beispiel PowerPoint: PowerPoint-Präsentationen sind für die Lehrenden zwar eine organisatorische Erleichterung, didaktisch waren sie aber im Vergleich zum Hellraumprojektor keine Neuerung. E-Learning kann also auch Schlechtes verstärken, statt innovativ zu sein. Das Ziel bestimmt die Mittel Aus didaktischer Perspektive stellt sich also die Frage: Welche Potenziale bietet E-Learning zur Erreichung bestimmter didaktischer Ziele? 1. Man kann die Interaktion in Lernprozessen intensivieren (z.B. via Social Software oder

Dieter Euler Direktor des Instituts für Wirtschaftspädagogik Universität St. Gallen Dieter Euler ist Direktor des Instituts für Wirtschaftspädagogik an der Universität St. Gallen, wo er seit 2000 als Professor für Bildungsmanagement und Wirtschaftspädagogik unterrichtet. 2003 hat er an der Uni St. Gallen auch das SCIL (Swiss Centre for Innovations in Learning) gegründet, dessen wissenschaftlicher Leiter er ist. Das SCIL bezeichnet sich selbstbewusst als «Vorreiter bei der Entwicklung neuer Konzepte, Methoden und Entwicklungen im Bildungsmanagement.» Vor seinem Wechsel nach St. Gallen war der gebürtige Deutsche Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg. Sein Werdegang ist eindrücklich: Auf eine Erstausbildung als Datenverarbeitungskaufmann folgten ein Fachhochschulabschluss als Dipl. Betriebswirt in Trier und die Promotion und Habilitation in Wirtschaftpädagogik in Köln. Dieter Euler berät unter anderem auch die deutsche Bundesregierung in Fragen der beruflichen Bildung sowie Bildung und Wissenschaft. Seine Publikationsliste umfasst 35 Buchveröffentlichungen, Eulers Hauptforschungsinteresse gilt den Sozialkompetenzen und pädagogischen Innovationsprozessen.

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Diskussionsforen); z.B. indem man die Lernenden zwischen Lernveranstaltungen in Diskussionen hineinzieht. 2. Man kann ein schnelles Feedback geben (z.B. via E-Tutoring); Feedback ist der Treibstoff, das Superbenzin des Lernens, und Lernende bekommen im konventionellen Unterricht in der Regel zu wenig Feedback. 3. Man kann im Lernprozess schnell auf Lernressourcen zugreifen; via Notebooks und Tablet PCs kann im Unterricht aktuell selbst recherchiert werden. 4. Das ermöglicht es, sich Inhalte selbstgesteuert und individuell zu erarbeiten, also nach eigenem Vorgehen und mit der eigenen Geschwindigkeit. 5. Assessments (z.B. E-Portfolio, Selbsttest) lassen sich gut in den Lernprozess einbauen.

Antwortengeben hin zum Problemelösen. Vom Nachreden zum Nachdenken. Von der Vermittlung von Wissen zum Austausch von Wissen. Vom Push- zum Pull-Prinzip; statt Wissen bereitzustellen, befähigen wir die Lernenden, sich das Wissen selbst zu erschliessen. Welchen Beitrag kann E-Learning dazu leisten? Wenn wir uns diesen Fragen stellen, dann verliert E-Learning seine beinahe mystische Einzigartigkeit und wird zu einem Instrument in einem didaktischen oder bildungspolitischen Diskurs. Es reicht also nicht, dass man an irgendeinem Punkt eine Technologie aufnimmt und irgendetwas macht. Man muss schon eine Strategie und ein Ziel haben. Wenn E-LearningMassnahmen in Organisationen mehr als nur ein punktuelles Dasein fristen sollen, braucht es deshalb zwei Voraussetzungen:

Aber bei alledem zeigt sich ein Dilemma: Je anspruchsvoller die didaktischen Anwendungen sind, desto weniger werden sie tatsächlich realisiert! Weil der Erstellungsaufwand sehr hoch ist, weil die ökonomischen Ziele stärker gewichtet werden als die didaktischen. Oberstes didaktisches Ziel sollte es sein, den Paradigma-Wechsel vom Lehren hin zum Lernen zu organisieren. Also weg von der Vermittlung von Inhalten hin zur selbstorganisierten Entwicklung von Kompetenzen. Vom

1. Die didaktischen und strategischen Ziele müssen klar sein. 2. Die Technologie muss so gestaltet und implementiert werden, dass sie diesen Zielen dient; in Bezug auf Funktionalität und Usability, aber auch im Hinblick auf kulturelle Kontexte in einer Organisation und ökonomische Effizienz. Diese beiden Punkte bewahren neue E-Learning-Tools am ehesten vor dem digitalen Friedhof.»

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Heide Lukosch

«Jeder kann Microtrainer sein» Trainieren oder spielen? Professorin Heide Lukosch von der Universität Delft in den Niederlanden versucht dem informellen Lernen am Arbeitsplatz eine Struktur zu geben. Dazu hat sie zwei nützliche Tools entwickelt. Microtrainings sind 15-minütige Lernblöcke, welche die Lernenden aktivieren, indem sie zum Mitdenken und Mitmachen animieren. Spielbasiertes Lernen hingegen macht sich die Vorzüge von Computerspielen für das berufliche Lernen zunutze.

Am Hauptsitz von Shell in Den Haag gibt es einige Besonderheiten. Zum Beispiel muss man sich, wenn man die Treppen hochsteigt, immer mit einer Hand am Geländer festhalten. Hintergrund: Die Frontleute, die Arbeitenden auf den Bohrinseln, sind dazu verpflichtet, sich immer festzuhalten, damit keine Unfälle passieren. Also gilt das auch in den ganz normalen Bürogebäuden. Und wer an einer Sitzung teilnimmt, wird sofort auf den nächsten Brandschutzausgang hingewiesen. Heide Lukosch nennt diese Beispiele, um zu unterstreichen, dass es sich bei Shell nicht nur um ein weltweit tätiges Unternehmen handelt, sondern auch

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um ein extrem reglementiertes, organisiertes, durchstrukturiertes.

«Microtrainings sind kollektive Lernsettings, die in kurzer Zeit Wege aufzeigen, wie sich frisch Gelerntes in berufliche Abläufe integrieren lässt.» Selbst solche Multis mit klar geregelten Strukturen haben heute aber ein Problem: Das informelle Lernen am Arbeitsplatz entzieht sich immer mehr vorgegebenen Strukturen. Niemand überblickt, was da eigentlich beim Learning on

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the Job geschieht; einzelne Lernende oder ganze Teams organisieren ihr Lernen selber, Wissensquellen im Internet werden angezapft usw. Shell wollte darum ihren Mitarbeitenden ein Instrument an die Hand geben, wie sie ihrem Lernen ausserhalb der vom Unternehmen organisierten Kurse eine Struktur geben können – und hat sich darum an die Universität von Delft und Heide Lukosch gewandt. Lernviertelstunde mit vier Etappen Lukosch und ihr Team haben dann, ausgehend von verschiedenen pädagogischen Konzepten, eine Struktur entwickelt, die durch ihre Einfachheit besticht. Die sogenannten Microtrainings sind Lerneinheiten, die nicht länger als 15 Minuten dauern und vier Phasen beinhalten: 1. Aktiver Start: Das Ziel des Trainings wird kommuniziert. Eine aktuelle Frage, ein Problem, ein Vorschlag wird formuliert und die Teilnehmenden werden zum Nachdenken darüber angeregt. Die Fragestellung steht in engem Zusammenhang mit dem Lernziel. 2. Übung: Die Teilnehmenden befassen sich aktiv mit der Fragestellung in einem Übungssetting; in Interviews, Kurzvorträgen, Rollenspielen, Brainstormings, Mind-Maps, sie schreiben Antworten nieder, füllen Fragebögen aus usw. 3. Diskussion: Die Teilnehmenden tauschen aktiv ihr Wissen aus: Fragen, Meinungen, Erfahrungen. Die Übungsleitung gibt positives Feedback. 4. Folgerungen: Was sind die nächsten Schritte? Wie behalten wir das Gelernte? Wie können wir es vertiefen? Was ist das Ziel der nächsten Lerneinheit? Der Vorteil solcher 15-minütiger Lernblöcke: Sie lassen sich als Kurzpause in jeden Arbeitsablauf integrieren und überfordern auch Mitarbeitende mit einer kürzeren Aufmerksamkeitsspanne nicht. Komplexere Themen lassen sich in eine Reihe von Microtraining-Einheiten aufgliedern: Mit einer Einführungseinheit, mehreren Microtrainings zu Unterthemen und einer Abschlusssitzung. Und dabei muss keineswegs immer der Vorgesetzte die Leitung übernehmen! Microtrainen können alle, überall, jederzeit und mit allen in einer Organisation. Heide Lukosch präsentierte hier das Beispiel von Lastwagenfahrern eines international tätigen Transportunternehmens, welche hochmotiviert ihre Microtrainings zu aktuellen Problemen von unterwegs via einen Blog auf der Internet-Seite des Unternehmens absolvieren. Wichtig für die erfolgreiche Einführung solcher neuer Lernwerkzeuge ist es, sowohl den LernerTypus in der Zielgruppe als auch deren Medien-

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nutzungsverhalten genau zu analysieren und im Anschluss eine nutzergerechte Lernumgebung zu entwickeln. Zudem muss das Management in der Pilot- und Einführungsphase neuer Microtraining-Settings dauerhaft einbezogen und beteiligt sein. Aktivierungspille für zwischendurch Microtraining ist eine intelligente, strukturierte Methode, um den Informationsaustausch zwischen Menschen zu fördern: um zu kommunizieren, Ideen zu sammeln, Wissen zu teilen und zu kommunizieren. Sie hilft auch das Experten- und Erfahrungswissen von jedermann und jederfrau in einer Organisation abzuholen. Microtraining ersetzt zwar das formelle Lernen in Kursen nicht, funktioniert aber gut, um Wissen aufzufrischen und zu erweitern. Und vor allem ist es eine sehr effiziente Methode, um Lernende zu aktivieren, sie zum selber denken und zur aktiven Beteiligung anzuregen. Den Anwendungsmöglichkeiten sind kaum Grenzen gesetzt: Microtrainings können in einem Kurs als Gruppenarbeit oder als Aktivierungsblöcke eingeschoben werden. Oder in einer Sitzung auf der Basis eines Inputs zur gemeinsamen Problemlösung beitragen. Oder regelmässig von Teams zur kreativen Umsetzung von neuen Vorgaben im Berufsalltag eingesetzt werden. Die Vorteile liegen auf der Hand: Microtrainings sind kollektive Lernsettings, die in kurzer Zeit Wege aufzeigen, wie sich frisch Gelerntes in berufliche Abläufe integrieren lässt Microtraining! Aktiver Start

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Übung

6 Minuten

Diskussion

4 Minuten

Folgerungen

2 Minuten

Link: www.microtraining.eu

Spiele zur Komplexitätsreduktion Einen ganz anderen Weg zum Umgang mit informellen Lernformen im Unternehmen stellen computerbasierte Lernspiele dar. Auch sie versuchen das Lernen und Arbeiten miteinander strukturiert zu verbinden – und die Angestellten zum Lernen zu motivieren und zu animieren. Dass das funktioniert, zeigt sich daran, dass Simulation und Planspiele schon seit den 70er Jahren in vielen Unternehmen genutzt werden: um zu verstehen, um Entscheidungsprozesse einzuüben, um Analysen durchzuführen

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und für das Lernen selbst. Als neueres Beispiel nennt Lukosch ein Spiel, das für die Mechatroniker-Ausbildung in den Niederlanden entwickelt wurde. Die Zielgruppe hier waren 16- bis 18-jährige Berufslernende, die zum Teil erhebliche Schwierigkeiten haben, komplexe Lehrbücher zu verstehen. Die Ausbildung zum Mechatroniker (ein Berufsfeld das Mechanik und Elektronik umfasst) ist jedoch inhaltlich sehr anspruchsvoll: Physikalische Gesetze müssen bekannt sein, Automaten müssen programmiert und eingestellt werden usw. Das Ziel des zu entwickelnden Spiels musste es also sein, die Lernenden während ihrer zweijährigen Ausbildung motiviert zu halten und den schwierigen Lernstoff in kleine, leicht verdauliche Einheiten herunterzubrechen. Das Spiel sollte sowohl die theoretischen Inhalte vermitteln als auch eine direkte Verbindung zur praktischen Tätigkeit haben, so dass sich die Theorie in die Praxis transferieren lässt.

kann, aber auch, indem man sich gegenseitig Tipps geben kann. Wer das Spiel spielt, ist zwar immer noch darauf angewiesen, gewisse Tabellen und Bedienungsanleitungen hervorzunehmen, die Erfahrungen mit dem Spiel haben aber gezeigt, dass das Lernen im Vergleich zu früher viel freudvoller und aktiver geworden ist. Einziger Nachteil: die Kosten. Das Spiel, das in einem halben Jahr Entwicklungszeit entwickelt worden ist, soll aber innert drei bis fünf Jahren für alle Berufslernenden ein offizieller Bestandteil der MechatronikerAusbildung in den Niederlanden werden.

«Spielen, ausprobieren, entdecken – das sind alles wichtige Elemente kindlichen Lernens, die sich auch für das Lernen durch Erwachsene wiederentdecken lassen – wieso nicht via den Spassfaktor beim Lernspiel am Computer.»

Lernen als Achterbahn In dem Spiel lassen sich Teile bauen, die sich zu einer Achterbahn zusammensetzen lassen. Der soziale Kontakt zwischen den Lernenden wird dadurch gefördert, dass man die so entstandenen Achterbahnen gegenseitig ausprobieren

Spielbasiertes Lernen lässt sich aber nicht nur für technische Fachkompetenzen anwenden sondern auch für wichtige Soft Skills. Lukosch und ihr Team haben für die niederländische Polizei ein Spiel entwickelt, das die situative Aufmerksamkeit (situational awareness) und

Heide Lukosch Assistant Professor Gaming and Simulation Universität Delft NL Delft, rund 15 Kilometer von der niederländischen Nordseeküste gelegen, beherbergt eine der grössten, schönsten und ältesten technischen Universitäten der Niederlande. An der technologischen Fakultät der TU Delft ist die gebürtige Deutsche Heide Lukosch als Assistant Professor Gaming and Simulation tätig. Sie hat an der Fernuniversität Hagen promoviert, damals beschränkte sich der E-Learning-Anteil auf das «Verschicken von .pdf-Dateien», wie sie sagt. Die Sozialwissenschafterin interessiert sich sehr für die Verbindungen zwischen der sozialen und der technischen Perspektive auf Lernansätze und Systeme. Sie forscht in der Abteilung «Systems Engineering» über formelles und informelles Lernen sowie E-Learning und Wissensmanagement, insbesondere widmet sie sich Fragestellungen rund um den Aufbau, das Teilen und das Bewahren von Wissen. Ihr Hauptaugenmerk gilt dabei den Lernprozessen in virtuellen Lernumgebungen und Lernspielen.

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die Kommunikationsfähigkeiten der Polizistinnen und Polizisten, die für den Personenschutz zuständig sind, verbessern soll. Die virtuelle Umgebung im Spiel ist dabei der realen Arbeitsumgebung der Polizisten möglichst naturgetreu nachempfunden: Den Spielraum bildet ein Teil der Innenstadt von Den Haag, die Polizeiangehörigen müssen auffällige Besonderheiten in der Umgebung erkennen. Das Spiel kann sowohl als Single- wie auch als Team-Spiel gespielt werden. Trotz hoher Entwicklungskosten lassen sich im Vergleich zu realen Rollenspielen vor Ort mit vielen Einsatzkräften so auch Kosteneinsparungen erzielen. Laut Tests sind die Polizisten sehr motiviert mit diesem Spiel zu lernen. Spielen, ausprobieren, entdecken – das sind alles wichtige Elemente kindlichen Lernens, die sich auch für das Lernen durch Erwachsene wiederentdecken lassen – wieso nicht via den Spassfaktor beim Lernspiel am Computer. Das theoretische Fundament Für ihre Überlegungen gingen Heide Lukosch und ihr Team von den realen Lernsituationen am Arbeitsplatz aus: «Mindestens 80 Prozent des Lernens von Angestellten findet am Arbeitsplatz statt», zitiert sie das US Department of Commerce. Dieses Lernen findet nicht formell, also in Kursen oder Trainingsprogrammen, sondern informell statt: ad hoc, unstrukturiert, indi-

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viduell, durch die Weitergabe von Wissen durch Arbeitskollegen, in Gesprächen, in Bibliotheken usw. «Eigentlich lernen wir immer und überall», sagt Lukosch. Auch das Internet spielt mit Wikis, Blogs und Foren eine immer wichtigere Rolle beim informellen Lernen. Lukosch definiert «Lernen als das ungeplante, beiläufige Lernen, das so wichtig ist, um unsere Arbeit gut zu erledigen». Für das Lernen mit neuen Medien von Bedeutung ist auch die Theorie des Konnektivismus; die neuen Lernerinnen und Lerner, die sich in der Wissenslandschaft bewegen, haben einen ganz neuen Zugang zum Wissen und versuchen die für sie bedeutenden «Wissensknoten» miteinander zu verbinden: Solche Knoten können nicht nur Datenbanken, sondern auch Personen sein. Denn: Dass die Erfahrung der beste Lehrmeister für Wissen sei – diese Anschauung gilt für die Konnektivisten als überholt. Da wir nicht alles selber erfahren können, sind die Erfahrungen anderer Leute, und damit «die anderen» selbst, die wichtigste Quelle. Der Konnektivismus geht darum davon aus, dass man heute Wissen sammelt, indem man Freunde sammelt. Zum Beispiel Freunde in sozialen Netzwerken wie Facebook oder in beruflichen Netzen wie Xing, aber natürlich auch ganz unvirtuell.

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MARTIN RASKE

Management-Theorie aus der virtuellen Nussschale Online- oder Präsenzschulung? Als Global Head E-Learning der Credit Suisse ist Martin Raske überzeugt, dass technologieunterstütztes Lernen in Industrie und Wirtschaft immer wichtiger wird. Seine Einschätzung stützt sich auf die Erfahrungen bei der Bank: 50 000 Mitarbeitende benutzen die verschiedensten elektronischen Lernprogramme. Für den nachhaltigen Erfolg aber braucht es laut Raske ein entsprechend ausgebautes Umfeld und ständige Weiterentwicklungen. «Neben der Vermittlung von Fach- und Führungskompetenzen ist das Talent Development auch dafür verantwortlich, die neuesten Erkenntnisse technologiebasierter Methoden einzuführen. Klassischer Unterricht hat nicht ausgedient, wird aber durch neue Lerntechnologien optimal ergänzt.» So steht es auf einer Intranetseite der Credit Suisse. Dass dem so ist, untermauert Martin Raske in seinem Vortrag zuallererst mit Zahlen. Er betont, dass alle 50 000 Mitarbeitenden der Credit Suisse in 50 Ländern «seine» Kunden seien. Jedes E-Learning-Tool, das seine Abteilung im Intranet zur Verfügung stelle, sei von allen Mitarbeitenden einsehbar.

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Die Mitarbeitenden können zurzeit aus einer Bibliothek von 4500 Lernprogrammen auswählen. Dabei handelt es sich um verschiedene Technologien: Web Based Trainings (WBT), E-Tests, Videos on demand. Die Mitarbeitenden machen von diesen Möglichkeiten regen Gebrauch. 250 000 E-Learning-Einheiten werden pro Jahr freiwillig aufgerufen. Zusätzliche 300 000 Aufrufe geschehen auf Druck «von oben». In Zeiten, da der Bankensektor zunehmend reguliert wird – Stichworte Steuervereinbarung und bilaterale Abkommen –, ist es wichtig, dass alle betroffenen Mitarbeitenden innert Kürze auf dem neusten Stand. Sie müssen wissen, was erlaubt ist,

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und was nicht. Daraus ergibt sich immer wieder neuer Schulungsbedarf. Grosse Zeitersparnis Raske rechnet vor, welchen Aufwand es bedeuten würde, diese Wissensvermittlung mit Präsenzkursen zu bewerkstelligen. Das wären schnell 1000 Präsenzkurse, die man global durchführen müsste – bei einer Dauer von einem halben Tag, wären das dann 500 Schulungstage. Um das innerhalb von vier Wochen durchzubringen, bräuchte es etwa 20 Trainer. Damit aber stelle sich schnell die Frage, wie sichergestellt werden könne, dass alle das Gleiche erzählen und auch gleichbleibende Qualität gewährleisten? Das gehe nur über elektronische Medien. Die E-Learning-Programme böten weitere Vorteile, führt Raske an: Mit einem sogenannten Tracking lasse sich sicherstellen, dass wirklich alle Mitarbeitenden jedes obligatorische Programm zumindest gesehen hätten. Getestet würde auch, ob sie den Inhalt verstanden hätten. Raske räumt ein, dass solche Tests nur beschränkt aussagekräftig seien, weil sie in der Regel zu einfach konzipiert sind. Da suche man nach verbesserten Lösungen. Werden neue Programme aufgeschaltet, haben die Mitarbeitenden in der Regel vier Wochen Zeit. Nach diesen vier Wochen haben 99,5 Prozent aller Angesprochenen die Programme durchgearbeitet. Diese Zahl ist mit Präsenzkursen nicht zu erreichen. Es brauchte aber schon Zeit und Anstrengung, bis dieses Niveau erreicht war. Vor vier Jahren hatten nach vier Wochen erst 60 Prozent der Mitarbeitenden ihre Aufgaben erfüllt. In der Zwischenzeit hat ein Kulturwandel stattgefunden und das technologieunterstützte Lernen findet in der Credit Suisse mehr Akzeptanz. Hin zur Kürze Formal sind die E-Learning-Einheiten der Credit Suisse immer kürzer geworden. Gabs früher des Öfteren Management-Podcasts mit einem viertelstündigen Interview, so dauern heute witzig produzierte Videos aus der Reihe «Management in a Nutshell»* rund vier Minuten. Raske räumt ein, dass es wohl nicht möglich sei, in vier Minuten zu lernen, wie ein virtuelles Team zu führen sei. Diese «Nutshells» dienten dazu, die Mitarbeitenden mit einem Theorieinput auf den Weg zu schicken, um weiter dazuzulernen. «Es geht um das Anteasern von Lernprozessen», sagt Raske und verweist auf die ganze Bibliothek von 4500 elektronischen Lernsequenzen, die ein weiterführendes Lernen ermöglichten. Der Erfolg scheint Raske recht zu geben: Wöchentlich schauen sich 2500 bis 3000 fixe Abonnenten jede neue Folge an.

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Produziert werden diese technologieunterstützten Lerneinheiten von einem erstaunlich kleinen Team. Es umfasst sieben Personen, wovon vier in der Content-Herstellung, also für die Produktion von Inhalten tätig sind, die drei andern kümmern sich um die Infrastruktur. Sieben weitere Personen, sogenannte Contractors, betreuen den Help Desk, mehrheitlich von Indien aus. Denn auch das gehört offenbar zum technologieunterstützten Lernen: Etwa zehn Prozent sind immer sogenannte «Support-Fälle», die auch dann irgendwo anrufen wollen, wenn sie nur harmlose Fragen haben.

«Kann man in vier Minuten lernen, ein virtuelles Team zu führen? Ich glaube es nicht. Aber in vier Minuten können wir einen Input liefern mit etwas Theorie, der die Leute auf den weiteren Weg schickt.» Preisvergleich E-Learning sei sehr teuer, wird immer wieder gesagt. Martin Raske relativiert, man müsse schon genauer hinschauen, was teuer in diesem Zusammenhang heisse? Teuer in Relation wozu? Was ist man bereit, auszugeben? Bei Credit Suisse sind es 35 Franken pro Mitarbeiter, die pro Jahr für das E-Learning ausgegeben werden, für alle Leistungen und alle Angebote und auch für die Infrastruktur. Das ergibt insgesamt ein Budget von 1,75 Mio Franken. In Relation gesetzt zum gesamten Ausbildungsbudget sind das vier Prozent. Diese vier Prozent ermöglichen aber 25 Prozent der gesamten Lernzeit. Ob der Präsenzunterricht oder der Online-Kurs teurer sei, sei immer auch ein bisschen eine Milchbüchlein-Rechnung, sagt Raske. Auf den ersten Blick ist die Erstellung eines Präsenzkurses einfacher: Ein Trainer macht das Konzept oder bringt es schon mit und führt dann die Veranstaltung durch. Die Kosten sind so gut überschaubar, eingeschlossen die ganzen Durchführungskosten. Bei einer E-LearningEinheit ist das weniger klar. Früher war man der Ansicht, dass es ab 300 Leuten teurer sei, einen Präsenzkurs durchzuführen, statt eine E-Learning-Einheit zu produzieren. Bei einem E-Tool könne er jedoch die Kosten gut auf die einzelnen Teilnehmenden oder auf die Organisation zurückrechnen, berichtet Raske. So wisse er genau, wofür das Geld ausgegeben werde, und könne es zielgerichtet verteilen. Aber natürlich gehöre eine ständige Überprüfung der Geldflüsse dazu. Schliesslich investiere man nicht einfach nur Geld, man wolle auch über den Erfolg Bescheid wissen: Zuerst wird der Ausbildungsbedarf ermittelt, dann werden ent-

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sprechende Lerneinheiten produziert und ausgeliefert, und am Schluss wird der ganze Ablauf evaluiert. Nachhaltig genug? Von Kritikern bekommt Raske oftmals zu hören, dass der Lerneffekt beim E-Learning nicht der gleiche sei wie bei Präsenzkursen. Dem widerspricht er und verweist auf Qualitätskontrollen, welche die E-Learning-Programme begleiten. Überprüft würde vor allem, ob die Lernziele erreicht worden sind und die Lernprogramme etwas für den Alltag brächten. Im Durchschnitt liegen die Ergebnisse bei den Web Based Trainings zwei Prozentpunkte höher als bei den Classroom Trainings.

«Wir sind überzeugt, erwachsenengerechtes Lernen heisst, den Mitarbeitenden die Möglichkeit zu geben, dann zu lernen, wenn es zeitlich passt, und dann an die Themen ranzukommen, wenn es nötig ist.» Warum ist man bei Credit Suisse so überzeugt vom E-Learning? Erwachsene Menschen hätten nun mal in der Regel die Tendenz,

ihr Leben selbst zu steuern und selber zu entscheiden, was sie wo, wie und wann in welchem Umfang wollten. Das gelte auch fürs Lernen. Da sei es sicher nicht unbedingt immer die richtige Antwort, 50 Leute in einem Klassenzimmer einzusperren und ihnen dann vorgegebene Inhalte zu vermitteln. Erwachsenengerechtes Lernen heisse, den Mitarbeitenden die Möglichkeit zu geben, dann zu lernen, wenn es zeitlich passt, und dann an die Themen ranzukommen, wenn es nötig ist. Und in dem Tempo lernen zu können, wie es möglich ist. Weitere Pluspunkte des E-Learnings Nach Raske gibt es weitere Vorteile, die fürs E-Learning sprechen. «Mit dem Reinbringen von technischen Hilfsmitteln ist es relativ einfach möglich, Abwechslung in den Lernprozess reinzubringen», sagte er. Ein gut gemachter Präsenzunterricht sei auch spannend, wenn der Medieneinsatz gut geplant sei. Die Möglichkeiten der elektronischen Medien vervielfältigten aber die Möglichkeit, das Lernen attraktiv zu machen, gerade in Themenbereichen, die a priori nicht so spannend sind. «Da muss man nachhelfen, mit spannenden Medien und auch ein bisschen Druck.» Wichtig für ein funktionierendes E-Learning sei eine übersichtliche Logistik. Credit

MARTIN RASKE Global Head E-Learning, Credit Suisse Martin Raske bildete sich zum Sekundarlehrer aus und war als solcher sechs Jahre an der Oberstufenschule in Kloten tätig. Im Anschluss daran übernahm er für vier Jahre die Stelle als Head of E-Learning bei der Zürich Versicherungsgesellschaft. Als Geschäftsführer der Lernwege Schweiz GmbH war er dafür verantwortlich, moderne Lernsoftware zu verbreiten. Seit 2004 ist Martin Raske nun bei der Credit Suisse tätig, wo er an verantwortlicher Stelle das E-Learning in der internen Weiterbildung verankert.

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Suisse hat in den letzten fünf Jahren sechs verschiedene Learning-Management-Systeme abgestellt und beschränkt sich nun auf ein System, auf dem die ganze Planung, die ganze Organisation, die Registration aller Schulungen, Präsenz etc. laufen. Das sei ein riesengrosser Vorteil, betont Raske, um den ihn viele Kollegen aus andern Firmen beneiden würden. Damit lasse sich der ganze Lernprozess im Griff halten, es sei viel einfacher, Updates aufzuschalten, das Feedback komme kanalisiert herein, wenn einmal etwas nicht rund laufe. So könne auch eine einheitlich hohe Qualität gewährleistet werden.

«Was ist ein Blended-Learning-Konzept? Nur ein bisschen Web Based Training reicht nicht. Blending heisst, dass alles gut ineinander verwoben ist, dann nützt es etwas.»

möchte. Man müsse also auch immer fragen, wer das bezahle. Und es müsse immer auch inhaltlich etwas bringen, es dürfe nicht nur glänzen. Es habe, so sagt Raske zum Abschluss, einiges an Zeit und Energie gebraucht, um die entsprechenden Lehr- und Lernkultur bei Credit Suisse einzuführen und die Leute draussen an ihren Arbeitsplätzen von der Ernsthaftigkeit des E-Learnings zu überzeugen. Das sei heute keine Frage mehr. Technologieunterstütztes Lernen könne nicht alleiniger Treiber für nachhaltiges Lernen sein. Aber im Verbund mit anderen, traditionelleren Lernformen sei es nicht mehr wegzudenken. *Beispiele unter www.youtube.com > Management in a Nutshell

Unter dem Schlussstrich Was ist ein erfolgversprechendes Blended-Learning-Konzept? Nur ein bisschen Web Based Training reiche nicht, betont Martin Raske gegen Schluss seines Vortrags. Blending heisse, dass alles gut ineinander verwoben sei, dann nütze es etwas. Die Gefahr bestehe, dass man unendlich viel Geld «verlochen» könne, wenn man das

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ROUND TABLES

Round Tables: Transfer in den Alltag Analog oder digital? Die Teilnehmenden erhielten an den RoundTables-Gesprächen die Gelegenheit, sich untereinander über die Inputs der Refierierenden auszutauschen und eigene Ideen, Erfahrungen und Sichtweisen einzubringen. Die Erkenntnisse aus den sechs Round Tables wurden im Plenum vorgestellt.

Diskutiert wurde eine halbe Stunde lang in Gruppen à maximal 12 Personen unter der Leitung einer moderierenden Fachperson von der EB Zürich. Einzelne bedeutende Aspekte und Folgerungen wurden auf Pinwänden festgehalten. Nach einer halben Stunde konnten die Teilnehmenden zu einem anderen Round Table wechseln, um sich aktiv über die Relevanz des Gehörten für sich persönlich und für das eigene Arbeitsumfeld auszutauschen. Folgende sechs Themen standen zur Auswahl: 1. «Analog oder digital: Ist das eine Frage?» 2. «Es geht nichts über Präsenzunterricht» 3. «Wie bilden wir uns in 5 bis 10 Jahren weiter?» 4. «Kooperatives Lernen und Arbeiten mit digitalen Medien» 5. «Wie können Unternehmen mit Weiterbildungsinstitutionen kooperieren?» 6. «Medienkompetenzen: Welche benötigen ‹Digital Immigrants› und wie kommen sie dazu?»

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1. «Analog oder digital: Ist das eine Frage?» Das «oder» in der Fragestellung hat irritiert. Die Teilnehmenden kamen einhellig zum Schluss, dass es durch ein «und» ersetzt werden müsse. Lernen kann und muss sowohl analog als auch digital erfolgen. Und wo verläuft die Grenze zwischen analog und digital? Sinvollere Grenzziehungen wären «elektronisch oder nicht elektronisch» oder «synchron und asynchron», im Sinne von gleichzeitig miteinander im Gespräch oder zeitlich versetzt via ein Medium. Konsens bestand darin, dass digitale Medien gute Dienste dabei leisten, um in ein Thema einzusteigen oder um Fakten zu lernen. Wenn es aber um die Einordnung von Wissen geht, scheint die reale Gesprächsform hilfreicher. Berufsberaterinnen gaben beispielsweise an, dass zu Beratende mit teilweise wilden Vorstellungen über einzelne Berufsgruppen in die Beratung kommen: bzgl. Arbeitsinhalten, Verdienstmöglichkeiten, beruflicher Ausbildung usw. Da reichen digitale Recherchen nicht aus, die Beziehungsebene im Gespräch hilft, vorgefertigte Bilder zurechtzurücken. Auch die digitale Partnersuche kommt ja ohne den Reality-Check nicht aus. Ebenso wenig reicht es heute in der Geschäftswelt, eine gute Internet-Seite ins Netz zu stellen; die Kundenpflege darf auf der realen Beziehungsebene nicht vernachlässigt werden. Ähnliches gilt im Bereich der Rekrutierung: Ob jemand motiviert ist und ins Team passt lässt sich nicht abschliessend auf digitalem Weg eruieren. Die Beziehungsebene kann aber auch überstrapaziert werden, das zeigt sich in der «Vetternwirtschaft». Hier können digitale Medien auch als Korrektiv dienen.

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2. «Es geht nichts über Präsenzunterricht» Absolutes Plus des Präsenzunterrichts ist die Flexibilität: Das geplante Vorgehen lässt sich anpassen, man kann auf die Bedürfnisse der Teilnehmenden und die Situation eingehen. Dabei kommt es aber auch auf den Kontext und die Vorgaben an: Ist der Unterrichtende in der Grundbildung, in der innerbetrieblichen Weiterbildung oder in der Persönlichkeitsentwicklung tätig? Je nachdem, was verlangt wird, lassen sich die Gestaltungsmöglichkeiten des Präsenzunterrichts gut oder weniger gut nutzen. Wichtig ist auch eine sorgfältige Teilnehmeranalyse; d.h., die Motivation der Teilnehmenden muss bekannt sein. Diese kann sehr unterschiedlich sein; der Inhalt, die Persönlichkeit des Kursleitenden, der Nachweis einer Qualifikation, der Austausch in der Gruppe – je mehr man darüber weiss, desto mehr kann man in die Gestaltung des Unterrichts einfliessen lassen. Das gemeinsame Erleben in einer Gruppe ist ein Wert an sich, der sich nur im Präsenzunterricht einstellen kann: Erfolgserlebnisse und Widerstände in einer Lernsituation werden gemeinsam genossen und durchlitten. Präsenzunterricht bedeutet heute nicht mehr Frontalunterricht oder Einweg-Kommunikation, sondern ist gekoppelt an Methodenvielfalt und Medienvielfalt; dabei können ergänzend auch

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Blended-Learning- und E-Learning-Elemente eine wichtige Rolle spielen. 3. «Wie bilden wir uns in 5 bis 10 Jahren weiter?» Die Zukunft wird vor allem mehr Individualisierung, mehr Flexibilisierung bringen. Ausgangspunkt der Diskussionen bildete aber die Frage, wie wir uns heute weiterbilden. Welches sind die Lernmedien, die wir am meisten nutzen? Davon ausgehend, haben sich die Teilnehmenden überlegt, wie sich ihr Lernverhalten in fünf bis zehn Jahren verändert haben wird. Das erstaunliche Resultat: So viel wird sich gar nicht ändern. Das Zusammenkommen, das Austauschen, das Miteinander beim Lernen und Reflektieren, das Gespräch werden auch dann noch eine wichtige Rolle spielen. Interessant war, dass soziale Netzwerke wie Facebook in keiner der beiden Runden als bedeutendes Lernmedium genannt wurden. Trotzdem war eine bedeutende Frage, wie sich die Weiterbildenden selbst weiterbilden müssen, damit sie mit den technologischen Entwicklungen – Tablets, Mobile Learning, Web 2.0 – Schritt halten können. Da ist ein gewisser Druck spürbar, Trends nicht zu verpassen und den Anschluss nicht zu verlieren. Viele Diskussionsteilnehmer messen klassischen Lernmedien wie dem Buch auch in

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zehn Jahren noch eine weiterhin ungebrochene Bedeutung bei. Die abschlussorientierte Weiterbildung mit ihren strikten Vorgaben wird jedoch eher als Hindernis angesehen, um beim Einsatz von Lernmethoden und -medien wirklich innovative Wege zu beschreiten. Sowohl aus der Perspektive der Lehrenden als auch der Lernenden; sich so weiterzubilden, wie man selbst möchte, ist im Bereich der Abschlussorientierung eher noch Wunschtraum. 4. «Kooperatives Lernen und Arbeiten mit digitalen Medien» Es gibt grosse Unterschiede, ob man das Thema aus der betrieblichen Perspektive betrachtet, wo Arbeiten und Lernen ganz stark ineinander fliessen, oder aus der Sicht des formalisierten Lernens, wo der Fokus auf einem didaktischen Szenario liegt. In den Betrieben wird kaum noch zwischen Lernen und Arbeiten unterschieden, das Lernen wird dort inzwischen fast selbstverständlich in digitalen Räumen organisiert – unabhängig von Distanzen und in Verbindung mit Leuten, die man noch nie gesehen hat. Ein Beispiel sind Forscher, die sich über neue Technologien mit Wasserstoff in einem Forum weltweit austauschen. Dafür braucht es aber auch spezielle Kompetenzen und Spielregeln. Die Regeln sind dabei weniger starr als in

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realen Lernsettings, sie sind oft Gegenstand von Aushandlungsprozessen. Videokonferenzen sind heute technisch so ausgereift, dass man sagen kann: Die reale Gesprächssituation wird so gut simuliert, dass es keine physische Präsenz mehr braucht. Eine Schwierigkeit stellt sich beim Thema der Emotionalität: Wie geht man damit beim Lernen mit digitalen Medien um? Für die emotionale Kompetenz sind reale Treffen eminent wichtig, weil man da auch lernt, Emotionen wahrzunehmen und darauf einzugehen, auch Spannungen auszuhalten. Damit die emotionale Komponente beim digitalen Lernen und Arbeiten nicht zu kurz kommt, kann es helfen auch Bilder und Töne in die Kommunikation einzubauen, nicht nur zu schreiben, wie beim E-Mail-Verkehr. Es ist also wichtig, sich multimedial auszutauschen. Ein Beispiel für informelles kooperatives Lernen mit digitalen Medien sind Lern-Tandems fürs Wortschatzlernen, welche sich auf der Webseite der Post bilden lassen. 5. «Wie können Unternehmen mit Weiterbildungsinstitutionen kooperieren?» Weiterbildungsinstitutionen bewegen sich heute in einem Markt. Das Problem aus Unternehmenssicht dabei ist, dass die Institutionen auf diesem Markt fixe Angebote präsentieren. Unternehmen brauchen aber individuel-

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les Wissen, sie benötigen Fach- und Branchenkompetenz. Die Kompetenz in Bezug aufs Lehren und die Didaktik befindet sich aber auf Seite der Schulen. Der Schluss liegt also nahe, dass die Weiterbildungsinstitutionen ihr didaktisches Know-how in die Unternehmen einbringen. Hier wurden intensiv Ansätze diskutiert, in welcher Form das vonstatten gehen könnte. Bei der Frage, wie diese Kooperation im Bereich E-Learning aussehen könnte, herrschte aber allgemeines Schweigen und Ratlosigkeit. 6. «Medienkompetenzen: Welche benötigen ‹Digital Immigrants› und wie kommen sie dazu?» Das Zauberwort Medienkompetenz umfasst diverse Aspekte: individuelle wie die Selbst- oder die Reflexionskompetenz oder auch die Lern- und Methodenkompetenz. Man muss Antworten haben auf die Frage: «Wie ticke ich eigentlich im Umgang mit den diversen digitalen Medien?» Man muss sich über die eigene Herangehensweise im Klaren sein. Daneben gibt es aber auch diverse soziale Aspekte der Medienkompetenz: Man bewegt sich ja in einem sozialen Verbund, und da wird der Gegensatz zwischen privat und öffentlich immer bedeutsamer. Zur Medienkompetenz gehört also auch das Wissen darüber, wie sich die Grenzen zwischen priva-

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tem und öffentlichem Raum auflösen und welche Auswirkungen das haben kann, individuell und gesamtgesellschaftlich. Die «Digital Natives», welche ihr Verhalten in dieser Hinsicht wenig reflektieren, könnten in dieser Frage allenfalls von den «Digital Immigrants» lernen, die sich des Gegensatzes zwischen privat und öffentlich eher bewusst sind. Weiter spielen auch kulturelle Aspekte in die Medienkompetenz hinein; Werte und Haltungen werden wichtig. Was tut man und was nicht und warum? Der technische Aspekt spielt eher am Rande eine Rolle, wichtiger ist die Frage des Umgangs mit dieser Technik. Medienkompetenz wird heute vor allem erlernt, indem man selbst ausprobiert und seine Erfahrungen reflektiert.

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Andréa Belliger

«Netzwerke bestimmen, wie wir lehren und lernen» Vernetzt oder verloren! Sie könne sich gar kein besseres Konferenzthema als «Connected» vorstellen, sagt Andréa Belliger gleich zu Beginn ihres Vortrags. Die Medienwissenschafterin von der Hochschule Luzern ist überzeugt, dass sich für das Lehren und Lernen in einer vernetzten Welt völlig neue Möglichkeiten auftun. Parallel dazu entwickeln sich auch ganz andere Prinzipien und Normen, die traditionelles Lehren und Lernen alt aussehen lassen.

Die Zahlen sprechen für sich. 89 Prozent der Schweizer Bevölkerung haben Zugang zum Internet, drei Viertel haben sich in mindestens einem sozialen Netzwerk eingeschrieben. 2,9 Millionen Schweizerinnen haben bei Facebook ein Konto, bei den unter Dreissigjährigen sind gar 96 Prozent dabei. Seit der Einführung des Web 2.0 vor gut sieben Jahren hat die weltweite Vernetzung ständig zugenommen. Privates wird öffentlich «Unsere Welt hat sich in den letzten Jahren ziemlich verändert, und damit auch unser Kommunikationsverhalten», hält Andréa

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Belliger fest. Geändert hat sich vor allem die Einstellung, was öffentlich ist und was privat. Auf Youtube oder in Blogs lassen sich heute die intimsten Details lesen. Diese Entwicklung ist sehr erstaunlich. Vor zwanzig, dreissig Jahren herrschte die Angst vor einem Überwachungsstaat, Fichenaffäre und Volkszählungen waren grosse Themen. Alle waren bemüht, keine Informationen über sich preiszugeben, damit der Staat nichts über den einzelnen Bürger wusste. Heute werden nur allzu bereitwillig intime Informationen ins Netz gestellt. Und wenn heute an fast jeder Ecke eine Videokamera installiert ist, scheint das (fast) niemanden zu stören.

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Für Belliger ist diese Entwicklung Ausdruck davon, dass das Internet sich in den letzen Jahren von einem Medium der Informationspublikation zu einer Kommunikationsplattform entwickelt hat. Dazu gehören meist kostenlose Anwendungen wie Youtube, Facebook, Twitter, Dropbox und viele mehr. Das Interessante und Neue an dieser Entwicklung sieht Belliger in der Bezeichnung «Social Software». Treiber der Entwicklung ist nicht so sehr eine technische Innovation, sondern eine soziale Bewegung. Und hinter der sozialen Bewegung steht eine einfache, aber bestechende Philosophie: Es ist die Philosophie des Teilens und des Mitteilens, des Partizipierens und des Agierens. Lernen findet heutzutage in Netzwerken statt. «Wissen ist nicht etwas was wir im Kopf haben, sondern auf dem Stick in der Hosentasche», sagt Belliger zugespitzt.

«Während vor zwanzig, dreissig Jahren noch die Angst vor einem Überwachungsstaat herrschte, Fichenaffäre und Volkszählungen grosse Themen waren, werden heute nur allzu bereitwillig intime Informationen ins Netz gestellt.» Netzwerke definiert sie als sozio-technische, das heisst aus menschlichen und nicht menschlichen Akteuren bestehende komplexe Gebilde. Und diese Netzwerke haben ihre eigenen Dynamiken und ihre eigenen Normen. Im weiteren Verlauf ihres Vortrags schält die Medienwissenschafterin aus Luzern heraus, welche Grundprinzipien und Normen in den aktuellen Netzwerken gelten. 1. Konnektivität «Vernetz dich und lass deine Informationen und deine Fähigkeiten fliessen.» Mit diesen Worten fasst Belliger ein erstes Grundprinzip zusammen. Im Bildungsbereich zeigt sich diese Vernetzung zum Beispiel in den sogenannten «MOOCs», die seit einiger Zeit einen eigentlichen Boom erleben. «MOOC» ist ein Akronym für «Massive open online courses». Das sind riesige selbstorganisierte Gefässe für kostenloses Lernen, frei zugänglich und auf aktiven Austausch angelegt. Es sind Lernnetzwerke in einer Welt, in der Wissen und Information überall zu holen ist. Lehrende und Lernende sind vernetzt und tragen Wissen zusammen. Mitmachen kann, wer will, und zwar kostenlos. Im Herbst 2011 bot der an der Stanford University lehrende deutsche Professor Sebastian Thrun erstmals einen Onlinemassenkurs zum Thema Künstliche Intelligenz an. Als sich 160 000 Studierende angemeldet hatten, bat

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die Stanford University, mit der Immatrikulation aufzuhören. Ein Drittel der Teilnehmenden kam aus Schwellen- und Drittweltländern. 23 000 bestanden den optionalen Abschlusstest. Thrun verliess in der Folge die Stanford University und gründete Udacity, ein Unternehmen, das nichts weiter tut, als solche kostenlosen Kurse anzubieten. Andere Unternehmen wie Coursera oder University for the people folgten und bieten heute MOOCs in den verschiedensten Bereichen an. Die zunehmende Vernetzung wirkt sich auch auf die Lernmaterialien aus. Lehrmittel werden nicht einfach von der Lehrperson zur Verfügung gestellt, sondern sie werden kollaborativ erstellt: Jeder Einzelne kann sein Wissen eingeben und so etwas zum Ganzen beitragen. Die Lehrmittel enthalten die unterschiedlichsten Elemente: Videos, Texte, Bilder, Animationen und lassen so neue Lehr- und Lernformen zu. 2. Flow Eng mit der Konnektivität zusammen hängt der Flow: Alles ist in Bewegung, alles fliesst. Der Informationsfluss ist nie abschliessend fassbar oder identifizierbar. Man muss sich darauf einlassen, dass immer Interaktionen und Kräfte am Werk sind, die sich nicht nach dem Organisationsprinzip der Hierarchie richten. Es kann also durchaus vorkommen, dass Lernende besseren Zugang zu Information und zu Wissensressourcen haben als die Lehrenden. Im Bereich des Lernens wird in diesem Zusammenhang auch vom «seamless learning» gesprochen, von einem Lernkontinuum über soziale Grenzen hinweg; formell, informell, online, offline, Ort und Zeit werden unwichtig. Dem mobilen Lernen gehört die Zukunft. 3. Kommunikation Ein weiteres Grundprinzip von aktuellen Netzwerken ist eine offene, transparente und ehrliche Kommunikation, sogenannte «native conversation». Eine offene Kommunikation zeigt sich im Bildungsbereich zum Beispiel in sogenannten Barcamps. Das sind Veranstaltungen, wo sich Leute an einem bestimmten Ort treffen, und gemeinsam abmachen, was sie lernen möchten. Sie gestalten gemeinsam das Programm, sie laden gemeinsam Referentinnen und Referentinnen ein, bestimmen den Ablauf. Das ist eine Kommunikation auf Augenhöhe. Ein spannender Ansatz, der mittlerweile auch in Unternehmen unter dem Namen «Corporate Learning Camp» Schule macht. 4. Transparenz Mit zu den Grundprinzipien gehört auch Transparenz. Wer als Firma, als Organisation, als Person nicht transparent ist, ist suspekt. Wer nicht transparent ist, ist schnell weg, alles wird

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online geratet: Hotels, Unternehmen, Schulen, Lehrkräfte etc. Bei der Transparenz geht es aber auch um einen neuen Umgang mit Daten. In der heutigen Gesellschaft sind nur wenige grundsätzlich gegen die Verwendung ihrer Daten. Sie sind bereit, ihre Daten mit andern zu teilen. Wichtig ist aber, immer die Kontrolle über ihre Daten zu behalten, selber entscheiden zu können, wer zu welchem Zweck Zugang zu ihren Daten hat. Es wird in Zukunft darum gehen, dafür zu sorgen, dass die Privatsphäre nicht auf der Strecke bleibt. Dafür braucht es grösstmögliche Offenheit.

«Ich glaube nicht, dass beim Lernen in Netzwerken die Privatheit auf der Strecke bleibt. Neu wird eine Sozialsphäre entstehen, die nicht ganz ins Öffentliche gehört, aber auch nicht nur ins Private.» 5. Partizipation Ein weiteres Grundprinzip moderner Netzwerke heisst, Wissen und Information nicht für sich zu behalten, sondern zu teilen. Das ergibt neues Wissen. Geteilt wird, weil sich daraus ein

Vorteil ergibt. Teilen ist eine soziale Handlung, die verbindet, die aus Fremden Freunde macht, mitunter die Basis ist für jegliche Zusammenarbeit. Das ist der Trend. «Sharing is clean, crisp, urbane, postmodern», schrieb der amerikanische Autor Mark Levine im Magazin der New York Times, «owning is dull, selfish, timid, backward.» Levine sieht das Zeitalter des Teilens gekommen, Besitz verdammt er in die Vergangenheit. Partizipation im Bereich von Bildung passiert hauptsächlich an zwei Orten. Zum einen verändert sich die Vorstellung, was Lernen überhaupt ist. Vom konventionellen individuellen Lernen geht die Entwicklung eindeutig in Richtung kollektives Lernen oder eben in Richtung «social learning»: Lernen ausserhalb von konventionellen Formen, informell und in Gemeinschaften (Communities). Damit verändern sich auch die Rollen der am Lernprozess Beteiligten. LaienExperten-Gefälle verschwinden und Lernende sind nicht mehr nur passiv Empfangende, sondern aktiv Mitwirkende. Das E in E-Learning kann damit auch für «Empowerment» stehen, im Sinne von Hilfe zur Selbsthilfe. 6. Authentizität Sei authentisch, sei du. Dieses Grundprinzip verlangt von allen Beteiligten, sich in

ANDRéA BELLIGER Theologin, Professorin am Institut für Kommunikation und Führung, Universität Luzern Andréa Belliger studierte Theologie, Philosophie und Geschichte in Luzern, Strassburg und Athen. Nach Assistenzen am Lehrstuhl für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht am Lehrstuhl für Religionswissenschaft an der Universität Luzern, promovierte sie 1999 im Bereich des kanonischen Rechts. Im Jahr 2000 war sie Mitbegründerin des Instituts für Kommunikation und Kultur an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern. In den folgenden Jahren hatte sie die Co-Leitung des Instituts inne, übernahm dann 2006 die volle Leitung. Seit 2007 leitet Andréa Belliger den Bereich Dienstleistungen der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz Luzern. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Kommunikationswissenschaft (Schwerpunkt Neue Medien), Bildung und Neue Medien, E-Learning, Mediendidaktik, Wissensmanagement, E-Learning-NetworkManagement.

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Netzwerken nicht anders zu zeigen als in Wirklichkeit, sich also nicht eine Offline- und eine Online-Identität zuzulegen. Neuere Studien haben auch gezeigt, dass es in Netzwerken kaum möglich ist, sich einerseits so zu verhalten, wie es erwartet wird, und andererseits so, wie man zu sein glaubt. Soziale Netzwerke sind kein Rückzugsort für die Identität, sondern sie sind eher eine Ausweitung in den sozialen Kosmos. Und hier zählt weniger das Wissen als eben die Kompetenz. Es sind die Netzwerke, die allen eine Position zuschreiben, wenn die Kompetenz stimmt, und diese Position ebenso schnell wieder wegnehmen, wenn die Kompetenz nicht stimmt.

«Internet verändert unser Leben mehr als jede andere Technologie vorher. Alte Besitzstände von Wissen werden (fast) wertlos.» 7. Heterogenität und Variabilität Netzwerke sollen so heterogen und so komplex wie möglich sein. Dieses Grundprinzip geht davon aus, dass es die losen Verbindungen sind, die dazu führen, dass Informationen und Wissen sich gut ausbreiten. Deshalb ist es eben durchaus sinnvoll, neben den realen Freund-

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schaften (strong ties) auch die flüchtigen virtuellen Bekanntschaften (weak ties) im Netz zu pflegen. Im Bereich der Bildung sollen Lernsettings in Wissensnetzwerken so komplex wie nur möglich daherkommen. Heterogenität und Variabilität sorgen für ganzheitliche Lösungen. Fazit Das Fazit ihres Vortrags sieht Andréa Belliger folgendermassen: «Internet verändert unser Leben mehr als jede andere Technologie vorher. Ich würde sogar sagen, der Change, den wir jetzt erleben, ist gleichzusetzen mit der 68er Bewegung. Alte Besitzstände von Wissen werden (fast) wertlos.» Wenn das Lernen in Netzen geschieht, muss man das Wissen nicht mehr im Kopf haben, Wissen entsteht dann aus und in den Netzwerken. Und diese Netzwerke haben ihre eigenen Grundprinzipen, die mächtig sind, die ermächtigen. An diesen Grundprinzipien werden in Zukunft sämtliche Dienstleistungen und Produkte im Bildungsbereich gemessen werden. Andréa Belliger schliesst mit den Worten: «Sich in diesen Netzwerken zu bewegen, das sage ich als Theologin, das ist wie ein Exerzitium: Eine Übung. Eine Übung, die geeignet ist, Denkstile und Arbeitsstile und Grundhaltungen zu verändern.»

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Gilbert Gress

«Ich bin hier fehl am Platz» Mensch oder Maschine? Fernseh-Experte und Kultfigur Gilbert Gress outet sich im verbalen Doppelpass-Spiel mit Röbi Koller als analoges Fossil ohne Internet-Anschluss und E-Mail. Obwohl Gress von Technik keine Ahnung hat, steht er technologischen Neuerungen im Fussball wie der Hintertor-Kamera positiv gegenüber: Am Ende vertraut er doch lieber der Technologie als den Schiedsrichtern.

Gress: Ich bin hier eigentlich fehl am Platz, ich habe von dem ganzen Thema keine Ahnung. Koller: Ok, vielen Dank, auf Wiedersehen. Gress: Ich war mal an der Universität St. Gallen eingeladen, um über Coaching zu sprechen. Auch davon hatte ich keine Ahnung, habe da aber viel gelernt, zum Beispiel, dass man ohne Coaching im Fussball keinen Erfolg mehr haben kann. Alle Teilnehmenden hatten eine E-Mail-Adresse, nur ich nicht. Koller: Aber von Fussball haben Sie eine Ahnung, definitiv. Und darüber wollen wir reden. Anfang Juni an der Euro wurde ein Tor der ukrai-

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nischen Mannschaft gegen England nicht gegeben, obwohl der Ball eindeutig im Tor war. Gress: Drei Meter ... nicht ganz, aber fast. Koller: Gab es keine Möglichkeit diesen Fehlentscheid rückgängig zu machen? Gress: Nein, man kann das Spiel auch nicht wiederholen. Solche krassen Fehlentscheide habe ich schon drei, viermal in wichtigen Spielen gesehen. Früher waren es drei Schiedsrichter, die nichts gesehen haben, jetzt sind es bei jedem Spiel sechs, die nichts sehen. Jetzt kann man natürlich sagen: Eine Kamera muss her, ich bin ja jetzt auch dafür. Aber Platini sagt:

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Was, wenn der Ball drin ist, die Kamera stellt das eindeutig fest, aber dem Tor ist ein Offside vorausgegangen? Dann muss man noch eine Kamera hinstellen, die auch das Offside beweist. Oder es ist unklar, ob dem Tor ein Foul vorausgegangen ist. Und: War das Foul innerhalb oder ausserhalb des Strafraums? Brauchts auch dafür eine Kamera? Das ergibt dann noch mehr Kameras als Schiedsrichter: acht Schiedsrichter und 15 Kameras? Koller: Gerade Fouls sind ja oft nicht ganz so eindeutig. Ist es da überhaupt denkbar, dass man da mit Kameras zu gerechteren Entscheiden kommt? Gress: Das wird ja heute auch schon gemacht im Anschluss an das Spiel: Die Grobheit eines Fouls wird anhand von Kameraaufnahmen beurteilt. Koller: Und während des Spiels? Gress: Ich kann mich erinnern an Arsenal gegen Lens im Meistercup. Da gab es eine Szene, wo sich im Rücken des Schiedsrichters ein Spieler von Arsenal auf einen Spieler von Lens wirft. Der Spieler, welcher das Foul begangen hat, liegt am Boden. Der Schiedsrichter dreht sich um und zieht eine rote Karte gegen den stehenden Spieler von Lens. Der wird suspendiert und im nächsten Spiel gesperrt. Obwohl Lens Rekurs eingelegt hat, obwohl die ganze Welt gesehen hat, dass der betroffene Spieler überhaupt nichts getan hat. Koller: Platini von der UEFA sagt ja immer noch, fünf oder sechs Schiedsrichter auf dem Platz sähen alles. Wieso beharrt er auf diesem Standpunkt? Gress: Er ist ja Franzose ... Koller: ... Sie doch auch? Gress: Ich habe einen Schweizer Pass. Ich sage das deshalb, weil in Frankreich Rugby sehr populär ist. Und wenn Frankreich gegen Wales oder Schottland oder England spielt, dann sind 70 000 oder 80 000 Zuschauer im Stade de France. Und bei einem Versuch (Try), also wenn ein Spieler den Ball im gegnerischen Malfeld ablegt, wird anhand von Kamerabildern genau kontrolliert, ob der Ball richtig lag oder nicht. Alle Zuschauer verhalten sich in dieser Pause ruhig und warten die Entscheidung des Schiedsrichters ab. Dasselbe passiert ja im Tennis, wenn der Schiedsrichter die Entscheidungen der Linienrichter anhand von Kamerabildern überprüft. Wieso soll das also im Fussball nicht gehen? Platini ist ja jetzt auch für die Hintertor-Kamera, mein Freund Sepp Blatter von der FIFA auch. Alle sind jetzt dafür. Koller: Ihr Freund Sepp ist dafür. Gress: Nicht Ihr Freund? Koller: Ich habe nichts gesagt. Gress: Ich werde ihm beim nächsten Treffen mitteilen, was Sie gesagt haben. Koller: Man hat ihn auf jeden Fall überzeugen müssen. Welche Technik soll es denn

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sein? Es gibt ja diesen virtuellen Vorhang, eine Art Magnetfeld, welcher feststellt, ob ein Ball hindurchging. Oder man kann den Ball mit einem Chip bestücken. Gress: Da bin ich überfragt, da habe ich zu wenig Ahnung von der Technik. Ein Chip ist vielleicht ein bisschen hart bei einem Kopfball? Da wäre ich eher für die Variante mit der Torlinie. Koller: Das Magnetfeld also. Gress: Ja, das, ok. Aber dann müssten die beiden Grundlinien-Schiedsrichter weg. Koller: Wer weiss, was da passiert, wenn einer mit dem Ellbogen durch dieses Magnetfeld geht. Ist das dann Tor? Gress: Es gibt viele Fragen, darüber muss man diskutieren. Koller: Ist das nicht auch eine Frage der Disziplin. In Wimbledon beim Tennis, wenn jemand flüstert, heisst es schon: «quiet please». Diese Disziplin kriegt man doch im Fussball nicht mal im Ansatz hin. Gress: Das gehört zum Fussball. Manchmal schaue ich zuhause französischen Fussball im Fernsehen. Da kommentieren fünf Leute das Geschehen und lassen fürchterliches Zeug raus. Dann schalte ich den Ton aus, aber das geht ja dann auch nicht: Fussball ohne Ambiance. Man stelle sich vor: Final der Fussball-Weltmeisterschaft, 90. Minute, ein Elfmeter. Da schreit die Hälfte der Fans im Stadion dafür, die andere dagegen. Im Tennis, Aufschlag zum Matchpoint: Da muss alles mucksmäuschenstill sein. Koller: Dafür wird dann auch der Entscheid des Schiedsrichters akzeptiert. Gress: Im Fussball kommts darauf an, wo: In England akzeptieren die Spieler den Schiedsrichter, man diskutiert auf dem Feld, schluckt auch mal einen Fehlentscheid. In Frankreich: katastrophal, die Spieler streiten immer mit dem Schiedsrichter, dabei hat der immer Recht. Koller: Der ehemalige Schweizer SpitzenSchiedsrichter Urs Meier hat mir mal gesagt: Als Schiedsrichter muss man in der Lage sein, innert kürzester Zeit eine Entscheidung zu fällen. Wenn man keine fällt, hat man das ganze Stadion gegen sich, wenn man eine fällt, nur das halbe. Das ist ein harter Job – das wird sich wohl auch mit den Kameras nicht ändern. Gress: Das ist klar. Also Schiedsrichter hätte ich nicht sein wollen. Aber die Technologie und das Internet haben den Fussball schon verändert, auf einer ganz anderen Ebene. Früher habe ich zu meinem Assistenztrainer bei Neuchâtel Xamax gesagt: Jetzt fährst du mal nach Malmö und beobachtest diesen Spieler. Fragst den Taxifahrer, gehst in die Restaurants und Bars und hörst, was die Leute über ihn sagen. Dann kam der zurück und erklärte: Der Spieler ist gut, aber der eine Taxifahrer hat mir gesagt, ein Kollege habe ihn in der Nacht vor einem Heim-

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spiel um drei Uhr morgens aus einer Diskothek nachhause gefahren. Dann in Strassburg hatte ich einen Assistenztrainer, der hat zu mir gesagt: Ich fahr doch nicht da hin, ich drücke ein paar Knöpfe im Internet und dann weiss ich alles über ihn; Grösse, Gewicht, Alter, Fitnesszustand usw. Ja, ok, aber was ist mit den menschlichen Faktoren? Findet man die wirklich auch raus über das Internet? Und stimmen die Daten im Internet auch? Bei mir zum Beispiel sind der Vorname und der Name richtig, aber das Geburtsdatum nicht: Die haben mich drei Tage älter gemacht. Wenn die mich jünger gemacht hätten, hätte ich nichts dagegen. Koller: Skandal. In den Round Tables haben wir auch die Frage diskutiert, ob das Digitale das Analoge ersetzen wird. Wird die Technik dereinst die Schiedsrichter ganz ablösen? Gress: Nein, auch in hundert Jahren nicht. Der Schiedsrichter muss dabei sein. Er und seine Entscheidungen sind ja auch Teil des Spektakels. Die Wiederholungen, die Analysen – es ist doch auch das, was den Fussball interessant macht. Koller: Im Eishockey gibt es ja in den Stadien auch diese Monitor-Würfel über dem Mittelkreis, wo man die Wiederholungen während des Spiels auch nicht zeigt, weil das die Zuschauer

zu sehr aufregen könnte. Gress: Das finde ich auch richtig, aber im Fernsehen sollte man die Wiederholungen sehen und die Schiedsrichterleistung bewerten dürfen. Der Schiedsrichter gehört zum Spektakel dazu. Koller: Was hatten Sie als Spieler für ein Verhältnis zum Schiedsrichter? Gress: Das war relativ gut. Auch als Trainer. Ich habe zwar viel gestikuliert auf der Bank, habe die Schiedsrichter aber immer respektiert, auch bei Niederlagen. Koller: Ich frage das deshalb, weil es ja den Schiedsrichtern ans Eingemachte gehen kann. Urs Meier hat das auch einmal erlebt. Gress: Ja, gegen Arsenal. Und seine Entscheidung war richtig: Campbell hatte den Torwart umgeworfen. Der Trainer Arsène Wenger hat dann gesagt: Dieses Foul pfeift man in England nicht. Ja Moment einmal, dieses Foul in England ist ein Europa-Foul, das pfeift man überall! Koller: Kommen wir zurück auf die elektronischen Hilfsmittel. Wenn die jetzt in den oberen Ligen installiert werden, was bedeutet das für die unteren Ligen? Gress: Das ist ja das Problem: Alle grossen Vereine sind in den roten Zahlen, Barcelona, Chelsea, Real Madrid, alle ausser Bayern Mün-

Gilbert Gress Fernseh-Experte und Kultfigur Gilbert Gress blickt auf eine international erfolgreiche Karriere als Fussballer und Trainer zurück. Sie begann 1960 in seiner Heimatstadt Strassburg bei Racing Strasbourg und führte über die Stationen VfB Stuttgart und Olympique Marseille 1975 in die Schweiz zu Neuchâtel Xamax. Gress spielte auch für die französische Nationalelf. Allerdings verpasste er die WM in England von 1966, weil sich der «Engel von der Meinau» geweigert hatte, seine langen Haare zu kürzen. Als Trainer war Gress einmal französischer Meister mit Strasbourg, zweimal Schweizer Meister mit Xamax und Cup-Sieger mit dem FC Zürich. 1998 und 1999 war er zwei Jahre lang Trainer der Schweizer Nati. Als letzte Trainerstation war Gress 2009 für zwei Spiele beim Zweitligisten Strasbourg aktiv. Seit 2006 ist er regelmässig als Co-Kommentator und Experte am Schweizer Fernsehen zu sehen. Gilbert Gress engagiert sich auch sozial und ehrenamtlich: Bei der Europameisterschaft körperlich behinderter Segler am Bieler See, bei Fussball-Turnieren Obdachloser oder seit zwölf Jahren als Ehren-Trainer einer Fussballmannschaft geistig Behinderter in Strengelbach. Auf die Frage, wo er noch einmal Trainer sein möchte, wenn er könnte, antwortete Gress: «Barcelona.»

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chen. Meine beiden letzten Lieblingsvereine, bei denen ich über 20 Jahre Trainer war, Racing Strasbourg und Neuchâtel Xamax, sind beide in die fünfte Liga abgestiegen. Was machen die falsch? In einem Verein können nur 11 spielen, die halten sich aber ein teures 30-köpfiges Kader. Kürzlich feierte Xamax das 100-jährige Jubiläum. Der Präsident hat gesagt: Jetzt geht es wieder aufwärts. Wir haben schon einen Trainer, einen Assistenztrainer, einen Torwart-Trainer, einen Konditions-Trainer und einen Masseur. Koller: Fünfte Liga? Gress: Ja. Wer soll das zahlen? Da liegt das Problem. Ich habe gesagt, ich bin mit einem Stamm von 14, 15 Spielern und einigen JungTalenten mit Strassburg Meister geworden. Da sagen die Journalisten: Das war früher, heute hat man das Internet, heute braucht man ein Kader von 30 Spielern. Koller: Die leben also alle auf zu grossem Fuss. Und jetzt sollen sie auch noch pro Stadion rund eine halbe Million in neue technische Installationen investieren. Dazu kommen noch die Kosten für den Unterhalt und die Bedienung der Kameras usw. Gress: Also wenn man einen Ronaldo kauft für 90 Millionen, dann kann man auch eine halbe investieren für etwas, das zehn Jahre hält. Aber für die kleinen Vereine geht das natürlich

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nicht, das ist klar. Ja, gut, man kann ja immer argumentieren: Fussball ist ja nur ein Spiel, aber für die Zuschauer, die im Stadion sind, ist es natürlich wichtig, ob der Ball hinter der Linie ist oder nicht. Unglaublich wichtig und darum braucht es jetzt diese Kontrollen.

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Moderation: Rรถbi Koller

Organisation: Boris Widmer

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SCHWEIZERISCHES FORUM FÜR ERWACHSENENBILDUNG Das «Schweizerische Forum für Erwachsenenbildung» fördert die Debatte um Weiterbildung und lebenslanges Lernen. Es bietet an Bildungsfragen Interessierten eine ideale Gelegenheit, Denkanstösse zu erhalten, neuste Entwicklungen kennenzulernen, sich auszutauschen und zu vernetzen. Am Forum präsentieren Experten und Bildungsverantwortliche in Referaten ihre Sichtweisen rund um Bildung und Beruf, überraschen mit unkonventionellen Denkanstössen und regen die Teilnehmenden zur Diskussion über Trends und Perspektiven der Weiterbildung an. Diese Broschüre gibt die am Forum 2012 gehaltenen Referate in stark gekürzter und redigierter Form wieder. Weiteres Material zu den Referaten findet sich unter: www.swissadultlearning.ch. Das Forum findet einmal im Jahr im Herbst statt. Veranstalter ist das Bildungszentrum für Erwachsene BiZE in Zürich, welches die beiden öffentlichen Institutionen EB Zürich, Kantonale Berufsschule für Weiterbildung, und KME, Kantonale Maturitätsschule für Erwachsene, betreiben. Das fünfte Schweizerische Forum für Erwachsenenbildung fand am 26. September 2012 statt. Organisation: Boris Widmer, EB Zürich. Vormerken: Das sechste Schweizerische Forum für Erwachsenenbildung wird am 25. September 2013 stattfinden.

2012: The Year of the MOOC Die New York Times (NYT) kürte das Jahr 2012 Anfang November zum Jahr des MOOC (Massive Open Online Course). Denn 2012 sei das Jahr des Ausbruchs der offenen Online-Massen-Kurse gewesen: edX, die Online-Universität von Harvard, und MIT, habe schon kurz nach Beginn im Herbst 370 000 eingeschriebene Studenten verzeichnet, die im Januar gegründete Coursera, das Pendant der Stanford-Universität, bereits mehr als 1,7 Millionen. Laut NYT wächst der MOOC-Markt inzwischen schneller als Facebook. Udacity, der dritte grosse MOOC-Anbieter im Bunde, vor Jahresfrist von drei Leuten gegründet, beschäftige inzwischen 40 Vollzeit-Angestellte. Google habe zudem im September ein Werkzeug für MOOC-Entwickler lanciert. Das Erfolgsrezept der MOOCs bestehe darin, dass sie Ausbildung, Unterhaltung und soziales Netzwerken miteinander verbänden.

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Typisch für das boomende neue Lern-Medium seien: 1. Die Kürze der dargebotenen Lerneinheiten; üblich sind 8 bis 12 Minuten Dauer. 2. Das Lernvideo pausiert rund zweimal für ein Quiz oder eine Aufgabe zur Verständniskontrolle und Einübung. 3. Es gibt elektronisches Feedback für die Lernenden. 4. Assistenten überwachen die Diskussion in Foren und liefern Inputs. 5. Hausaufgaben und Prüfungen erlauben eine Kontrolle des Lernfortschritts. Das amerikanische TIME-Magazin widmete im Oktober unter dem Titel «Reinventing College» den neuen Online-Lernformen ebenfalls eine Titelgeschichte. Auch EB Kurs, das Weiterbildungsmagazin der EB Zürich, hat die Winter-Ausgabe dem Thema «Cyberlearning» in all seinen Facetten gewidmet. Die EB Zürich, kantonale Berufsschule für Weiterbildung, ist auch Organisatorin des SFE. www.eb-zuerich.ch > EB Kurs

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Bildungszentrum fĂźr Erwachsene Riesbachstrasse 11 8008 ZĂźrich www.bize.ch


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