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Bericht: Grazia Vulpiani – In guten wie in schlechten Zeiten

Rechts: In Kroatien, dem Land des Meeres und des Fahrrads, Entlang der Grand Raid-Strecke im Kanton Wallis, Die gemeinsame Leidenschaft von Grazia und Luca  Unten: auf den Pfaden des Campo dei Fiori 

IN GUTEN WIE IN SCHLECHTEN ZEITEN

von Grazia Vulpiani

Für mich ist das Fahrrad die schönste Erfindung, die der Mensch – in der Person von Karl Drais – je gemacht hat. Ich fand es schon immer super faszinierend, seitdem ich gelernt hatte, mit dem alten Ondina-Klapprad von Olmo, olivgrün mit roter Aufschrift, ums Haus zu fahren. Für mich stehen Zweiräder, ob sie nun auf Karbonfasern oder Schmiedeeisen montiert sind, seit jeher für die Möglichkeit, sich von bekannten Räumen zu entfernen und für die Gelegenheit, persönliche Freiräume zu erobern, deren Regeln es noch zu entdecken gilt. Seit ich meinen Mann Luca kennengelernt habe, konnte ich die Berge mittels verschiedener Disziplinen erkunden: vom Sportklettern bis zum Bergsteigen, über Skilanglauf, Trekking und Mountainbiken. Jede dieser Möglichkeiten ist anders, und das Radfahren hat mir dabei im Laufe der Jahre ermöglicht, die Berge auf eine völlig neue Art zu erleben: langsam und zugleich schnell genug, um große Strecken zurückzulegen. Das Fahrrad hat die Besonderheit, dass es sich wie ein Teil meines Körpers anfühlt, wenn ich anfange, in die Pedale zu treten – anstrengend bei den Anstiegen und aufregend bei den Abfahrten. Als Luca mir vorschlug, bei einigen der Routen in diesem Führer mitzuwirken, war mir klar, dass er diese auf seine Art fahren würde, was in mir nach Jahren der Untätigkeit sowohl Besorgnis als auch Begeisterung hervorrief. Seit Jahren denke ich beim Stichwort „Radfahren“ eher an Radwege, ruhige Feldwege und Schottersträßchen, weitab von Leistungsdenken oder Abfahrten in einem Gelände, das ich als „rau“ empfinde und das mich mehr als einmal dazu veranlasst hat, abzusteigen und zu schieben. Fernab von technischen Abfahrten, Singletrails, unübersichtlichen Kurven, Rock Gardens und allem anderen, was das Herz eines modernen Bikers so begehrt. Was ich zu schätzen wusste, war vor allem das gemäch-

liche Tempo und die Möglichkeit, die Routen, die Luca mir vorschlug, zu genießen. Routen, die ausnahmslos Rundtouren sind, bei denen die Suche nach dem Weg manchmal zum Abenteuer wurde, zwischen Dornengestrüpp oder unwegsamen Anstiegen. Insbesondere möchte ich von der Tour im Val Travaglia berichten, wo sich der Berg während des Aufstiegs in einen Friedhof von Bäumen verwandelte, die durch einen kleinen Tornado, der einige Wochen zuvor in der Gegend gewütet hatte, umgestürzt waren. Die Tour war offensichtlich nicht zu Ende zu bringen, so dass sie nicht in diesem Führer auftaucht. Ich war betroffen von der trostlosen Landschaft und der Vorstellung, welche Folgen dies für die biologische Vielfalt, die Harmonie und die Lebensqualität auf diesem Stück Erde in der nahen Zukunft haben würde. Unter den vielen Dingen, die ich erlebt habe, waren die schönsten und immer wiederkehrenden Erlebnisse die, bei denen ich Momente mit anderen teilen konnte, die dem Ganzen Farbe verliehen: das Schnaufen bei den Anstiegen, von denen einige zwar kurz, aber so intensiv sind, dass ich das Rad auf die Schulter nehmen muss; der Staub an heißen Tagen; die Reifenpannen und das Gefluche; das Schwimmen am Ende einer Tour, auch ohne Badeanzug oder Handtuch, weil wir „in der Hitze ohnehin im Handumdrehen trocken sind“; das unvermeidliche Bier „um die von der Sommerhitze ausgedörrten Körperzellen zu befeuchten“; das Mittagessen à la „erbärmlicher Müsliriegel“, der an den Zähnen und am Gaumen klebt wie Hundefutter; GPS-Fehler, die dazu führen, dass wir die Abzweigung verpassen, weil wir das Signal verlieren; die Geduld, umzudrehen und die Straße mehrmals abzufahren, um sicher zu sein, dass wir keine groben Fehler machen; die zum Teil wirklich umwerfende Aussicht auf die Seen und das mitunter schiefe Lächeln am Ende des Tages. Diese zweifellos positiven und wertvollen Erfahrungen haben mich immer mehr in meiner Entscheidung bestärkt, mich unabhängig von den Wetter- und Klimabedingungen ökologisch nachhaltig zu bewegen. Nach dieser Erfahrung begann ich, mich mehr für ganz oder teilweise autonome Touren zu interessieren, und ließ mich von der Ciclovia del Sole verführen, die uns in zwei Tagen von Mirandola nach Bologna führte. Die Durchquerung eines Teils der Poebene, weit weg von den Bergen, gab mir das Gefühl, mich in einem riesigen und ganz anderen Raum zu bewegen, als bei der schnellen Durchquerung über die Autobahn: ein völlig anderer Blickwinkel. Diese Entschleunigung ohne Bezugspunkte hat mir andere Sinneseindrücke geschenkt, wie Geräusche und Düfte und neue emotionale Betrachtungen. Diese Kostproben des Fahrradfahrens, die ich allen Liebhabern und Interessierten wünsche, sind kleine Keime eines Projekts, das ich früher oder später vollenden werde: der Drauradweg, der in Toblach beginnt und auf 710 km vier Länder durchquert: Italien, Österreich, Slowenien und Kroatien. Bleibt mir nur noch, allen Lesern dieser Seiten schöne Touren im Einklang mit ihrer Abenteuerlust zu wünschen.

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