Haroldo de Campos
Termitenlob
Edition Delta 1
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Edition Delta
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Die Übersetzung der Werkauswahl von Haroldo de Campos erfolgt mit freundlicher Förderung des brasilianischen Kulturministeriums / Stiftung Nationalbibliothek in Rio de Janeiro. Obra publicada com o apoio do Ministério da Cultura do Brasil / Fundação Biblioteca Nacional.
www.edition-delta.de info@edition-delta.de © 2013 Edition Delta, Stuttgart. Alle deutschsprachigen Rechte © Originaltexte: Ivan Pérsio de Arruda Campos Übersetzungen: Juana und Tobias Burghardt Lektorat: Walquiria Vieira de Oliveira Umschlaggestaltung: Juana Burghardt Nachwort: Tobias Burghardt Herstellung und Druck in Deutschland ISBN 978-3-927648-49-4
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Haroldo de Campos
Termitenlob Elogio da TĂŠrmita Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Juana und Tobias Burghardt
Edition Delta 5
ÍNDICE
de: A EDUCAÇÃO DOS CINCO SENTIDOS (1985) Como ela é Portrait of the Artist as an Old Man Mínima moralia De um leão Zen Mencius: teorema do branco Opúsculo goetheano Opúsculo goetheano (2) 1984: ano 1, era de Orwell Tenzone Provença: Motz E.L Son Klimt: tentativa de pintura (como modelo ausente) 1-2 Le don du poème Brancusi Ex/plicação The front door Squirrels Birdsong: alba Aisthesis, Kharis: i k i Cello impromptu ‘Tis opthophone which onthophanes Antifetichism Heráclito revisitado Litaipoema: transa chim O homen e sua hora (in memoriam: Mário Faustino) Constelário para António Dias Cláudio Tozzi: cor pigmento luz Anatomia do gol Hieróglifo para Mário Schenberg 6
16 18 20 22 24 26 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 70 72 74 76 82 88
INHALT Post-utopische Poesie: Das Engagement in der Gegenwart 11
aus: DIE BILDUNG DER FÜNF SINNE (1985) Wie sie ist Porträt des Künstlers als alter Mann Minima moralia Über einen Zen-Löwen Mencius: Leitsatz des Weiß Goetheanisches Opusculum Goetheanisches Opusculum (2) 1984: Jahr 1, Orwell-Zeitalter Tenzone Provence: Wort & Weise Klimt: Gemäldeversuch (Mit abwesendem Modell) 1-2 Le don du poème Brancusi Aus/deutung The front door Squirrels Birdsong: Minnelied Aisthesis, Kharis: i k i Impromptu Cello ‘Tis opthophone which onthophanes Antifetischismus Heraklit revisited Litaipoem: Trans-Chinesisch Der Mensch und seine Stunde (In memoriam: Mário Faustino) Konstellarium für António Dias Cláudio Tozzi: Farbe Pigment Licht Anatomie des Tors Hieroglyphe für Mário Schenberg
17 19 21 23 25 27 35 37 39 41 43 45 47 49 51 53 55 57 59 61 63 65 71 73 75 77 83 89 7
de: CRISANTEMPO (1998) this planetary music for mortal ears paisagem mínima poema qolehético 1 : ano bom, dia um poema qohelético 2 : elogio da térmita o anjo esquerdo da história stuttgart : in memoriam m.b. (1910-1990)
90 92 94 98 100 106
yûgen: caderno japonês (17 poemas)
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harpa davídica (poemas de israel) pedras de jerusalém mais pedras v e l a s v e l a e quindi uscimmo iehudá amihai entressonho via dolorosa mesquita
144 146 148 150 152 154 156 160 162
estância em canárias o fundador tenerife a poesia explicada em tenerife ‒ 1 a poesia explicada em tenerife ‒ 2 grécia em cánarias
164 166 168 170 172
cármina ,ittí millvanon kallá oferta de anel ad carminem
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176 178 180
aus: CHRYSANTEMPUS (1998) this planetary music for mortal ears kleinste landschaft koheletisches gedicht 1 : gutes jahr, tag eins koheletisches gedicht 2 : termitenlob der linke engel der geschichte stuttgart : in memoriam m.b. (1910-1990)
91 93 95 99 101 107
yūgen: japanisches heft (17 gedichte)
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davidische harfe (israel-gedichte) steine von jerusalem mehr steine k e r z e n k e r z e e quindi uscimmo jehuda amichai halbschlaf via dolorosa moschee
145 147 149 151 153 155 157 161 163
aufenthalt auf den kanaren der gründer teneriffa die poesie, erklärt auf teneriffa ‒ 1 die poesie, erklärt auf teneriffa ‒ 2 griechenland auf den kanaren
165 167 169 171 173
carmina komm mit mir, meine braut, vom libanon ringgabe ad carminem
177 179 181
Talismanische Wortkompositionen. Tobias Burghardt
185 9
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Post-utopische Poesie: Das Engagement in der Gegenwart Heutzutage befinden wir uns nicht in einer »postmodernen« Phase, sondern in einem »post-utopischen« Augenblick der Moderne selbst. Die fünfziger und sechziger Jahre waren die beiden Jahrzehnte der »konkreten Poesie«, in denen der Aufbruch, die internationale Verbreitung und der Höhepunkt dieses poetischen Projekts stattfand. Die »konkrete Poesie« war auch ein ideologisches Projekt, vor allem in Brasilien. Damit ist nicht allein an eine ethisch-ästhetische Verantwortung vor der Geschichte gedacht, der sich die »konkrete Poesie« im Allgemeinen unterzog, sondern an eine pragmatischere und effektivere Auffassung des Konzepts. Die Dichter der brasilianischen Zeitschrift »Noigandres« dachten an eine ernste Poesie als Frucht eines sensiblen Rationalismus. (Fernando Pessoa: »Alles, was in mir fühlt, denkt.«) Diese neue Wortkunst konnte sich jederzeit für Freiheit und soziale Gerechtigkeit in einem solidarischeren und menschlicheren Brasilien einsetzen. Wir dachten an eine »poesie pure«, die sich bei Bedarf für soziale Angelegenheiten engagiert und somit in eine »Poesie für« verwandelt, ohne auf ihre revolutionären Ausdruckstechniken zu verzichten. (Majakowskij: »Ohne revolutionäre Formen gibt es keine revolutionäre Kunst.« Brecht: »Nur die neuen Inhalte vertragen neue Formen. Sie fordern sie sogar.«) Der Militärputsch 1964 in Brasilien geschah in Übereinstimmung mit der Zunahme der Diktaturen in Lateinamerika und der Krise der Ideologien, die bereits im Berliner Mauerbau ihren Höhepunkt erreichte, aber auch in der Auflösung des »realen Sozialismus« der Sowjetunion, der von der leninistisch-stalinistischen Konzeption einer »Diktatur des Proletariats« und der monolithischen Hegemonie der Kommunistischen Partei unter der allmächtigen Führung ihres Generalsekretärs 11
gekennzeichnet war. Das alles hat in Brasilien – und weltweit – zur Unterbrechung des Projekts der künstlerischen Avantgarden geführt. Die »konkrete Poesie« formulierte im »plano-piloto para poesia concreta« aus dem Jahr 1958 eine Synthese der seit 1950 artikulierten Ideen ihrer brasilianischen Vertreter, mit berechtigter »konzeptueller Hoffnung« (Tomas Maldonado) um die Planung der Zukunft. Dabei wurde das kollektive und anonyme Gedicht bevorzugt, das zur »sprachlichen Abschaffung des Ichs« führen sollte, wie es als eine Utopie von Mallarmé vorweggenommen wurde. Die »konkrete Poesie« wurde indes zu einem Bestandteil der Geschichte, zu einem historisch bearbeiteten Kapitel der modernen Lyrikentwicklung. Oder der »post-modernen« Lyrikentwicklung. Denn der Begriff einer »modernen« Lyrik trifft für Charles Baudelaire zu, den Dichter der semantischen Ironie, des »allegorischen« Entlarvens (ein »Barock der Banalitäten« in der scharfsinnigen Sicht Benjamins), wenngleich er an der Sonettform und dem Vers Racines festhielt, die vor ihm Victor Hugo mit der phrygischen Jakobinermütze schmückte. Das didaktische Etikett »post-modern« lässt sich eigentlich nur bei Mallarmé und seinem letzten Gedicht »Un coup de dés« (1897) akzeptieren, das vor hundert Jahren in der Pariser Zeitschrift »Cosmopolis« erschien. Dieser »Würfelwurf der niemals auslöschen wird den Zufall« ist eine einzigartige poetische Konstellation, die die Syntax sprengte und den kanonischen zehnsilbigen Vers stilisierend auflöste, um dann – wie durch eine »atomare Fissur« (Hugh Kenner) – den Raum der Moderne zu öffnen. Die »konkrete Poesie« wäre demnach der äußerste Grenzfall auf dieser Wegstrecke: das ideographisch-minimalistische Gegenstück zur Logik des aristotelisch-abendländischen Diskurses. Die Verwandlung des Alphanumerischen ins Analog-Visuelle. Oder ihre Umkehrung in der japanischen »konkreten Poesie« der Gruppe »Vou«, darunter Kitasono Katsue, Seiichi Niikuni, Fujitorni Yasuo und Shutaro Mukai, die die gestalterischen Techniken der Raumordnung des 12
Gedichts durch Faktoren der Nähe und Ähnlichkeit in der zum Teil ideographischen Literatursprache Nippons anwenden, indem sie zur ideographischen Schrift kanji die beiden Silbensysteme hiragana und katakana hinzufügen. Das gehört zu den künstlerischen Errungenschaften der brasilianischen und internationalen »konkreten Poesie«. Ich bin davon überzeugt, dass wir uns noch immer im Raum der Moderne befinden – oder jener »Post-Moderne«, die sich von Mallarmés »Würfelwurf ... « ableitet. In diesen Raum schreiben sich die avantgardistischen Bewegungen und die sie begründenden Dichter des 20. Jahrhunderts ein. In der spanischsprachigen Poesie Lateinamerikas sind hierbei die folgenden Werke beispielhaft: »Trilce« (1922, dt. 1998) vom peruanischen Lyriker César Vallejo; »Altazor« (1919-1931, dt. 1982) vom chilenischen Poeten und Begründer des »Creacionismo«, Vicente Huidobro; »En la masmédula« (1954) vom argentinischen Dichter Oliverio Girondo bis zu »Blanco« (1969, dt. 1980) von Octavio Paz. In der portugiesischsprachigen Poesie Lateinamerikas spannt sich der Bogen einerseits vom prämallarméanischen Patriarchen der brasilianischen Avantgarde, dem vergessenen Sousândrade (1832-1902) und proto-poundschen Dichter der in Dialogform verfassten Satire »O infierno de Wall-Street« (Canto X, New York, ca. 1870) bis zur modernistischen Bewegung 1922 (Oswald und Mário de Andrade), andererseits von den Poeten von 1930 (insbesondere Carlos Drummond de Andrade und Murilo Mendes) bis zum neo-plastizistischen »Ingenieur« João Cabral de Melo Neto und dem Konkretismus der Gruppe »Noigandres«. Der historische Zyklus der »konkreten Poesie« ist geschlossen, oder besser: unterbrochen, denn nichts spricht dagegen, dass in der Zukunft eine weitere kollektive und projektartige Avantgarde unter anderen Bedingungen aufkommt. Die neuen Medien, die elektro-akustische Technologie, die eine neue experimentelle Oralität begünstigt, Techniken wie die Holographie, der Laser, die 13
Graphik-Computer und die tele-virtuellen Möglichkeiten können zur Erneuerung der Wege führen, vielleicht zu einer »neuen figürlichen Sprache«, einer »ikonischen Schrift« oder Bildschrift, die Walter Benjamin in seinem Text von 1925 »Vereidigter Bücherrevisor« erahnte. Der Zyklus wurde unterbrochen, als die konkrete Avantgarde erste Züge eines »Klassizismus« der »semiotisch-informatischen« Epoche annahm. Heutzutage öffnet sich für den Dichter der postutopische Augenblick der Erforschung aller gesammelten Mittel und Möglichkeiten der historischen Avantgarden als ein innovatives Arbeitsfeld. Das bedeutet jedoch keinen melancholischen oder unschöpferischen Rückschritt in die Vergangenheit (wie etwa in gewissen architektonischen Beispielen der sogenannten »Post-Avantgarde«), sondern eine »postideologische« Auseinandersetzung mit der Problematik der Gegenwart, mit den Fragen, die aus der existentiellen Situation dieser »Jetztzeit« entstehen. Von der zukunftsträchtigen Utopie, die das Morgen vorwegnehmen möchte, bleibt die erforderliche Dimension der Kritik. Denn es handelt sich darum, die technischen Errungenschaften der modernen Lyrik seit Mallarmé, die noch nicht vollends erforscht und bei weitem nicht ausgeschöpft sind, kritisch umzugestalten – und diese wiederaufzunehmen im Kontakt mit der Pluralität der vorangegangenen Optionen und im Prozess der schöpferischen Übertragung oder »Transkription«. Der Übersetzer ist für Novalis der Dichter des Dichters, der Dichter der Poesie. Das Übersetzen wird zur reflektierenden Leseübung der Tradition. Danach kann man in den konkreten Moment eintauchen, in das problematische Herz der Jetztzeit, aber mit dem besonderen Unterschied – der Einzigartigkeit hic et nunc – des Gedichtes, das ich »post-utopisch« nenne. Wenn also ein Dichter meint, dass seine Aufgabe als Bürger darin besteht, das Gedicht auf der ethisch-ideologischen Ebene als eine politische Aktion aufzufassen, dann sollte er dies (durchaus in der revolutionären Linie von Majakowskij und Brecht) tun, aber nicht mit den Großen Allgemeinen Grundsätzen einer Partei und ihrer Dogmatik verwechseln. 14
Er kann im Gedicht eine zeitgemäße Auseinandersetzung mit den brennenden Problemen einfließen lassen, die den Dichter als Bürger zur Parteinahme zugunsten der Freiheit und sozialen Gerechtigkeit aufruft, wie in Brasilien beispielsweise zu der seit sehr langer Zeit schwelenden Frage der Agrarreformen und einer gerechten und menschenwürdigen Aufteilung der nationalen Ressourcen. Wir erleben gerade mit der Landlosenbewegung MST den entscheidenden Augenblick der tatsächlichen Abschaffung der Sklaverei. Es ist geradezu ungeheuerlich, dass in Brasilien gut die Hälfte aller anbaufähigen Ackerflächen in den Händen von lediglich annähernd zwei Prozent der Bevölkerung liegen. Als Protest gegen das Massaker an den Landlosen von Eldorado dos Carajás im nordbrasilianischen Bundesstaat Pará hatte ich 1967 das Gedicht »O anjo esquerdo da história« (der linke engel der geschichte) in einer umgekehrten Version der literarischen Handlung von Kafkas »Der Prozess« geschrieben, das am 28. April 1997 in der Literaturbeilage der Tageszeitung «Folha de São Paulo« noch einmal, mit Bezug auf die aktuelle Situation, abgedruckt wurde:
die landlosen befinden sich schließlich im völligen besitz der erde : von landlosen wurden sie zu den besitzern der erde : hier sind sie beerdigt verbannt aus ihrem lebensatem mit erde bedeckt terrorisiert erde die zur erde zurückkehrt ... São Paulo, den 27. Juli 1997
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COMO ELA É acupunturas com raios cósmicos realismo: a poesia como ela é inscrições rupestres na ponta da língua poesia à beira-fôlego: no último fole do pulmão como ela é (a poesia) fogo (é) fogo (a poesia) fogo
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WIE SIE IST akupunkturen mit kosmischen strahlen wirklichkeit: die poesie wie sie ist felseninschriften auf der zungenspitze poesie am atemrand: in der letzten lungenfalte wie sie ist (die poesie) feuer (ist) feuer (die poesie) feuer
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PORTRAIT OF THE ARTIST AS AN OLD MAN a palavra lumbago ataca de arco e flecha neurônios: correição de formigas pungentes em pontas de sabre dança a naja das vértebras
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dizer que um bodisatva no topo da coluna aspira pó de lótus
PORTRÄT DES KÜNSTLERS ALS ALTER MANN das wort hexenschuss greift mit pfeil und bogen an neuronen: überprüfung der stechameisen auf säbelspitzen tanzt die wirbelnatter
sagen dass ein bodhisattva am säulenkopf lotusstaub einatmet
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MINIMA MORALIA jรก fiz de tudo com as palavras agora eu quero fazer de nada
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MINIMA MORALIA alles habe ich schon mit den wรถrtern getan jetzt mรถchte ich nichts tun
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ISBN 978-3-927648-49-4 22