Chae Manshik
Ein Fr端hlingstag im Paradies
Edition Delta 1
2
Edition Delta Ko re a n i s c h e L i t e ratur Herausgegeben von Juana Burghardt
3
www.edition-delta.de info@edition-delta.de Š 2013 Edition Delta, Stuttgart Alle deutschsprachigen Rechte Originalausgabe: Chae Manshik Taepyong-Chonha Changbi, Seoul 1998 Umschlagbild: Juana Burghardt Herstellung und Druck in Deutschland ISBN 978-3-927648-47-0 4
Chae Manshik
Ein Fr端hlingstag im Paradies Aus dem Koreanischen von Yunhui Baek
Edition Delta 5
6
INHALT
Die Ankunft des Alten Yoon Ikon
9
Die Kunst, umsonst zu fahren
16
Der Liedwettbewerb
22
Fahrt alle zum Teufel, aber ohne mich
28
Das Elendsviertel in der Seele
48
Bericht über einen Kriegsschauplatz
64
Kupfer zu Kupfer
76
Drei Sangpyongmünzen und...
86
Der Geist des Sparvergnügens
100
Bericht, dessen Titel verschollen ist
110
Menschenauflauf, Warenmangel und anderes...
133
Halber Bericht über das globale Geschäft
156
Erst das Vergnügen, dann das Faulenzen oder umgekehrt... (Eine Szene aus dem derzeitigen Vergnügen eines Eremiten)
176
Die Chinesische Mauer in der Abenddämmerung
183
Das Ch´in-Reich wird doch durch den Feind von nebenan erledigt 206
Nachwort der Übersetzerin
213 7
8
DIE ANKUNFT DES ALTEN YOON IKON Eines Tages, als das Erntedankfest schon vorbei war und es früh
dämmerte, kam der gut betuchte Alte Yoon Ikon, dessen Name überall in Gyedong bekannt war, gerade nach Hause und stieg vor dem Torhaus seines Hauses aus der Rikscha. Ob der Rikschakuli gestern Abend schlecht geträumt oder mit seiner Frau gestritten hatte, wissen wir nicht, jedenfalls hatte er heute einen ausgesprochen schlechten Tag. Nachdem er mit seiner Rikscha den steilen Weg von ungefähr 40 Metern hinaufgelaufen war, hing ihm, ohne zu übertreiben, im wahrsten Sinne des Wortes die Zunge aus dem Halse heraus, denn der Alte Yoon Ikon hatte “eine ansehnliche Figur” von über neunzig Kilogramm. Dies hatte das Mädchen Chunshim mit Erstaunen festgestellt, als er vorgestern mit ihr in Jingogae spazieren gegangen war und sich auf eine Waage vor der West-Apotheke an der Rückseite der Hauptpost gestellt hatte. Der Rikschakuli, der nicht viel mehr wog als ein Hirsekorn, schaffte es aber dank seiner jahrelangen Erfahrung im Umgang mit seiner Rikscha, den schwergewichtigen Alten Yoon Ikon bis zu seinem Hause, dessen imposantes Eingangstor kaum kleiner als das Südtor war, hinaufzuziehen. Obwohl er fast seine ganzen Kräfte, die er einst aus der Brust seiner Mutter gesogen hatte, verbraucht hatte, gelang es ihm sogar noch, ordnungsgemäß den Vorhang aufzuziehen und dem Alten die Kniedecke vom Schoß zu nehmen. Der Alte Yoon Ikon erhob mühsam seinen Hintern vom schmalen Sitzbrett, stieg schwankend aus und wäre beinahe umgekippt. “Mensch!”, herrschte er den Rikschakuli danach in einem vorwurfsvollen Ton an. “Hättest mir ruhig beim Aussteigen helfen können, anstatt so dumm rumzustehen und mich nur anzuglotzen!” In Wirklichkeit stand der Rikschakuli ganz und gar nicht bloß rum und starrte ihn nichtsnutzig an, sondern er hatte nur ein wenig verschnauft und sich den Schweiß von der Stirn gewischt. Die Grobheit des Alten ließ ihn sich aber ein wenig schuldig fühlen, so dass er ihn geschwind beim Arm ergriff. Der Alte Yoon Ikon war wirklich ein Riese, als er so vor dem Rikschakuli stand. Ungelogen brauchte man beide Arme, wenn nicht sogar drei, um seine Taille zu umarmen. Zu seinem Körpergewicht passte auch seine Größe von 9
über 180 cm. Die Rikscha neben ihm sah wie ein Kinderspielzeug aus, und sein Körper war so stattlich, dass er das ganze Eingangstor seines Hauses ausfüllte, wenn er es passierte. Sein Gesicht aber hatte noch eine jugendliche Frische. Schon seit dreißig Jahren reiste der Alte Yoon Ikon nach Buan und Byonsan, um sich dort mit Hirschgeweihsprossen sowie Blut von Schweinen und Rehen zu versorgen. Diese Medizin hatte ihre Wirkung nicht verfehlt, denn sein Gesicht war rosig und glatt mit einem dichten schneeweißen Bart. Ja, er war ein beeindruckender Mann mit jugendlichem Gesicht und ergrautem Haar. Eine imposante Erscheinung! Die Augen waren etwas hochgezogen wie bei einem Phönix, sein Blick wachsam und scharf, die Nase wohlgeformt, seine Ohrläppchen lang und der Mund groß. Jeder Zug in seinem Gesicht versprach ein langes Leben in Wohlstand, eine hohe Stellung und viele Söhne. Wie alt mochte er sein? In diesem Jahr war er 72 geworden. Vorsicht, tun wir das nicht allzu voreilig als alt ab! Der Alte litt zwar an Herzverfettung und leichtem Asthma, er erfreute sich aber ansonsten bester Gesundheit und konnte es mit jedem Dreißigjährigen aufnehmen, worin auch immer! Sein Äußeres war von bestechender Extravaganz! Er trug einen Anzug aus Ramie, die innen und außen glänzte, seinen Kopf zierte ein vornehmer Rosshaarhut aus Tongyong, in dem ein Innenhut steckte. In seinen ledernen, pechschwarz glänzenden Schuhen trug er dicke baumwollene Boson-Strümpfe. Mit der rechten Hand umfasste er einen Weidenstock mit einem silbernen Knauf, der wie ein Hundekopf aussah, in der Linken hielt er einen 34-fach gefalteten dicken Fächer. Nur ach, wie schade, dass dieser stattlich aussehende Herr kein hohes Amt besaß. In früheren Zeiten hätte man ihn ohne Frage für das Oberhaupt einer Provinz halten können. Heute jedoch erdreisteten sich gewisse Leute mit losem Mundwerk, ihn einen Narren zu schimpfen, und für die Geschäftsleute der Bonbonläden aus Osaka und Tokio war er sogar ein bonbonlutschender Karamellgeneral. Es war zum Heulen! Nun aber öffnete er die beiden vorderen Lagen seines Gewandes, das daraufhin wie von selbst aufging, und knotete die Schnur seines blauen kleinen Geldbeutels auf, der lustig und kitschig an seiner Taille herunterbaumelte. 10
“Was willste denn haben?” Ich stamme selbst aus der Provinz Cholla und kann Ihnen sagen, dass die Sprache der Leute dort ein bisschen unbedacht und unvorsichtig ist. “Ganz wie Sie wollen!”, antwortete der Rikschakuli und machte eine schnelle, tiefe Verbeugung. In den vor der Brust verschränkten Armen hielt er noch immer die Kniedecke. Wenn er mit vornehmen Gästen um das Fahrgeld verhandelte, pflegte er immer diese Art von Bescheidenheit an den Tag zu legen. Natürlich erwartete er aber von seinen Gästen eine großzügige Entlohnung! “Wie du meinst! Dann kannst du jetzt gehen.” Der Alte Yoon Ikon blickte den Rikschakuli kurz an, wandte seinen Kopf ab und schnürte den Geldbeutel, den er vorhin aufgeschnürt hatte, wieder zu. Der Rikschakuli blickte verblüfft umher und überlegte, sich am Hinterkopf kratzend, ob der Alte etwa einen Zahlungsaufschub meinte? “Ja, soll ich denn morgen wiederkommen?” “Morgen? Wieso willst du denn morgen wiederkommen?” Wegen einer anderen Sache hatte der Alte Yoon Ikon schon den ganzen Tag schlechte Laune, und dieses Feilschen um das Fahrgeld strapazierte langsam seine Nerven, so dass sich sein Gesichtsausdruck allmählich verzog. Ja, er fühlte sich geradezu belästigt von diesem Rikschakuli. Und was unseren Rikschakuli angeht, natürlich wollte er morgen wiederkommen, um sein Fahrgeld zu verlangen! Aber so direkt und unhöflich konnte er das dem Alten nicht sagen. Er war wirklich in einer verzwickten Lage, vor allem, weil er seine Gedanken nicht aussprechen konnte. Der Alte Yoon Ikon drehte sich langsam um, in dem festen Glauben, dass er alles geklärt und erledigt habe. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was in dem Rikschakuli wirklich vorging! Dieser fand die ganze Sache langsam zeitraubend, ohnehin hatte er heute schon so wenig verdient, dass ihm die Luft wegblieb. Warum sich dieser Alte so verhielt, wusste er nicht, jedenfalls hatte er kein Verständnis dafür. Nun, egal! Wenn der sich weiterhin so dämlich benahm, entging ihm ganz gewiss sein schwerverdienter Arbeitslohn, und so entschloss er sich, etwas gegen diesen unsinnigen Wortwechsel zu tun. “Äh, ich habe das Fahrgeld gemeint...”, murmelte er. Seine eben 11
noch feste Entschlossenheit war schon wieder verflogen, und er brachte nur eine vorsichtige Andeutung heraus. “Das Fahrgeld?” “Ja!” “Wovon sprichst du denn, Mensch?” Der Alte Yoon Ikon trat jähzornig einen Schritt auf den Rikschakuli zu und wollte schon tätlich werden. “Hast du nicht gerade gesagt, ich soll es machen, wie ich will?” “Das stimmt.” “So war es! Genau! Ich sollte es so machen, wie ich will. Du hast mir die Entscheidung überlassen, stimmt’s?” Der Rikschakuli kam nun endlich dahinter, was für einen Charakter der Alte hatte. Das war so unglaublich, dass ihm die Spucke wegblieb! Sollte es etwa kein Scherz sein? Normalerweise hätte er laut gelacht, aber vor diesem vornehmen Herrn brachte er nur ein verzagtes Grinsen hervor. “Ich habe dich so verstanden, dass ich das Fahrgeld nicht zu zahlen brauche. Es hieß doch, dass ich es so machen kann, wie ich will. Deshalb habe ich dir auch gesagt, dass du gehen kannst.” Der Rikschakuli war sich immer noch nicht ganz sicher, ob der Alte nicht vielleicht doch scherzte. Dann sah er aber in sein Gesicht und hörte dazu noch seine Stimme. Da wusste er, dass es ganz und gar kein Scherz war. “Na ja! Ich glaubte, einen anständigen und ehrlichen Kerl vor mir zu haben, der einen alten Mann wie mich mal umsonst befördert! Was fällt dir eigentlich ein! Du lügst ja, dass es zum Himmel stinkt. Na, wie sagt man doch gleich: Redet man mit gespaltener Zunge, wird man zwei Väter haben! Wer weiß, was deine Mutter so alles getrieben hat!” Der Rikschakuli war sich nicht ganz sicher, was der Alte mit diesem konfuzianischen Schimpfwort meinte. Seine Mutter aber zu beschuldigen, sie habe ein liederliches Leben geführt, ging entschieden zu weit. Er war jetzt ohnehin schon gereizt genug, weil der Alte versuchte, ihn um sein Fahrgeld zu prellen – ob nun im Scherz oder im Ernst. Zu allem Überfluss bezeichnete er ihn jetzt auch noch als Lügner und brachte darüber hinaus noch seine Mutter ins Spiel. Wer konnte das ertragen? Einem Fahrgast, der ihm vor seiner bescheidenen Strohhütte einen solchen Blödsinn erzählen würde, hätte kräftig eins 12
aufs Maul bekommen. “Mein lieber Herr, springen Sie doch bitte nicht so mit mir um! Geben Sie mir schnell ein paar Scheine und ich gehe.” Der Rikschakuli fühlte sich schikaniert, zwang sich aber dazu, sich zu beherrschen und blieb weiter höflich. “Ein paar Scheine” klang in den Ohren des Alten Yoon Ikon aber in etwa wie das Donnergetöse des Lumpen Hitler. “Was? Ein paar Scheine? Was meinst du damit überhaupt?” “Ich meine einen Schein, einen Won-Schein! Hehehe...” Der vertrauensselige Rikschakuli ereiferte sich und geriet ins Stottern. Darauf erwiderte der Alte: “Hat man so etwas schon gehört? Das höre ich zum ersten Mal in meinem Leben. Erst überlässt du es mir, wie viel ich bezahle, und dann verlangst du einen Won von mir. Ich bin sprachlos! Aber nein, lass nur... Lieber ziehe ich einem Leprakranken die Knoblauchsaat aus der Nase und esse sie, als mit deiner Rikscha schäbig umsonst zu fahren! Also, wie viel willst du haben? Raus mit der Sprache!” Der Rikschakuli nannte bescheidene 50 Zon. Wenn er mehr verlangte, so fürchtete er, müsse er vielleicht auf das ganze Fahrgeld verzichten und das angesichts dessen, dass ihm ja auch noch der Verdienst durch andere Fahrgäste entgangen war. Den Alten Yoon Ikon ließ dies alles völlig kalt. “Habe ich richtig gehört? 50 Zon? Willst du dich mit mir anlegen? Sagst einfach so 50 Zon, als wäre das Kinderkram?” “Aber das ist doch gar nicht viel. Immerhin habe ich Sie vom Volkstheater bis hierher gefahren.” “Eben, das ist es ja! Dieser Katzensprung soll mich 50 Zon kosten?” “Mein Herr, ich habe doch nicht viel dafür verlangt! Ein vornehmer Herr wie Sie sollte eigentlich noch ein schönes Trinkgeld drauflegen.” Letzteres überhörte der Alte Yoon Ikon wohlweislich. Er drehte sich zur Seite und schnürte den Geldbeutel, den er gerade erst aufund wieder zugeschnürt hatte, zum zweiten Male auf und nahm zwei Zehner heraus. Mit dem Fingernagel kratzte er über den Münzrand. Man konnte sich nie sicher sein, sagte er sich, vielleicht hatte er ja versehentlich zwei Fünfziger herausgenommen. “Hier hast du 20 Zon. Eigentlich schulde ich dir ja nur 15 Zon. Fünf Zon sind für dich. Kauf dir Reiswein davon oder was auch 13
immer. Ist mir egal!” “Das ist zu wenig!” “Zu wenig? Du meinst, 20 Zon seien zu wenig? Hör mal, auf dem Lande bekommst du dafür einen Acker von zehn Quadratruten. Das ist ein ganz schönes Stück!” Dann geh doch selbst mit deinen 20 Zon aufs Land und kauf dir einen Zehn-Quadratruten-Acker und lass deine Familie drei oder vier Generationen lang und bis zum Verhungern betteln. Das wollte er dem Alten sagen und sich dann umdrehen, aber er verkniff es sich nur knapp. “Legen Sie noch 10 Zon drauf. Sie waren immerhin ziemlich schwer...” “Was? Jetzt nörgelst du auch noch an mir herum! Du hast gut reden. Weißt du eigentlich, wie unbequem es in deiner kleinen Rikscha für mich war? Hast du schon einmal gesehen, dass schwereren Leuten in Zügen oder Bussen mehr Fahrgeld abgeknöpft wird?” “Haha, nein, aber...” “Also, was ist jetzt? Nimmst du das Geld oder nicht? Wenn nicht, dann kaufe ich mir ein schönes Stück Fleisch davon und mache mir ein köstliches Abendbrot.” “Wenn Sie mir noch einen Zehner draufgeben könnten... Ein so vornehmer Herr wie Sie kann mich doch nicht einfach so stehen lassen.” “Vornehm, sagst du? Wenn ich mal so vornehm wäre, wie du sagst, dann müsste ich die Reisfelder auf dem Lande verkaufen! Du liebe Zeit! Noch so ein Kerl wie du und ich wär’ mit meinem Leben am Ende!” Noch so einen Fahrgast wie dich und ich fiele in Ohnmacht, wollte der Rikschakuli am liebsten entgegnen. Der Alte Yoon Ikon band seinen Geldbeutel wieder los, schnürte ihn auf und nahm ein Fünf-Zon-Stück heraus. Es ärgerte ihn mächtig und es tat ihm um das Geld sichtbar Leid, aber er konnte nicht anders. So hartnäckig wie dieser Kerl darauf bestand! “So, das ist jetzt endgültig genug! Hier hast du 25 Zon und du bekommst keinen Zon mehr, selbst wenn du deinen Hals an meinem Gürtel aufhängst!” Der Rikschakuli nahm die drei Münzen, zwei große und ein kleines Kupferstück, ergriff seine Rikscha, murmelte ein 14
unverständliches Dankeschön und machte sich eiligst aus dem Staube, noch bevor der Alte Yoon Ikon mit seinem Gerede fertig war. “Ja ja! Ich hätte nicht auf dieses Weibsstück hören sollen, dann wäre mir dieser Kerl erspart geblieben, und ich hätte auch noch fünf Zon gespart. Chunshim ist an allem schuld, weil sie zu mir gekommen ist und mir so frivol in den Ohren gelegen hat mit diesem Liedwettbewerb! Nur deshalb bin ich doch dorthin gegangen.” Der Alte Yoon Ikon brummelte Beschimpfungen über Chunshim vor sich hin, die sie zwar nicht hörte, aber trotzdem völlig unbegründet waren. War er etwa zum Liedwettbewerb gegangen, weil Chunshim ihn dazu überredet hatte? War es nicht vielmehr so, dass sie ihm nur davon erzählt hatte, weil sie stolz auf ihre Schwester Yunshim war, die dort ein Instrument spielte? Natürlich war es der Alte Yoon Ikon gewesen, der im Gegenteil das Mädchen dafür zu begeistern versucht hatte, ihn zum Liedwettbewerb im Volkstheater zu begleiten. Und wie froh war er, dass sie ihm davon erzählt hatte. Hätte sie das nicht getan und er am nächsten Tag von der Aufführung erfahren, hätte er sich wahnsinnig geärgert und vor lauter Ärger mit dem Fuß gestampft!
15
DIE KUNST, UMSONST ZU FAHREN Der Alte Yoon Ikon war vernarrt in Liedwettbewerbe. Ja, man
kann sagen, dass es für ihn außer Geld nichts Schöneres gab! Der Alte Yoon Ikon stammte aus der Provinz Cholla, und die klassischen Gesänge und Melodien aus dieser Provinz waren ein Ohrenschmaus für ihn. Am liebsten hätte er 365 Tage und Nächte lang nichts anderes getan, als sich auf Festen mit Kisaengs in Feierstimmung zu versetzen und sich mit Clowns im Herrenzimmer zu vergnügen. Aber das war beinahe unbezahlbar! Ließ man sich durch die Kisaenggilde oder das ChosonMusikinstitut täglich eine Kisaeng vermitteln, musste man mindestens zehn Won für jede Aufführung hinblättern, und das war schon ein mit viel Geschick heruntergehandelter Preis. Zehn Won am Tag, das hieße 300 Won im Monat und 3000 Won im Jahr... Pah! Das waren geradezu astronomische Zahlen! Diese Summe war so hoch, dass sie das Vorstellungsvermögen des Alten Yoon Ikon geradezu überstieg. Er wagte noch nicht einmal, davon zu träumen. Es fand sich aber eine Möglichkeit, die ihn seinem großen Traum ein kleines Stück näher brachte. Das waren die Musiksendungen im Radio. Gleich dem alten General Yi Wan, der die Berge niedriger machen wollte und der einfach ein paar Kirschbaumäste absägen ließ, stellte der Alte Yoon Ikon ganz einfach ein dreiröhriges Radio auf seinen Schreibtisch, das er wie ein Juwel hegte und pflegte und mit dem er die Chollagesänge und -melodien genießen konnte. Jedesmal, wenn er die lange Pfeife rauchend auf seiner BoryoMatte lag, sich zur Musik im Radio entspannte und dabei den Takt zur Melodie schlug, kamen ihm die schönen Gesichter der Kisaengs und Clowns in den Sinn, die er bedauerlicherweise nicht sehen konnte. Trotzdem waren es vergnügliche Stunden! Daebok, der Sekretär des Alten, Botengänger und Mädchen für alles, hatte die Aufgabe, den Kanal mit den Musiksendungen im Radio einzustellen. Wurden einmal keine Chollagesänge im Radio gesendet, bekam Daebok ein Donnerwetter zu hören. „Wie wir alle isst du drei Schüsseln Reis am Tag. Wie kannst du nur so dumm sein, von einem Tag zum andern die Musik nicht mehr zu finden?“ Daebok hörte sich diese grundlosen Vorwürfe an und kratzte sich 16
nur am Kopf. Schon mehrfach hatte er versucht, sich zu rechtfertigen und dem Alten klarzumachen, dass die Rundfunkstation das Radioprogramm bestimme und es zwecklos sei, am Radio herumzudrehen, wenn es keine Musik gab. Insofern keine NamdoMusik gesendet wurde, konnte man sie eben auch nicht zu Hause empfangen. Das war nun einmal so! Der Alte Yoon Ikon platzte fast vor Wut. Dann polterte er los: „Ist das nun einmal so? Wo gibt es denn so eine Schei...? Versuchst du etwa gerade die Schuld jemand anderem zuzuschieben, nur weil ich dich Dummkopf genannt habe? Bist du etwa beleidigt? Erst gestern habe ich die Musik doch noch gehört, warum geht das heute nicht mehr? Sind denn alle Kisaengs und Clowns vom Blitz getroffen worden?” Der Alte Yoon Ikon meckerte, wie man eine Katze ausschimpft, die Beilagen geklaut und gefressen hat, tadelte und nörgelte in einem fort und machte Daebok das Leben schwer. Zur gleichen Zeit gingen in der Rundfunkstation unzählige Postkarten mit derselben Handschrift ein, und alle enthielten sie die Bitte, die Namdogesänge wieder zu senden. Wer das getan hatte, war klar! Nachdem ihn der Alte zum wiederholten Male angemeckert hatte, schrieb Daebok aus Ärger die eine oder andere Postkarte. Als er dann zunehmend beschimpft und gerügt wurde, waren die Postkarten schließlich voller Tränen. Der Alte Yoon Ikon hörte und hörte nicht auf mit seiner Meckerei. Natürlich waren ihm die Musiksendungen auch zu kurz. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie mindestens drei Stunden dauern sollen, und zwar ohne Unterbrechung. Eine halbstündige Sendung, das war ja etwas für den hohlen Zahn! Und Daebok wurde wieder getadelt. Selbstredend war die ganze Sache bloße Quengelei. Insgeheim lachte sich der Alte Yoon Ikon eins ins Fäustchen, denn die ganze Angelegenheit war nichts anderes als Hobby und Zeitvertreib für ihn. Er freute sich, dass er einem Kerl das Radio für 17 Won abgeknöpft hatte und es ihn nur einen Won im Monat kostete. Als er den einen Won aber schließlich zahlen musste, kam es ihm plötzlich unverschämt teuer vor, und er setzte sein Gebrüll fort. “Was ist schon so besonders an diesem Radio, dass man mir dafür einen ganzen Won im Monat abknöpft? Sag diesen Leuten: Zum Teufel mit ihrem Radio! Im nächsten Monat zahle ich nicht mehr!” 17
Es nahm kein Ende. So lief es mit dem Radio und ging weiter mit dem Liedwettbewerb, von dem jetzt die Rede sein soll. Kisaengs und Clowns waren sehr verschiedene Unterhaltungskünstler, und so verschieden waren auch ihre Lieder. Man konnte sie in den Aufführungen unmittelbar erleben und bewundern und sie immer wieder zum Singen auffordern. Wie schade, dass man sich dieses Vergnügen nicht täglich leisten konnte! Wie nützlich war doch das Radio! Dort konnte man sie dauernd singen hören. Nun, wir wissen ja bereits, dass es für den Alten Yoon Ikon kein schöneres Vergnügen gab, als die Lieder der Kisaengs und Clowns zu hören. Er wünschte sich, dass ihre Sendungen an jedem der 365 Tage im Jahr stattfänden. Deshalb gab es auch nichts, was ihn daran hätte hindern können, bei allen Liedwettbewerben in Seoul anwesend zu sein. Da konnte die Welt untergehen! Ihn über diese zu informieren, war Daeboks Aufgabe, ja seine Pflicht! Wenn dieser keine Auftragsfahrten in andere Städte durchzuführen hatte, musste er täglich zu einem nahe gelegenen Frisiersalon gehen, der sich in der Gasse befand, und dort die Anzeigen der Zeitungen nach Gesangswettbewerben, Radioprogrammen und Aufführungen des Choson-Musikinstituts durchsuchen. Hatte er den Alten Yoon Ikon einmal versehentlich nicht informiert, so dass der Alte deshalb eine Aufführung verpasste und diesem Spektakel nicht zuschauen konnte, war das natürlich Daeboks Schuld, und es setzte wieder eine donnernde Rüge, als hätte er statt zwei gleich drei Tofustücke gekauft und fünf Zon mehr Haushaltsgeld ausgegeben. Als der Alte Yoon Ikon heute das Haus verließ, zeigte die Uhr halb zwölf vormittags, aber der Liedwettbewerb begann erst um ein Uhr nachmittags. Er war in Begleitung des Mädchens Chunshim, das er aber vorausgehen ließ. “Wir sind zu früh dran! Es schickt sich doch nicht, so früh zu kommen und zu warten!” Chunshim, die einige Schritte vorausgeeilt war, drehte sich plötzlich um und plapperte auf ihn ein. Der Alte Yoon Ikon strich sich über den Bart und musste lächeln. “Treibst du schon wieder deinen Spaß mit mir, alte Chorani! Also dann, meinetwegen. Komm, gehen wir ein bisschen früher!” Chunshim war das sehr recht und trippelte weiter. Das Mädchen hatte ein ovales Gesicht. Offensichtlich stammte sie nicht aus dem 18
Süden. Sie hatte zwar kein Hasengesicht, aber ihre Augen waren klar, und sie hatte eine Stupsnase. Ihr Mund war verhältnismäßig klein. Das schelmische Benehmen passte ganz und gar zu ihrem Erscheinungsbild. Chunshim war gerade fünfzehn und ihr Gesicht noch immer kindlich, ihre Figur aber schon weiblich. Kein Wunder, hatte sie doch gelernt, sich wie eine Kisaeng zu bewegen und zu benehmen. Ihre langen Zöpfe, die von purpurfarbenen Bändern an den Enden zusammengehalten wurden, schlugen beim Gehen auf ihren Hintern. Wenn man aber etwas genauer hinschaute, sah man, dass sie unecht waren. Chunshim hatte sie einfach an ihren kurz geschnittenen Bubikopf gehängt. Auch die Stirnhaare waren kurz und mit einem Brenneisen gekräuselt. Hier und da steckte eine Haarspange im Haar. Zu einem abgetragenen, ausgewaschenen rosa Kkeki-Joksam aus Sengsu-Seide trug sie einen passenden grob gemusterten geradlinigen Rock. Dass sie das hintere Ende des Rockes nach oben geschlagen und um die Taille mit einer Krawatte einfach fest zusammengebunden hatte, sah ihr mal wieder ähnlich. Im Gesicht hatte sie einen Hautpilz. Hier und da war noch etwas Flaum zu sehen. Der Puder war nicht gut verteilt und löste sich an einigen Stellen, als hätte sie Flecken im Gesicht. So wie sie aussah, hätte sie gut und gerne eine der unzähligen Kinderkisaengs sein können, von denen es in der Gegend um die Dekwang-Brücke jenseits des Bachs nur so wimmelte. Aber unterschätzen wir sie nicht. Chunshim war zu dieser Zeit schon mit jemandem befreundet! Eine Weile stolzierte Chunshim so vor dem Alten Yoon Ikon her und wurde von ihm durch allerlei belanglose Plaudereien bei Laune gehalten. Plötzlich drehte sie sich um. “Mein Alter!” lächelte sie ihn unschuldig an. Dieses Kind konnte es nicht lassen. “Was ist denn jetzt schon wieder?” “Wenn wir schon so früh hingehen, können wir doch eigentlich mit dem Automobil fahren oder?” “Mit dem Automobil?” “Ja.” “Meinetwegen, aber...” Chunshim schaute ihn ungläubig an. Warum hatte der Alte so schnell und ohne Widerspruch zugestimmt? Sein komisches Grinsen 19
machte sie skeptisch. Da stimmte doch was nicht! “Fahren wir wirklich?” “Ja doch! Verdammt!” “Dann lass uns schnell zu einem Telefonapparat gehen und eins rufen!” “Das ist nicht nötig. Ein Stückchen noch und da stehen welche.” “Wo denn? Da müssen wir doch mindestens bis zur AnkukdongKreuzung laufen!” “Ganz so weit ist es nicht!”, erwiderte der Alte Yoon. “Ja, wo denn?” “Na dort! Siehst du es nicht, das große glänzende Ding, das riesige Automobil dort?” “Mein Gott! Wer hat denn von einem Bus gesprochen?” Chunshim brummte verärgert vor sich hin, denn er hatte sie mal wieder übers Ohr gehauen. “Ein Bus ist also ein Automobil für Sie.” “Natürlich, und zwar das teuerste von allen! Verstehst du?” “Fünf Zon nennen Sie teuer?” “Wer hat denn vom Fahrpreis geredet? Ich meinte den Kaufpreis, Dummerchen!” Die beiden warteten an der Bushaltestelle an der JedongKreuzung. Es war keine Hauptverkehrszeit, trotzdem fuhren unverständlicherweise zwei voll besetzte Busse an ihnen vorbei, ohne sie mitzunehmen. Der dritte Bus hielt schließlich. Auch er war voll besetzt, und das Fahrkartenmädchen verzog ihr Gesicht, als sie den mächtigen Alten Yoon Ikon einsteigen sah. Der Alte schob und drückte die anderen Fahrgäste zur Seite, um für sich und Chunshim Platz zu schaffen. In einem nicht so vollen Bus wäre für ihn genug Platz gewesen, obwohl auch solche Busse für ihn schon eine Strapaze waren, abgesehen von den anderen Fahrgästen. Dazu bückte er sich auch noch, um nicht mit seinem Hut an die Decke zu stoßen, so dass er in diesem aus allen Nähten platzenden Gefährt noch mehr Platz brauchte. Vielleicht war es ja möglich, Chunshim unter die Achseln zu nehmen und im Mantel zu verstecken. Dann könnte man sich ihren Fahrpreis sparen! Als der Bus endlich mühsam die Endstation vor der japanischen Kolonialbehörde erreicht hatte, stiegen die beiden zusammen mit allen anderen Fahrgästen aus. Dabei beäugten die Leute den Alten Yoon Ikon und Chunshim mit großem Interesse. Ein seltsames 20
Gespann! Erleichtert atmete der Alte Yoon auf, öffnete seinen Geldbeutel und nahm in aller Ruhe Geld heraus, schlauerweise einen großen Zehn-Won Schein. “Was soll ich denn damit? Ich kann Ihnen nicht ‘rausgeben!”, giftete ihn das Fahrkartenmädchen an. “Was machen wir denn da? Ist das etwa kein Geld?” “Hab’ ich das gesagt? Kleingeld sollen Sie mir geben!” “Ich habe kein Kleingeld!” “Ach, erzählen Sie mir doch nichts! Ich habe es doch klimpern hören in Ihrer Tasche. Versuchen Sie mich bloß nicht...” “Meinst du etwa dieses hier...?”, fragte er und klimperte dabei mit den Münzen in seinem Geldbeutel. “Die sind nicht mehr im Umlauf, aber natürlich kannst du sie haben, wenn du willst.” Der Alte knotete seinen Geldbeutel wieder auf und wollte ihr gerade die Münzen geben. “Lassen Sie und gehen Sie mir nicht auf die Nerven! Wohin fahren Sie eigentlich?”, keifte sie ihn weiter an. “Bis zum Bahnhof.” “Dann wechseln Sie an der Straßenbahn!” “Das geht?” Natürlich hatte er dem Fahrkartenmädchen absichtlich nur diesen Geldschein gezeigt und so getan, als hätte er kein Kleingeld. Und selbstverständlich wollte er auch nicht bis zum Bahnhof fahren, sondern nur bis zum Rathaus. Nachdem er auf diese Weise unbeschadet bis zur Kolonialbehörde umsonst gefahren war, ging er jetzt gemächlich zum Volkstheater, das gleich gegenüber dem Rathaus lag. Chunshim ging wieder voraus. “Wenigstens hat uns die Fahrt in diesem schrecklich vollen Bus nichts gekostet, und wir wurden für unser Leiden ein wenig entschädigt!” Damit hatte er Chunshim in die Kunst, umsonst zu fahren, erfolgreich eingeweiht. Nein, er war wahrlich kein selbstsüchtiger Meister, der sein Wissen nur für sich behielt.
21
ISBN 978-3-927648-47-0 22