Françoise Funk-Salamí und Charly Wuilloud
L EBT WOHL
IHR GLETSCHER DIE WALLISER GLETSCHER IM LAUF DER ZEIT
DIE BEDEUTUNG DER GLETSCHER FÜR DEN KANTON WALLIS
Der Rhonegletscher nach einer Zeichnung von Maximilien de Meuron. Gestochen von Friedrich Salathé. In Jean-Baptiste Balthazar Sauvan, Le Rhône. Description historique et pittoresque de son cours depuis sa source jusqu’à la mer, Paris: J. F. Ostervald éd., 1829.
Im Fokus der Wissenschaft Gletscher gehören zu den eindrucksvollsten und wirksamsten Kräften der Natur. Landschaftsformen wie tief eingeschnittene Täler, fruchtbare Ebenen, sogar Seen und Flüsse sind das Vermächtnis der ehemaligen Eisströme. Was der Schweizer Naturforscher Louis Agassiz als «die grosse Pflugschar Gottes» bezeichnete, zeigt sich deutlich in der gewaltigen Umgestaltung der Landschaft. Trotzdem wurde die blosse Existenz der Eismassen, geschweige denn ihre Wirkung, noch vor nicht allzu langer Zeit stark angezweifelt. Die Gletscherforschung steckte zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch in den Kin-
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derschuhen. Die Spuren der einstigen Eisströme schrieb man dem Einwirken des Wassers zu, und einmal mehr musste die biblische Sintflut als Erklärung dafür herhalten. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzten Louis Agassiz mit der Eiszeittheorie, Johann Rudolf Mousson mit der Gravitationstheorie und François-Alphonse Forel als Initiator der jährlichen Beobachtungen der Gletscherzungen in der Schweiz wichtige Akzente. Die Eiszeittheorie verhalf einer neuen Denkweise zum Durchbruch, und man erkannte, dass sich vor ungefähr 20 000 Jahren zusammenhängende Eisdecken über halb Nordamerika und Europa erstreckt hatten. Nicht nur der Alpenraum, sondern auch die Umgebungen von Salzburg, Zürich und Grenoble lagen damals unter dem Eis. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Gletscher zunehmend zum Untersuchungsobjekt der Glaziologen. Der Aletsch- und Rhonegletscher gehören heute zu den am besten erforschten und dokumentierten Eisströmen der Alpen.
Eingang der Galerie auf der Seite von Bagnes. Aquatinta von Louis-Auguste Piot. In Philippe-Sirice Bridel, Seconde course à la vallée de Bagnes, et détails sur les ravages occasionnés par l'écoulement du lac de Mauvoisin, 21 Juni 1818, Vevey: Loertscher, 1818.
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WAS SIND GLETSCHER
Spaltenzone beim Feegletscher. (Françoise Funk-Salamí)
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WAS SIND GLETSCHER
Querspalten am Glacier d’Orny, mit dem Portaletgrat im Hintergrund. (Françoise Funk-Salamí)
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GLETSCHERGESCHICHTE
Porträt von Ignaz Venetz (1788-1859) im Alter von 38 Jahren, Öl auf Leinwand, L. J. Ritz, 1826.
Mutmassliche Fotoaufnahme von Jean-Pierre Perraudin (1767-1858) ©Gletschermuseum, Lourtier
der biblischen Sintflut zu. Über die vielen Theorien, die für die Erklärung der Findlinge diskutiert wurden, liess Goethe seinen Mephisto in Faust II spotten: «Noch starrt das Land von fremden Zentnermassen, wer gibt Erklärung solcher Schleudermacht? Der Philosoph, er weiss es nicht zu fassen, da liegt der Fels, man muss ihn liegen lassen, zuschanden haben wir uns schon gedacht.» Für den Walliser Bergbauer, Gemsjäger und Bergführer Jean-Pierre Perraudin aus Lourtier war klar, dass grosse Felsblöcke vom Val de Bagnes bis Martigny durch ehemalige Eisströme transportiert worden sind. Als Bergbewohner hatten er und seine Vorfahren miterlebt, wie sich die Gletscher auf ihre Höfe und Dörfer zuschoben und dann wieder zurückwichen. Sie konnten zudem beobachten, wie das fliessende Gletschereis grosse Mengen Geröll und Schutt vor sich herschob und ablagerte. Perraudin beeinflusste mit seiner Erkenntnis den Walliser Kantonsingenieur Ignaz Venetz. So gelang diese logische Erklärung aus der Obskurität von Bauernweisheiten in den Gelehrtenzirkel, wo man sich noch höchst uneinig war. An der Jahresversammlung der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft von 1829 begründete Venetz die Eiszeittheorie als erster in wissenschaftlicher Form und publizierte sie 1833 in «Mémoire sur les variations de la température dans les Alpes de la Suisse.» Die Eiszeittheorie wurde 1834 von den einflussreichen Naturforschern Jean de Charpentier weiter ausgebaut und 1837 von Jean-Louis Agassiz übernommen.
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GLETSCHERGESCHICHTE
Handelswege über Gletscherpässe Am Ende der letzten Eiszeit vor 10 000 Jahren waren die mittleren Sommertemperaturen 1.5 bis 2.5 Grad Celsius tiefer als heute. Daraufhin haben sich die Alpengletscher zurückgezogen, sind aber auch immer wieder vorgestossen. Ihre grösste Ausdehnung erreichten sie in der Kleinen Eiszeit zwischen 1600 und 1850. Die Geschichte erzählt immer wieder von historischen Handelswegen im Hochgebirge, die infolge des geringen Gletscherstandes benutzt wurden. So führte etwa zur Römerzeit eine wichtige Nord-Südverbindung vom Rhonetal über den Col d’Hérens und den Theodulpass ins Val Tournanche. Funde von römischen Münzen aus dem 3. und 4. Jahrhundert v. Chr. weisen darauf hin, dass der Theodulpass in der damaligen Zeit kaum vereist war. Im Mittelalter benutzten hauptsächlich die Walser den Col d’Hérens. Von Zermatt aus gründeten sie im Val d’Hérens Tochterkolonien. Die verwandtschaftlichen Beziehungen waren zu Beginn so stark, dass selbst die Toten aus dem Val d’Hérens über den Gletscherpass nach Zermatt zu Grabe getragen wurden. Mit dem starken Gletschervorstoss in der Kleinen Eiszeit konnte der Pass nur noch unter grossen Schwierigkeiten überquert werden. Die an der Abzweigung der Saumpfade vom Theodulpass zum Col d’Hérens und Col Durand sich befindende Alpe Tiefenmatte wurde vom Zmuttgletscher überfahren.
Blick Richtung Süden vom Chalet de Corbassière. In Peaks, passes and glaciers. A serie of excursions by members of the Alpine Club, ed. By John Ball, London, 1859. ©Mediathek Wallis-Sitten
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URSACHEN DES GLETSCHERSCHWUNDES
Innenaufnahme des Gletschertors am Langgletscher, September 2011. (S. Andereggen)
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URSACHEN DES GLETSCHERSCHWUNDES
Atlantik lässt Gletscher schmelzen Seit der letzten «Kleinen Eiszeit» um 1850 hat die vergletscherte Fläche der Schweiz um fast 40 Prozent abgenommen. Dass dieser Gletscherschwund mit der globalen Erwärmung zusammenhängt, ist kaum bestritten. Neuste Forschungen zeigen aber, dass weitere Faktoren mitwirken: Bis zur Hälfte des Eisverlusts der letzten zehn Jahre ist vom Anschwellen atlantischer Meeresströmungen hervorgerufen worden. Die Gletscherforscher haben die Massenbilanzen der letzten hundert Jahre von 30 Schweizer Gletschern mit der Klimaentwicklung verglichen. Dabei hat sich gezeigt, dass die Entwicklung der Gletscher gut mit der so genannten atlantischen Oszillation übereinstimmt. Diese klimatische Schwingung ist mit nordwärts gerichteten Strömungen im Atlantik verbunden, die einmal mehr, einmal weniger Wärme nach Norden verfrachten. Dadurch beeinflussen sie die Witterung in Europa. Wetteraufzeichnungen deuten darauf hin, dass die Niederschlagsmenge sowie die Temperatur in den Alpen im Gleichtakt mit der atlantischen Oszillation steigen oder sinken, was sich unmittelbar auf die Massenbilanz der Gletscher auswirkt. Dass dieser Zusammenhang schon seit längerer Zeit stabil ist, belegen die Längenänderungen des Unteren Grindelwaldgletschers, die in den letzten 250 Jahren aufgezeichnet wurden. Sie zeigen ähnliche Variationen wie eine entsprechend lange Rekonstruktion der atlantischen Oszillation.
Fliese sollten den Eingang der Eisgrotte am Rhonegletscher vor dem Abschmelzen schützen. (Françoise Funk-Salamí)
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WIRTSCHAFTLICHE NUTZUNG DER GLETSCHER
Suone von Levron oberhalb Verbier 2011. (Ch. Wuilloud)
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WIRTSCHAFTLICHE NUTZUNG DER GLETSCHER
ser für die Bewässerung von Wiesen und Weiden knapper. So hat die Gemeinde Visperterminen beschlossen, das Wasser der historischen Suone Heido weiter hinten im Nanztal beim Gamsagletscher zu fassen und sechs Kilometer weit zum Gibidumsee zu führen – wie schon in früheren Zeiten. In den letzten Jahren sind die Zuflüsse des Heido im Sommer immer spärlicher geworden. Die Suone kann demnach nicht mehr genug Wasser in den Gibidumsee bringen. Dieser dient in der niederschlagsärmsten Region der Schweiz als Reservoir, nicht nur für die Bewässerung des Wies- und Weidelands, sondern auch als Löschwasservorrat bei Bränden. Wie lange eine ausreichende Wasserzufuhr gesichert ist, ist angesichts der Klimaänderung und des fortschreitenden Gletscherschwundes noch unklar.
Eis für Südfrankreich Der Trientgletscher hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gleich einen doppelten wirtschaftlichen Nutzen: Einerseits lieferte die im Jahr 1895 erbaute Bisse du Trient wertvolles Wasser für die Rebberge oberhalb Martigny. Andererseits wurde das Eis des Trientgletschers bereits seit 1865 während drei Jahrzehnten für Kühlzwecke abgebaut. Die milden Winter, die der Kleinen Eiszeit folgten, erhöhten auch im Unterland die Nachfrage nach Eis. Mit einer langen Gletschersäge zerschnitten je zwei Arbeiter die grossen Eisblöcke und hievten täglich 20 000 bis 30 000 Eis mit Zange und Haken auf Tragbahren aus Lärchenbaumstämmen. Für den Transport zum Col de la Forclaz wurde ein kleiner Zug für den Transport errichtet. Noch heute erinnert ein alter Wagen entlang der Suone an das frühe Unternehmen. Für den langen Transport bis nach Paris, Lyon und Marseille wurden die Eisblöcke mit Sägemehl gegen das Abtauen isoliert. Trotzdem klagten die Empfänger immer wieder, dass das verrechnete Liefergewicht nicht mit dem Empfangsgewicht übereinstimme. Mit der Erfindung des preiswerten Kunsteises und des Kühlschranks wurde die Nachfrage stark rückläufig. Heute werden die Abflüsse des Trientgletschers in einen Stollen der Kraftwerkanlage Emosson geleitet uns der Elektrizitätswirtschaft dienstbar gemacht.
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