Zur Verfassung. Recherchen, Dokumente 1989–2017

Page 1

Elske Rosenfeld Kerstin Meyer Joerg Franzbecker Recherchen, Dokumente 1989 –2017

Zur Verfassung


Inhalt

11

Einleitung

15 15 23 28 31 33 39 44 46 51 53 56 58 58 59 69 71 72 79 81

Artikel 3 Nach der Verlesung Verfassen, nicht verfasst werden Der Zentrale Runde Tisch der DDR Geometrien der Versammlung Darf ich mal unterbrechen Volk, Wir sind das Parlament der Straße Den ganzen Kuchen Kurzer Prozess Arena der Tiefschläge Die Ostberliner Verfassung Politische Rechte der Bürgerbewegungen Der Bürgeranwalt Kein Streit um Worte Lex Landowsky Volksgesetzgebung, Für und Wider Gründend auf der revolutionären Erneuerung Volk von oben Von 100% Tempelhofer Feld zu Volksentscheid Retten

88

Quellenverzeichnis

9


Einleitung

In der Geschichte Berlins gab es zwei unterschiedliche Versuche, Verfassungen von unten zu gestalten: 1990 wurde, im Zuge einer radikalen demokratischen Selbst­ermäch­ti­gung, am Zentralen Runden Tisch ein Verfassungsentwurf für die DDR erarbeitet. Auf dieser Grundlage entstand kurz darauf in der Berliner Stadtverordnetenversammlung eine neue Ostberliner Ver­fas­ sung. An beiden Gesetzestexten wirkten die Bürgerbewegungen maßgeblich mit. 2016 initiierte eine Gruppe das Volksbegehren Volksentscheid Retten, um eine Verfassungsänderung zu erwirken. Sie reagierte damit auf das Bestreben des Abgeordnetenhauses, das Gesetz zum Erhalt des Tempel­hofer Feldes wieder aufzuheben, welches per Volksentscheid be­schlos­sen worden war. Dass Gesetze in Berlin überhaupt ohne das Abge­ordne­tenhaus per Volksentscheid durchgesetzt werden können, war durch die 1989/90 angestoßenen Verfassungsänderungen möglich geworden. Die beiden Ereignisse bilden eine Klammer für das vorliegende Heft, zu dessen Erstellung wir drei Herausgeber*innen auf Einladung der Berliner Hefte zusammen gekommen sind. Elske Rosenfeld (E. R.) forscht zu den Ereignissen von 1989/90 und der Arbeit am Ver­fas­ sungs­entwurf des Zentralen Runden Tisches der DDR. Kerstin Meyer (K. M.) beteiligte sich an dem Volksbegehren Volksentscheid Retten mit dem Ziel, die Volksgesetzgebung in der Berliner Verfassung zu stärken. Joerg Franzbecker (J. F.) gestaltete den Inhalt und die kon­zep­ tionelle Ausrichtung der Publikation mit.

Revolution …

Die ersten Beiträge im Heft befassen sich mit den Vorgängen, die 1990 zur Entstehung der beiden Verfassungen führten. Sie beschreiben, wie sich die Bürgerbewegungen aus den oppositionellen Kreisen der späten DDR heraus gründeten. Diese konnten am Zentralen Runden Tisch ihre politischen Vorstellungen formulieren und ihre basisdemo­ kra­tische Praxis weiterentwickeln. Für die Bürgerbewegungen war

11



Verfassen, nicht verfasst werden. Geschichte des Verfassungsentwurfs des Zentralen Runden Tisches, Dezember 1989 – November 1994

Die Arbeitsgruppe nahm am 19. Dezember 1989 ihre Arbeit auf. Sie setzte sich zunächst aus Vertreter*innen der am Runden Tisch ver­sammelten Gruppierungen ––> Den ganzen Kuchen, S. 46 zusammen. Später holten sich die Gruppen paritätisch je ein bis zwei Berater*innen aus Ost und West dazu. Es bildeten sich vier Untergruppen zu den Themen Menschenrechte, gesellschaftliche und politische Willens­ bildung, Eigentums- und Wirtschaftsordnung sowie Staatsgrundsätze, Staatsaufbau, Kommunalautonomie. Die neue Verfassung sollte die 1968 und 1974 revidierte DDR-Verfassung von 1949 ersetzen. Sie sollte sich am westdeutschen Grundgesetz orientieren, gleichzeitig aber aus der Erfahrung der DDR-Geschichte heraus in größerem Umfang Grundrechte und Formen direkter Mitbestimmung aufnehmen. Die Abschnitte zu den Menschenrechten und der politischen Partizipation durch Bürgerbewegungen, -begehren, -entscheide und andere Formen direkter Demokratie lasen sich wie ein Katalog jener gesellschaftlichen

23

Verfassen, nicht verfasst werden

Die Erarbeitung einer neuen Verfassung für die DDR war, neben der Vorbereitung freier Wahlen, eines der erklärten Hauptanliegen der neuen Gruppierungen und des Zentralen Runden Tisches. Bereits bei dessen erstem Treffen am 7. Dezember 1989 wurde die Einsetzung einer Arbeitsgruppe beschlossen, die einen Verfassungsentwurf ent­ wickeln sollte. Wolfgang Ullmann von der Bürgerbewegung Demo­kratie Jetzt (DJ) beschrieb die Aufgabe einer solchen neuen Verfassung laut Deutschlandfunk Kultur nach dem ersten Treffen wie folgt: „Man könnte es auch so ausdrücken: Wir müssen das in Worte kleiden, was wir am 4.11. [bei der Massendemonstration auf dem Berliner Alexander­platz] erlebt haben, nicht? Dass in einer überzeugenden und nicht demagogischen und nicht tumultartigen Weise klargestellt wurde, wer das Volk ist.“ Die Aufgabe, erst das Volk selbst und dann die Formen und Modi seiner Willensbildung und -äußerung in Worten – als Verfassung – festzuschreiben, sollten folglich nicht Expert*innen leisten, sondern die Kräfte der Revolution selbst. Wolfgang Templin, Mitglied der AG Neue Verfassung, sagt 2015 dazu in derselben Sen­dung des Deutschlandfunks: „Unser Idealismus, wenn man so will, sogar utopischer Idealismus, bestand darin, dass wir meinten, das müss­ten diejenigen, die diese DDR-Gesellschaft erlebt, mitgestaltet und bitte sehr auch erlitten hatten, wenn sie im Widerstand dazu waren, möglichst aus eigenen Kräften machen.“


Fragen, an denen die Autor*innen den DDR-Sozialismus besonders gravierend gescheitert sahen. Wolfgang Ullmann in einer Rede im Juni 1990 dazu: „Demokratie [...] muß in einem erweiterten Sinne ver­stan­ den werden, in einer Erweiterung, die unserer Erfahrung von 40 Jahren Diktatur nach 12 Jahren einer ganz anders gearteten Diktatur Rech­nung trägt. Eine Demokratie, die sich nicht reduzieren läßt auf die Regeln der parlamentarischen und repräsentativen Demokratie. [...] [E]in Staatswesen ganz neuen Typs [...]“ (1992, S. 79).

Die AG Neue Verfassung war ursprünglich nur beauftragt worden, dem Runden Tisch Verfassungsgrundsätze zur weiteren Diskussion zu unterbreiten. Unter dem Druck der Ereignisse beschloss die Gruppe jedoch, in ihrer – durch die Vorverlegung der Wahlen vom 6. Mai auf den 18. März verkürzten – Arbeitsperiode ein noch ambitionierteres Dokument vorzulegen: einen kompletten Verfassungsentwurf. Bei der letzten Sitzung des Runden Tisches am 12. März 1990 – sechs Tage vor der Volkskammerwahl – wurden die Gesichtspunkte für eine neue Verfassung zu vier thematischen Feldern von den Autor*innen vorge­tragen ––> Nach der Verlesung, S. 15. Der komplette Verfassungstext

24

Verfassen, nicht verfasst werden

Die inhaltliche Ausrichtung des Entwurfs verschob sich während der dreimonatigen Arbeitsphase im Zuge des politischen Richtungs­ wechsels. Je deutlicher sich die Option eines bedingungslosen Beitritts der DDR zum Geltungsbereich des bundesdeutschen Grundgesetzes nach dessen Artikel 23 abzeichnete, umso wichtiger wurde der neue Verfassungsentwurf. Er diente als Symbol und Mittel des am Runden Tisch formulierten Gegenmodells einer – nunmehr demokratisch, sozial und ökologisch gestalteten – eigenständigen DDR und deren gleich­ berechtigter Mitgestaltung eines Vereinigungsprozesses. Die Fest­schrei­ bung von demokratischen Strukturen sowie von Menschen- und Bürgerrechten wurde um wirtschaftliche Grundsätze und soziale Ziele erweitert. Bestimmte, von den Autor*innen als bedroht wahrgenom­ mene soziale Rechte – wie das Recht auf Arbeit, Wohnraum, Bildung, Gleichberechtigung, aber auch Formen der betrieblichen Mitbestim­ mung, Streikrechte und ein Aussperrungsverbot – wurden ver­fassungs­ rechtlich festgehalten. Erst durch die Gewährung dieser Rechte, so die Verfasser*innen, könne das Grundrecht des Menschen auf Würde, Freiheit und Gleichheit wirksam werden. Würde sei hier, wie der als Berater an der Arbeit der Verfassungsgruppe beteiligte Ulrich K. Preuß 2014 bei einer Podiumsdiskussion erklärte, nicht wie im Grundgesetz an das Individuum gebunden, sondern als Beziehung zwischen Menschen gedacht.


wurde danach von einer Redaktionsgruppe unter hohem persönlichen Einsatz gerade noch rechtzeitig fertiggestellt, um ihn am 4. April an die sich am nächsten Tag konstituierende, neu gewählte Volkskammer zu übergeben. Doch der Text fand nicht wie geplant Eingang in die Sitzung. Die Fraktion der Allianz für Deutschland (AfD) unterließ es sogar offiziell, das Dokument an ihre Abgeordneten weiterzuleiten. Die AfD war das Wahlbündnis aus der Ex-Blockpartei CDU sowie den neu entstandenen Mitte-Rechts-Gruppierungen Deutsche Soziale Union (DSU) und Demokratischer Aufbruch (DA), das die Volks­ kammer­­wahlen mit 48 % gewonnen hatte.

Die Vertreter*innen von Bündnis 90, Grüne/UFV und PDS sahen hin­gegen gerade in der Bildung eines Verfassungsausschusses – der öffent­ lichen Diskussion und Abstimmung über eine neue Verfassung – eine Fortführung und Stärkung ebenjener politischen Ermächtigung – der „demokratischen Selbstkonstitution“ (Poppe) der DDR-Bürger*innen –, die mit der Revolution im Herbst begonnen hatte. „Wir sind für die Auto­risierung dieser Verfassung durch die Bevölkerung, die nicht ver­faßt werden sollte, sondern sich in einem solchen Prozeß der Dis­kus­ sion ihre Verfassung als Subjekt selbst geben sollte, um so mehr, als mit dem, was auf uns zukommt [...]“ (Riege, PDS). Genau jener auf­-

25

Verfassen, nicht verfasst werden

Besprochen wurde der Entwurf in der Volkskammer nur zwei Mal, am 19. und 26. April 1990. Beide Male wurde er nur am Rande disku­ tiert und kam erst auf Druck der zahlenmäßig kaum vertretenen Abgeord­ne­ten der Bürgerbewegungen überhaupt auf die Tagesordnung. Die kurzen Diskussionen zum Entwurf sind aufschlussreich. Vor allem Vertreter*innen der Allianz sahen in jeglicher Diskussion einer neuen DDR-Verfassung eine fahrlässige „Zeitverschwendung“, wenn nicht gar ein „Hindernis für die deutsche Einheit“. „Wir von der DSU wollen keine Neukonsolidierung der DDR.“ Ein Vertreter der CDU fürchtete gar, in dem nötigen Diskussionsprozess zur neuen Verfassung könnte die „Kontroverse den Willen zur gemeinsamen Staatlichkeit ein­schlä­fern“. Die Wahl sei ein Mandat für einen schnellen Beitritt zur BRD, nicht aber für eine umfangreiche Verfassungsdiskussion. Diese Aus­le­gung der parlamentarischen Mehrheiten als Zustimmung in einer Sachfrage war jedoch nicht ganz zutreffend: Nach einer von Gerd Poppe in der Sitzung am 19. April zitierten Umfrage „eines bekannten Meinungsforschungsinstituts“ vom 10. April wünschten sich 42 % der DDR-Bürger*innen eine neue Verfassung der DDR, und weitere 38 % eine neue gesamtdeutsche Verfassung – nur 9 % waren für die Übernahme des bestehenden Grundgesetzes der BRD.


Aus: Transkript des ersten Treffens des Zentralen Runden Tisches der DDR am 7. Dezember 1989, in: Uwe Thaysen (Hg.), Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente, Band I, S. 35–37, Wiesbaden 2000. (Das Transkript wurde an einigen Stellen an den genauen Wortlaut der Videoaufzeichnung angeglichen.)

olk, Wir sind das. Vom Werdegang eines Spruchs, V 1989, 1990, 2014 Der Begriff Volk spielt sowohl im Ruf „Wir sind das Volk“ der Herbst­ demonstrationen 1989 in der DDR eine Rolle als auch in den gegen­ wärtigen Debatten um die Berliner Volksgesetzgebung und deren Verankerung in der Berliner Verfassung. Zwischen beiden politischen Prozessen lassen sich verschiedene zarte historische Linien nach­zeich­ nen. Entlang dieser finden sich immer wieder Momente der Ernüch­te­ rung, des Scheiterns und des Verschließens. Es lässt sich jedoch auch dem fortdauernden Wunsch nachspüren, die eigene gemeinschaftliche Verfasstheit mitzubestimmen. Auf diese gemeinsame Verfasstheit verweist der Begriff Volk. Es ist ein Begriff, der sich – gerade im Jahr 2017 – nicht unschuldig affirmieren lässt. Zwei Bedeutungen des Wortes sind mit unterschiedlichen Verwendungsgeschichten verknüpft. Beide treffen sich im Werdegang des Spruchs „Wir sind das Volk“, der vom Herbst 1989 bis zum Winter 2014/15 einen tiefen Bedeutungs­ wandel erfuhr. Zwischen diesen Verwendungen liegt ein langer Ent­ wicklungsweg. Der Satz musste zwischen 1989 und 2014 an mehreren Orten und in verschiedenen Kontexten – auf einem Poster mit dem Schriftzug „Wir sind auch das Volk“ bei den Betriebsbesetzungen 1991 in Hennigsdorf, auf den „Weg mit Harz IV, das Volk sind wir“-Bannern während der Montagsdemonstrationen von 2004 – mehrfach ungehört verhallen, bis er 2014 schließlich in einem anderen, reaktio­nä­ren Sinn die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit gewann. Der essenzielle Unterschied zwischen beiden Sprüchen lässt sich bereits an seinem Wandel vom Herbst 1989 zum Winter 1990 nachvollziehen: am Wechsel des Artikels von „Wir sind das Volk“ zu „Wir sind ein Volk“.

Der Slogan „Wir sind ein Volk“ tauchte zunächst am 9. Oktober 1989 in Leipzig auf. Er verwies dort jedoch noch nicht auf die sogenannte „Einheit des deutschen Volkes“, sondern auf die Vermeidung von

39

Volk, Wir sind das

Was war zwischen Oktober und Dezember 1989 passiert? Welche politische Richtungsänderung ging mit diesem Artikelwechsel einher?



Dominanz erlangte in dieser Zeit zunächst der Ruf „Wir sind das Volk“. Dessen Bedeutung erschließt sich nicht aus einer dem Wort Volk schon immer eigenen, transhistorisch unveränderlichen Essenz, sondern leitet sich aus dem Entstehungskontext des Spruchs ab. Zwei konkurrierende Ursprungsmythen verdeutlichen den Bedeutungszusammenhang, der dem Spruch zu seiner Wirkmacht verhalf: Die SED-Zeitungen hatten den Demonstrierenden schon seit den ersten kleineren Versammlungen im September 1989 „Zusammenrottung“ und „Rowdytum“ vorgehalten. Als dieser Vorwurf am Morgen des 9. Oktober, in Erwartung einer erneuten abendlichen Demonstration, wieder in der Leipziger Volks­ zeitung auftauchte, konterten die Demonstrierenden auf der Straße mit: „Wir sind keine Rowdys. Wir sind das Volk!“ In einer anderen Version der Geschichte entstand der Spruch schon eine Woche zuvor in einer Konfrontation mit der Leipziger Polizei: „Als sich die knüppel­bewehr­ ten Volksvertreter per Lautsprecher mit ,Hier spricht die Volkspolizei!‘ ankündigten, entzog ihnen die Menge das Mandat durch die Klar­stel­ lung: ‚Wir sind das Volk!‘“ (Stadler 2010). Wichtig ist in beiden Fällen die direkte Bezugnahme auf die Verwendung des Begriffes Volk durch die SED, die sich im DDR-Sprachgebrauch durchgesetzt hatte. Das SED-Regime hatte den Begriff Volk im Sinne seiner Verwendung in der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts in seinen Wortschatz auf­ge­nommen, wo dieser zu seinem fast inflationären Gebrauch fand. Wenn der Begriff in Losungen wie „Alles für das Wohl des Volkes“ oder als Präfix zahlloser Bezeichnungen (Volksarmee, Volkssolidarität, Volkseigentum etc.) auftauchte, verwies dieser nicht auf eine durch gemeinsame Herkunft oder Kultur definierte Entität. Das Wort be­ zeichnete vielmehr die Gesamtheit der Bürger*innen, die erst durch die Abschaffung der Klassengegensätze zum Volk geworden war. Aus diesem Grund sprach man in der DDR im Bezug auf die kapitalistischen Gesellschaften auch nur bei den Arbeitnehmer*innen vom Volk. Die Idee eines deutschen Volkes als Abstammungsgemeinschaft verschwand in dem Maße aus dem Bedeutungsspektrum des Wortes, in dem auch das Ziel der deutschen Einheit aus dem Rahmen des politisch Ge­ wünsch­ten oder Vorstellbaren verschwand. In der geänderten DDRVerfassung von 1974 wurde stattdessen vom „Volk der DDR“ ge­sproch­en – eine Formulierung, die 1990 in den Debatten zum Einheits­ver­ trag von DDR-Politiker*innen dem „Volk der BRD“ gegen­über­gestellt

41

Volk, Wir sind das

Gewalt zwischen den Konfliktparteien, insbesondere vonseiten der Demonstrierenden gegenüber den Vertreter*innen der Staatsmacht. Anders als das allgegenwärtige „Keine Gewalt“ setzte sich der Spruch aber nicht durch.


nicht übernommen

nicht übernommen

übernommen

übernommen mit hohen Quoren – für einfache Gesetze – für Verfassungsänderungen

Ostberliner Ver­fassung

Ostberliner Ver­fassung

Entwurf des Zentralen Runden Tisches

– Ostberliner Ver­fassung – Entwurf des Zentralen Runden Tisches – Verfassung von 1950 (nur bis 1974)

Unabhängige Bürger­anwält*innen

Ähnliche politische Rechte wie Fraktio­nen im AGH für Bürgerbewegungen

Verbandsklagerecht im Umweltschutz

Volksgesetzgebung (Volksbegehren/Volksentscheid) Einfache Gesetze und Verfassungs­änderungen

­

nicht übernommen

nicht übernommen

– Ostberliner Ver­fassung – Entwurf des Zentralen Runden Tisches

Auskunfts- und Anhörungsrecht aller Bürger*innen vor dem Abgeordnetenhaus (AGH)

übernommen mit noch höheren Quoren – nur für einfache Gesetze – keine Verfassungsänderungen

nicht übernommen

nicht übernommen

nicht übernommen

Im durch das Abgeordnetenhaus beschlossenenVerfassungsentwurf (1995)

Im Schlussbericht der EnqueteKommission und Gesetzentwurf der Herbst-Initiative (1994)

In welchen Ver­fassungstexten bereits formuliert bzw. in Kraft getreten

Vorschläge

Die Verfassungstexte, die direkt aus dem demokratischen Umbruch in der DDR hervorgingen, hatten neue politische Teilhaberechte formuliert – oder sogar bereits in Kraft gesetzt. Wo sind diese Rechte geblieben?

Verflüssigung der politischen Teilhaberechte, 1991–1995


Volksgesetzgebung, Für und Wider. Auszug aus dem Schlussbericht der Enquete, Mai 1994 [Im Schlussbericht der Enquete-Kommission von 1994 wurde die Debatte für und wider eine Aufnahme der Volksgesetzgebung in die Berliner Verfassung zusammengefasst.] Einige Mitglieder der Kommission äußerten prinzipielle Bedenken gegen die Aufnahme plebiszitärer Elemente in die Verfassung. Es wurde ein Rationalitätsverlust in der Politik durch eine Emotionalisierung der Debatten befürchtet. Die Volksgesetzgebung sei nicht in gleichem Maße wie die parlamentarische Arbeit in Ausschüssen und im Plenum ge­­eig­net, zu abgewogenen, differenzierten und kompromissfreundlichen Lösungen zu führen. Komplexe Fragestellungen könnten die Bürger­in­ nen und Bürger überfordern. Es bestehe auch kein Handlungsbedarf, da die bestehenden Institutionen und Formen des politischen Systems genügend Beteiligungsmöglichkeiten, etwa über die Parteien böten. Die Hoffnung, eine Politikverdrossenheit der Bürgerinnen und Bürger durch die Einführung von Elementen der Volksgesetzgebung zu verringern, sei unrealistisch. Die Instrumente der Volksgesetzgebung seien de facto Gruppenrechte, die dem Einzelnen keine neuen Einflußmöglichkeiten einräumten. Im übrigen seien die historischen Erfahrungen mit direkter Demokratie in Deutschland schlecht.

Für die Aufnahme von Elementen der Volksgesetzgebung wurde vor­ge­bracht, daß damit die Funktionsdefizite des politischen Systems, die sich in Legitimationsdefiziten ausdrücken, kompensiert werden könn­ten. Elemente der Volksgesetzgebung würden integrierend wirken, da sie neue Beteiligungsmöglichkeiten eröffneten. Es gäbe keine Ratio­na­li­täts­ vermutung zugunsten des Parlaments und seiner Abgeordneten und zu Lasten der Bürgerinnen und Bürger. Diese seien genauso zu durch­ dachten Entscheidungen in der Lage. Der Behauptung, direkt-demo­kra­­ti­sche Formen würden zu einer Emotionalisierung führen, wurde ent­­gegengehalten, daß dieses Argument dann auch für Wahlen gelten müsse, die wegen ihrer Personenbezogenheit noch eher Emotionen mobi­lisieren würden. Die Rückbindung an das Parlament sei durch die Drei­stufigkeit des Verfahrens, entsprechende Quoren und Fristen ge­sichert. Mit der Aufnahme von plebiszitären Elementen in die Ver­fas­sung finde man national wie international den Anschluss an die Ver­fassungs­ent­ wicklung. Historisch fehlten schlechte Erfahrungen. Die Weimarer

71

Volksgesetzgebung, Für und Wider

[…]


Republik sei nicht an den wenigen Volksbegehren, von denen nur zwei bis zum Volksentscheid durchdrangen, gescheitert. Man möge beden­ ken, daß es das Parlament selbst war, das 1933 mit großer Mehr­heit das Ermächtigungsgesetz verabschiedet, sich dadurch selbst ent­mün­digt und Hitler den Weg geebnet habe. Aus: Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucksache 12/4376, 2. Bericht (Schlußbericht) der Enquete-Kommission „Verfassungs- und Parlamentsreform“ vom 18. Mai 1994, S. 20f.

Gründend auf der revolutionären Erneuerung. Geschichte der Volksgesetzgebung in Berlin

In deutschen Verfassungen gibt es die Volksgesetzgebung als Verfahren seit 1919. Sie geht auf die Idee der Volkssouveränität aus der franzö­si­schen Revolution und die Erfahrungen aus der Schweizer und nord­ amerikanischen Verfassungsentwicklung zurück. „Es bedurfte des revo­lutionären, vormärzlichen Klimas und des Geschehens von 1848“ (Wiegand 2006, S. 34), damit diese Vorstellungen öffentlich artikuliert werden konnten. In der Frankfurter Nationalversammlung waren diese allerdings chancenlos. Nach dem Sieg der reaktionären Kräfte in der darauffolgenden konstitutionellen Monarchie kamen derartige Ansätze erst recht nicht zum Zug. Eingang in deutsche Verfassungen fand die Volksgesetzgebung erst mit der Novemberrevolution 1918. Mit dem Ende der Monarchie waren die Parteien zu den maßgeblichen Kräften des republikanischen Staatswesens aufgestiegen. Als ergän­zen­ des Korrektiv zur entstehenden „Parteiendemokratie“ wurde die Volks­gesetzgebung von den Weimarer Politikern bewusst in die Reichs-

72

Volksgesetzgebung, Für und Wider Gründend auf der revolutionären Erneuerung

In Berlin wird die gesetzgebende Gewalt nicht nur vom Abgeord­neten­ haus ausgeübt, sondern auch – ohne Zwischenschaltung der Volks­ vertretung – durch Volksentscheide (vgl. Schudoma 2016, S. 5). Die Volksgesetzgebung ist ein Verfahren der unmittelbaren oder direkt­demokratischen Gesetzgebung, alternativ zum Parlament. Ein Gesetz­ entwurf wird von einer Gruppe formuliert und in ein Verfahren einge­ bracht, das der Willensbildung des Gesetzgebers (hier: das Volk) dient. Der Entwurf muss in zwei Etappen ausreichend Unterstützung durch Unterschriften erhalten (Volksbegehren), damit schließlich darüber eine Abstimmung (Volksentscheid) stattfinden kann. Im Erfolgsfall wird das Gesetz wie ein Parlamentsgesetz verkündet und in Kraft gesetzt.


wie auch in die Länderverfassungen aufgenommen, um diesen in der Öffent­lichkeit Akzeptanz zu verschaffen. Da Demokratie und Parla­men­tarismus „nicht identisch“ (ebd., S. 58) seien, sollte die Volks­gesetz­ gebung, falls es in wichtigen Einzelfragen zu Abweichungen vom Volkswillen komme, dazu dienen, das Vertrauen in das Parlament wieder­ herzustellen. Zudem setzte die Weimarer Nationalversammlung auf einen „erzieherischen Reifungsprozess des Volkes durch Volksent­scheide“ (ebd., S. 60), wie sie das auch bei der Ausdehnung des Stimmrechts auf Frauen, der Herabsetzung des Wahlalters und der Ein­führung des Verhältniswahlrechts getan hatte.

Die Regierungsparteien und Regierungen der Weimarer Zeit kämpften gegen die acht Volksbegehren mit allen Mitteln. Politische Opportu­ni­ tätserwägungen entschieden, ob eine Gesetzesinitiative von der Ver­waltung zugelassen wurde. Eine gerichtliche Überprüfung der Verwal­ tungsentscheidung war in der Verfassung nicht vorgesehen. Die Teilnahme an Volksgesetzgebungsverfahren wurde zum Beispiel durch soziale Kontrollen bei der Eintragung in die offenen Listen oder bei der Abstimmung behindert. Beim Volksbegehren von SPD und KPD zur entschädigungslosen Enteignung der Fürsten verletzte der Reichs­ präsident durch dessen öffentliche Verurteilung die Neutralität seines Amtes. Im Fall des von den Rechtsparteien initiierten Volksbegehrens „gegen die Versklavung des Deutschen Volkes“ wurden Beamten für den Fall, dass sich diese am Volksbegehren beteiligten, Disziplinar­maß­nah­ men angedroht. Schließlich führte das überhöhte Beteiligungs­quorum dazu, dass der von der Regierung bei den beiden Volksentscheiden ausgerufene Abstimmungsboykott Erfolg hatte. So gesehen war die

73

Gründend auf der revolutionären Erneuerung

In der Weimarer Reichsverfassung war die Volksgesetzgebung restriktiv gestaltet: Innerhalb von zwei Wochen mussten mindestens ein Zehntel der Stimmberechtigten ein Volksbegehren mit ihrer Unterschrift unter­stützen; mindestens die Hälfte der Abstimmungsberechtigten musste am Volksentscheid teilnehmen, damit eine Mehrheitsentscheidung Er­folg haben konnte. Derartig hohe Quoren ließen die Oppositions­ parteien mit ihrer Organisationskraft zu einem wichtigen Akteur der Volksgesetzgebung werden. Von acht Volksbegehren zwischen 1922 und 1932 gelangten zwei zu einem Volksentscheid, scheiterten aber am Beteiligungsquorum. Beide wurden von Oppositionsparteien eingelei­tet. Ungeachtet der geringen Aussichten, tatsächlich ein Gesetz in Kraft setzen zu können, versprach das Verfahren den Einfluss der Opposi­tion innerhalb und außerhalb des Parlaments zu vergrößern und ihre Chancen bei Wahlen zu erhöhen.


Artikel 3 / Nach der Verlesung


Erhältlich als E-Book bei: EECLECTIC Digital Publishing for Visual Culture www.eeclectic.de oder als Buch bei: Books People Places www.bookspeopleplaces.com

Mehr Informationen: BerlinerHefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt www.berlinerhefte.de


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.