Auf den Spuren meines Urgrossvaters

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MEINES URGROSSVATERS Reiseziel Monte-Rosa 1918 – 2014 Gilles Renaud



AUF DEN SPUREN meines Urgrossvaters Reiseziel Monte Rosa 1918 - 2014


Gestaltung und Satz : Schoechli Impression & Communication SA, Siders Einband : R.S. Reliure Service SA, Meyrin ©2015 – Editions Monographic SA, CH-3960 Siders www.monographic.ch ISBN 978-2-88341-236-1

Visp

Sitten

Evolène Täsch

Schönbielhütte

Arolla Cabane de Bertol

Zermatt Gornergrat

Gandegghütte

Monte Rosa-Hütte

Dufourspitze


Auf den Spuren

MEINES URGROSSVATERS Reiseziel Monte Rosa 1918 - 2014 Gilles Renaud



Für Jeanne, Rémi, Lea, Simon



Vorwort Wo und wie finden Sie nach so vielen Jahren immer wieder neue Ideen für Ihre Sendung ? Da die Sendung « Passe-moi les jumelles » seit mehr als zwanzig Jahren ausgestrahlt wird, ist dies die immer wieder gestellte, berechtigte und nachvollziehbare Frage.

Die Bedrohung für unsere Gletscher ist reell und das Buch von Gilles Renaud ist das Zeugnis dafür. Einige Bilder sind heute unmöglich nachzustellen. In einem Jahrhundert haben unsere Gletscher gut hundert Meter verloren… in der Dicke, nicht in der Breite. Das ist einfach gigantisch !

Ständig am Puls des Lebens und offen für die vielen Überraschungen, welche das Leben überall bereit hält, das ist die Voraussetzung, um mit wachen Augen und Ohren die meisten Themen unterwegs oder durch zufällige Begegnungen zu finden. Dies ist das Rezept für die Würze und die Stärke unserer Sendung, welche sich als Echo der Suisse romande versteht. Die Ideen der meisten Reportagen sind also das Produkt der Phantasie und der Aufmerksamkeit des Teams von « Passe-moi les jumelles ».

Möge dieses Buch dazu beitragen, dieses Phänomen wahrzunehmen und uns anzuspornen, die nötigen Massnahmen zu ergreifen. Als Kind träumte Gilles Renaud beim Betrachten der Bilder seines Urgrossvaters. Man wünscht sich, dass seine eigenen Urenkel ebenfalls zu träumen beginnen, wenn sie sein wunderschönes Buch durchblättern werden… und wenn sie die Überresten unserer Gletscher, diese gefährdeten Naturkunstwerke, überqueren werden. Benoît Aymond

Gilles Renaud ist die Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Als er uns kontaktierte und uns sein Buchprojekt vorstellte, war er einer von vielen Zuschauern, die sich spontan bei uns melden, um uns ihre Ideen und Wünsche darzulegen. In den meisten Fällen bleiben diese Vorschläge aus verschiedensten Gründen unrealisiert. Die Idee von Gilles Renaud, auf die Spuren seiner Vorfahren zurückzukehren, hat uns sofort angesprochen. Alle Ingredienzen waren vorhanden, um eine schöne und berührende Geschichte erzählen zu können. Aus dem Buchprojekt wurde so gleichzeitig ein Filmprojekt. Die Fotografien von Gilles’ Urgrossvater haben ein Jahrhundert überdauert. Damit stellen sie uns vor eine Frage brennender Aktualität : was wird mit den Unmengen von Bildern geschehen, die wir täglich produzieren ? Mit einem gebührenden Abstand betrachtet zeigen diese schwarz-weiss Aufnahmen eine sorgfältige Inszenierung und ein bewundernswertes Talent für Bildausschnitte. Aber der Vergleich mit den ein Jahrhundert später aufgenommenen Fotografien hebt vor allem schonungslos die katastrophalen Auswirkungen der globalen Erwärmung hervor.

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« Der Vergleich ist beeindruckend, namentlich die Entwicklung der Ausrüstung der Alpinisten und der Berghütten, aber auch der Rückzug der Gletscher und die bauliche Ausbreitung der Bergdörfer. »

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Das Konzept In der elterlichen Bibliothek stehen, seit ich mich erinnern kann, zwei Alben mit Fotografien von meinem Urgrossvater. Die Weitergabe über die Generationen haben die beiden Alben gut überstanden, und im Grossen und Ganzen sind sie in einem für das Alter sehr guten Zustand : Eines ist sogar noch mittels Seidenfaden gebunden. Die mit der Zeit etwas gelblich gewordenen Fotos sind auf ein schönes, dickes Papier geklebt. Die Legenden sind mit einem Pinsel von Hand geschrieben. Häufig habe ich diese Alben durchgeblättert, ohne mir deren hohen Alters und deren ideellen Wertes bewusst zu sein. Es waren zwei Fotoalben wie andere, die mich aber doch zum Träumen brachten, indem sie mir eine Abenteuerreise in die Vergangenheit ermöglichten. Als ich anfing, mich regelmässig in den Bergen zu bewegen, schlug mir mein Vater vor, auf Basis dieser Alben etwas Neues zu schaffen. Bis im Sommer 2013 habe ich mich jedoch nicht ernsthaft damit beschäftigt. Erst dann, 95 Jahre nach meinem Urgrossvater, habe ich mit meinen Freunden Josep und Manu die Dufourspitze erklommen und mich somit auf die Spuren meiner Vorfahren begeben. Wir hatten uns zum Ziel gesetzt, die damalige Bergtour zu kopieren, um herauszufinden, wo die Fotografien überall aufgenommen worden waren. Deren Aufnahmestandorte einmal gefunden beabsichtigten wir, die exakt gleichen Bilder nochmals zu machen : Mittels Gegenüberstellung der Fotografien von damals und von heute wollten wir die Veränderungen sichtbar machen. Der Vergleich ist beeindruckend, namentlich die Entwicklung der Ausrüstung der Alpinisten und der Berghütten, aber auch der Rückzug der Gletscher und die bauliche Ausbreitung der Bergdörfer. Überhaupt war unser Projekt eine Einladung, um sich über den heutigen Zugang zur Bergwelt Gedanken zu machen : Wir haben heute beispielsweise kaum mehr Zeit und Musse, die ganze Strecke wie damals in einem Zug zu Fuss zu bewältigen, zu einladend sind die verkehrstechnischen Möglichkeiten, um schnell und bequem am Wochenende wieder einmal eine Etappe der Tour zu absolvieren. Da es keine schriftlichen Aufzeichnungen zum Ablauf der damaligen Bergtour gibt, mussten wir zum Teil intuitiv herausfinden, was meine Vorfahren tatsächlich genau unternommen hatten. Einige Fragen werden allerdings für immer unbeantwortet bleiben. Im Sommer und Herbst 2014 haben wir nochmals die Berge rund um Zermatt und Arolla durchstreift, um die noch fehlenden Fotos aufzunehmen.

Wie im letzten Jahrhundert sollte auch auf der hiesigen Tour eine Frau teilnehmen, weshalb uns dieses Mal meine Schwester Véronique begleitete. Fast hundert Jahre trennen die Fotografien, welche auf den folgenden Seiten jeweils gegenübergestellt werden. Die begleitenden Texte erheben keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, sie legen unsere Gedanken dar und beschreiben die Entwicklung unserer Idee ; Texte und Bilder sollen Fragen aufwerfen. Das Buch versteht sich als Bestandesaufnahme der Strecke von Zermatt nach Arolla, heute und vor einem Jahrhundert. Es ist eine Klammer zwischen unseren Urgrosseltern und unseren Kindern. Und vielleicht wird sich in einem Jahrhundert wieder jemand auf die Spuren meines Urgrossvaters begeben und das Experiment weiterführen.

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Biographie der Seilschaft von 2014 (von links nach rechts)

1980 in Katalonien geboren entdeckt Josep Sola die Berge in den östlichen Pyrenäen. 2004 wandert er nach Neuenburg aus, um die Alpen zu entdecken und sein Bergführerdiplom vorzubereiten. Vater eines kleinen Sohnes teilt Josep aktuell seine Zeit zwischen seinen beiden Berufen Wissenschaftler und Bergführer. Jean-Manuel « Manu » Robert wurde 1976 geboren. Vater zweier kleiner Knaben und im Val-de-Ruz NE aufgewachsen kennt er Véronique und Gilles dank des Orientierungslaufsports seit er zwölf Jahre alt ist. Es zieht ihn regelmässig in die Berge, ausserdem hat er mehrere Velotouren unternommen, welche ihn quer durch Europa und Asien führten. Manu wohnt in La Chaux-de-Fonds, wo er als Sozialarbeiter tätig ist. Véronique Renaud Humbel, die Urenkelin von Charles, wurde 1970 in Chaumont NE geboren. Nach der Ausbildung zur Architektin arbeitet sie nun als Lehrerin. Sie wohnt mit ihrem Ehemann und ihren beiden Kindern in Baden. Seit jungen Jahren betreibt sie Orientierungslauf und verbringt ihre Freizeit gerne in der Natur. Zum Alpinismus ist sie durch dieses Abenteuer gekommen. Gilles Renaud, der Urenkel von Charles, wurde 1972 in Chaumont NE geboren. Er hat die Kunstgewerbeschule in La Chaux-de-Fonds absolviert und arbeitet jetzt als Uhren-Designer bei einem Genfer Unternehmen. Wie seine Frau arbeitet er Teilzeit, sie verbringen ihre Freizeit gerne mit ihren beiden Kindern rund um ihr Haus in den Neuenburger Jurahöhen. Gilles unternimmt regelmässig Bergtouren, im Winter mit den Skis und im Sommer zu Fuss.

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T채sch,

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1918


T채sch,

2014

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Gornergrat,

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1918


Gornergrat,

2014

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Sattel,

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1918


Sattel,

2014

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Mit den ersten Sonnenstrahlen verlassen wir die Monte Rosa-Hütte. Wir folgen der Moräne, steigen den Felsen hinunter und gelangen auf den Grenzgletscher. Die Eisenstufen und die Fixseile sind uns eine wertvolle Hilfe. Wie schon vor zwei Tagen staunen wir, wie weit sich der Gletscher zurückgezogen hat. Die Seilschaft um meinen Urgrossvater fand damals das Eismeer einige Meter unterhalb der Hütte. Wir müssen dafür mehrere Dutzend Meter absteigen. Unten angelangt ist es ein sonderbares Gefühl, auf die 150 Meter weiter oben liegende Moräne zurückzublicken und sich dabei das geschmolzene Eisvolumen vorzustellen. Wir wandern eine Weile und finden den Standort der ersten Aufnahme ohne Mühe. Die Kammlinie stimmt, wir dürften den richtigen Standort gefunden haben. Nur der Blick auf das Matterhorn ist völlig verändert ! Der Grund liegt darin, dass wir uns heute viel weiter unten befinden als damals, die Perspektive hat sich verändert, es ist unmöglich, noch einmal das gleiche Bild aufzunehmen. Auf dem nächsten Bild merkt man, dass sich die Zungen des Breithorngletschers und des Gornergletschers bald nicht mehr berühren werden. Weiter talwärts, wo sich früher der Untere Theodulgletscher mit dem Gornergletscher vereint hat, ist das Tal jetzt völlig eisfrei. Im Jahr 1918 gelang man fast ohne Höhenunterschied von der Monte Rosa-Hütte zur Gandegghütte. Heute muss man eine gefährliche Geröllzone überqueren. Die einfache Gletscherwanderung von damals ist zu einer risikoreichen und anspruchsvollen Tour geworden. Diese Stelle, wo man den Rückzug der Gletscher derart eindrücklich wahrnimmt, macht einen betroffen. Bei der Gandegghütte angekommen gehen wir zur Stelle, wo das Foto damals aufgenommen wurde. Wir müssen schmunzeln, als wir den Felssporn sehen. Dieser befindet sich unterhalb der Hütte neben dem Generator und der Grünabfallsammelstelle ! Nichts Romantisches also... Beide sind auf dem aktuellen Bild nicht sichtbar. Gerade der Generator verkörpert aber musterhaft die Entwicklung der für das Wohl der Hüttenbesucher eingesetzten Mittel. Von der Gandegghütte bis zur Schönbielhütte benutzen wir den Helikopter, damit wir den Col de la Tête Blanche vor dem zu erwartendenden schlechten Wetter erreichen. Ich werde dieses Teilstück zwei Wochen später zu Fuss abwandern. Heutzutage ist es keine Leistung mehr, in weniger als vier Stunden die Bergstation Trockener Steg von irgendeiner Schweizer Grossstadt zu erreichen. Dies entspricht genau der Zeit, die

damals nötig war, um zu Fuss von Zermatt zum Trockenen Steg zu gelangen ! Noch zusätzliche zehn Minuten Luftseilbahn und wir befinden uns heute auf dem 3800 Meter hoch gelegenen Kleinmatterhorn - unvorstellbar für frühere Generationen. Der Einfluss des Wintertourismus auf die Landschaft ist auf dieser Etappe besonders sichtbar. Unterwegs begegne ich verschiedenen Luftseilbahnen und Schneekanonen, welche den heutigen Schneesport ermöglichen. Und mittendrin liegt die kleine Kapelle von Schwarzsee, so wie sie seit Jahrzehnten da liegt, still eingebettet zwischen dem kleinen Bergsee und dem Matterhornhang. Die morgendliche Ruhe nutze ich, um die gleiche Aufnahme wie mein Urgrossvater zu machen. Das Dach und der Portikus wurden restauriert und die Wände neu verputzt. Im Vergleich zu früher ist das Wasserniveau des Seeleins gestiegen. Dies merke ich beim Fotografieren : um das gleiche Bild machen zu können, muss ich fast im Wasser stehen. Ich wandere weiter zur Pumpstation von Zmutt. Die Staumauer Grande Dixence ist zwar nicht in der Nähe, aber dennoch kommt ein Teil ihres Wassers von hier. Anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts befanden sich noch keine Staumauern in den Walliser Tälern. Unser Bedürfnis an Energie ist ohne Vergleich zum damaligen. Ich gehe die seitliche Moräne des Zmuttgletschers hoch und halte für die nächste Fotografie an. Die Moräne ist instabil, die Erosion hat ihre Spuren hinterlassen. Ich kann nur mit Mühe meinen Fotoapparat am passenden Ort aufstellen. Die Mühe lohnt sich aber, das neue Bild entspricht dem Vorbild. Weiter oben hat sich der Weg nicht verändert, er liegt immer noch am gleichen Ort. Im Gras liegend nehme ich die neue, malerisch auf einer Nase gelegene Schönbielhütte auf. Das Bild von meinem Urgrossvater ist von schlechter Qualität. Wahrscheinlich hat er es am späteren Nachmittag bei starkem Gegenlicht geschossen. Der Blickwinkel aber ist interessant und ermöglicht uns, den Rückzug des Zmuttgletschers in seiner vollen Tragweite zu erfassen. Auf den heutigen Tag zurückblickend wird deutlich, wie gigantisch die Menge der verschwundenen Eismasse ist. Ich komme anfangs Nachmittag bei der Hütte an. Ich knipse die gewünschten Bilder und jogge nach Zermatt zurück, um den Zug nach Neuchâtel zu nehmen. Heute Morgen abgefahren, heute Abend wieder zu Hause : dies wäre vor 100 Jahren unmöglich gewesen !

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Breithorn von der Gandeckh端tte aus,

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1918


Breithorn von der Gandeckh端tte aus,

2014

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Cabane de Bertol,

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1918


Cabane de Bertol,

2014

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FĂœNFTE ETAPPE

DER ABSTIEG Von der Cabane de Bertol

nach Euseigne via Arolla


Passe-moi les jumelles Nach unserem ersten Aufstieg zur Dufourspitze 2013 habe ich als Erinnerung für mich und meinen Kollegen ein Fotoalbum gestaltet. Ein Exemplar dieses Buches habe ich dem Westschweizer Fernsehen geschickt mit der Frage, ob das Thema in der Sendung « Passe-moi les jumelles » einen Platz finden könnte. Unser Projekt überzeugte das zuständige Team, welches darüber eine 26-minütige Reportage gedreht hat. Das Fernsehteam begleitete uns während unserer Tour im September 2014. Die Gruppe, bestehend aus Regisseur, Kameramann und Bergführer, war bereits im Sommer 2014 unterwegs auf der Suche nach geeigneten Drehorten. Im September 2014 waren wir also insgesamt sieben Personen auf den Spuren meines Urgrossvaters unterwegs. Um die nötigen Bilder und Filmaufnahmen zu machen, mussten wir manchmal lange warten und einige Szenen mehrmals drehen, was uns viel Zeit gekostet hat. Aus diesem Grund haben wir dreimal einen Helikopter in Anspruch genommen. Wir konnten so die Distanz zwischen den verschiedenen Drehorten verkürzen. Nach den Aufnahmen in den Bergen ist ein weiteres Fernsehteam zu mir nach Hause gekommen, um meine Umgebung und meine Arbeit am Computer und am Zeichentisch zu filmen. In dieser Zeit sind wir auch ins Archiv der SAC Sektion Neuchâtel gegangen und haben das Hüttenbuch der Cabane de Bertol unter die Lupe genommen. Im Buch des Jahres 1918 haben wir die Spuren des Aufenthaltes der Seilschaft um meinen Urgrossvater gefunden. Das Mitwirken in einer Fernsehsendung war eine sehr spannende Erfahrung und gleichzeitig ein Augenzwickern an meinen Urgrossvater, der eine Zeitlang Filmvorführer war.

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