Albert #1 - Mathematik

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Albert Das Journal der Einstein Stiftung Berlin

Nr. 1 Mathematik

Euro 8,00


Hallo Zukunft, in Berlin spielt die Musik. the place to be for science. www.sei.berlin.de

www.berlin-sciences.com


Albert Editorial 3

Martin Grötschel Vorstandsvorsitzender Einstein Stiftung Berlin

Die einen lieben ihre Klarheit und lassen sich durch ihre schnörkellose Eleganz verzaubern, die andern verzweifeln an ihrer unbarmherzigen Präzision oder verirren sich im Dickicht der Formeln: Kaum eine Wissenschaft polarisiert so sehr wie die Mathematik. Die erste Ausgabe des Journals Albert ist den Reizen und Tücken dieser uralten und gleichzeitig hochmodernen Wissenschaft gewidmet. Mit Albert werden Sie ab jetzt jährlich Ausflüge in die Berliner Wissenschaftslandschaft unternehmen können. Wir wollen Ihnen zeigen, was hinter den Türen von Universitäten und Forschungsinstituten passiert und welchen Beitrag die Einstein Stiftung dazu leistet. Albert wagt den Spagat zwischen Elfenbeinturm und Alltag: Die Ausgaben enthalten informative Texte fast wie ein wissenschaftliches Journal und starke Bilder wie ein populäres Magazin. Albert fühlt sich Berlin ebenso verpflichtet wie Einstein, dessen Namen es trägt. Es fällt aus der Reihe, erfindet sich immer wieder neu. Und: Es stellt komplexe Themen so einfach wie möglich dar, aber nie einfacher. Die Mathematik macht in unserer Serie nicht zufällig den Anfang. Mit zahlreichen mathematischen Institutionen innerhalb und außerhalb der Universitäten kann Berlin wahrlich als Metropole der Mathematik gelten. Die Deutsche Mathematiker-Vereinigung hat seit über 20 Jahren ihr Sekretariat in Berlin, 2011 hat die International Mathematical Union Berlin als ständigen Hauptsitz gewählt – ein Zeichen dafür, dass die Mathematik in der deutschen Hauptstadt nicht nur durch Quantität, sondern auch durch international anerkannte Qualität besticht. Im dichten Netz mathematischer Einrichtungen bieten sich unzählige Chancen zur Kooperation. Nicht zuletzt damit zieht Berlin viele exzellente Mathematiker aus dem In- und Ausland an, wie unser Report „Metropole der Zahlen“ ab Seite 22 zeigt. Die Einstein Stiftung fördert derzeit mehrere Koryphäen auf dem Gebiet der Mathematik als Einstein-Professoren oder Einstein Visiting Fellows, darunter Hélène Esnault (Freie Universität Berlin), eine international renommierte Algebraikerin und Zahlentheoretikerin, oder Bernd Sturmfels (University of California, Berkeley), einen namhaften Experten für algebraische Geome­ trie, Kombinatorik und Optimierung. Seit Juni 2014 finanziert das Einstein-Zentrum ECMath mathematische Forschungsprojekte aus verschiedenen Berliner Institutionen, für die insgesamt 22 neue Doktorandenstellen geschaffen wurden. Doch Mathematik spielt auch dort eine Rolle, wo man sie auf den ersten Blick nicht vermutet. In den antiken Gedichten zum Beispiel, die die Wissenschaftshistorikerin Liba Taub (University of Cambridge, UK) als Einstein Visiting Fellow untersucht hat. Oder im Krankenhaus: So entwickelt Einstein-Professorin Gitta Kutyniok (Technische Universität Berlin) neue Verfahren zur Bildkomprimierung, die Untersuchungen im Magnetresonanztomografen beschleunigen sollen – wie sie im Interview ab Seite 38 erklärt. Das Journal Albert ist damit sowohl der Vielfalt der Mathematik als auch der Vielfalt der Berliner Forschung auf der Spur. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Lesen! 


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Editorial Reize und Tücken der Mathematik

Inhalt 22

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Mathe = Antworten stehen auf den Seiten 6 – 7, 15, 33, 47, 64, 71, 101

Metropole der Zahlen Berlin lockt Mathematiker aus der ganzen Welt

38

Exabyte Gitta Kutyniok revolutioniert die Datenkomprimierung

8

Kopfsache

48

Wie Mathematiker ticken. Ein Streitgespräch unter Einstein-Professoren

Montagmorgen Wie Unterricht ohne Rollen­klischees funktionieren kann

28

Mit Sicherheit unsicher Peter Bank und Peter Imkeller untersuchen Finanzmarkt-Risiken

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Spielstunde der Superhirne Der Film „Colors of Math“ zeigt, wie sinnlich abstraktes Denken sein kann

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Überflieger Einstein Visiting Fellow Bernd Sturmfels fliegt von Problem zu Problem

Die einzige perfekte Methode Albert Einstein über die Berliner und sein Hadern mit der Mathematik

54

Ein Party-Gefühl im Gehirn

36

Die Achtklässlerin Maja Frhan verrät, wie sie sich beim Rechnen Mut macht

Fünf Mathematiker erzählen, warum sie in ihrem Job unentbehrlich sind

56

Wo rechnen Sie denn?

Mehr zutrauen! Jürg Kramer fordert mehr Selbstständigkeit und Muße im Klassenzimmer 4


76

Exodus der Zahlenkünstler Das Schicksal jüdischer Mathematiker in der NS-Zeit

58

96

Gesunde Zahlen

Ordnung und Symmetrie

Algorithmen helfen der Medizin auf die Sprünge

65

Rechen-Hilfe Ein Mathematiker aus Kamerun will Krankheiten in Afrika bekämpfen

66

Im Grenzgebiet zwischen Mathematik und Musik

82

102

Optimal ist besser

G ( x) = Gott

Martin Grötschel optimiert (beinahe) alles

Computer bestätigen Kurt Gödels mathematischen Gottesbeweis

88

Die Hirnformel

Fröhliche Fehlersuche

Roger D. Traub simuliert das Gehirn mit Computermodellen. Eine Begegnung

Man kann lernen, die Mathematik zu lieben, sagt Günter M. Ziegler

106

Denkaufgaben und Impressum Ein ungelöstes Problem und andere Rätsel

90

Odyssee der Zahlen Liba Taub über antike Mathematiker und ihren Hang zur Poesie

94

72

Schau mir in die Augen Algebraische Geometrie trägt dazu bei, dass Computer sehen lernen 5

Noble Begegnung Eine Erinnerung an den Nobelpreisträger John F. Nash

Extra

Mathematikstadt Berlin Karte und Adressen


Mathe = ein buntes Gemisch  2 eine Art Spielzeug  3 eine neue Welt im Kopf  4 ein verbotener Ort  5 wichtig für später  6 Geheimwissenschaft  7 unergründlich  Selbstständigkeit des 8 Geistes  1


Albert Mathe = 7

➊ Ich möchte sagen: Die Mathematik ist ein buntes Gemisch von Beweistech­niken. Und darauf beruht ihre mannigfache Anwendbarkeit und ihre Wichtigkeit. Ludwig Wittgenstein, Philosoph (1889 –1951) ➋ Die Mathematik ist eine Art Spielzeug, welches die Natur uns zuwarf zum Troste und zur Unterhaltung in der Finsternis. Jean-Jacques Rousseau, Philosoph, Naturforscher (1712–1778) ➌ Mathematik ist mir dann am liebsten, wenn sie um ihrer selbst willen betrieben wird. Angewandte Mathematik hat mich nie sehr begeistert. Hingegen habe ich es stets geliebt, wenn zum Beispiel mathematische Logik oder axiomatische Mengenlehre neue Welten im Kopf entstehen lassen. Adam Riese, Mathematiker & Showmaster (*1966) ➍ Der Typus des geisteskranken Mathematikers scheint in gewisser Weise das zu sein, was der fahrende Ritter, der verstorbene Heilige, der gequälte Künstler und der verrückte Wissenschaftler für andere Epochen gewesen sind: so etwas wie unser Prometheus, der sich an verbotene Orte begibt und mit Gaben zurückkehrt, die wir alle brauchen können, während er allein dafür bezahlt. David Foster Wallace, Schriftsteller (1962–2008) ➎ Mathematik ist anstrengend, aber wichtig für später. Manchmal macht Mathematik auch richtig Spaß, zum Beispiel, wenn wir im Matheförderunterricht am Computer arbeiten dürfen. Marcel Ringel, Schüler (*2003) ➏ Ich sah in der Mathematik gleichsam eine hohe Geheimwissenschaft, die den Eingeweihten eine neue, wunderbare Welt eröffnet, zu der gewöhnliche Sterbliche keinen Zugang haben. Sofja Kowalewskaja, Mathematikerin (1850 –1891) ➐ So kann also die Mathematik definiert werden als diejenige Wissenschaft, in der wir niemals das kennen, worüber wir sprechen, und niemals wissen, ob das, worüber wir sprechen, wahr ist. Sir Bertrand Russell, Mathematiker und Philosoph (1872–1970) ➑ Bei der Weiterentwicklung einer mathematischen Disziplin wird sich jedoch der menschliche Geist, ermutigt durch das Gelingen der Lösungen, seiner Selbstständigkeit bewusst; er schafft aus sich selbst heraus oft ohne erkennbare äußere Anregung allein durch logisches Kombinieren, durch Verallgemeinern, Spezialisieren, durch Trennen und Sammeln der Begriffe in glücklichster Weise neue und fruchtbare Probleme und tritt dann selbst als der eigentliche Frager in den Vordergrund. David Hilbert, Mathematiker (1862–1943)


Fotos Pablo Castagnola Interview Holger Dambeck

Kopfsache Für die Mathematikerin Hélène Esnault von der Freien Universität Berlin entsteht Mathematik vor allem im Kopf. Ihr Kollege Michael Joswig von der Technischen Universität Berlin sieht Computer als unentbehrliche Helfer. Ein Streitgespräch unter Einstein-Professoren

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Wir wollen über moderne Mathematik reden. Was ist Mathematik eigentlich, Herr Joswig?

Das Beschäftigen mit Abstraktion. Die Motivation dafür kann von einer Anwendung kommen, also einem konkreten Problem. Oder sie kommt aus der Mathematik selbst. Es gibt ja eine jahrhundertealte Tradition mathematischer Fragestellungen. Und man kann da etwas finden, das einem auffällt, das einem Spaß macht. Etwas ästhetisch Wertvolles, das einem am Herzen liegt. J oswig

gendwann, vielleicht nachts im Traum, wird man geweckt. Dann stabilisiert sich das Ganze und man hat das Gefühl, das könnte irgendwie stimmen. Das ist ein Moment des Glücks. Es gibt Probleme, an denen sich Mathematiker seit Langem vergeblich die Zähne ausbeißen. Ist es denkbar, dass dafür jemand eines Tages eine Lösung findet, die

Hélène Esnault ist Einstein-Professorin für Algebra und Zahlentheorie an der Freien Universität Berlin. Die Leibniz-Preisträgerin gilt als eine der renommiertesten Wissenschaftlerinnen auf dem Gebiet der reinen Mathematik. Sie forscht vor allem zu Fragen der algebraischen und arithmetischen Geometrie, aber auch über die Grenzen traditioneller Teildisziplinen hinweg – am liebsten nur mit Stift und Zettel.

so elegant und einfach ist, dass alle sagen: Mensch, da hätte ich auch drauf kommen können?

Wenn es eine einfache Lösung gäbe, dann hätte man sie sicher längst gefunden. Die ganz großen Beweise der letzten 50 Jahre in meinem Gebiet zeigen das: die Weil-Vermutung von Pierre Deligne, die MordellVermutung von Gerd Faltings und die Fermatsche Vermutung von Andrew Wiles – für deren Lösung bedarf es der gesamten algebraischen und arithmetischen Geometrie des 20. Jahrhunderts. In allen drei Fällen waren die Fragestellungen einfach, aber die Antworten gehen sehr tief. E snau lt

Frau Esnault, was hat Sie zur Mathematik gebracht?

Für viele war Physik die Motivation. Bei mir war es anders. Mich hat immer die Schönheit der gedanklichen Konstruktion fasziniert. Wenn man die Gedanken richtig zusammenfügt, ist das so, als ob man ein Gedicht schreibt. Ein Wort passt genau an eine bestimmte Stelle. Sobald man es ein bisschen verschiebt, fällt das Ganze auseinander. Dieser Anspruch, Gedanken mit großer Schärfe zu einem Gedicht zusammenzufügen, das war mein Weg zur Mathematik. E snau lt

Sie vergleichen Mathematik mit Lyrik. Sind Mathematiker wirklich Künstler?

Ja und nein! Im Gegensatz zu Künstlern haben wir Mathematiker ein Wahrheitskriterium. Aber Mathematik treiben gleicht dennoch einem künstlerischen Prozess. Wenn wir einen mathematischen Beweis entwickeln, haben wir nichts Fassbares in der Hand. Der Vorgang des Nachprüfens ist rein intellektuell. Das ist nicht einfach zu beschreiben. Man spürt, dass ein Weg vielleicht wichtig sein könnte. Man weiß es aber noch nicht und überprüft einige Sachen. Und ir-

Ein anderes Beispiel ist die Poincaré-Vermutung, da gab es ein gewisses Vorgeplänkel. Die Werkzeuge zu ihrem Beweis waren sicher zehn, 15 Jahre im Schwange. Es kam darauf an, diese mit besonderem Geschick einzusetzen. Das ist das Verdienst von Gregori Perelman. J oswig

Esnault

Sie haben beide mit Mathematik begonnen, als es das Internet noch nicht gab. Wie hat sich Ihre Arbeit seitdem verändert?

Ich muss nicht mehr mit Mathematikern am selben Ort sein, um mit ihnen zusammenzuarbeiten. Der Informationsaustausch ist flüssiger geworden. Ich finde das wesentlich besser als früher. Ich kann sogar einen mathematischen Satz googeln E snau lt

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und weiß sofort, ob ein Problem neu oder vielleicht schon gelöst ist. Herr Joswig, werden Computer die Arbeit von Mathematikern immer mehr bestimmen?

Das tun sie heute schon. Viele Probleme aus der angewandten Mathematik können wir nur noch mit dem Rechner lösen. Weil Computer und Software immer leistungsfähiger werden, können wir heute auch Probleme der reinen Mathematik mit Computern angehen. Das finde ich ausgesprochen interessant. J oswig

zess, der zuallererst im Kopf stattfindet. Das Medium, mit dem man Gedanken visualisiert, kann sich ändern. Die Araber haben in Sand geschrieben, die Chinesen auf Leder. Wir schrei­ben auf Papier, manche aber auch nur an die Tafel. Aus gutem Grund: Irgendwann sind ihre Gedanken so kompliziert, dass sie nicht mehr nur im Kopf zu überschauen sind. Timothy Gowers, der im Projekt Polymath Mathematiker übers Internet gemeinsam Probleme lösen lässt, sagt: In 50 Jahren werden Computer die besseren Mathema-

Welches Rätsel der reinen Mathe-

tiker sein. Übertreibt er damit?

matik haben Sie denn schon mit dem Computer gelöst?

Ich habe mal gemeinsam mit einem Doktoranden versucht, einen Satz zur Lösbarkeit bestimmter Polynomgleichungssysteme zu beweisen. Wir haben das per Induktion gemacht. Wir konnten vereinfacht gesagt zeigen, dass der Satz für alle Zahlen ab n+1 gilt, wenn er für die Zahl n gilt. Diesen Induktionsschritt haben wir per Hand gemacht. Aber uns fehlte der Anfang. Wir kannten keine Zahl n, für welche die Behauptung zutrifft. Wir hatten aber eine ungefähre Vorstellung, wo der Induktionsanfang liegen könnte. Und dann haben wir den Computer benutzt, um diesen Anfang zu finden, was uns tatsächlich gelungen ist. J oswig

Albert Kopfsache

Frau Esnault, glauben Sie, dass Mathematiker auch in 50 Jahren noch mit Stift und Papier arbeiten werden?

Es wird künftig viel am Computer passieren – aber Stift und Papier wird es weiterhin geben. Dabei sind Stift und Papier nur ein Bild. Das richtige Bild ist der Kopf. Denn Mathematik ist ein intellektueller ProE snau lt

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Es kommt drauf an, was man mit Computern macht. Meist versucht man, ein Beweiskonzept zu zerstückeln, füttert den Computer damit und schaut, wie weit er kommt. Aber trotzdem muss jemand da sein, der den Beweis zerlegt. Der Computer beschleunigt ein Verfahren, aber er erfindet es nicht. Ein Computer kann auch nicht unendlich viele Fälle untersuchen. Etwa prüfen, ob eine Aussage für alle natürlichen Zahlen gilt. Das würde ja unendlich lange dauern. E snau lt

Herr Joswig, sehen Sie das genauso?

Das Beispiel mit den unendlich vielen Fällen zeigt, dass es gewisse Sätze gibt, die ein Computer grundsätzlich nicht beweisen kann. Aber es gibt inzwischen immer mehr Beweise, bei denen Computer eine zentrale Rolle spielen. Zum Beispiel die Keplersche Vermutung von Thomas Hales: Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, Kugeln im Raum anzuordnen, welche aber ist die dichteste? Unendlich viele Möglichkeiten hätte kein Computer untersuchen können. Hales nutzte aus, dass man gar nicht unendlich viele ↘ J oswig

Michael Joswig ist Einstein-Professor für Mathematik an der Technischen Universität Berlin. Er zählt zu den führenden Experten auf dem Gebiet der polyedrischen und geometrischen Kombinatorik und hat unter anderem die Standardsoftware „polymake“ für die Diskrete Geometrie mitentwickelt. Computer und Mathematik gehören für ihn seit jeher zusammen: Er hat Mathematik und Informatik studiert und schon als Jugendlicher Spiele für Taschenrechner programmiert.


Albert Kopfsache

„Weil Computer und Software immer leistungsfähiger werden, können wir heute auch Probleme der reinen Mathematik mit Computern angehen.“ ↑ Michael Joswig

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„Wir stehen vor riesigen Vermutungen, von denen wir nicht wissen, was der entscheidende Punkt beim Beweis sein wird. Der Computer weiß das erst recht nicht.“ Hélène Esnault ↓

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Fälle anschauen muss, sondern dass endlich viele reichen. Dies hatte zuvor László Fejes Tóth gezeigt.

gen Vermutungen, von denen wir nicht wissen, was der entscheidende Punkt beim Beweis sein wird. Der Computer weiß das erst recht nicht.

Ja, man hat in solchen Fällen erst einen klassischen Beweis, der die Zahl der zu untersuchenden Fälle reduziert. Aber ich kann Ihnen mehrere aktuelle Probleme nennen, bei denen das zumindest nach heutigem Wissensstand unvorstellbar ist. In dem Moment, wo man mit dem Computer loslegt, muss man das Problem schon halb gelöst haben.

So hat man früher auch über Schachcom-

Der Computer kommt als Hilfsmittel aber auch noch auf eine andere Weise ins Spiel. Nämlich als System zur Unterstützung von Beweisen, die von Menschen stammen. Das aktuell beste Beispiel dafür ist wiederum Thomas Hales und sein Computerbeweis der KeplerVermutung. Dieser war ja durchaus umstritten, weil er praktisch nicht überprüft werden konnte. Doch nun hat Hales die logische Konsistenz seines Computerbeweises von einer darauf spezialisierten Software überprüfen lassen. Man muss konstatieren, dass sein Beweis damit auf wesentlich sichereren Füßen steht als manch klassischer Satz aus der Mathematik. J oswig

Moment, es gibt Beweise, deren Richtigkeit nicht mit letzter Gewissheit geklärt ist?

Ja, zum Beispiel die Klassifikation der endlichen Gruppen, sie wurde circa 1980 abgeschlossen. Der Beweis umfasst 10.000 Druckseiten, viele Mathematiker waren beteiligt. Es gibt seit Jahrzehnten ein Projekt, daraus ein Buch zu machen. Dabei wurden immer wieder Lücken im Beweis gefunden. Sie konnten bislang alle geschlossen werden. Aber ob der Beweis am Ende Bestand haben wird, ist sehr viel unklarer als bei der Kepler-Vermutung. Da sehe ich die Hauptrolle der Computer. Weil Mathematik immer komplizierter wird, nutzt man solche Beweissysteme, um sicherzugehen, dass alles zu 100 Prozent stimmt.

puter geredet. Dann hat man ihnen alle Partien der Welt eingetrichtert – und nun spielen sie besser als die Weltmeister. Warum soll so etwas nicht in der Mathematik gelingen?

So etwas gibt es ja bereits in einer sehr frühen Form: das Projekt Theorema. Bruno Buchberger versucht dabei, hunderte mathematischer Beweise aus allen möglichen Teilgebieten wie Analysis, Algebra, algebraische Geometrie, Kombinatorik zu abstrahieren. Bislang kann man damit nichts Komplizierteres auch nur annähernd beweisen. Aber es genügt für Probleme, die wir bei der Vorlesung Lineare Algebra im ersten, zweiten Semester mit Studenten besprechen. J oswig

Da stimme ich dir völlig zu – bis auf einen Punkt: Bei allen von mir erwähnten Beweisen kam der Erfolg daher, dass es eine grundlegend neue Idee gab. Deligne hat den Begriff der Gewichte in der arithmetischen Geometrie entwickelt. Kein Geometer, kein Arithmetiker heutzutage kommt ohne sie aus. Wie soll eine solche völlig neue Idee in einem Computer entstehen? E snau lt

Albert Kopfsache

E snau lt

J oswig

Alle von Ihnen erwähnten Beispiele sind algorithmisch, also gut in Computersprache übersetzbar. In all diesen Fällen hat man genau die Axiomatik verstanden, die zu dem Beweis führt. Wir stehen jetzt aber vor riesiE snau lt

Hirnforscher wollen das Gehirn so detailliert wie möglich nachbauen, um endlich der Intelligenz auf die Spur zu kommen. Ein solcher Computer könnte doch neue Ideen entwickeln …

Vermutlich wird es in den nächsten 30 Jahren kein Programm geben, das so etwas kann und von sich aus irgendetwas Substanzielles beweist. Aber ob das in 100 Jahren noch so sein wird, da bin ich mir nicht so sicher. J oswig

Ich bin da skeptisch. Es sind oft auch Zufälle, die hinter neuen Ideen stecken. Und das ist sehr schwer mit einem Computer darzustellen. Können wir wirklich alles simulieren? Wie verliebt man sich? Ich glaube nicht, dass man das wirklich mit einem Computer herausfinden kann.  E snau lt

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Mathe = Kunst der Abstraktion 1 Inspiration 2 meine erste Liebe 3 die Sprache der Klarheit 4 perfekte, reine Schönheit 5

➊ Mathematik ist mein Leben! Sie ist der Höhepunkt und die Kunst der Abstraktion. Hélène Esnault ➋ Mathematik ist für mich Inspiration und die Sprache der Genauigkeit. Das schließt Fantasie keinesfalls aus. Michael Joswig ➌ Mathematik ist für mich, als würde ich meine erste Liebe treffen. Ekaterina Eremenko ➍ Mathematik ist die Sprache der Klarheit. Sie ermöglicht es uns, über das Wesentliche zu reden. Bernd Sturmfels ➎ Mathematik ist für mich perfekte, reine 15

Schönheit. Ágnes Cseh


Spielstunde der Superhirne Die Mathematikerin und Regisseurin Ekaterina Eremenko porträtiert in ihrem wunderbar verrückten Film „Colors of Math“ sechs Mathematiker von Weltrang. Ein Beweis, wie sinnlich abstraktes Denken sein kann


Text Christina Bylow Fotos Colors of Math 17

Die in Berlin lebende russische Regisseurin Ekaterina Eremenko hat in Moskau Mathematik und Filmregie studiert und arbeitet zurzeit im Sonderforschungs­ bereich „Discretization in Geometry and Dynamics“ an der Technischen Universität Berlin. Eremenko beschäftigt sich nicht nur mit Mathematik: Ein Film über den unterirdischen Wostoksee hat sie zuletzt in die Antarktis geführt.

Da haben wir den Salat, serviert in einem Restaurant in Lyon. Der Gast, ganz Dandy im Nadelstreifenanzug mit weißer Seidenkrawatte, eine Spinnen-Brosche am Revers, zählt auf, was alles drin ist. Hufe und Maul – „Sachen, die keiner will“ – dazu Fleisch, Fisch, Eier und ein paar Blätter Frisée. Cédric Villani beäugt die Schüssel und sinniert: „Der Salat, das Brot und die Eier verkleben den Fisch und das Fleisch – wie auch in der Theorie die Gleichungen Informationstheorie und Strömungsmechanik zusammenbringen.“ Der Wirt fragt, ob mit dem Essen alles in Ordnung sei. Doch, doch, aber hier geht es um das Problem der Unordnung, um Entropie. Die nimmt zu, das fand schon Ludwig Boltzmann Anfang des 20. Jahrhunderts heraus. Aber warum ist das so? Cédric Villani hämmert ein paar Klavier-Akkorde auf den Tisch: „Um das zu verstehen, müssen verschiedene Bereiche kombiniert werden, die nichts miteinander zu tun haben, wie die Informationstheorie und die Physik.“ Was von beidem nun Hufe oder Maul, Fisch oder Fleisch ist, sagt er nicht. Über eines besteht kein Zweifel: Mathematik ist wie Kochen. „Man mischt und mischt und wartet auf eine chemische Reaktion – buff“: Da ist die Lösung! Wie verführt man einen der innovativsten Mathematiker und Gewinner der Fields-Medaille zu solchem Leichtsinn? Indem man ihn zu einem Experiment einlädt. Such dir einen der fünf Sinne aus, Schmecken, Sehen, Hören, Tasten, Riechen, und kombiniere ihn mit einem mathematischen Problem. Natürlich ist das ein Spiel, keine ernsthafte Beweisführung. Aber hat nicht beides miteinander zu tun? Die Regisseurin Ekaterina Eremenko hat einen wunderbar verrückten Dokumentarfilm über sechs weltbedeutende Mathematiker gedreht: „Colors of Math“ heißt er, im russischen Originaltitel frei ins Englische übersetzt so viel wie „Sensual Math“, Mathematik also mit den Sinnen. Das war zu heikel für den amerikanischen Markt, erzählt Ekaterina Eremenko in einem Seminarraum des Instituts für Mathematik der Technischen Universität Berlin. An der Tür klebt ein Schild mit der Aufschrift „Selbsthilfegruppe Geometrie“. In rasantem Sprechtempo erzählt die große, schmale Frau mit dem Gesicht einer Renaissance-Madonna vom Erfolg ihres Films. Mitten im Satz wechselt sie vom Englischen ins Deutsche, wortgewandt und mit hartem Akzent. 2013 lief ihr Film in einem Moskauer Kino 15 Wochen lang, jeden Tag. In Nowosibirsk hängte er die amerikanischen Blockbuster ab. Inzwischen ist er in 13 Sprachen übersetzt. Cédric Villani ist der Popstar unter ihren Helden. „Anfangs wollte er nicht“, erinnert sich Ekaterina Eremenko. „Er sah nicht ein, warum er drei Tage für einen Film hergeben sollte.“ Als sie ihm von ihrer Idee mit den fünf Sinnen erzählte, sagte er zu und wählte den ↘


Selbstversunken dreht Konzewitsch ein spitz zulaufendes Blatt in der Hand hin und her und denkt über dessen Bestreben nach, nicht flach zu sein.

Der Berliner Mathematiker Günter M. Ziegler ist einer der sechs Mathematiker, die in „Colors of Math“ ihr Fach sinnlich erklären – etwa anhand bunter Plastik-Tetraeder, von denen man genau 600 braucht, um ein „perfektes reguläres vierdimensionales Polytop“ zu schaffen.

Albert Spielstunde der Superhirne

Geschmackssinn als Vorzeichen für seinen Part. Dem Professor an der École normale supérieur in Lyon bereitet es sichtlich Vergnügen, seine Reflexionen über das „Monster“ der Boltzmann-Gleichung über gefüllten Tellern anzustellen. Einmal stopft er während eines Backwettbewerbs im mathematischen Seminar Kuchen in sich hinein wie ein aufgedrehtes Geburtstagskind. Einem der sechs Mathematiker teilte Eremenko den Gleichgewichtssinn zu, der eigentlich nicht zu den klassischen Sinnen gehört. Oder hat der andere Fields-Medaillen-Gewinner im Film, Maxim Konzewitsch, vielleicht eher den sechsten Sinn? Beim Spaziergang durch einen herbstlichen Wald bei Paris erscheint der Spezialist auf dem Gebiet der nichtkommutativen Geometrie in Verbindung zu sein mit einer anderen, überirdischen Welt, einem Gebiet der Mathematik, das es noch gar nicht gibt und das er zögerlich in Worte zu fassen versucht. Selbstversunken dreht er ein spitz zulaufendes Blatt in der Hand hin und her und denkt über dessen Bestreben nach, nicht flach zu sein. Eremenko und Konzewitsch haben beide in den 1980er Jahren an der Lomonossow-Universität in Moskau Mathematik studiert. Mit 23 Jahren schloss Eremenko das Studium mit Auszeichnung ab. Konzewitsch, fünf Jahre älter als sie, ragte schon damals aus der Nachwuchselite der UdSSR heraus. Als die Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre kollabierte, ging er ins Ausland, wie die meisten seiner ehemaligen Kommilitonen. Ekaterina Eremenko hat die Lebenswege ihrer Mitschüler an der Moskauer Mathematikschule für hochbegabte Kinder in ihrem 2007 gedrehten Film „My Class“ nachgezeichnet. Am Ende dieser Wiederbegegnungen voller Witz und Wehmut erzählt sie darin auch ihre eigene Geschichte. Sie verließ die Mathematik nach einer Lebenskatastrophe. Ihre Mutter starb bei einem Autounfall, der Vater, ein Professor für Elektrotechnik, lag lange im Krankenhaus. „Ich konnte damals nicht an einem PC arbeiten, ich weinte so viel, dass ich nichts mehr sah.“ Sie gerät in die glamouröse Gegenwelt der Modebranche. Das hochgewachsene, dünne Mädchen mit den ebenmäßigen Gesichtszügen wird Model für große Modemacher und Magazine. Sie ist in der Vogue. Und sie verdient viel Geld in kurzer Zeit. Parallel studiert sie Filmregie an der russischen Hochschule für Filmkunst Gerassimow. Sie arbeitet für TV-Sender, erkundet ihr Land als Fernsehreporterin. Der Liebe wegen zieht sie Ende der 1990er Jahre nach Berlin, bringt zwei Kinder zur Welt und studiert ein paar Semester Biologie. Derzeit ist sie Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich „Discretization in Geometry and Dynamics“ an der Technischen Universität Berlin – ihre Filme sollen die Forschung nach außen transparenter machen.

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Der Fields-Medaillenträger Cédric Villani sieht selbst in Drahtfiguren im Park mathematische Probleme – eine geordnete Situation aus Teilchen und fehlenden Teilchen etwa, die durch seine eigene veränderliche Perspektive verschwimmen.

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Auf keinen Fall wollte Eremenko das Publikum und sich selbst mit dem vorgestanzten Format populärer Wissenschafts­ sendungen langweilen.

„Colors of Math“ ist für Ekaterina Eremenko „eine Rückkehr zur ersten Liebe“. Hätte sie den Film ohne ihr Mathematikstudium drehen können? Nein, meint sie. „Ich wäre zu schüchtern gewesen, die besten Mathematiker zu befragen, worum es ihnen im Moment geht.“ Auf keinen Fall wollte sie das Publikum und sich selbst mit dem vorgestanzten Format populärer Wissenschaftssendungen langweilen. „Diese Erklär-Filme mit einer Erzählerstimme sind wie Gehirnwäsche“, sagt sie. Sie dagegen wollte den bedeutendsten Mathematikern unserer Zeit beim Denken zusehen. „Ich betrachte sie wie Künstler, wie Poeten.“ Schöne Sätze sind zu hören in diesem Film, klingende Metaphern. „Die Mathematik ist die Musik des Denkens“, sagt Jean-Michel Bismut von der Université Paris-Sud, der nach jahrelanger Arbeit an einem mathematischen Problem die Lösung während einer WagnerOper fand. Mathematiker zu sein, ist für ihn ein Leben in einem eigenen Kosmos. Einmal nur hat er diesen Kosmos während der Studentenrebellion um 1968 für drei Jahre verlassen. Doch etwas nie Gekanntes quälte ihn in der gewöhnlichen Welt: Langeweile. Wie kann es anders sein für jemanden, der von sich sagt: „Mathematik heißt für mich, mein Leben zu singen.“ Den Anlass für Eremenkos Film lieferte ein Tag der offenen Tür an der New York University, für den sie einen Film über die Mathematik drehen sollte. Statt eines schlichten Promotion-Clips entstand ein inspirierendes Kino-Wunder: „Colors of Math“ ist ein Plädoyer für die Autonomie des Denkens, eine Einladung, die Welt mit fragenden Augen zu betrachten. Auch wenn man dabei nicht in so schwindelerregende Denkhöhen gelangt wie Anatoli Fomenko, Aaditya V. Rangan und Günter M. Ziegler – die drei anderen Mitspieler in Eremenkos Versuchsanordnung. Es ist nicht wichtig, ihre Reflexionen wirklich zu verstehen. Eremenko gibt Einblicke in die Vorstellungswelt von Mathematikern, ohne sie dozieren zu lassen. Jeden von ihnen lotst die Regisseurin für Momente in jenen hoch konzentrierten Zustand hinein, in dem Krea­ tivität entsteht. Etwa wenn Anatoli Fomenko, über das „eindimensionale Plateauproblem“ spricht, anhand einer zitternden Seifenblase, in der sich die Silhouette von Moskau spiegelt. Seine Tuschzeichnungen wiederum sehen aus, als habe man die unendlichen Treppen des Barockmalers Piranesi und die zerfließenden Objekte der Surrealisten übereinander projiziert. Für Fomenko erklären diese Bilder hochkomplexe geometrische Probleme. In „Colors of Math“ erscheinen die sechs Mathematiker wie Fixsterne im All. Einzigartig, aber auch einsam. Entspricht das der Realität in der Forschung? Nein, sagt Ekaterina Eremenko. Gerade dreht sie einen neuen Film über Teamwork in der Mathematik. 



Überflieger Für den Einstein Visiting Fellow Bernd Sturmfels ist die Welt der Mathematik viel zu aufregend, um lange bei einem Problem zu verweilen. Wie ein Schmetterling flattere er oft von einem zum nächsten, sagt er. Doch seine Gedanken schreibt er für die Ewigkeit auf

In der Mathematik ist es so, dass man das meiste nicht versteht. Wenn ich heute in eine Bibliothek gehe und eine mathematische Fachzeitschrift oder ein Buch aufschlage, liegt die Chance bei 99 Prozent, dass ich nichts davon verstehe. Als junger Student hatte ich Protokoll Mirco Lomoth Foto Pablo Castagnola 21

„Es ist meine größte Schwäche und vielleicht auch eine Stärke, dass ich der ungeduldigste Mensch auf der Welt bin.“ bei Vorträgen oft das ungute Gefühl, ich sei der Einzige, der vieles nicht begreift. Ich dachte lange, es muss irgendwann auffliegen, dass ich eine Fehlbesetzung bin. Aber bis heute ist das nicht passiert. Mathematik ist nur einfach sehr spezifisch. In Berkeley sehen mich meine Kollegen als recht angewandt, aber sobald ich nach Berlin komme, denken alle, ich sei der Reinste der Reinen. Ich lebe im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen und versuche, interessante Probleme der Außenwelt in die Mathematik hineinzubringen,

etwa aus dem Ingenieurbereich. Mein Job ist es, die Mathematik weiterzuentwickeln, inspiriert durch Fragen, die von außen kommen. Unser Fach hat eine lange Tradition, in sich selbst hineinzuschauen und offene, tief greifende Probleme teils über hunderte von Jahren zu verfolgen. Wir hüten einen sehr großen Wissensschatz. Für viele Mathematiker gilt es als Tugend, sich in alte Probleme zu verbeißen und mit unendlich viel Geduld zu warten, bis irgendwann die tief liegende Lösung hervortritt. Das ist sehr wichtig, aber mein persönliches Interesse ist komplementär dazu. Es ist meine größte Schwäche und vielleicht auch eine Stärke, dass ich der ungeduldigste Mensch auf der Welt bin. Klar, irgendwann verbeiße ich mich auch mal, und das ist ja auch wichtig, um Fortschritte zu machen. Doch meist bleibe ich bei mehreren Themen gleichzeitig stecken und springe vom einen zum anderen – wie ein Schmetterling, der von einer schönen Blume zur anderen flattert und überall vom Nektar kosten will. Wenn ich an mathematische Probleme herangehe, rechne ich zuerst ein Beispiel aus und gewinne daraus erst später eine Theorie oder ein Theo­ rem. Ich sehe mich ein bisschen als experimenteller Mathematiker, wie ein Biologe, der mit einem Modellorganismus experimentiert. Eine meiner Stärken liegt darin, Modellorga-

nismen in der Mathematik zu finden, die reichhaltig und einfach zugleich sind. Daraus versuche ich einen Satz zu formulieren, ihn zu beweisen und dann so verständlich wie möglich aufzuschreiben. Dabei habe ich den Anspruch, für die Ewigkeit zu schreiben. Wenn ich zum Beispiel ein Problem aus der Computer Vision bearbeite, versuche ich es so zu formulieren, dass es für einen Leser in 50 Jahren immer noch Sinn macht – auch wenn es ihm dann um eine Technologie geht, die wir heute noch gar nicht kennen, hinter der aber dieselbe mathematische Frage steckt. Es ist wie in der Philosophie: Mathematik ist eine Vereinheitlichungsmaschine, die über Spezialgebiete und Zeiträume hinweg Verbindungen schafft. 

Bernd Sturmfels ist einer von drei neuen Einstein Visiting Fellows aus der Mathematik. Für die nächsten zwei Jahre leitet er ein Forschungsprojekt an der Technischen Universität Berlin zu nichtlinearen algebraischen Modellen. Sturmfels lehrt und forscht an der University of California, Berkeley, in den Bereichen algebraische Geometrie, algebraische Statistik, Kombinatorik und Computational Biology. „Das Einstein Fellowship gibt mir die Möglichkeit, als Forschungsgast regelmäßig nach Berlin zu kommen, ohne umziehen zu müssen.“


Text Kirsten Wenzel

Metropole der Zahlen Berlin lockt junge Menschen aus der ganzen Welt, auch viele Nachwuchsmathematiker. Eine besonders gut vernetzte Forschungslandschaft bietet ihnen beste Bedingungen fßr einen Senkrechtstart in die hÜheren Sphären der Mathematik

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In Berlin gibt es mehr Dönerläden als in Istanbul: 1.600 5.320 Studierende waren zuletzt in Berlin im 1. Studienfach Mathematik immatrikuliert Quellen Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, DIW-Econ Studie, Statistisches Bundesamt, Visit Berlin

Berlin verfügt über mehr Museen als Regentage: 175 30.908 Wissenschaftler und Künstler arbeiten an Berliner Hochschulen Berlin ist die Stadt mit den meisten Zootieren weltweit: fast 25.000 Exemplare – darunter auch Brillen­bären und Löffelhunde Als Wissenschaftsstandort für Gastforscher und Stipendiaten aus aller Welt ist Berlin bundesweit die Nummer 1 435 Menschen ziehen jeden Tag nach Berlin, die meisten in den Bezirk Mitte


Man könnte denken, man sei aus Versehen ins Jahr 1980 gereist: Wände aus grauem Sichtbeton, im Fahrstuhl blättert der Lack. Architektonisch befindet sich das Mathematikgebäude der Technischen Universität (TU) Berlin, ein mit Anbauten versehener Hochhausriegel aus getöntem Glas und Stahl, sicher nicht auf der Höhe der Zeit. Doch auch wenn äußerlich nicht viel darauf hindeutet, im Innern des Bürocontainers an der Straße des 17. Juni arbeiten einige der Besten ihres Faches. Im achten Stock hat der Mathematiker John Sullivan sein Büro, ein etwa 15 Quadratmeter großer, schmuckloser Raum in der Mitte

Mit dem Motto „we love real problems“ hat sich das Matheon als Berliner Vorzeigeprojekt viel Aufmerksamkeit in der Welt der Nichtmathematiker erobert. Mathematische Modellierung und Optimierung werden hier in den Dienst gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Herausforderungen gestellt, sei es zur Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs, der Gasversorgung oder der Flugverkehrslogistik. Seit 2014 die Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft für das Matheon ausgelaufen ist, bietet das von der Einstein Stiftung Berlin gegründete Einstein Center for Mathematics Berlin (ECMath) eine neue übergreifende Basis für exzellente mathematische Forschung in der Hauptstadt. „Das Matheon ist ein Erfolgsmodell, das bereits internationale Nachah-

eines langen Ganges. Der jungenhaft wirkende 52-Jährige hat an der Harvard University und der University of Cambridge studiert, an der Princeton University promoviert und unter anderem an der University of Illinois gelehrt, bevor er 2003 als Professor für mathematische Visualisierung an die TU gerufen wurde. Damals war Berlin längst nicht so international wie heute. „Dauerhaft nach Berlin zu gehen, das war für mich als Amerikaner schon ein großer Schritt“, sagt Sullivan. Inzwischen ist er mit einer Deutschen verheiratet, seine Kinder gehen in Zehlendorf auf die Internationale Schule Berlin. Auch in der Berliner Mathematik ist Sullivan mittlerweile fest verwurzelt: Seit seiner Berufung hat er wegweisende Projekte mitgestaltet, die zu einem Boom seines Faches in Berlin geführt haben. Etwa als Beiratsmitglied und Projektleiter des seit 2002 bestehenden Matheon, eines mathematischen Forschungszentrums für Schlüsseltechnologien, sowie bis 2014 als Sprecher des Graduiertenkollegs Berlin Mathematical School (BMS), an der besonders Begabte aus der ganzen Welt auf hohem Niveau zügig zur Promotion gelangen können.

mer gefunden hat. Intensive Kontakte und stabile Netzwerke sind dadurch in den letzten Jahren beispielsweise mit Frankreich, Chile, Australien, den Niederlanden, Kanada oder Polen entstanden. Dieses Modell werden wir in die Zukunft tragen und in den kommenden Jahren um weitere Themenfelder erweitern“, sagt Volker Mehrmann, Mathematikprofessor an der TU Berlin, Sprecher des Matheons und von ECMath. Das neue Einstein Center bildet eine Plattform nicht nur für das Matheon, sondern auch für die BMS und für das vor vier Jahren gegründete Deutsche Zentrum für Lehrerbildung Mathematik. Zugleich soll es den Austausch zwischen allen dreien verstärken. Insgesamt bis zu acht Millionen Euro stellt die Einstein Stiftung dafür bis 2017 zur Verfügung. „Wir wollen Projekte fördern, die Neuland betreten. Die Fördermittel kommen dabei dem Nachwuchs, aber auch den etablierten Forschern zugute“, sagt Volker Mehrmann. Ein wichtiger Grund für den Erfolg der Berliner Mathematik ist vor allem die außergewöhnlich große Vielfalt der mathematischen Institutionen in Berlin. „Drei exzellente Universitäten mit mehreren Sonderforschungsbereichen und Graduiertenkollegs, dazu das WeierstraßInstitut für Angewandte Analysis und Stochastik und das Konrad-Zuse-Zentrum für Informationstechnik, das sind schon bemerkenswert viele bedeutende Forschungseinrichtungen an einem Ort“ erklärt Sullivan,

Albert Metropole der Zahlen

Im Umfeld des Internationalen Mathematikerkongresses 1998 wurde ein Grundgedanke entwickelt: Berlin sollte mit exzellenter Forschung wieder an die Bedeutung anknüpfen, die es vor dem Zweiten Weltkrieg gehabt hatte. Seitdem ist viel passiert.

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der als Vorstandsmitglied auch am ECMath beteiligt ist. Wie erfolgreich diese eigenständigen Institutionen sich tatsächlich zu gemeinsamen Forschungsgruppen zusammenschließen konnten, beweist die beeindruckende Bilanz, 12 Jahre nach Gründung des Matheons: 147 Projekte, über 200 Forscher und 56 beteiligte Professoren kann das als Netzwerk strukturierte Forschungszentrum bis dato vorweisen. „Die Basis einer institutsübergreifenden Kooperation wurde bereits 1998 entwickelt, im Umfeld des Internatio­ nalen Mathematikerkongresses mit Martin Grötschel als Präsident des Organisationskomitees“, sagt Sullivan. Ein einschneidendes Ereignis: Zum ersten Mal überhaupt fand damals die weltweit bedeutendste Konferenz für Mathematik in Berlin statt. Der Grundgedanke, den die Berliner Mathematiker damals entwickelten: Berlin sollte mit exzellenter Forschung wieder an die Bedeutung anknüpfen, die es vor dem Zweiten Weltkrieg gehabt hatte. Seitdem ist viel passiert. Nicht nur, dass seit 2011 das ständige Büro der Internationalen Mathematischen Union IMU in Berlin seinen Sitz gefunden hat, angebunden an das Weierstraß-Institut am Hausvogteiplatz. Auch in Sachen Nachwuchs ist eine deutliche Internationalisierung der Berliner Mathematikwelt zu erkennen. „Die wichtigste Barriere, die dafür fallen musste, war die Sprachbarriere“, erinnert sich Sullivan an die Anfangsjahre der Graduiertenschule BMS, an der bis heute bereits mehr

auch weil Berlin als Stadt auf viele sehr anziehend wirkt.“ Viel schwieriger ist es bis heute, ein weiteres Ziel der BMS zu erreichen: die Geschlechterparität. Gerade mal 30 Prozent weibliche Studierende gibt es bisher an der BMS, und das, obwohl Spitzenmathematikerinnen wie Hélène Esnault und Gitta Kutyniok in Berlin wirken. Dennoch findet man sie natürlich, die besonders begabten jungen Mathematikerinnen. Ágnes Cseh zum Beispiel, Doktorandin in der Forschungsgruppe für mathematische Optimierung von Martin Skutella an der TU. Die 26-Jährige legte 2012 den besten Master ihres Jahrgangs in Mathematik ab. „Eigentlich wollte ich nie in so eine große Stadt wie Berlin“, erinnert sich die fließend deutsch sprechende Ungarin, die inzwischen Stipendiatin der Telekom Stiftung ist. „Ich komme vom Land, mir war eigentlich schon Budapest zu viel, zu dreckig, zu laut.“ Zum Glück sagte sie dennoch nicht nein, als sie zu den Kennenlerntagen der BMS eingeladen wurde. „Alle meine Professoren in Ungarn hatten mir zu Berlin geraten, und ich wusste, dass es ein bedeutendes Zentrum für Optimierung ist. Also habe ich mir die Stadt angesehen und gemerkt: Berlin ist zwar groß, aber keine

Die Zeit war reif für die sprachliche Öffnung. Auch für die meisten deutschen Studierenden an den mathematischen Fakultäten ist Englisch längst die akademische Arbeitssprache und Lingua franca im internationalen Schmelztiegel Berlin.

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als 100 Mathematiker promoviert haben. 50 Prozent internationale Doktoranden setzte man sich zum Ziel, die Kurse wurden von Anfang an ausschließlich auf Englisch abgehalten. Mittlerweile kommen die Doktoranden aus 50 verschiedenen Ländern, die Professoren neben Deutschland etwa auch aus Serbien, Frankreich, Russland, den USA, Spanien oder Ungarn. Die Zeit war reif für die sprachliche Öffnung. Auch für die meisten deutschen Studierenden an den mathematischen Fakultäten ist Englisch längst kein Hindernis mehr, sondern die akademische Arbeitssprache und Lingua franca für den internationalen Schmelztiegel Berlin. „Wir hatten sehr schnell zahlreiche ausgezeichnete Bewerbungen aus den unterschiedlichsten Ländern, sicher

Megastadt. Ich liebe die vielen verschiedenen Kieze, die es hier gibt. Hier kann jeder so ruhig oder verrückt leben, wie er möchte.“ Ihr mathematisches Thema passt wie ein Motto zu ihrem Berliner Lebensgefühl: „stabile matches“. „Es geht dabei um die mathematische Aufgabe, optimale Paarungen zu finden“, erklärt Cseh. Solche, mit denen möglichst viele glücklich werden, zum Beispiel in Zulassungssystemen, bei denen auf der einen Seite die Kriterien der Universitäten stehen und auf der anderen die Wünsche der Bewerber. Ob Berlin für sie so ein optimaler „match“ sei? Die hochgewachsene Frau in dem blauen Stretchkleid nickt ↘


In Berlin gibt es rund 900 Kneipen und 4.650 Restaurants, darunter 36 vegane Die Stadt zählt 4 Universitäten, 1 Universitätsklinikum, 7 Fachhochschulen und 30 private Hochschulen 494.400 Ausländer sind in der Stadt gemeldet, sie kommen aus 185 Nationen Berlin richtet 2016 den European Congress of Mathematics aus 44 Prozent des Stadtgebietes sind Grünflächen, zuletzt wurden 439.971 Bäume gezählt Mehr als 470 Unternehmen wurden in Berlin seit 2006 aus den Universitäten heraus gegründet

Quellen Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, DIW-Econ Studie, Statistisches Bundesamt, Visit Berlin, Zeit Magazin

171.263 Studierende waren Anfang 2015 an Berliner Hochschulen eingeschrieben, 29.623 davon kamen aus dem Ausland


Albert Metropole der Zahlen 27

entschieden. Warum? Zum Beispiel, weil auf ihre Rundmail, ob jemand zum Wochenendseminar nach Bad Belzig gemeinsam mit ihr per Fahrrad fahren möchte, gleich zwei berühmte Professoren einfach mit „na klar“ geantwortet haben. Das fand sie wunderbar entspannt. Und auch sonst sei es so einfach, Forschungskontakte zu den vielen anderen Mathematikern in der Stadt aufzubauen. „Das ist total wichtig“, sagt sie. „Man kann Mathematik zwar auch allein betreiben, aber das ist sehr uneffektiv. Für die Formulierung der Ausgangsfrage und die Diskussion darüber, wer sich für welche Anwendungen interessiert, ist Austausch unbedingt erforderlich.“ Auch Emre Sertöz, Nachwuchsmathematiker aus Ankara, musste die Qualitäten von Berlin erst für sich entdecken. Er hatte bereits ein Fulbright-Stipendium in der Tasche. „Etwas anderes als die USA konnte ich mir eigentlich gar nicht vorstellen“, erinnert sich der 25-Jährige. Dann kam auch bei ihm eine Einladung zu den Vorstellungstagen der BMS an und warf seine Pläne über den Haufen. Das war vor drei Jahren. Stundenlang streifte Emre durch eine Stadt, von der er bis dahin so gut wie nichts wusste. „Ich staunte über so viel fassbare Geschichte und die unaufgeregte Internationalität der Stadt. Dazu kam das, was ich über die mathematische Community rund um die BMS und über Gavril Farkas erfuhr, meinen Betreuer an der Humboldt-Universität. Es war so beeindruckend, dass ich sofort wusste: Ich will nach Berlin.“ Kurze Zeit später hatte er die Zusage der BMS in der Tasche. „Ich freue mich jedes Semester erneut über die unzähligen Seminarangebote an den drei Universitäten, aus denen ich wählen kann wie ein Kind aus den vielen bunten Gläsern im Süßigkeitenladen!“ Sertöz’ Gebiet ist die algebraische Geometrie, ein ziemlich abstraktes Feld. Doch auch für ihn als reinen Mathematiker gibt es in der großen Mathematikszene der Stadt viele gute „matches“ – Wissenschaftler, die genau verstehen, wovon er spricht. Auch Studienfreunde der BMS, die andere Spezialisierungen haben, tauschen sich begierig mit ihm aus, etwa wenn sie sich alle 14 Tage beim BMS -Friday in der Urania zum Gastvortrag internationaler Mathematiker mit anschließenden Häppchen und lockerem Zusammensein treffen. Manchmal, erzählt Sertöz, komme er erst Monate später über etwas ins Grübeln, was jemand bei diesen Treffen erwähnt hat. „Und dann kann ich es plötzlich für meine eigene Forschung gebrauchen.“ Mathematik, sagen manche, ist ein wenig wie Tanzen. Man wird besser, wenn man sie immer wieder in wechselnden Konstellationen praktiziert. Deswegen verlangt der akademische Weg von jungen Wissenschaftlern, dass sie früher oder später weiterziehen, ganz gleich, wie gut es auch an einem Ort funktionieren mag. Auch Sertöz geht

davon aus, nach der Doktorarbeit Berlin zu verlassen. Dennoch hat er sich fest vorgenommen, sein Deutsch aufzupolieren. „Das ist mir bisher schwergefallen, weil es wissenschaftlich immer viel zu tun gibt. Und da überall Englisch gesprochen wird, herrscht keinerlei Druck, die Sprache besser zu lernen.“ Das will er jetzt angehen, aus einem ziemlich sentimentalen Grund: „Ich kann mir vorstellen, in Berlin alt zu werden. Irgendwann einmal wieder hierher zurückzukommen, vielleicht als Professor, und dann in ein Haus in Dahlem oder Mitte zu ziehen, das wäre einfach perfekt.“ Am Konrad-Zuse-Zentrum für Informationstechnik in Dahlem arbeitet Fabio D’Andreagiovanni (33) als Senior Researcher. Seit kurzem leitet der Italiener ein ECM athProjekt zum Thema Datenunsicherheit und kabellose Telekommunikation. In Rom hat er erfolgreich belastbare mathematische Modelle für kabellose Kommunikationsnetze entwickelt und dafür einige Preise eingesammelt. Vor fünf Jahren wollte er unbedingt nach Berlin, weil ihn die Matheon-Idee und die einzigartige Mischung von Mathematik und Anwendung begeistert hat. D’Andreagiovanni forschte zuerst in einem Spin-off des Zuse-Instituts für Industrieberatung, wurde dann in eine Forschungsgruppe des Matheon geholt und hat jetzt wieder eine Stelle am Zuse-Institut. Seine Hoffnungen für das neue ECMath: „Eine noch engere Zusammenarbeit von Forschung und Industrie zum Vorteil aller.“ Er möchte bekannt machen, was mathematische Forschung wie die seine inzwischen bieten kann: „nicht mehr bloß Theorie, sondern empirisch am Computer getestete Lösungen für reale Probleme“. Wegen der guten Kooperationsmöglichkeiten in Berlin will er unbedingt bleiben, auch wenn es schon Angebote aus Italien, anderen europäischen Ländern und den USA gab. „Auch in Rom gibt es drei Universitäten mit großen mathematischen Fakultäten und Arbeitsgruppen für Optimierung. Aber wenn du in Berlin in einer Forschungsgruppe bist, lernst du garantiert auch die Leute von all den anderen Gruppen kennen, die sich für ähnliche  Themen interessieren.“


Mit Sicherheit unsicher Finanzmathematische Modelle können dazu beitragen, die nächste Krise zu verhindern. Die Mathematiker Peter Imkeller und Peter Bank beschäftigen sich in einem Einstein-Forschungsvorhaben mit Finanzmarkt-Risiken und Möglichkeiten der Absicherung


Herr Bank, was interessiert Sie als Mathematiker an den Finanzmärkten?

Auf den Finanzmärkten ist der Zufall unvermeidbar, geradezu gewollt. Ist es doch ihre Aufgabe, Risiken an diejenigen zu vermitteln, die diese tragen können und wollen, beispielsweise über den Handel mit Aktien von Unternehmen. Als Mathematiker kann ich dabei helfen, dass die Akteure beim Umgang mit diesen Risiken weniger Fehler machen. Das finde ich eine spannende Aufgabe. Gute Mathematik entsteht oft aus praktischen Anforderungen. B an K

Als jemand, der auf dem Land aufgewachsen ist, habe ich von Kind auf eine stärkere Intuition für Wolken, Wetter und Klima als für ökonomische Dinge. Aber dann bin ich in meiner Berliner Zeit auf Finanzmarktprobleme aufmerksam geworden. Die fand ich als mathematische Herausforderungen spannend.

Es geht in unserem Projekt „Game options and markets with frictions“ vor allem um zwei Aspekte: Wir wollen verstehen, wie Marktteilnehmer, die über unterschiedliche Informationen verfügen, miteinander handeln. Außerdem interessieren wir uns für Finanzmarktmodelle, bei denen Finanztransaktionen auch immer mit Kosten verbunden sind, wo also Reibungsverluste auftreten. Wie verhält sich beispielsweise ein Marktteilnehmer, wenn er den Marktpreis mit seinem Handeln aus seiner Sicht negativ beeinflusst, also beim Kauf höhere Preise zahlen muss, während beim Verkauf nur niedrigere Preise zu erzielen sind? Typischerweise ist dies der Fall, wenn es sich um einen kleinen Markt und einen großen Investor handelt. Mathematisch führt das zu Nichtlinearitäten. Das ist ein Augenblick, wo es schwierig, aber eben auch sehr interessant wird.

Wie kam es zu Ihrem gemeinsamen Einstein-

Mit Ihren Forschungen knüpfen Sie auch an

Forschungsprojekt „Game options and markets

das Black-Scholes-Modell an. Dafür gab es 1997

with frictions“ und worum geht es?

den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften.

Der Impuls dafür kam ursprünglich von Yuri Kifer, einem befreundeten israelischen Mathematiker von der Hebrew University, auf den das Konzept der „israelischen Optionen“ zurückgeht. Dabei handelt es sich um einen Finanzmarkt mit zwei Händlern, dem Käufer und dem Verkäufer. Der Vertrag, den sie schließen, berech-

B ank

Wie kamen Sie zur Finanzmathematik, Herr Imkeller? I mke l l er

Interview Caspar Dohmen Fotos Florian Büttner

I mke l l er

„Wenn in der Finanzindustrie mehr Leute mit einer profunden und kritischen Ausbildung in Mathematik sitzen, sollte das helfen, die nächste Krise etwas unwahrscheinlicher zu machen.“ Peter Bank

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auflösen. Man fragt sich dann beispielsweise: Gibt es ein Nashsches Gleichgewicht, also eine optimale Auswahl der beiden Ausübungszeitpunkte, bei der keiner der beiden Händler durch Abänderung des von ihm gewählten Zeitpunkts seinen Gewinn noch erhöhen kann?

tigt etwa den Käufer, seine Option auf den Kauf einer bestimmten Menge von Aktien zu einem vorher fest vereinbarten Preis zu einem von ihm gewählten Zeitpunkt auszuüben. Der Verkäufer kann gegen Zahlung einer Strafe zu einem von ihm gewählten Zeitpunkt den Vertrag

B ank

Zu recht. Auf Finanzmärkten wollen Leute ja grundsätzlich Risiken verkaufen oder sich dagegen absichern. Fischer Black und Myron Scholes haben für häufig und generisch auftretende Situationen eine neue Theorie des Finanzrisikomanagements entwickelt. Sie erlaubt Finanzmarktteilnehmern eine Absicherung eines Risikos durch eine geschickte Wahl einer Reihe ganz anderer Geschäfte. Myron Scholes war aber auch im Direktorium des Hedgefonds Long-Term Capital Management, der 1998 wegen massiver Fehlspekulationen zusammenbrach und eine Krise an den Finanzmärkten verursachte. Hatte er sich verrechnet?

Auslöser war eine schwere Schuldenkrise in Russland. Deren Folgewirkungen hatte der Hedgefonds nicht vorhergesehen. Das hatte aber wohl weniger etwas mit der eigentlichen mathematischen Theorie als vielmehr mit der Strategie des Hedgefonds zu tun. B ank

Auf dem Finanzmarkt spielen Computer eine immer größere Rolle, oft handeln sie untereinander. Die Programme basieren auf finanzmathematischen Modellen. Verstehen Banker Ihrer Meinung nach die Risiken dieser Programme? ↘


Wo verläuft die Grenze?

Alle mathematischen Modelle gelten in den Grenzen ihrer charakteristischen Annahmen, die von Fall zu Fall variieren. Das ist eine besondere Schwierigkeit: „die“ Grenze gibt es gar nicht. Viele Modelle gehen beispielsweise davon aus, dass alle Händler unabhängig voneinander handeln. Kommt es in der Praxis aber zu Herdenverhalten unter den Händlern, fahren diese Modelle vor die Wand. I mke l l er

Trifft Mathematiker eine Mitschuld an der Finanzkrise?

Ich spreche lieber von einem Missbrauch von Mathematik, der da betrieben worden ist. Man kann bei Michael Lewis in seinem Buch „The Big Short“ lesen, wie wenig diese Vorgänge mit Mathematik zu tun hatten. Schließlich ging es anfangs ja darum, wie es dazu kommen konnte, dass Millionen Amerikaner mit schlechter Bonität großzügige Kredite zum Kauf von Immobilien gewährt wurden. Trotzdem haben wir unter Wissenschaftlern heiß über die Folgen der Finanzkrise für uns diskutiert. B ank

Peter Imkeller ← und Peter Bank entwickeln neue Finanzmarktmodelle für bessere Absicherungsstrategien in unsicheren Märkten. Bei ihrem Einstein-Forschungsvorhaben „Game options and markets with frictions“ kooperieren sie mit Yuri Kifer und Yan Dolinsky von der Hebrew University of Jerusalem in Israel. Peter Bank → ist Professor für Mathematik an der Technischen Universität Berlin. Er forscht zu Problemen der Stochastischen Analysis und Optimierung in finanzökonomischen Fragestellungen. Für Peter Imkeller liegt ein weiterer Schwerpunkt seiner Forschung auf der Untersuchung dynamischer Systeme unter vom Zufall abhängigen Störungen – beispielsweise bei Modellen zur Dynamik des Erdklimas. Er ist Professor für Mathematik an der HumboldtUniversität zu Berlin. Albert Mit Sicherheit unsicher

Ach, wissen Sie, ich bin der Einzige in der Familie, der beruflich nichts mit Banken zu tun hat. Mein Vater war Banker. Zwei meiner Brüder sind Banker, einer in New York bei der Filiale einer deutschen Bank. Er ist Praktiker und hat mit der Mathematik wenig Berührung. Wir sind uns sehr nah, machen im Sommer oft mehrwöchige Radtouren und sprechen auch über Berufliches. Trotzdem habe ich es in 25 Jahren nicht geschafft, ihm klarzumachen, wo der Geltungsbereich eines mathematischen Modells endet. Wann also in welchen Szenarien die Anwendung sinnlos wird. Und dabei geht es noch nicht einmal um Computerprogramme. I mke l l er

„Kommt es in der Praxis zu Herdenverhalten unter den Händlern, fahren viele finanzmathematische Modelle vor die Wand.“ Peter Imkeller Mit welchem Ergebnis?

Manche Kollegen sagen, wir dürfen keine Mathematik für die Finanzmärkte mehr machen, weil die Ergebnisse missbraucht werden könnten. Andere, wie ich, ↘ B ank

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sagen, wir müssen es halt besser machen. Wenn eine Brücke einstürzt, ist das schlimm. Man kann aber deswegen doch nicht auf den Bau von Brücken verzichten, sondern muss sie eben besser konstruieren.

Träumen sie manchmal davon, ein tolles Modell zu entwickeln, um mit einer Anlagegesellschaft viel Geld zu verdienen?

Nein. Die Mathematik hilft einem ja auch nicht, Anlagestrategien zu entwickeln, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass man sagen könnte: Das ist genau die richtige Anlage. Natürlich hoffe ich, dass Leute unser Wissen anwenden und sehen, ist doch schick, funktioniert. B ank

Gefahren von den üblichen Modellen gewarnt haben?

Ja. Nehmen Sie Paul Embrechts, einen Kollegen aus Zürich. Der warnte sechs, sieben Jahre, bevor die Blasen platzten. Und er war damals bereits ein sehr anerkannter Forscher. Allerdings ist es selbst für einen auch praktisch so ausgewiesenen Experten wie Embrechts schwer, sich mit Warnungen durchzusetzen, wenn zugleich scheinbar üppige Gewinne erzielt werden. B ank

„Meinen Studenten sage ich immer, sie sollen privat unbedingt die Finger von komplexen Finanzprodukten lassen.“ Peter Bank

Setzen Sie bei Ihrer persönlichen Geldanlage auf mathematische Modelle?

Dafür habe ich gar kein Geld. Bei mir ist es einfach: Ich habe ein Haus gekauft und muss jetzt den Kredit abbezahlen. B ank

Auch ich habe ein Haus in Berlin und eine Wohnung in München. Das reicht mir. I mke l l er

Meinen Studenten sage ich immer, Sie sollen privat unbedingt die Finger von komplexen Finanzprodukten lassen. B ank

Könnten Mathematiker auch dabei helfen, die FinanzHaben Sie aus der Finanzkrise etwas gelernt?

märkte fairer zu machen?

Die Quintessenz ist sicher: Viele haben sich zu sehr auf einfache mathematische Modelle verlassen und häufig nur auf ein einziges. Das war naiv und fahrlässig. Hätte man mehrere Modelle gleichzeitig genutzt, hätte man deren jeweiligen Schwächen besser ausgleichen und bestimmte Risiken erkennen können. Aber eines ist auch klar: Die Mathematik hat die Krise nicht verursacht, sie wird sie aber auch nicht alleine lösen.

I mke l l er

B ank

Mit Sicherheit. Man kann beispielsweise in mathematischen Modellen die Gefahren des Hochgeschwindigkeitshandels, seiner Möglichkeiten risikofreier Gewinne, klar herausarbeiten. Man kann Marktmodelle entwerfen, in denen der ökonomische Sachverstand der Händler und nicht die Schnelligkeit der Kauforders über den Erfolg entscheidet. Damit könnte man mehr Fairness auf Finanzmärkten schaffen. 

Albert Mit Sicherheit unsicher

Gab es Mathematiker, die vor der Krise vor den

Stellen Banken seit der Krise mehr Mathematiker ein?

Viele unserer Absolventen gehen nach wie vor dorthin. Das ist ein gutes Zeichen. Wenn in der Finanzindustrie mehr Leute mit einer profunden und kritischen Ausbildung in Mathematik sitzen, sollte es helfen, die nächste Krise etwas unwahrscheinlicher zu machen. B ank

Ein Restrisiko an den Finanzmärkten bleibt?

Sicher, aber das ist ja auch in Ordnung. Die Aufgabe der Banken in der Wirtschaft ist es ja, Risiken einzugehen. Sie sollten halt nur verstehen, was sie eigentlich an Risiken in ihrer Bilanz halten und wie zuverlässig sie diese absichern. B ank

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Mathe = ein zusätzlicher Sinn 1 eine Philosophie 2 Analyse abstrakter Muster 3 eleganteste Sprache 4 beweisbare Erkenntnis 5 ➊ Mathematik ist für mich, einen zusätzlichen Sinn zu entwickeln, den ich benutzen kann, um tief in die Natur hineinzuschauen. Emre Sertöz ➋ Mathematik ist für mich eine Philosophie, die meinen Geist geöffnet hat. Und die mir dabei hilft, Lösungen für echte Probleme in der Welt zu finden. Fabio D’Andreagiovanni ➌ Mathematik ist für mich die Untersuchung abstrakter Muster. John Sullivan ➍ Mathematik ist die eleganteste, effizienteste und ästhetischste Sprache, um Zusammenhänge in den Natur- und Gesellschaftswissenschaften zu formulieren. Peter Imkeller ➎ Mathematik ist für mich beweisbarer Erkenntnisgewinn – in welcher anderen Disziplin 33

hat man schon ein solches Privileg? Peter Bank


Text Maria Rossbauer

Die einzige perfekte Methode

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Albert Einstein lebte fast 20 Jahre in Berlin und vollendete hier die Allgemeine Relativitätstheorie. Maria Rossbauer befragte den 1955 verstorbenen Physiker über seine Berliner Zeit, die Qualen der Mathematik und die Kehrseite des Ruhms – und fand die Antworten in überlieferten Zitaten

Herr Einstein, Ihrer späteren Ehefrau Elsa schrieben Sie einmal in einem Brief, die Berliner hätten einen Mangel an Gediegenheit. Was meinen Sie damit? Wenn diese

Leute mit Franzosen und Engländern zusammen sind, welcher Unterschied! Wie roh und primitiv sind sie. Eitelkeit ohne echtes Selbstgefühl. Schön geputzte Zähne, elegante Krawatte, geschniegelter Schnauz, tadelloser Anzug – aber keine persönliche Kultur.

ein Licht auf. Dieser einfache Gedanke beeindruckte mich nachhaltig. Die Begeisterung, die ich da empfand, trieb mich dann zur Gravitationstheorie. Um die Allgemeine Relativitätstheorie zu formulieren, mussten Sie sich viel höhere Mathematik beibringen. Hatten Sie dieses Fach nicht zuvor als „überflüssige Gelehrsamkeit“ bezeichnet? Mathematik ist die einzige

perfekte Methode, sich selber an der Nase herumzuführen. Und was ist mit Berlin als Weltstadt? Partys, Kino, Musik, viele Menschen – gefiel Ihnen das nicht? Geschäf-

Bekamen Sie nicht auch Unterstützung von Mathema-

tigkeit, Oberflächlichkeit und Ablenkung großstädtischen Lebens sind der Tiefe wissenschaftlichen Denkens abträglich.

tikern? Seit Mathematiker sich der Relativitätstheorie

bemächtigten, verstehe ich sie selbst nicht mehr. Das können sicher viele Menschen nachvollziehen, ich

Trotzdem lebten Sie gut 20 Jahre in Berlin. Konnten

war in Mathe auch nie eine Leuchte. Mach dir keine Sor-

Sie sich in der Zeit wenigstens etwas mit den Berlinern

gen wegen deiner Schwierigkeiten mit der Mathematik; ich kann dir versichern, dass meine noch größer sind.

anfreunden? Ich verstehe jetzt die Selbstzufriedenheit

des Berliners. Man erlebt so viel von außen, dass man die eigene Hohlheit nicht so schroff zu fühlen bekommt wie auf einem stilleren Plätzchen.

Dann war die Zeit bestimmt kein Spaß für Sie. Das eine

vermisst? Berlin ist die Stätte, mit der ich durch mensch-

ist sicher, dass ich mich im Leben noch nicht annähernd so geplagt habe und dass ich große Hochachtung für die Mathematik eingeflößt bekommen habe, die ich bis jetzt in ihren subtilen Teilen in meiner Einfalt für puren Luxus sah.

liche und wissenschaftliche Beziehungen am meisten verwachsen bin.

Die Qual, sich in Mathematik einzuarbeiten, hat sich aber

Haben Sie die Stadt in Ihrer Zeit in Princeton nicht auch

gelohnt: Mit der Allgemeinen Relativitätstheorie wurSie hatten hier mit Max Planck, Walther Nernst und

den Sie weltberühmt. Haben Sie den Ruhm genossen?

Fritz Haber das ideale Umfeld, um sich wissenschaftlich Theorie vollendet, die Allgemeine Relativitätstheorie …

Ich musste mich herumzeigen lassen wie ein prämierter Ochse, unzählige Male in großen und kleinen Versammlungen reden.

Dies Ziel erreicht zu haben, ist die höchste Befriedung meines Lebens.

Was ist denn so schlimm daran, dass die Leute Ihnen

auszutauschen. Und in Berlin haben Sie Ihre wichtigste

die Ehre erweisen wollen? Ich werde mit der BerühmtWie sind Sie überhaupt darauf gekommen? Ich saß auf

meinem Stuhl im Patentamt in Bern. Plötzlich hatte ich einen Einfall: Wenn sich eine Person im freien Fall befindet, wird sie ihr eigenes Gewicht nicht spüren. Mir ging

heit immer dümmer, was ja eine ganz gewöhnliche Erscheinung ist. Reporter fragen Sie ständig nach Ihrer Meinung und haben eine Unmenge an Weisheiten von Ihnen im Umlauf gebracht. Nervt Sie das? Wie bei dem Mann im Mär-

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↖ Wozu Socken? Albert Einstein im September 1939 in der Nähe seines Sommerhauses auf Long Island bei New York – nachdem er Berlin und Deutschland für immer verlassen hatte. Neben ihm sitzt der Ladenbesitzer David Rothman, der ihm die weißen Damensandalen verkauft hat, die Einstein einen Sommer lang getragen haben soll.

chen alles zu Gold wurde, was er berührte, so wird bei mir alles zum Zeitungsgeschrei. Früher dachte ich nicht daran, dass jedes spontan geäußerte Wort aufgegriffen und fixiert werden könne. Sonst hätte ich mich mehr ins  Schneckenhaus verkrochen.


Die Planetensammlerin Karin Eichentopf (57), Abteilungsleiterin am Institut für Planetenforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt e. V. am Standort Berlin-Adlershof, Studium der Mathematische Methoden und Datenverarbeitung in der Wirtschaft an der Hochschule für Ökonomie Berlin-Karlshorst. Zahlen

Wo rechnen sie denn? Ohne Mathematiker würden etliche Bereiche unseres Lebens nicht so funktionieren, wie sie es heute tun – das Fachwissen wird in vielen Branchen dringend benötigt. Wir haben fünf Berliner Mathematiker befragt, warum das so ist

haben mich schon früh fasziniert, ich habe als Schülerin begeistert an Mathematik-Olympiaden teilgenommen und dann Mathematische Methoden und Datenverarbeitung studiert. Nach der Wende bin ich zum Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt gegangen. Wir entwickeln Instrumente für Raumsonden der ESA und NASA, um zu verstehen, wie das Sonnensystem sich entwickelt hat und ob auch andere Planeten habitabel, also lebensfreundlich sein könnten. Ich habe die Software mitentwickelt, mit der unsere Rechencluster die riesigen Datenmengen der Kamerasysteme auswerten und archivieren – etwa die von der „Mars Express“-Mission der ESA oder der „Cassini“-Mission der NASA zum Saturn. Eine der Kameras auf dem Lander Philae der ESA-Kometenmission Rosetta stammt ebenfalls von uns. Bevor wir eine Kamera auf Mission schicken, kalibrieren wir die Instrumente. Das heißt, wir messen im Labor bestimmte Bilder und Spektren. Dann prüfen wir, wie sie von den Instrumenten dargestellt werden und wie die Instrumente auf Einflüsse wie elektromagnetische Strahlung reagieren. Wenn die Sonden dann ihre Daten aus dem All schicken, wissen wir, wie wir sie mathematisch korrigieren müssen.

Der Verbindungsmann Christian Liebchen (41), Leiter Projekte im Bereich Produktion bei der S-Bahn Berlin GmbH in Berlin-Mitte, Studium der Wirtschaftsmathematik an der Technischen Universität Berlin. Verkehrsnetze haben mich schon im-

mer begeistert. Schon als Kind kannte ich mich im Berliner U-Bahnnetz sehr gut aus und habe später meine Diplom- und auch meine Doktorarbeit darüber geschrieben, wie sich die Fahrpläne von BVG und S-Bahn durch mathematische Methoden verbessern und verzahnen lassen. Die Disziplin dahinter heißt ganzzahlige Optimierung. Beispielsweise können auf einer U-Bahnlinie ja nur ganze Fahrzeuge unterwegs sein, also genau 5 oder genau 6 – aber nicht 5,4 oder 5,8. Für Fahrpläne stellen sich außer-

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dem ganz praktische Fragen: Wo sich allein zwei Linien kreuzen, bestehen bereits acht Umsteigebeziehungen. Wie lange müssen Züge also an diesen Knotenpunkten halten, damit die einen schnell umsteigen können, die anderen aber nicht zu lange warten müssen? Wie viele Fahrzeuge und Fahrer muss man pro Linie vorhalten? Wo nutzen mehrere Linien dasselbe Gleis? All diese Fragen machen uns Mathematikern zwar das Leben schwerer, aber nur wenn wir sie berücksichtigen, können unsere Lösungen von praktischem Wert sein und Fahrpläne verbessern.

Der Geheimniskrämer Carl Stephan* (58), Kryptologe beim Bundesnachrichtendienst in Berlin-Lichterfelde. An der Uni habe ich mich unter ande-

Protokoll Daniel Kastner

rem mit Algebra, Gruppentheorie und Kombinatorik beschäftigt, also mit Gleichungen und Symmetrien. Das alles wende ich auch heute an, wenn ich Verschlüsselungsmethoden für die Kommunikation des Bundesnachrichtendienstes mit seinen Informanten entwickle. Wir prüfen einerseits Geräte und Programme, die man regulär kaufen kann, andererseits schreiben wir auch selbst Software. Wenn mir jemand in einer E-Mail vertrauliche Informationen schicken will, funktioniert eine gängige Verschlüsselungsmethode – stark vereinfacht – so: Man multipliziert zwei möglichst große Primzahlen miteinander, potenziert die Nachricht mit einem vorgegebenen Exponenten und bildet den Rest beim Teilen durch das Produkt der beiden Primzahlen. Ich entschlüssele das dann mit einem anderen Exponenten. Wir Kryptologen gelten innerhalb des BND sicher als Exoten, auch weil wir etwas abgeschieden von anderen Abteilungen arbeiten. Wir entwickeln aber manchmal auch zusammen mit Informatikern und Ingenieuren eine Hardware, die die Kollegen dann zum Beispiel für die Verschlüsselung der Gespräche in ein Mobiltelefon einbauen. *Name geändert

Die Einheizerin Simone Besendörfer (29), Risikomanagement-Analystin beim Energieversorgungsunternehmen GASAG in Berlin-Mitte, Studium der Mathematik an der Universität Potsdam. Ich war

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schon immer die Frau mit den Zahlen – in der Schule und auch jetzt in meinem Job. Dort schaue ich mir beispielsweise an, wie und warum der Gaspreis in der Ver-

gangenheit geschwankt hat, und errechne daraus Szenarien, wie er in Zukunft schwanken könnte. Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung also. Ein wichtiger Faktor ist zum Beispiel das Wetter – wenn es plötzlich sehr kalt wird, heizen die Leute mehr. Dann steigt die Nachfrage und damit tendenziell auch der Preis. Meine Szenarien helfen den Kolle­ gen, die Gas auf dem Rohstoffmarkt ein­ kaufen und an den Kunden weiterverkau­ fen. Die wollen wissen, welche Risiken jeweils damit verbunden sind, wenn sie den Kunden bestimmte Angebote machen und zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Menge Gas kaufen. Um Wahrscheinlichkeitsrechnung ging es schon in meiner Diplomarbeit: Ich habe ermittelt, wie schnell man im Durchschnitt alle Fußball-WM-Bilder für sein Sammelalbum zusammenbekommt – also auch, wie viele Sechserpacks und wie viele Einzelkarten man kaufen müsste, um Geld zu sparen und wie viele Päckchen man spart, wenn man mit wie vielen Leuten tauschen kann.

Der Spiele -Theoretiker Sadegh Jokar (36), Data Scientist beim Online-Spieleanbieter „Gameduell“ in Berlin-Mitte, Promotion am Institut für Mathematik an der Technischen Universität Berlin, Studium der angewandten Mathematik an der Sharif University of Technology, Iran. Mein Spezialgebiet sind Approximationen

und Dimensionsreduktion. Manche Zahlen, Vektoren oder Funktionen lassen sich nicht exakt berechnen, weil sie unbekannt oder sehr komplex sind. Darüber habe ich promoviert. Während meiner Forschungstätigkeit stieß ich auf eine Stellenanzeige: „Gameduell“ suchte einen Senior Data Architect – das Stellenprofil war erstaunlich nah an meiner wissenschaftlichen Arbeit. Die Nutzer spielen dort täglich Millionen von Spielrunden und erzeugen dabei riesige Datenmengen. Je nach Fragestellung, die wir uns im BigData-Team überlegen, fassen wir die Daten zu Clustern zusammen und reduzieren so ihre Komplexität. Unsere Erkenntnisse helfen der Firma, ihre Spiele zu verbessern und die Nutzer vor Betrügern zu schützen. Unser Team arbeitet ein bisschen abseits von den anderen. Deshalb denken manche Kollegen, dass wir in einer anderen Dimension leben. Das stimmt natürlich nicht: Ich schätze zwar das tägliche Brainstorming mit den anderen Datenanalytikern. Aber wir tauschen uns auch regelmäßig mit den Produkt-Teams und dem Management aus.

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Fotos Heinrich Holtgreve Interview Mirco Lomoth

Exabyte Die neue mathematische Methode des Compressed Sensing ermĂśglicht es, Daten bereits in komprimierter Form zu erfassen. EinsteinProfessorin Gitta Kutyniok Ăźber ein neues Forschungsfeld, das im Berliner Mathematik-Kosmos einen festen Platz gefunden hat

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„Compressed Sensing hat einen Durchbruch bei der Datenerfassung ermöglicht.“ Gitta Kutyniok

Big Data ist ein Ort: Der Fotograf Heinrich Holtgreve hat sich auf die Suche nach dem Internet gemacht und es in Untersee-Datenkabeln, verstaubten EthernetBuchsen und ägyptischen Telefonkästen gefunden.

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Was leistet das neue Forschungsfeld Compressed Sensing für die digitale Gesellschaft?

Albert Exabyte 41

Compressed Sensing hat bereits heute eine zentrale Stellung in der Datenverarbeitung. Es werden immer größere Datenmengen produziert, und Studien zeigen, dass die Summe aller digitalen Daten bis zum Jahr 2020 auf mehr als 40.000 Exabyte anwachsen wird – wobei ein Exabyte rund einer Milliarde Gigabyte entspricht! Man kann sich durchaus fragen, ob diese Daten wirklich alle gesammelt werden müssen. Albert Einstein sagte ja einmal: „Nicht alles, was man zählen kann, muss man auch zählen.“ Das beinhaltet eine der zentralen Aussagen heutiger Datenverarbeitung: Der Informationsgehalt ist fast immer geringer, als es die Größe impliziert. Compressed Sensing ist eine neuartige mathematische Methode, die es uns ermöglicht, Daten in einem Schritt zu erfassen und zu komprimieren. Man erfasst also nur den Informationsgehalt, und die aufgenommene Datenmenge wird deutlich reduziert.

effizienter Algorithmen vollständig zu rekonstruieren. Das heißt, man verliert keinerlei Information bei der Datenerfassung. So kann zum Beispiel die Zeit verringert werden, die Patienten in einem Magnetresonanztomografen zubringen müssen?

Ja, die notwendige Zeit der Datenerfassung von Magnetresonanztomografen lässt sich mit Compressed Sensing auf mindestens ein Sechstel verringern. In Stanford stehen schon Geräte, die das leisten, aber aufgrund klinischer Studien wird es noch Jahre dauern, bis der Fortschritt in der Praxis angekommen ist. Sehr vereinfacht könnte man sagen, dass ein Magnetresonanztomograf Punktmessungen an einem mathematisch transformierten Bild des Körpers vornimmt, aus denen sich das Gesamtbild rekonstruiert lässt. Wir sind daran inte­ressiert, noch deutlich weniger Punktmessungen zu verwenden, damit Patienten für noch kürzere Zeit im MRT liegen müssen oder bei gleicher Zeit die Auflösung signifikant erhöht werden kann.

Auf den ersten Blick erscheint es unmöglich, nur den wichtigen Informationsgehalt

Wie lassen sich die Punktmessungen verrin-

herauszulesen …

gern, ohne dass Qualität verloren geht?

Lange Zeit dachte man auch, das sei unmöglich. Basierend auf der Grundidee, dass der Informationsgehalt fast immer deutlich kleiner als die Größe der Daten ist, hat Compressed Sensing dann aber einen Durchbruch bei der Datenerfassung ermöglicht. Die Methodik wurde 2006 von zwei Forschergruppen parallel entwickelt, von David Donoho an der Stanford University und den drei Forschern Emmanuel Candès, Justin Romberg und Terence Tao, die damals am California Institute of Technology und an der University of California Los Angeles tätig waren. Viele Mathematiker haben danach das Potenzial erkannt und gemeinsam die Kerntheorie erarbeitet. Seither hat sich Compressed Sensing rasant zu einem zentralen Forschungsgebiet in der angewandten Mathematik entwickelt. Die Methoden erlauben erstaunlicherweise, dass bei ausreichend geringem Informationsgehalt und linearen Messungen extrem wenige Messpunkte genügen, um die Daten mittels

Für die Bildrekonstruktion benötigt man ein Bausteinsystem, das die Daten effizient darstellt. Bisher wurden hierfür immer nicht richtungsbezogene Wavelets verwendet, zum Beispiel beim Kompressionsstandard JPEG 2000. Diese Wavelets sind grob gesprochen eine Menge von stark lokalisierten Bildern, die durch Überlagerungen die Darstellung von Punktstrukturen sehr effizient ermöglichen. Gemeinsam mit Kooperationspartnern an der Charité in Berlin verwenden wir jetzt sogenannte Shearlets, die Kantenstrukturen viel besser erfassen. Bilddaten sind durch Kanten geprägt, auch weil das menschliche Auge und der zugehörige Bereich des Gehirns sehr stark darauf trainiert sind, Kanten zu erkennen. Unsere Shearlets können ein Bild daher viel effizienter darstellen – wir benötigen viel weniger Shearlets, als wir Wavelets bräuchten. Welche Probleme können Shearlets noch effektiv lösen? ↘




Was fasziniert Sie persönlich am Compressed Sensing?

Die derzeitigen Ergebnisse und das Potenzial an sich sind schon faszinierend genug. Darüber hinaus bietet das Forschungsgebiet eine außerordentliche methodische Vielfalt mit Einflüssen aus verschiedensten Teilgebieten der Mathematik, darunter angewandte harmonische Analysis, Frame-Theorie, numerische lineare Algebra, Optimierung und die Theorie der Zufallsmatrizen. Auf der anderen Seite lebt es Interdiszi­plinarität. Es gibt derzeit ein wachsendes Interes­se aus verschiedensten Anwendungsbereichen, zum Beispiel aus der Medizin, Radartechnik, Seismologie oder Telekommunikation. Das ist für mich die schönste Art der Mathematik: eine fundamentale Methodik zu entwickeln, die für einen ganzen Kanon von Anwendungen nützlich und mit schwierigen mathematischen Aufgabenstellungen verbunden ist, deren Lösung die Mathematik auch selber voranbringt. All das trifft auf Compressed Sensing zu, es ist ein Glücksfall für die Mathematik. Ist Ihre Forschung nicht auch für Geheimdienste oder kommerzielle Datenkraken attraktiv?

Ich denke, wir müssen mit offenen Augen und Ohren forschen. Wenn es so kommen würde, dass unsere Forschung für negative Machenschaften genutzt werden soll, müssten wir Grenzen ziehen. Aber im Moment sind die Anwendungen alle sehr positiv und tragen eher zur Datensicherheit bei. Dass Konzerne wie Google Ideen von Mathematikern nutzen oder weiterentwickeln, um Informationen über Personen zu sammeln, lässt sich kaum verhindern. Aber bei eigenen Kooperationen hat man durchaus Einfluss, wie die Forschungsergebnisse verwendet werden.

Wie haben Sie Compressed Sensing für sich entdeckt?

Nach meiner Habilitation an der Justus-LiebigUniversität Gießen habe ich mit einem Heisenberg-Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft lange Zeit in den USA verbracht – an den Universitäten Princeton, Stanford und Yale. An die Stanford University hat mich einer der Erfinder von Compressed Sensing eingeladen, David Donoho. Mit ihm zusammen habe ich eine Methode entwickelt und analysiert, um komplexe Strukturen in Bilddaten durch Compressed Sensing zu trennen. In Deutschland ist das Forschungsgebiet leider noch immer nicht sehr verbreitet, neben der Technischen Universität Berlin gibt es erste Professuren zum Beispiel an der RheinischWestfälischen Technischen Hochschule Aachen, an der Jacobs University Bremen, an der Universität Göttingen und an der Technischen Universität München. Eines meiner Ziele ist es, in Deutschland viel mehr Leute für Compressed Sensing zu begeistern.

stehen?

Albert Exabyte

Zum Beispiel die Rekonstruktion von Bildern, bei denen Bereiche fehlen – etwa weil sie zerkratzt sind oder übermalt wurden. Durch globale Annahmen über das ursprüngliche Bild werden Bedingungen an die Shearlet-Zerlegung formuliert und wenn diese Annahmen zutreffen, kann man die fehlenden Stellen vollständig rekonstruieren.

Ja, es tut sich hier im Moment sehr viel. 2013 haben wir an der Technischen Universität Berlin eine erfolgreiche Konferenz zu Anwendungsgebieten von Compressed Sensing durchgeführt, die jetzt im Dezember wieder stattfinden wird. Im April 2014 wurde das interdisziplinäre Schwerpunktprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Compressed Sensing“ bewilligt, das ich mit Rudolf Mathar von der RWTH beantragt hatte und das wir gemeinsam koordinieren. Und im November 2014 wurde die neue internationale Graduiertenschule BIMoS an der TU Berlin eröffnet, bei der es um modell- und simulationsbasierte Forschung geht und Big Data und Compressed Sensing eine wichtige Rolle spielen werden. Zudem sind mehrere Drittmittelprojekte angelaufen, darunter ein sehr spannendes Projekt mit Christoph Schütte und Tim Conrad von der FU Berlin zu Diagnosemethoden für Krebserkrankungen, das vom Einstein-Zentrum für Mathematik finanziert wird (siehe dazu „Gesunde Zahlen“ ab Seite 58). ↘

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Und Berlin soll dabei im Zentrum



Compressed Sensing kann dabei helfen,

Welche theoretischen Grenzen reizen Sie?

Wir wollen eine zuverlässige Diagnosemethode für verschiedene Krebsarten entwickeln, die Patienten möglichst wenig belastet. Es reichen ein paar Blutstropfen, die dann in einem Massenspektrometer auf die darin vorhandenen Proteine – in diesem Zusammenhang auch Proteome genannt – analysiert werden. Wir sind an sogenannten „disease fingerprints“ in diesen Proteo­ mics-Daten interessiert, also den Fingerabdrücken der Erkrankungen. Mittels Compressed Sensing wollen wir sie aus möglichst wenigen Proteomen erkennen. Ein Problem dabei ist, dass die Daten massiv hochdimensional und extrem verrauscht sind. Das stellt zahlreiche neue Herausforderungen an Compressed Sensing. Und worum geht es bei dem neuen DFGSchwerpunktprogramm?

Das Schwerpunktprogramm ist in der Elek­ trotechnik beheimatet, aber sehr mathematisch ausgerichtet, was durch das Koordinatorenteam aus einem Elektrotechniker und mir als Mathematikerin unterstrichen wird. Es berührt eine Vielzahl spannender und hochaktueller Anwendungsgebiete, zum Beispiel die effiziente Gestaltung von Mobilfunknetzen oder effiziente Sensornetzwerke zur verteilten Temperaturmessung im Bereich der Meteorologie. Ich hoffe, dass Compressed Sensing hier an der TU und an den anderen Berliner Universitäten und Forschungsinstituten dadurch noch viel stärker als bisher in die Anwendung getragen werden kann.

Eine wichtige offene Frage ist die nach einer analogen Theorie des Compressed Sensing, bisher ist die Kerntheorie fast rein digital. Signale, die in der Natur auftreten, sind allerdings immer analog und daher stellt sich die Frage, ob man die Theorie nicht auch für analoge Signale entwickeln kann – etwa für Audiosignale oder Hirnströme. Dazu habe ich ein Projekt mit einem Humboldt-Stipendiaten von der University of Houston gestartet, der in meiner Arbeitsgruppe zu Gast ist. Was mich auch bewegt ist, dass uns derzeit zufällige Messungen die besten Ergebnisse für eine effiziente Datenerfassung liefern. Daraus ergibt sich die Frage, ob man die gleiche optimal geringe Anzahl von Messungen nicht auch mit vorher festgelegten Messungen erreichen kann. Wie bei der analogen Theorie sind wir da von einer Antwort noch sehr weit entfernt. Mathematisch gibt es also im Moment noch extrem viel zu tun, und je mehr Anwendungsgebiete sich für Compressed Sensing interessieren, desto mehr Fragestellungen ergeben sich. 

Albert Exabyte

Krebserkrankungen zu diagnostizieren?

Im letzten Jahr wurde das Berlin Big Data Center eröffnet – ein weiterer Schub für Ihr Fachgebiet?

Das Big Data Center ist für meine Kollegen und mich sehr wertvoll. Es ist vor allem aus der Informatik heraus entstanden, aber es könnten sich interessante Kooperationen ergeben. Die Projekte am Big Data Center werden an vorderster Front der Forschung angesiedelt sein, und für Deutschland ist so ein Zentrum – ein zweites entsteht in Dresden – essenziell, um eine weltweite Vorreiterrolle bei Big Data zu spielen.

Gitta Kutyniok beschäftigt sich mit mathematischen Methoden der Datenanalyse. Sie ist Einstein-Professorin für Mathematik an der Technischen Universität Berlin und leitet die Arbeitsgruppe Angewandte Funktionalanalysis. Bevor die Ausnahmewissenschaftlerin 2011 nach Berlin kam, forschte sie unter anderem an den amerikanischen Universitäten Stanford, Princeton und Yale.

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Mathe = logisch 1 Sprache der Natur  2 faszinierendste Wissenschaft 3 Welterklärung  4 eine dankbare Disziplin 5

➊ Mathematik ist logisch. Simone Besendörfer ➋ Mathematik ist die Sprache der Natur – ein Zitat aus dem Film „Pi“. Sadegh Jokar ➌ Mathematik ist für mich die faszinierendste Wissenschaft, die es gibt. Carl Stephan ➍ Mathematik ist eine Möglichkeit, mir und anderen die Welt logisch zu erklären. Karin Eichentopf ➎ Mathematik ist für diejenigen, denen sie ihre Tore öffnet, aufgrund ihrer Klarheit und Eindeutigkeit 47

eine ausgesprochen dankbare Disziplin. Christian Liebchen


Fotos Pablo Castagnola Text Kristina Vaillant

Montagmorgen Wenn Mädchen und Jungen von der Grundschule in die Oberschule wechseln, wird Mathematik zum „Jungenfach“. Doch Mathematik-Lehrerinnen und -Lehrer können viel dazu beitragen, dass Schülerinnen Berührungsängste überwinden. Denn die haben vor allem mit Geschlechterstereotypen zu tun. Ein Besuch in einem Berliner Gymnasium

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Die erste große Pause ist vorbei, der Lärm im Treppenhaus des Dathe-Gymnasiums in Berlin-Friedrichshain verschwindet mit den Schülern in den Klassenzimmern. Die Schüler der 7a brauchen heute Morgen etwas länger, bis sie ihren Platz gefunden haben. Denn MathematikLehrerin Jeanette Herrmann hat die Sitzordnung neu komponiert. Sie will, dass die Schüler mit ihren Sitznachbarn besser zusammenarbeiten. „Ich bin von Jungs umzingelt!“, ruft eine Schülerin, halb vorwurfsvoll, halb amüsiert. Andere werfen vor Freude über ihre neuen Nachbarn die Arme in die Luft. Jeanette Herrmann verfolgt die Szene in aller Ruhe. Dann stellt sie sich vor die Klasse. Mit ihrem offenherzigen Blick hat sie die Aufmerksamkeit ihrer Schüler schnell auf sich gezogen, die Gespräche ebben ab. „So, jetzt sind wir alle ganz ruhig“, sagt sie freundlich, aber mit Nachdruck, und hält einen Moment lang inne. Unvorstellbare Stille in einem 60 Quadratmeter großen Raum mit 27 an der Schwelle zur Pubertät stehenden Kindern. Hausaufgabenkontrolle. Während die Lehrerin durch die Reihen geht, wirft sie einen Blick in die Hefter und gibt benotete Arbeitsblätter zurück. „Wenn’s eine Eins ist, dann ist das meins“, ruft ein Junge, dessen Stimme schon so tief klingt wie die eines jungen Mannes.

Mutprobe am Whiteboard: Geschlechterklischees führen dazu, dass Mädchen im Schulunterricht weniger Vertrauen in ihre mathematischen Fähigkeiten haben als Jungen.

Die Schüler tragen reihum ihre Hausaufgaben vor. Bruchrechnen. Ein Kind nennt sein Ergebnis, ein anderes muss es erläutern. Amelie aus der ersten Reihe hat keine Lösung parat. „7∕ 4 plus 7∕ 4, was musst du rechnen?“, fragt Jeanette Herrmann. Amelie rechnet laut vor und kommt am Ende auf ein Ergebnis: „plus 14 ∕ 4“, sagt sie mit zarter Kinderstimme. „Gut, und was ist der Betrag, wenn kein

Unsere Gesellschaft produziert laufend Stereotype und überspitzt sie gelegentlich auch. Etwa wenn ein Versandhaus Mädchen-T-Shirts anbietet mit dem Aufdruck „In Mathe bin ich Deko“. Plus davorsteht?“, fragt die Lehrerin und liefert die Antwort gleich mit: „Der Betrag bleibt immer positiv, egal ob die Zahl auf dem Zahlenstrahl rechts oder links von der Null steht.“ Die Schüler lernen, zwischen einer Zahl und ihrem Betrag zu unterscheiden – ein mathematisches Konzept, das mit ihrer Alltagserfahrung nur schwer in Übereinstimmung zu bringen ist. Die nächste Aufgabe. Wieder schnellen mehr als viele Arme in die Höhe. „Und wer hält sich heute zurück?“, fragt die Lehrerin. Ihr Blick


Jungen verhalten sich im Mathematikunterricht tendenziell risikofreudiger, während Mädchen stärker das Gefühl brauchen, dass ihr Tun zum Erfolg führt.

Albert Montagmorgen 51

bleibt bei einem Mädchen hängen, das sich nicht meldet. „Maja, je weiter links auf dem Zahlenstrahl die Zahlen liegen, desto kleiner sind sie, aber was ist mit dem Betrag?“ „Der wird größer“, sagt das Mädchen mit den großen, neugierigen Augen schüchtern. „Genau, und das ist jetzt eine wichtige Erkenntnis, bevor wir anfangen, mit negativen Zahlen zu rechnen“, fasst die Lehrerin zusammen. Im Mathematikunterricht spielt Geschlechtszugehörigkeit eine große Rolle. Die Schüler sind mit 12 und 13 Jahren in einem Alter, in dem Fächer wie Mathematik oder Physik beginnen „Jungenfächer“ zu werden, andere, wie Deutsch oder Kunst, „Mädchenfächer“. Woran liegt das? Aus Sicht der Genderforschung vor allem an den Stereotypen, die unsere Gesellschaft laufend produziert und gelegentlich auch überspitzt. Etwa wenn ein Versandhaus Mädchen-T-Shirts mit dem Aufdruck „In Mathe bin ich Deko“ anbietet. Oder wenn ein renommierter Neurowissenschaftler wie Gerhard Roth behauptet, Jungen seien mathematisch und musikalisch talentierter, und das als Grund dafür angibt, dass es nur wenige bedeutende Mathematikerinnen und Komponistinnen gebe. „Diese Bilder von männlichen und weiblichen Domänen werden von Kindern und Jugendlichen übernommen“, sagt Anina Mischau, Soziologin und Genderforscherin am Fachbereich Mathematik der Freien Universität Berlin (FU). In der Pubertät könne das „Jungenfach“ Mathematik dann immer schlechter in die sich ausbildende Geschlechteridentität bei Mädchen integriert werden. Die Folge: Nach der Grund-

schule driften die Leistungen zwischen Jungen und Mädchen auseinander. Und auch wenn Mathematik nach Deutsch und Englisch der bundesweit beliebteste Leistungskurs ist, sitzen dort nur noch 40 Prozent Mädchen, obwohl sie in der Oberstufe mehr als die Hälfte der Schüler stellen. Um das zu ändern, hat Anina Mischau gemeinsam mit Erziehungswissenschaftlern und Mathematik-Didaktikern den bundesweit ersten Kurs entwickelt, der Lehramtsstudierende im Fach Mathematik gezielt in Genderkompetenzfragen schult und sie dazu bringen soll, das eigene Verhalten zu reflektieren. In der 7a scheint den Schülern jetzt klar zu sein, dass der Betrag einer Zahl immer der Abstand dieser Zahl von der Null ist, also bei 4 und -4 gleichermaßen 4. Es folgt die Anwendung. „Summand + Summand = Summe“ schreibt Jeanette Herrmann an die Tafel und will wissen, welche Fälle es dabei gibt. Gemeinsam mit ihren Tischnachbarn sollen die Schüler eine Regel für das Addieren von rationalen Zahlen formulieren – ohne im Mathebuch nachzuschlagen. Was passiert, wenn vor beiden Summanden ein Minus steht? Was, wenn die Vorzeichen unterschiedlich sind? Unterhaltungen brechen los, auch quer über die Tische hinweg, nicht alle drehen sich um Mathematik. Die Mädchen ↘


In der PISA-Studie 2012 haben Jungen in Deutschland in der Mathematik im Schnitt 14 Punkte besser abgeschnitten als Mädchen. Die Unterschiede haben sich seit 2003 verschärft – damals lagen die Mädchen noch um 9 Punkte zurück.

reden mehr miteinander als die Jungen. Dann beruhigt sich ihr Redefluss. Alle arbeiten konzentriert mit ihren Tischnachbarn zusammen. „Ist eine Gruppe schon fertig?“, fragt die Lehrerin nach einigen Minuten. Quenten, ein Junge mit Bürstenschnitt, meldet sich. „Ben hat es herausgefunden“, sagt er und zeigt auf seinen Nachbarn. „Kann er es auch erklären?“, hakt Jeanette Herrmann nach. Sie weiß, dass es aus dem blonden Jungen oft nur so heraussprudelt, wenn er über Zahlen spricht. Er argumentiert dann so abstrakt, dass die meisten seiner Mitschüler ihm nicht folgen können. Doch Ben zögert für einen Moment. „Nein? Gut, dann nehmen wir erst die Beispielaufgaben dran“, entscheidet die Mathe-Lehrerin, um auch den anderen eine Chance zu geben. Die Lehrerin der 7a setzt in ihrem Unterricht ziemlich genau das um, was Forscher in der Theorie gendersensiblen Unterricht nennen: Sie geht auf die unterschiedlichen Bedürfnisse von Mädchen und Jungen ein. „Die Jungen sagen schneller, dass sie etwas verstanden haben, dann bitte ich sie noch einmal darüber nachzudenken. Mädchen dagegen brauchen mehr Bestätigung und Ermutigung“, weiß Jeanette Herrmann aus Erfahrung. Die Forschung bestätigt das. Aus Studien weiß man, dass sich Jungen im Mathematikunterricht tendenziell risikofreudiger

verhalten. „Mädchen arbeiten genauso wie Jungen gerne konzentriert, aber sie brauchen viel stärker das Gefühl, dass das, was sie tun, auch zum Erfolg führt“, sagt Silke Fleckenstein. Die ehemalige Lehrerin und Didaktik-Expertin vom Deutschen Zentrum für Lehrerbildung Mathematik (DZLM) untersucht für ihre Doktorarbeit an der Universität Potsdam, wie Mädchen und Jungen in getrenntgeschlechtlichen Klassen Mathe lernen und welche speziellen Bedürfnisse sie jeweils haben. Es überrascht sie, wie sehr die Mädchen in den reinen Mädchengruppen an Selbstvertrauen gewinnen. Aus ihren Experimenten will sie Empfehlungen für die Lehrerfortbildung ableiten. Auch phasenweise getrennter Unterricht ist aus ihrer Sicht eine Option.

„Bei der Selbsteinschätzung in Bezug auf Mathematik und die eigenen Fähigkeiten zum Mathematiklernen sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Deutschland deutlich größer als andernorts.“ PISA-Studie 2012

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Albert Montagmorgen

Als im Mathematikunterricht der 7a Jeanette Herrmann über längere Zeit die Mädchen Aufgaben erklären lässt, meldet sich Felix ungeduldig zu Wort: „Sie haben jetzt viel mehr Mädchen als Jungs drangenommen“, beschwert er sich. Ohne eine Antwort abzuwarten, liefert Samira von hinten ihre Begründung: „Das ist, weil die Mädchen Mathe weniger mögen.“ Mögen Mädchen Mathematik wirklich weniger als Jungen? Die Forschung spricht nicht von Mögen, vielmehr vom Selbstkonzept. Gemeint ist das, was Mädchen über ihre eigenen Fähigkeiten, Gefühle und Vorlieben in Bezug auf das Fach Mathematik verinnerlicht haben. Und das ist gerade in Deutschland nicht immer positiv. In der PISAStudie 2012, die Mathematik-Leistungen von 15-Jährigen in mehr als 60 Ländern vergleicht, heißt es: „Bei der Selbsteinschätzung in Bezug auf Mathematik und die eigenen Fähigkeiten zum Mathematiklernen sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Deutschland deutlich größer als andernorts.“ Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) als Initiatorin der Studie hält das insbesondere deshalb für „besorgniserregend“, weil selbst die Schülerinnen, die gut in Mathematik sind, weniger Vertrauen in ihre Fähigkeiten entwickelten als Jungen. Das hält sie davon ab, an die Spitze aufzurücken. Jeanette Herrmann hat dieses Phänomen in ihren 25 Jahren Berufstätigkeit immer wieder beobachtet: Im Durchschnitt unterscheiden sich die Leistungen zwischen Mädchen und Jungen nicht gravierend, aber während die Jungen

sowohl am oberen wie am unteren Ende der Leistungsskala vertreten sind, tummeln sich die Mädchen fast ausschließlich im Mittelfeld. Sie selbst war als Schülerin immer Klassenbeste und fand das auch ganz normal, denn Mathe ist ihr sehr leichtgefallen. Doch Mädchen, die mehr Berührungsängste haben, brauchen die bewusste Unterstützung von Lehrkräften wie Jeanette Herrmann. Bei der Soziologin und Genderforscherin Anina Mischau können angehende MathematikLehrkräfte lernen, wie das geht. Die Nachfrage an der FU Berlin nach Mischaus Seminaren zum gendersensiblen Matheunterricht ist sehr hoch: Bisher gab es in nahezu jedem Semester mehr Interessenten als Plätze. „Ich hoffe, dass ich das Attribut gendersensibel in zehn Jahren streichen kann“, sagt Mischau. „Gut“, lenkt Jeanette Herrmann ein, „jetzt sind die Jungs wieder dran.“ Die Beispielaufgaben zur Subtraktion darf Quenten an die Tafel schrei­ben. Die Mädchen der 7a können sich trotzdem der besonderen Aufmerksamkeit ihrer Lehrerin sicher sein. „Wenn Mädchen Interesse an Mathematik zeigen, dann hätschle ich sie auch mal“, gibt die Lehrerin unumwunden zu. Schließlich will Jeanette Herrmann einige von ihnen in der 11. Klasse im Mathematik-Leistungskurs wiedertreffen. 

Die OECD hält die Situation in Deutschland für „besorgnis­ erregend“: Selbst Schülerinnen, die gut in Mathematik sind, ent­wickeln weniger Vertrauen in ihre Fähigkeiten als Jungen. Das hält sie davon ab, an die Spitze aufzurücken.


Interview Kristina Vaillant

Foto Pablo Castagnola

Ein Party-Gef端hl im Gehirn

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Die 13-jährige Maja Marwa Frhan sieht im Matheunterricht manchmal nur noch „schwarz“. Doch mit einfachen Tricks findet sie immer wieder heraus aus so einem Tief, und wenn sie dann plötzlich alles versteht, liebt sie Mathe sogar. Sie besucht die 8. Klasse des Dathe-Gymnasiums in Berlin-Friedrichshain

Maja, liebst du oder hasst du Mathematik? Das kommt

Was machst du, wenn du gar nicht weiterweißt? Wenn

darauf an. Mathe ist schlimm, wenn man ein Thema gar nicht oder nur zur Hälfte versteht. Wenn ich vor einem Arbeitsblatt sitze und mich durch die Aufgaben quäle, dann denke ich: Mathe ist für mich gestrichen. Aber ich liebe Mathe, wenn ich etwas verstehe. Wenn das passiert, dann habe ich im Gehirn so ein Party-Gefühl!

das passiert, dann setze ich zu Hause meine Kopfhörer auf und fange an zu zeichnen – immer mit dem Bleistift. Ich zeichne das, was gerade aus meiner Hand rauskommt. Meistens sind das Landschaften. Manchmal höre ich auch Musik dazu, Popmusik, was halt gerade so in den Charts ist. Und dann, während ich das mache, fällt mir ein, was ich tun muss, um mein Problem zu lösen.

Wann ist dir das zuletzt passiert? Bei den Brüchen. Da

habe ich am Anfang gar nichts verstanden. Dann habe ich mir selber Mut gemacht, mich zu Hause an den Schreibtisch gesetzt und geübt. Im Test hat dann alles geklappt – und dann kam dieses tolle Gefühl. Geht es den Jungen und den anderen Mädchen in dei-

Hilft dir Mathe im Alltag? Wenn meine Mutter ihr Haus-

haltsbuch auf dem iPad führt, helfe ich ihr manchmal. Dann merke ich, dass Mathe ganz praktisch ist. Trotzdem frage ich mich in Mathe ab und zu: Warum muss ich das jetzt lernen, das ist so kompliziert. Aber dann sage ich mir: Da musst du jetzt durch!

ner Klasse ähnlich? Ehrlich gesagt, sind es mehr Jungs

als Mädchen, die Spaß an Mathe haben. Wenn ich mir die Jungs im Unterricht ansehe: die rechnen und rechnen und dann packen sie es irgendwann. Die Mädchen lassen sich schneller entmutigen. Das geht mir auch oft so. Dann spornt mich meine Mutter an. Oder meine Freundinnen verraten mir ihre Rechentricks. Gibt es auch Mädchen, die dranbleiben im Matheunterricht? Ja, schon. Ich habe beobachtet, dass auch manche

Mädchen in Mathe am Ball bleiben. Aber dass die Jungs aufgeben, habe ich noch nie gesehen. In Geografie ist das anders, obwohl das ja auch manchmal mit Mathe zu tun hat. Da unterscheiden sich Jungs und Mädchen eigentlich gar nicht. Aber egal ob Mädchen oder Junge, in Mathe ist es einfach so: Da gibt es die Superhirne und die, die gar keine Mathe-Liebhaber sind. Was würde dir helfen, in Mathematik immer am Ball zu bleiben? Wenn wir noch öfter in Gruppen arbeiten wür-

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den, dann würde ich nicht so schnell aufgeben. Dann bauen die anderen einen auf. Wenn es ginge, würde ich es komplett abschaffen, dass man im Unterricht über seinem Buch sitzt und das alleine verstehen soll. Ich fühle mich wohler, wenn ich meine Mitschüler fragen kann.

Weißt du schon, was du später mal werden willst? Viel-

leicht Politikerin. Auf jeden Fall irgendetwas mit der Bekämpfung von Armut – es gibt so viele Probleme auf der Welt, das ist nicht mehr auszuhalten! Ich will Menschen helfen und da meine Kreativität reinbringen. Zum Beispiel Häuser bauen, für die, die keine haben. Dafür kann ich dann bestimmt auch Mathe gut gebrauchen. 


Mehr zutrauen!

„Entscheidend ist, dass sie merken, wie wichtig mir als Lehrendem ist, dass sie tatsächlich etwas lernen.“ und Schüler aus Berliner Gymnasien teil. Sie müssen selbstständig und in kleinen Gruppen mathematische Pro­bleme bearbeiten, die in Elemente der modernen Mathematik und ihre Anwendungen einführen. Dabei entfalten die Jugendlichen Aktivitäten, die mich immer wieder überraschen und die ich oft für nicht möglich gehalten hätte. Die Erlebnisse in Blossin haben mir klargemacht, dass wir der Versuchung widerstehen müssen, die Ler-

nenden in ihrem Denken zu sehr zu steuern. Wir sollten ihnen viel mehr Selbstständigkeit zumuten. Ich beschränke mich in meinem Unterricht daher auf kurze Inputphasen, auf die eine Arbeitsphase und das gegenseitige Präsentieren der Ergebnisse in der Gruppe folgt. Meine Tätigkeit als Lehrender wird so zunehmend zu einer mathematischen Moderatorentätigkeit. Im Mathematikunterricht fragen viele Schülerinnen und Schüler zunächst nur nach einem Rezept, das schnell zum Ziel führt. Wenn man ihnen aber klarmacht, dass sie durch Nachdenken einen Lösungsweg durchschauen und oft auch selber finden können, dann nehmen sehr viele die Herausforderung zum selbstständigen Nachdenken an. Entscheidend ist, dass sie merken, wie wichtig mir als Lehrendem ist, dass sie tatsächlich etwas lernen. Zugleich muss man ihnen kontinuierlich ein fachliches Feedback über ihre Lernfortschritte geben. Das hat unter anderem die viel beachtete Studie des neuseeländischen Bildungsforschers John Hattie gezeigt. Die nächste Aufgabe muss sich immer am aktuellen Lernstand ausrichten, damit sie ein erreichbares, aber kein einfaches Ziel ist. Das stellt hohe Anforderungen an die Lehrenden, es setzt fachliche Kompetenz, Diagnosefähigkeit sowie pädagogisches Geschick voraus, und

das bei zunehmend uneinheitlichen Lerngruppen. Vor allem in Metropolen liegen Vorkenntnisse, Anstrengungsbereitschaft, soziales Verhalten und kulturelle Hintergründe oft sehr weit auseinander. Durch aufbauendes fachliches Lernen entsteht nach und nach ein solides Fundament an Fachwissen, das Anwendungen ermöglicht. Sobald Schülerinnen und Schüler zum Beispiel den Satz des Pythagoras kennengelernt haben, sollte man ihnen zutrauen, selbst herauszufinden, wie man damit die Entfernung zwischen zwei Punkten im Raum ermitteln kann. Das bringt Erfolgserlebnisse mit sich. Ich habe mal einen Schüler zu einem Mitschüler sagen hören: „Weißt du, was ich an den Lehrern doof finde? Die sagen einem immer, wie man es machen soll.“ Mathematikunterricht, wie er derzeit stattfindet, bietet Schülerinnen und Schülern zu wenig Muße, sich die fachlichen Grundideen und Werkzeuge gründlich anzueignen. Es wird zu linear nach Rahmenplaninhalten und Lehrbuch vorgegangen und zu wenig zwischen den verschiedenen Gebieten der Mathematik und ihren Leitideen vernetzt. Auch kommen Aufgaben zu kurz, für die es keine Standardlösungen gibt und die Kinder dazu anregen, herumzuprobieren, auszuschließen, vorwärts und rückwärts zu arbeiten sowie Muster und

Text Jürg Kramer

Es verblüfft mich, wie selbstständig Schülerinnen und Schüler arbeiten können, wenn man sie nur lässt. Das merke ich immer wieder bei der Sommerschule „Lust auf Mathematik“, die ich seit 15 Jahren gemeinsam mit anderen Berliner Mathematikerinnen und Mathematikern im Jugendbildungszentrum in Blossin im Südosten Berlins organisiere. Daran nehmen begabte Schülerinnen

Foto Kay Herschelmann

Im Mathematikunterricht ist mehr Muße und Vertrauen in die Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler vonnöten, sagt der Mathematiker Jürg Kramer, Direktor des Deutschen Zentrums für Lehrerbildung Mathematik. Für die stark belasteten Lehrkräfte fordert er mehr Freiräume, aber auch verpflichtende Fortbildungen

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Zusammenhänge zu entdecken. Ich wünschte mir, dass solche intelligenten Aufgaben, die man zum Beispiel beim Wettbewerb „Känguru der Mathematik“ finden kann, in den täglichen Unterricht einfließen. Lehrerinnen und Lehrer haben heute einen sehr schweren Job und wenige Freiräume. Sie werden durch administrative Belange stark belastet und durch Vergleichstests gefordert. Sie könnten das besser schaffen, wenn sie sich zusammentäten, um zum Beispiel in einer Klassenstufe gemeinsam die mathematischen Inhalte zu strukturieren, Lernstände zu erheben, Klassenarbeiten zu konzipieren und auszuwerten sowie intelligente Aufgaben zu sammeln. Doch man sollte ihnen auch mehr Freiräume zugestehen und sie andererseits zu Fortbildungen verpflichten, damit sie mit dem Wissen über Lernen und Lehren

und über gesellschaftliche Prozesse Schritt halten können. Eine gute mathematische Allgemeinbildung ermöglicht nicht nur eine souveränere Bewältigung alltäglicher Anforderungen wie Einkaufen, Sparen, Versichern, Geld leihen, sondern auch eine strukturierte Wahrnehmung der uns umgebenden Welt. Sie hilft uns dabei, gesellschaftliche Prozesse zu hinterfragen und eine begründete Meinung zu bilden. Kurzum: Ohne mathematische Allgemeinbildung ist ein mündiger Bürger nicht denkbar. Die im Mathematikunterricht vermittelten Fähigkeiten zum Strukturieren, Schließen, Widerlegen, Verknüpfen oder Verallgemeinern sind wichtiges Rüstzeug zum Verständnis der Welt. Indem wir den Schülerinnen und Schülern im Unterricht mehr zutrauen, geben wir ihnen Selbstvertrauen mit auf ihren Lebensweg. 

Jürg Kramer lehrt und forscht zu arithmetischer Geometrie und zur Theorie der automorphen Formen sowie im Bereich der Mathematikdidaktik. Der gebürtige Schweizer ist Professor für Mathematik an der Humboldt-Universität zu Berlin und seit 2011 Direktor des Deutschen Zentrums für Lehrerbildung Mathematik. Zudem ist er Vorstandsmitglied des neuen Einstein Center for Mathematics Berlin und Sprecher der Berlin Mathematical School.


Text Dietrich von Richthofen

Gesunde Zahlen Die Mathematik hat ihre passive Rolle in der medizinischen Forschung hinter sich gelassen und ist zur Innovationstreiberin medizinischer Entwicklungen avanciert. In Berlin entwerfen Mathematiker pharmazeutische Wirkstoffe, helfen bei der Krebsfr端herkennung oder unterst端tzen Chirurgen dabei, H端ftimplantate zu verbessern

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Die Inspiration zu seinem Forschungsthema überkam den Mathematiker Tim Conrad (Bild rechts) bei einem Arztbesuch. Er hatte einen Bluttest machen lassen – reine Routinekontrolle. Alle Werte lagen im grünen Bereich, dennoch war er unzufrieden: Was konnte die Auswertung von 30 Proteinen und Stoffwechselprodukten im Blut schon aussagen über ein solch komplexes System wie den menschlichen Körper? „Meine Neugierde war geweckt“, erinnert sich Conrad. Heute, einige Jahre und eine Promotion später, leitet der Wissenschaftler an der Freien Universität (FU) Berlin eine Arbeitsgruppe zur computergestützten Analyse des Proteoms, also der Gesamtheit aller Proteine eines Organismus. Aus Milliarden von Einzelinformationen – gewonnen aus einem einzigen Tropfen Blut – versucht er aussagekräftige Signalmuster der Proteinkonzentrationen zu filtern, um Krebserkrankungen bereits im Frühstadium zu erkennen. Ein ehrgeiziges Ziel, wie Conrad zugibt: „Von jedem Patienten verarbeiten wir eine Datenmenge, die in Büchern ausgeschrieben locker einen Kleinbus füllt.“ Wie reduziert man diese Aufgabe auf ein handhabbares Maß? Die Forscher konnten beweisen, dass ein Bruchteil der Daten ausreicht, um tragfähige Aussagen zu treffen. Auf dieser Grundlage entwickeln sie nun – in Kooperation mit der Mathematikerin und Einstein-Professorin Gitta Kutyniok von der Technischen Universität Berlin (TU) – immer bessere mathematische Methoden und leistungsfähigere Algorithmen, um am Ende für jede Krebsart etwa 20 spezifische Signale zu identifizieren. Das mathematische Forschungsgebiet dahinter nennt sich Compressed Sensing und befasst sich vereinfacht gesagt damit, aus vereinzelten Daten auf gesamte Datensätze zu schließen (siehe dazu das Interview mit Gitta Kutyniok ab Seite 38). Für sechs

Die Datenmengen jedes Patienten füllen in Büchern ausgeschrieben locker einen Kleinbus.

Krebsarten, darunter Lungen-, Darmund Blasenkrebs, haben die Forscher schon charakteristische Fingerabdrücke gefunden, erste klinische Vorstudien liefern gute Ergebnisse. Wird die mathematische Auswertung von Big Data künftig zur Schlüsseltechnologie bei der Krebsfrüherkennung?

Algorithmen für neue Wirkstoffe Wenige Meter vom Mathe-Institut der FU Berlin entfernt entwickelt der Mathematiker Marcus Weber am Konrad-Zuse-Zentrum für Informationstechnik (ZIB) pharmazeutische Wirkstoffe. Normalerweise sind es Chemiker und Pharmakologen, die in der frühen Entwicklungsphase neuer Medikamente riesige Wirkstoff­ bibliotheken durchforsten, zahlreiche Molekülvarianten synthetisieren, und die Kandidaten im Reagenzglas, an Zellkulturen und in Tierversuchen

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Albert Gesunde Zahlen 61

auf Wirksamkeit und Nebenwirkungen testen. „Da ist viel Versuch und Irrtum im Spiel“, sagt der Leiter der Forschungsgruppe für computergestütztes Moleküldesign. Weber, der sich schon seit Beginn seines Mathematikstudiums für die Simulation von Molekülen interessiert, geht lieber berechnend vor. Er entwirft neue Wirkstoffe in silico – also im Computer. In mehreren Durchläufen optimiert er ihre Wirksamkeit und tilgt unerwünschte Nebenwirkungen. Erst wenn der neue Wirkstoff im virtuellen Labor tut, was er soll, wird er synthetisiert und Tests an realen Modellen unterzogen. „Dieser Ansatz erlaubt eine viel gezieltere Medikamentenentwicklung und spart Zeit und Kosten“, sagt Weber. Erste Früchte hat seine Arbeit schon hervorgebracht: Weber konnte – ausgehend von dem starken aus Opium gewonnenen Schmerzmittel Morphin – in silico einen Wirkstoff entwickeln, der ausschließlich an Rezeptormoleküle in entzündetem Gewebe andockt. Das Ergebnis ist ein hochpotentes Mittel für Entzündungsschmerzen ohne die gängigen Nebenwirkungen herkömmlicher opioider Schmerzmittel, wie Benommenheit, Verstopfung oder Lähmungen des Atemzentrums. Bis vor wenigen Jahren war es noch undenkbar, die Bindung von Wirkstoffen an ihre Zielstrukturen – meist Proteine – realistisch zu simulieren. Denn dabei treten mehrere zehntausend Atome miteinander in Wechselwirkung. „Wir müssen Räume mit zehntausenden Dimensionen modellieren“, sagt Weber, „selbst moderne Hochleistungsrechner bräuchten für alle Kombinationsmöglichkeiten Jahrhunderte.“ Weber entwickelt neue stochastische Methoden, um dem Problem beizukommen: Er betrachtet viele verschiedene Molekülzustände gleichzeitig und berechnet aus den statistischen Ergebnissen die

Wahrscheinlichkeit, mit der das Molekül an bestimmte Strukturen des Zielproteins bindet. Bis zu 80 Prozent des Fortschritts bei solchen Simulationen gehe auf das Konto innovativer mathematischer Forschungsansätze und leistungsfähiger Algorithmen, schätzt Weber – Hirnschmalz zählt hier mehr als Rechenkraft.

Innovationstreiber Mathematik Die Mathematik hat in den meisten Feldern der medizinischen Forschung lange Zeit nur die Rolle einer Erfüllungsgehilfin gespielt – etwa für die statistische Auswertung klinischer Studien. Anfang der 1990er Jahre begannen Mathematiker dann, Moleküle und Organe in Rechnern zu simulieren. „Mittlerweile gibt es kaum ein großes medizinisches For-

schungsprojekt ohne Beteiligung von Mathematikern“, sagt Christof Schütte, Leiter der Arbeitsgruppe für Biocomputing an der FU Berlin, Vizepräsident des ZIB und einer der Pioniere in der Simulation biologischer Prozesse. „Wichtige Beiträge leisten sie vor allem in der realistischen Simulation von physiologischen, molekularen oder biomechanischen Vorgängen und in der Analyse großer medizinischer Datenmengen.“ Die Mathematik ist zur Innovationstreiberin medizinischer Forschung avanciert. In Berlin ist auf diesem Gebiet ein weltweit sichtbarer Cluster entstanden. Das Einstein Center for Mathematics Berlin (ECMath) fördert Arbeiten in diesem Forschungsfeld mit einer eigenen „Innovation Area“. Big Data ist in den Biowissenschaften spätestens seit der Entzifferung des menschlichen Genoms ein ↘

Mittlerweile gibt es kaum ein großes medizinisches Forschungsprojekt ohne Beteiligung von Mathematikern.


Besonders bei komplexen Therapien und Operationen kann die Mathematik Medizinern wichtige Entscheidungshilfen an die Hand geben. ins Krankenhaus eingewiesen werden muss“, sagt Schütte. Durch solche frühzeitigen Warnungen könnten die Mediziner künftig deutlich früher gegensteuern. Die angewandten mathematischen Methoden, darunter Trendund Wendepunktanalysen, kommen ähnlich auch in Klimamodellen oder zur Vorhersage von Börsenkursen zum Einsatz. Zu schaffen macht den Forschern jedoch die schwankende Qualität der medizinischen Daten:

Unzählige Einflussfaktoren wie die Tagesform des Patienten oder Unregelmäßigkeiten bei der Einnahme von Medikamenten können die Ergebnisse verfälschen. Schütte arbeitet deshalb an Methoden, um solche Unsicherheiten zu quantifizieren und bei der Auswertung miteinzubeziehen – die dahinterstehende „uncertainty quantification“ ist ein mathematisches Forschungsgebiet, das immer mehr an Bedeutung gewinnt. „Damit machen wir die Vorhersagen künftig deutlich robuster gegen Störfaktoren.“

Statistik gegen resistente Viren Zurück am Mathe-Institut der FU Berlin: In seinem mit medizinischen Publikationen überfrachteten Büro hält es Max von Kleist schon lange nicht mehr auf dem Stuhl. Der in einer Medizinerfamilie aufgewachsene Mathematiker malt komplexe Evolutionsmuster von Viren an seine Tafel. Bereits seit dem Studium treibt ihn die Frage um, wie sich die Wirkung von Medikamenten auf den menschlichen Organismus und auf Krankheitserreger simulieren lässt. In einem ECMath-Projekt erforscht er nun, wie HIV-Erreger Resistenzen gegen Aids-Medikamente entwickeln. „Wir wollen herausfinden, wie sich mit neuen Behandlungsschemata die Entwicklung von Resistenzen eindämmen lässt“, erklärt er. Um mit seinen Simulationen der Realität möglichst nahezukommen, muss von Kleist den gesamten menschlichen Organismus detailgetreu modellieren. Er durchforstet Publikationen aus der HIV-Forschung, übersetzt die medizinischen Forschungsergebnisse in mathematische Formeln und integriert die Puzzleteile in ein Gesamtmodell, in dem hunderte Millionen von Viren auf Millionen von Zellen treffen – eine gigantische Rechenaufgabe.

Albert Gesunde Zahlen

bestimmendes Thema. Die Datenflut beschränkt sich jedoch nicht auf Gensequenzen oder Proteomkarten, wie Tim Conrad sie für die Krebsdiagnose nutzt. Auch durch andere Innovationen, etwa in der Medizintechnik, entstehen immer mehr potenziell wertvolle Datensammlungen. Ein Beispiel: Herzschrittmacher. Die Geräte zeichnen inzwischen ein ganzes Spektrum unterschiedlicher Messwerte auf, darunter Puls, Herzfrequenz, elektrische Stromstärken am Herzmuskel, Lungenflüssigkeit. Teilweise liegen Zeitreihen über viele Jahre vor. Der Schatz, der in diesen Datensätzen steckt, muss jedoch erst geborgen werden: In einem aktuellen, vom ECMath geförderten Forschungsprojekt sucht Schüttes Arbeitsgruppe in solchen Datenreihen kritische Wendepunkte, um die Entwicklung des Gesundheitszustandes eines Patienten vorherzusagen. „Bei guter Datenqualität konnten wir in einem Pilotprojekt bis zu 100 Tage im Voraus erkennen, dass ein Patient

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„Wir rechnen deshalb erst Stichproben durch und leiten aus den Ergebnissen statistische Aussagen über die Dynamik des gesamten Systems ab.“ Ein Ergebnis seiner Arbeit: Ein frühzeitiger Wechsel der HIV-Medikation auf Basis der Statistik, also noch bevor Resistenzen durch herkömmliche Diagnostik sichtbar werden, könnte die Entstehung resistenter Erreger deutlich einschränken. Doch kann man auf der Grundlage mathematischer Modelle Handlungsempfehlungen für die Mediziner aussprechen? „Ich möchte vor allem Denkanstöße geben“, sagt von Kleist. Dabei erhält er auch Gegenwind. Was ihn ärgert: „Viele Gegenargumente sind nicht objektiv, sondern traditionalistisch.“ Derzeit leistet er Überzeugungsarbeit, damit seine Rechenergebnisse in einer klinischen Studie überprüft werden.

Die digitale Durchschnittshüfte

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Auch Stefan Zachow kennt die Stolpersteine in der Zusammenarbeit zwischen Mathematikern und Medizinern: „Hier treffen Theoretiker auf Praktiker“, sagt der Leiter der Arbeitsgruppe „Therapy Planning“ am ZIB. „Mediziner wollen klare Entscheidungshilfen für die Anwendung, die mathematische Herleitung dahinter interessiert sie nicht.“ Zachow arbeitet mit seinem Kollegen Martin Weiser – Leiter der ZIB -Arbeitsgruppe „Computational Medicine“ – in einem weiteren ECMath-Projekt daran, Hüftoperationen mithilfe von Mathematik zu verbessern. Denn beim Einbringen von Hüftimplantaten haben die Chirurgen ein konkretes Problem: Oft steht ihnen für die Planung des Gelenk­ersatzes lediglich ein zweidimensionales Röntgenbild zur Verfügung – Position und Lage sowie Funktion des Implantates müssen aber ausgerichtet werden, um den

dreidimensionalen anatomischen Gegebenheiten der Hüfte des Patienten gerecht zu werden. Das gelingt nicht immer perfekt, das Implantat verursacht dann Schmerzen oder lockert sich sogar. Rund jede zehnte Implantation eines künstlichen Hüftgelenks in Deutschland ist eine Zweitoperation. Um die Chirurgen bei der Positio­ nierung von Implantaten zu unterstützen, entwickelt das Team um Zachow ein Verfahren zur Berechnung virtueller 3-D -Modelle der Hüfte aus dem zweidimensionalen Röntgenbild. Der Trick: Aus tausenden vorhandenen 3-D -Hüftmodellen haben sie eine Art digitale Durchschnittshüfte entwickelt. Ihre Software nimmt von diesem Modell ein virtuelles Röntgenbild auf und vergleicht es mit dem echten Röntgenbild des Patienten. Anschließend wird das 3-D -Modell so lange schrittweise verändert, bis virtuelles und echtes Röntgenbild übereinstimmen. So kann aus dem zweidimensionalen Röntgenbild des Patienten ein exaktes 3-D -Modell seiner Hüfte abgeleitet werden, wie es sonst nur durch computertomografische Aufnahmen möglich ist – allerdings ohne die damit verbundene Strahlenbelastung und zu einem Bruchteil der Kosten. Für Arbeiten auf diesem Gebiet hat das ZIB bereits mehrere Preise eingeheimst. „Dabei treten wir gegen große Medizintechnik-Unternehmen wie Siemens und General Electric an, also echt harte Konkurrenz“, sagt Zachow. Eine der größten mathematischen Herausforderungen dabei: Die einzelnen Raumkoordinaten des Modells wissen nicht, in welche Richtung sie sich verschieben müssen, damit die Ähnlichkeit mit dem echten Gelenk größer wird. Alle Varianten durchrechnen? Unmöglich. Der einzige gangbare Weg sind auch hier innovative Rechenverfahren – die Mathematiker entwickeln neue Optimierungsverfahren, um die schrittweise

Änderung des 3-D -Modells effizient und zielgerichtet durchzuführen. Dabei stehen sie vor einer besonderen Hürde: Die Rechenzeit muss kurz genug gehalten werden, um das Verfahren in eine praxistaugliche individuelle Operationsplanung integrieren zu können. Anhand der erstellten 3-D -Modelle möchten die Wissenschaftler dem Chirurgen anschließend konkrete Positionierungshilfen anbieten – der zweite Teil des Forschungsprojekts. In einem virtuellen Hüftmodell simuliert Martin Weiser für verschiedene räumliche Ausrichtungen des künstlichen Gelenks und verschiedene Bewegungsmuster Einflussfaktoren wie biomechanische Belastung, Abrieb oder Druck auf umliegende anatomische Strukturen. In Zukunft könnte daraus beispielsweise eine für jeden Patienten individuell erstellte Bohrschablone entstehen, die der Chirurg als Orientierungshilfe bei der Ausrichtung des Implantats verwendet. „Besonders bei komplexen Therapien und Operationen kann die Mathematik Medizinern wichtige Entscheidungshilfen an die Hand geben“, sagt Weiser und betont: „Wir wollen die Chirurgen mit unserer Arbeit unter stützen, nicht ersetzen.“


Mathe = Fortschritt 1 verwirrend schön 2 ein Buch mit sieben Siegeln 3 brauchbar 4 ein Faszinosum 5

➊ Mathematik ist die perfekte Sprache, um Vorgänge in der Natur und Technik zu beschreiben, ohne sie wäre technologischer Fortschritt heutzutage nicht denkbar. Gitta Kutyniok ➋ Mathe ist für mich überraschend, ästhetisch schön, aufregend, fesselnd, anstrengend, interessant, nützlich, verwirrend, allgegenwärtig. Silke Fleckenstein ➌ Mathematik als Schulfach ist total spannend. Höhere Mathematik bleibt für mich dagegen häufig ein Buch mit sieben Siegeln. Anina Mischau ➍ Mathe ist ein Schulfach, das ich im späteren Leben sehr oft gebrauchen werde. Maja Marwa Frhan ➎ Mathematik ist faszinierend. Jürg Kramer

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Rechen-Hilfe Der kamerunische Mathematiker Dany Pascal Moualeu entwickelt mathematische Modelle, um Hunger und Krankheiten wie Tuberkulose, Malaria und Ebola in Afrika zu bekämpfen

Text Dietrich von Richthofen 65

Neulich hat Dany Pascal Moualeu mit ein paar Kollegen Handydaten ausgewertet. Ist der kamerunische Mathematiker ein Handlanger der NSA? Weit gefehlt. Er wollte lediglich anhand anonymisierter Geodaten herausfinden, wie sich Kontaktaufnahme und Anbahnung von Treffen unter Menschen möglichst realistisch simulieren lassen. „Dies ist ein entscheidender Parameter, wenn man die Ausbreitung von Infektionskrankheiten modellieren möchte“, erklärt Moualeu. Als Fellow der Berlin Mathematical School untersuchte der Wissenschaftler während seiner Doktorarbeit am Zuse-Institut Berlin von Januar 2012 bis Juni 2013, wie sich die Ausbreitung von Tuberkulose in Kamerun modellieren und am wirksamsten eindämmen lässt. Dazu entwarf er ein Modell der verschiedenen Ausbreitungswege des Erregers und simulierte anschließend den Effekt unterschiedlicher präventiver Maßnahmen. Das Ergebnis: Durch eine optimale Kombination dieser Maßnahmen ließe sich die Infektionsrate um bis zu 80 Prozent senken. Nach dem Abschluss seiner Doktorarbeit erforscht Moualeu nun an der Leibniz Universität Hannover, wie sich der Nahrungsmittelertrag auf versalzenen Äckern steigern lässt – ein mathematischer Beitrag zur Lebensmittelsicherheit Afrikas, wo Versalzung zu deutlichen

Die Mathematik hält wirksame Werkzeuge bereit, um reale Probleme unserer Welt zu lösen.

Dany Pascal Moualeu war bis 2013 IMU Berlin Einstein Foundation Fellow am Konrad-Zuse-Zentrum für Informationstechnik Berlin. Das Stipendium ermöglicht mehrmonatige Forschungsaufenthalte in Berlin als Sitz der Inter­ nationalen Mathematischen Union. Derzeit ist Moualeu wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Systemmodellierung Gemüsebau am Institut für Gartenbauliche Produktionssysteme der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover.

Ertragsverlusten bis hin zur Aufgabe der Anbauflächen führt. Moualeu versucht herauszufinden, welche Faktoren zu einer verstärkten Anreicherung von Salz in den Pflanzen beitragen und ob Maßnahmen wie eine Beschattung der Anbauflächen den Ertrag auf salzhaltigen Böden steigern könnten. „Wir suchen nach Wegen, um die Unterernährung in solchen Gegenden zu bekämpfen.“ Doch auch das Thema Infektionskrankheiten hält den engagierten Mathematiker weiter im Bann. Von Deutschland aus betreut er Studenten in Kamerun, die zur Ausbreitung und Eindämmung von Tuberkulose und Malaria arbeiten, und er möchte Mathematik künftig auch für eine effizientere Bekämpfung von Ebola nutzen. „Zusammen mit afrikanischen Kollegen beschäftige ich mich mit der Frage, in welchem Maße die frühzeitige Veröffentlichung konkreter Krankheitsfälle die Ausbreitung des Virus verlangsamen könnte.“ Was ihn motiviert? „Mich berührt es, wenn ich sehe, wie Menschen leiden müssen“, sagt er. „Irgendwann habe ich erkannt, dass die Mathematik wirksame Werkzeuge bereithält, um reale Probleme unserer Welt zu lösen.“ 



Text & Interview Mirco Lomoth Foto Pablo Castagnola

Die Hirnformel 67

Roger D. Traub setzt auf Mathematik, um das menschliche Gehirn zu verstehen. Der Neurologe und Mathematiker schafft Computermodelle von Nervenzellen und neuronalen Schaltkreisen, um Krankheiten wie Epilepsie auf den Grund zu gehen und gemeinsam mit experimentellen Neurowissenschaftlern neue Therapieans채tze zu finden


„Auf Molekülebene ist das Gehirn einfach nur ein furchtbares Durcheinander. Schönheit liegt für mich darin, dass dieses Durcheinander tatsächlich funktioniert.“

gen unter ihnen in einem Modell zu kartieren. Im Experiment kann man dann Elektroden an den Zellen anbringen und beobachten, wie diese auf künstliche Stimulierung reagieren und ein bestimmter Muskel den Befehl bekommt zu kontrahieren.“ Er schaut auf. „Das Gleiche würde ich gerne beim menschlichen Gehirn verstehen. Da wissen wir von all dem nichts. Wir müssten bestimmte Module des Gehirns isolieren, herausnehmen und in vitro untersuchen, was nicht möglich ist. Und selbst wenn, wüssten wir mit den zellulären Informationen nichts anzufangen – es sind einfach zu viele Zellen, und wir wissen nicht, wie sie verbunden sind.“ Wird Ihnen manchmal schwindelig, wenn Sie versuchen das menschliche Gehirn zu verstehen?

se Zellverbindungen befinden sich in den Fortsätzen der Nervenzellen, die elektrische Impulse im Gehirn transportieren. Falls die Annahme zutrifft, würde das neue Therapiemöglichkeiten für Epilepsie eröffnen. Roger D. Traub klappt seinen Laptop auf und öffnet einen PowerPoint-Vortrag, mit dem er Laien seine Welt erklärt. Oder zumindest eine oberflächliche Version seiner Welt. Auf dem Bildschirm erscheint die schematische Darstellung des neuronalen Schaltkreises eines Hummers, der aus nur 15 Nervenzellen besteht. „Es ist ein bisschen wie bei einer Waschmaschine mit nur wenigen Programmen: Die Signale des Schaltkreises sorgen dafür, dass die Magenmuskeln des Hummers korrekt funktionieren und die Zähne im Magen in verschiedene Richtungen rotieren. Das System des Hummers ist so klein, dass es möglich ist, einzelne Zellen zu isolieren, ihre Eigenschaften zu definieren und die Verbindun-

Nein, meine Strategie ist, dass ich mir Teilprobleme herauspicke. Ich habe als Neurologe viel mit kranken Menschen gearbeitet und festgestellt, dass es sehr viel zu tun gibt, was für die Menschheit nützlich ist, ohne dass man das Gehirn als Ganzes verstehen muss. Wenn in unserem Kopf etwas falsch läuft, passiert das oft auf eine sehr spezifische Weise, die man zu fassen bekommen kann, um etwas Gutes zu bewirken. Wenn man stattdessen versucht, das Ganze zu verstehen, hat man schnell ein Leben verbraucht, ohne viel zu erreichen.

Albert Die Hirnformel

Roger D. Traub steht in der Lobby des Hotel Adina, wenige Schritte vom Berliner Hauptbahnhof entfernt. Er trägt Cordhose, Wanderschuhe und ein Jeanshemd mit Perlmutt-Knöpfen, in seiner Brusttasche steckt einen Notizblock mit drei Kugelschreibern. Er grüßt zurückhaltend, fast vorsichtig. Das Interview soll in der Hotelbar stattfinden, wo noch das Frühstücksbüffet aufgebaut ist. Traub setzt sich in einen roten Ohrensessel, der vor einem großen Fenster steht. Draußen sind die Backsteinbauten der Charité zu sehen. Seit Jahren bucht er sich hier ein Zimmer, wenn er nach Berlin kommt. Die Kellnerin bringt Wasser mit Kohlensäure. Roger D. Traub ist Mathematiker und Neurologe, er entwickelt minutiöse Computermodelle von Nervenzellen und von Netzwerken tausender Nervenzellen im Gehirn, um herauszufinden, wie diese funktionieren und wie die Zellen untereinander kommunizieren. Dabei arbeitet er mit experimentellen Neurowissenschaftlern der Charité-Universitätsmedizin Berlin zusammen, die Hirnaktivitäten an Hirnschnitten (in vitro) oder durch Messungen am intakten Gehirn (in vivo) erforschen. Als Einstein Visiting Fellow ist Traub in den letzten vier Jahren um die 20 Mal nach Berlin gekommen. Denn die Berliner Experimente haben ein wichtiges Modell Traubs gestützt, das beschreibt, wie sogenannte „sharp waves“ entstehen, also in der Hirnstromkurve „spitz“ aussehende Wellen. „Sharp waves“ können im normalen Gehirn, aber auch in krankhaft veränderter Form bei Patienten mit Epilepsie gemessen werden. Bisher dachte man, das „sharp waves“ ausschließlich durch Synapsen generiert werden. Doch Traubs Modell und die Experimente an der Charité legen nahe, dass zusätzlich sogenannte „gap junctions“ eine sehr wichtige Rolle spielen. Die-

Haben Sie das Gefühl, bereits viel verstanden zu haben?

Im spezifischen Sinne schon. Unsere Arbeit hat zum Beispiel einen Beitrag dazu geleistet, dass Epilepsie anders verstanden wird, und sie hat neue Ideen hervorgebracht, wie man diese Krankheit behandeln kann. Das ist sicher nützlich. In Bezug auf das Ganze habe ich höchstens ein besseres Verständnis davon erlangt, warum es so schwierig ist, viel zu verstehen.

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Der Fernseher über der Theke zeigt Nachrichten: Ein schlimmes Unwetter in New York. Traub will am Nachmittag seine Frau anrufen, um nach dem Rechten zu fragen. Es ist also nicht möglich, dass menschliche Gehirn am Computer nachzubauen?

Mit unserem derzeitigen Verständnis noch lange nicht. Ob es prinzipiell möglich sein wird, kann ich nicht sagen. Sicherlich gibt es gewisse konstruktive Prinzipien, und wenn wir die besser verstehen, könnten wir ein irgendwie geartetes Modell des Gehirns schaffen. Aber im Moment ist nicht einmal klar, welche wichtigen Details wir verstehen müssen. Es ist sehr verführerisch zu denken, dass wir einfach digitale Ideen auf das Gehirn übertragen können. Aber wir haben nur gute Beschreibungen des Gehirns als physikalischem Apparat. In Bezug auf die logische Struktur, sozusagen die Befehle und Programme, tappen wir hingegen noch vollkommen im Dunkeln und wissen noch nicht einmal, ob eine Suche danach der richtige Ansatz wäre.

Wenn man die Physik von Nervenzellen oder Netzwerken von Nervenzellen beschreibt und die Schwingungen si­muliert, verwendet man Differential­gleichungen. Nervenzellen verhalten sich ein wenig wie nichtlineare elek­ trische Schaltkreise mit Widerständen und Kapazitäten. Die Nichtlinearität kommt daher, dass ihre Membrankanäle Leitwerte haben, die zeit- und spannungsabhängig sind. Der Code, den ich programmiere, löst solche Differentialgleichungen. Traub beugt sich über seinen Laptop, klickt sich geduldig durch verzweigte Ordnerstrukturen. Dann hat er gefunden, was er zeigen will: Ein Paper, das er 2005 im Journal of Neurophysiology veröffentlicht hat, es beschreibt sein größtes Modell. Über sechs Jahre lang hat er es in der Computersprache Fortran programmiert und dabei alle verfügbaren Informationen über Membraneigenheiten verschiedener Nervenzelltypen einfließen lassen. Das Ergebnis sind mehr

mathematische Modelle in der Hirnforschung verloren wären – warum?

Welche Rolle spielt die Mathe69

matik bei all dem?

Kann es zu einer Obsession werden, immer genauere Modelle zu schaffen?

Ja, es ist eine Obsession, aber selbst wenn man es obsessiv betreibt, reicht das nicht aus, um ans Ziel zu kommen. Das heißt, Sie sind nicht zufrieden damit, wie nah Ihre Modelle der Realität kommen?

Sie sagen dennoch, dass wir ohne

Weil sonst alles noch komplizierter wäre. Wenn man nur die Aufzeichnungen der Gehirnschwingungen aus Experimenten hätte, könnte man nicht sagen, wie diese zustande kommen oder warum sie so aussehen, wie sie aussehen. Man hätte extrem viele Einzelfakten ohne jeden Zusammenhang. Mit Modellen kann man einen Sinn hineinbringen und Annahmen treffen, die sich dann wieder experimentell überprüfen lassen und uns allmählich weiterbringen.

als 35.000 Zeilen Programmcode, die viele unterschiedliche Phänomene im menschlichen Gehirn simulieren können, zum Beispiel GammaSchwingungen, denen beim Lernen eine wichtige Rolle zugeschrieben wird. Er hat seinem Baby den Namen „Groucho“ gegeben, nach einem Kindheitshelden, dem Komiker Groucho Marx. „Für mich ist Groucho ein mächtiges Grundlagenwerkzeug, das ich ständig nutze“, sagt Traub. „Es hat bereits mehrfach Schwingungen vorausgesagt, die im Experiment ganz ähnlich bestätigt wurden und den Experimentatoren neue Anhaltspunkte geben konnten.“

„Wir müssen lernen, die richtigen Fragen zu stellen – was wollen wir wissen und was können wir zu wissen hoffen?“

Nein. Unser Modell zum Sharp-WaveMechanismus bei epileptischen Anfällen zum Beispiel ist immer noch umstritten, wir müssen es erst noch hieb- und stichfest machen. Der wichtigste Schritt dafür wären experimentelle Untersuchungen der „gap junctions“ in epileptischem Hirngewebe. Auch Groucho wird niemals fertig sein, es muss immer weiter verbessert werden. Nach mir werden hoffentlich andere die Arbeit daran fortsetzen. Wie können Ihre Modelle helfen, epileptische Anfälle zu verhindern?

Sie schlagen einen Mechanismus vor, um epileptische Fieberkrämpfe zu stoppen, die vor allem bei Säuglingen oder Kleinkindern auftreten. Das Modell hat gezeigt, dass bei eher saurem pH-Wert die Leitfähigkeit der „gap junctions“ unter einen bestimmten Grenzwert fällt, wodurch ↘


richtigen. Und wir müssen lernen, die richtigen Fragen zu stellen – was wollen wir wissen und was können wir zu wissen hoffen?

die sehr schnellen – krankhaft veränderten – Schwingungen zusammenbrechen. Das wird hier an der Charité untersucht. Die betroffenen Kinder bekommen Luft mit erhöhtem Kohlendioxidanteil zum Atmen, dadurch wird der pH-Wert im Gehirn saurer und der Anfall gestoppt. Am liebsten würden wir epileptische Anfälle ganz verhindern, doch dafür gibt es zu viele unterschiedliche Arten von Epilepsie. Im Moment hoffen wir noch, dass es gemeinsame Mechanismen gibt, die allen zugrunde liegen.

Es war eine seltene Krankheit, die Traubs Interesse am Gehirn geweckt hat. Er war zwölf Jahre alt und lebte in Kuala Lumpur in Malaysia, wo sein Vater, ein Insektenforscher, tropische Krankheiten erforschte. Der spätere Nobelpreisträger Daniel Carleton Gajdusek, ein Freund der Familie, zeigte dem Jungen damals Fotos von Patienten aus Neu-Guinea. Sie litten an der seltenen neurologischen Kuru-Krankheit, die zu Bewegungsstörungen und krampfhaftem Lachen führt. Der junge Traub war fasziniert: Wie konnte so etwas im Gehirn entstehen? Später, in der Highschool, las er Norbert Wieners Werk zur Kybernetik aus dem Jahr 1948. Wiener behauptete, man müsse sich nicht nur in der Medizin, sondern auch in der Mathematik auskennen, um das Gehirn wirklich zu verstehen. Traub entschloss sich für diesen langen Weg. Er studierte erst Mathematik an der Princeton University und am Massachusetts Institute of Technology, dann Medizin an der University of Pennsylvania und ließ sich zum Neurologen ausbilden. Eine Doktorarbeit in Mathematik vermied er: „Mir ging es damals nur darum, so viel Mathematik zu lernen, wie erforderlich war, um die biologischen Prozesse des Gehirns zu verstehen“, sagt er. „Mathematik zu studieren, schärft das Denken, aber wenn die Gedanken zu abstrakt werden, kommen sie einem beim Nachdenken über biologische Fragen in die Quere.“

Sehen Sie Schönheit in Ihren

Liegt eine Entschlüsselung des

Modellen?

Gehirns wie beim Genom in Reich-

Nicht wirklich, weder im Modell noch in der Biologie. Wenn man sich das Gehirn auf Molekülebene anschaut, ist es einfach nur ein furchtbares Durcheinander. Die Schönheit liegt für mich darin, dass dieses Durcheinander tatsächlich funktioniert und etwas Schönes zustande bringt.

weite?

Der Neurowissenschaftler Roger D. Traub arbeitet am IBM T. J. Watson Research Center in New York. Er war von 2010 bis 2014 Einstein Visiting Fellow am Exzellenzcluster NeuroCure der CharitéUniversitätsmedizin Berlin und setzt diese Kooperation nun als NeuroCure Visiting Fellow fort. 2007 wurde er mit dem Humboldt-Forschungspreis ausgezeichnet.

Sie liegt nicht außer Reichweite für die Menschheit, aber es wird ein Langstreckenlauf. Das liegt nicht an mangelnden Computerkapazitäten, sondern daran, dass wir verstehen müssen, welche Experimente notwendig sind und welche Präparate die

Welche Rolle spielt Gott in Ihren Berechnungen?

Keine. Er lacht und sagt auf Deutsch: „Genügt das?“ Das Frühstücksbüffet ist abgeräumt, jemand repariert die Kaffeemaschine. Gleich wird sich Traub mit Kollegen von der Charité zum Mittagessen treffen, beim Thailänder an der Ecke. Auch sein Kollege, der Einstein-Professor Dietmar Schmitz, wird dabei sein. Eine letzte Frage. Ist ein Leben lang genug für einen Hirnforscher?

Meines nicht, ich bin jetzt 69. Wer heute 20 ist und sich die nächsten 50 Jahre mit dem Gehirn beschäftigt, könnte das Glück haben, viele spannende Veränderungen zu sehen. Ich selbst halte es wie Placido Domingo, der über 70 ist und immer noch singt. Auf die Frage: „Wann hören sie auf?“, sagte er: „Wenn es an der Zeit ist.“ Auch ich werde weiter singen, solange ich kann. Das liegt mir in den Genen. 

Albert Die Hirnformel

„Mathematik zu studieren, schärft das Denken, aber wenn die Gedanken zu abstrakt werden, kommen sie einem beim Nachdenken über biologische Fragen in die Quere.“

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Mathe = kreativ und intensiv 1 eleganter Problemlöser 2 Mittel zum Zweck 3 Formalisierungsinstrument 4 Weltverständnismittel 5

➊ Mathematik ist ein Werkzeug, mit dem man sich unheimlich intensiv und kreativ neuen und schwierigen Aufgaben widmen kann. Marcus Weber ➋ Mathematik ist das eleganteste Werkzeug, um viele Arten von Problemen zu lösen. Tim Conrad ➌ Mathematik ist das Mittel zum Zweck, und der Zweck heiligt die Mittel. Max von Kleist ➍ Mathematik ist für mich ein Instrument zur Formalisierung und Modellierung komplexer Zusammenhänge. Stefan Zachow ➎ Mathematik 71

ist für mich das Mittel, die Welt zu verstehen. Martin Weiser


Schau mir in die Augen André Wagner will algebraische Geometrie nutzen, um bessere Trainingssimulatoren für angehende Augenärzte zu entwickeln. Er ist einer von 22 neuen Doktoranden in Forschungsprojekten des Einstein-Zentrums für Mathematik


Text Lars Jensen 73

Für André Wagner ist es eine positive Begleiterscheinung, dass er Freunden erklären kann, worum es in seiner Doktorarbeit geht. Auch wenn kaum jemand die Mathematik dahinter versteht, unter „Computer Vision“ können sich die meisten etwas vorstellen: Es ist der Versuch, den Computer sehen zu lassen. „Ich betrachte ein konkretes mathematisches Problem aus der algebraischen Geometrie, um die Simulation von Augen-Operationen zu verbessern“, erklärt Wagner, der an der Technischen Universität München Mathematik studiert hat und für seine Doktorarbeit nun nach Berlin gezogen ist. „Mich reizt sowohl die Schönheit der mathematischen Fragen als auch die Perspektive der konkreten Anwendung in der Computer Vision.“ Die Idee zu Wagners Forschungsthema kam dem Mathematiker und Einstein-Professor Michael Joswig, der die Doktorarbeit an der Technischen Universität Berlin betreut. Vor sechs Jahren hatte Joswig zum ersten Mal Kontakt zu dem Mannheimer Unternehmen VR magic, das medizinische Simulatoren für Augen-Operatio­ nen und Diagnoseverfahren entwickelt. Die Entwickler suchten nach einer mathematischen Lösung, um die virtuelle Realität der Simulatoren zu verbessern. Es ging darum, die Messpunkte mathematisch zu beschreiben, die nötig sind, um virtuelle Bilder an der richtigen Stelle in die Wirklichkeit hineinzurechnen. Joswig, der damals noch Professor an der Technischen Universität Darmstadt war, machte einige Vorschläge, wie man die komplexe Situation modellieren könnte, kam aber zu keiner überzeugenden Lösung. „Es fühlte sich einfach nicht richtig an“, sagt er rückblickend. Doch die Frage bewegte ihn weiterhin – und mit ihr die Idee, algebraische Geometrie zu nutzen, um Probleme der Computer Vision zu lösen. „Das wurde in den 1990er Jahren bereits versucht, es hat aber nie funktioniert, weil es algorithmisch nicht richtig aufbereitet wurde.“ Im Oktober 2013 veranlasste ihn ein Aufsatz im Canadian Journal of Mathematics, es noch einmal zu probieren. Die Autoren, darunter der neue Einstein Visiting Fellow Bernd Sturmfels (siehe Seite 20 im Heft), beschrieben effektive Methoden zur Nutzung von algebraischer Geome­trie für die Computer Vision. Es war das fehlende Bindeglied. Joswig reichte einen Projektantrag beim gerade entstehenden

Einstein-Zentrum für Mathematik Berlin (ECMath) ein und fand nach der Zusage in André Wagner einen geeigneten Doktoranden. „In meiner Masterarbeit habe ich ganz ähnliche Ansätze behandelt, also geometrische Probleme von algebraischer Seite aus betrachtet“, sagt Wagner. Darauf will er nun aufbauen und mit den Daten von VR magic nach mathematischen Lösungen für das Problem des Unternehmens suchen. „Aber es werden sicher auch Aussagen herauskommen, die in vielen anderen Anwendungsbereichen einen Nutzen haben könnten.“ Etwa bei der automatisierten Fahrzeugerkennung im Straßenverkehr oder bei der visuellen Informationsverarbeitung bei Robotern.

Die fühlbare Welt verschmilzt mit der virtuellen In Mannheim sticht der Physiker Clemens Wagner mit einer Miniaturpinzette in eine Augenattrappe. Es ist eine Metallhalbkugel mit Silikonrand, die in einer silbernen Gesichtsmaske aus Kunststoff liegt – eine Trainingsstation für angehende Augenchirurgen. Wagner schaut durch zwei Okulare. Sie zeigen ihm eine Simulation, die auch auf einem Bildschirm zu sehen ist: Das Auge eines virtuellen Patienten ist mit einer Lidsperre weit geöffnet. Die Bewegungen von Wagners Pinzette werden in die simulierte OP-Situation hineingerechnet, während er selbst in der Hand den Widerstand des Silikons spürt – die fühlbare Welt verschmilzt mit der virtuellen. Die Technik, die das ermöglicht, wurde von VR magic entwickelt: Im Innern der Gesichtsmaske befinden sich vier Kameras, die das mechanisch gelagerte Auge und das Instrument des Operateurs von unten filmen und anhand farbiger Punkte jede Bewegung erfassen – ein optisches TrackingSystem im Miniaturformat. „Als Krankheitsbild habe ich einen grauen Star eingestellt und kann die Operation jetzt Schritt für Schritt trainieren“, sagt Wagner. Er reißt die virtuelle Linsenkapsel vorsichtig auf, zerschneidet mit einem Ultraschallinstrument die eingetrübte Linse und saugt sie ab. Im letzten Schritt legt er mit einem Injektor eine neue Acryl-Linse hinter den übrig gelassenen Rand der Linsenkapsel. „Jetzt kann der Patient wieder sehen, die Linse ist wieder klar“, sagt Wagner. ↘


Ein neuer Erkennungsalgorithmus Die Technik hinter dem Indirect Ophthalmoscope Simulator ist komplex: Kameras am Augmented-Reality-Helm übertragen die natürliche Umgebung, zusätzliche Infrarotkameras registrieren für das bloße Auge unsichtbare InfrarotLED -Lampen, die in der schwarzen Fläche neben dem Kunststoffgesicht verteilt sind. Sie dienen als Messpunkte, mit denen die Software sich orientieren kann: Ein Algorithmus ermittelt aus ihrer Verteilung die exakte Position des Helms zum Gesicht – um die virtuelle Realität an der richtigen Stelle auf die Wirklichkeit zu legen. „Das klingt zunächst einfach, kann aber sehr schwierig werden, weil man aus verschiedenen Richtungen und Winkeln auf die LED Lampen schauen kann und häufig nur eine Un-

termenge sieht, weil einige vom Plastikgesicht verdeckt sind“, sagt Daniel Foethke, der bei VRmagic die Kooperation mit der Technischen Universität Berlin betreut. Die Entwickler von VRmagic würden den Diagnose-Simulator gerne weiterentwickeln und die Messpunkte direkt auf Nase, Kinn, Augen und Wangen des Kunststoffgesichts verteilen – also im dreidimensionalen Raum. Doch für die Weiterentwicklung fehlt ein effektiver Algorithmus. „Für Punktwolken, die auf einer Ebene liegen, haben wir das Problem recht gut im Griff, aber nicht bei einer dreidimensionalen Verteilung.“ Hier kommen Michael Joswig und André Wagner ins Spiel. Die Hoffnung bei VRmagic ist, mit ihrer Hilfe eine Beschreibung zu finden, die schnell rechenbar ist. „Ich habe mal

„Es kann sein, dass etwas mathematisch Schönes heraus­kommt, das in der Anwendung nicht funktioniert. Aber es ist wichtig, dass wir solche Risiken eingehen.“ Michael Joswig

gelernt, dass es für ein kompliziertes Problem immer auch eine mathematische Beschreibung gibt, in die man es übertragen kann, um eine einfache Lösung zu finden“, sagt VR magic-Geschäftsführer Markus Schill. „Wir hoffen, dass am Ende etwas Brauchbares steht, aber es ist ein Forschungsprojekt mit offenem Ausgang.“ In Berlin greift Michael Joswig zum Stift, um am Whiteboard das mathematische Problem zu skizzieren, vor dem er und André Wagner stehen. Er zeichnet ein Objekt, mehrere Kameras und ihre Filmebenen, die einen Ausschnitt der Wirklichkeit aufzeichnen – ein Abbild des Objekts. Die Menge aller Bilder auf den Film­ ebenen der Kameras wird mathematisch durch eine algebraische Varietät beschrieben, „multiview variety“ genannt. Aus den Bildern und aus der bekannten Position der Augenattrappe wird die Kameraposition für die Simulation berechnet.

Albert Schau mir in die Augen

Jede seiner Bewegungen wurde von der Software registriert und kann statistisch ausgewertet werden – bis hin zum Zittern der Hand, der Effizienz einzelner Arbeitsschritte oder der Belastung des Gewebes. „Es ist ein bisschen wie bei einem Computerspiel, man versucht immer besser zu werden.“ Und wird es auch: Eine unabhängige Studie hat gezeigt, dass Operateure nach intensivem Training am Simulator drei Mal weniger Fehler machen. VR magic entwickelt nicht nur Simulatoren zur Behandlung, sondern auch zur Diagnose von Augenerkrankungen. Der sogenannte Indirect Ophthalmoscope Simulator sieht aus wie ein schwarzer Flachbildschirm, aus dem ein Kunststoffgesicht herauswächst. Mit einem Augmented-Reality-Helm auf dem Kopf hält Clemens Wagner eine Lupe vor das Plastik-Gesicht. Ein Bildschirm überträgt, was er sieht: Eine virtuelle blauäugige Patientin blinzelt ihn an, davor sieht er seine eigene Hand, die in die Simulation hineingerechnet wird. Wagner schaut mit der Lupe durch die Pupille der Patientin hindurch in die Innenseite des Augapfels, wo Merkmale einer Krankheit simuliert werden. „In ihrer Akte steht, dass sie einen Nebel sieht, mit etwas Übung kann ich in der Simulation eine Netzhautablösung diagnostizieren“, sagt Wagner. „Wir können verschiedene Krankheitsbilder laden, nicht nur spezifische Netzhauterkrankungen, auch Diabetes, Bluthochdruck oder bakterielle und virale Infektionen.“

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Diese Methode verwendet VR magic, sie führt aber in ein Dilemma: Einerseits braucht man viele Messpunkte, um die Situation möglichst genau aufzulösen, andererseits dauern die Experimente dann zu lange oder die Daten lassen sich in dieser Menge gar nicht mehr verarbeiten. Schlimmstenfalls kann die virtuelle Realität zusammenbrechen. „Deswegen wollen wir weg von Messpunkten und stattdessen Gleichungen verwenden, die alle denkbaren Bilder auf einen Schlag beschreiben“, sagt Joswig. Die Arbeit aus dem Canadian Journal of Mathematics leistet hier eine entscheidende Vorarbeit. „Die Gleichungen selbst sind aber nur der erste Schritt, sie beschreiben nur eine idealisierte Situation, in einer konkreten Echtzeitsituation gibt es ein Rauschen, etwa durch kleine Verschiebungen der Kamera oder Fehler in der Optik. Das wollen wir beseitigen.“ Für diese Ungenauigkeiten mathematische Lösungen zu finden, ist ein weiteres Ziel von Wagner und Joswig.

Wenn die gleichungsbasierte Herangehensweise gelingt, dann wird sie der bisherigen punktbasierten überlegen sein. Zwar wären die neuen Algorithmen extrem rechenaufwendig, doch ein Teil der Rechnung könnte bereits vorab geschehen, um dann in der konkreten Situation sehr schnell Ergebnisse liefern zu können. Joswig ist zuversichtlich, doch es gibt keine Garantie, dass am Ende ein überlegener Erkennungsalgorithmus stehen wird. „Es kann sein, dass etwas mathematisch Schönes dabei herauskommt, das jedoch in der Anwendung nicht funktioniert. Aber es ist wichtig, dass wir solche Risiken eingehen“, sagt Joswig. „Ich sehe ein großes Potenzial der Universitäten darin, neue Arten der Mathematik in die Anwendung zu tragen, wir dürfen uns nicht auf bestehenden Methoden ausruhen.“ 

Simulatoren von VRmagic ermöglichen ein intensives Training für angehende Augenärzte, zum Beispiel für die Diagnose von Augenkrankheiten. Effektive Algorithmen sind eine wichtige Voraussetzung, damit die reale und die virtuelle Welt möglichst nahtlos miteinander verschmelzen.

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Exodus der Zahlenk체nstler Als die Nationalsozialisten in den 1930er Jahren j체dische Mathematiker aus dem akademischen Leben dr채ngten, protestierte kaum ein Fachkollege. Viele Verfolgte flohen ins Ausland. Einige wurden ermordet. Die Friedrich-Wilhelms-Universit채t in Berlin verlor ihre Stellung als Hochburg der mathematischen Forschung


Der Berliner Mathematik-Professor Issai Schur kann es kaum fassen, als zu Beginn der 1930er Jahre die Schikanen der Nazis gegen ihn und andere jüdische Wissenschaftler an der Friedrich-Wilhelms-Universität immer schlimmer werden. Er zögert seine Flucht gefährlich lange hinaus. ➋ Richard von Mises erkennt die Bedrohung früher: Der zum Christentum konvertierte jüdische Direktor des Instituts für Angewandte Mathematik an der Friedrich-Wilhelms-Universität emigriert rechtzeitig in die Türkei. ➌ Der Algebra-Experte Edmund Landau, praktizierender Jude, der sich in Berlin habilitiert hat und seit 1909 Professor an der Universität Göttingen ist, nimmt die Bedrohung durch die Nationalsozialisten wie Issai Schur zunächst nicht ernst – bis Studierende seine Vorlesungen boykottieren.

Text Till Hein

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Entlassung unerwünschter Professoren dienen wird. „Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand zu versetzen“, heißt es darin. Zwar ist, wer bereits vor 1914 Professor wurde, von der Regelung ausgenommen. Doch der zusätzliche Passus: „Zur Vereinfachung der Verwaltung können Beamte in den Ruhestand versetzt werden, auch wenn sie noch nicht dienstunfähig sind“ hebelt diesen Schutz wieder aus. Schur hat die beunruhigenden Entwicklungen im öffentlichen Leben verfolgt und kann es dennoch kaum fassen, als er Ende April 1933 beurlaubt wird. Ob er sich wegen seiner wissenschaftlichen Verdienste zu sicher fühlte? Er wäre nicht der einzige jüdische Mathematiker, der die drohende Gefahr unterschätzt hat. Sein renommierter Kollege Edmund Landau von der Universität Göttingen scherzte 1932, als ein Ministerialrat ankündigte, die Nazis würden im Fall ihrer Machtergreifung in der Lüneburger Heide ein Konzentrationslager errichten:

„Wenn Hitler es darauf angelegt hätte, Amerika zum Weltzentrum der mathematischen Forschung zu machen, hätte er es nicht besser anfangen können.“ Raymond Fosdick, Präsident der Rockefeller Foundation in New York, 1955

Viele fliehen ins Ausland. Andere werden ermordet oder nehmen sich das Leben. Und die Friedrich-WilhelmsUniversität verliert ihre Stellung als Hochburg der mathematischen Forschung. Der ideologisch begründete Hass gegen alle Juden ist den Nationalsozialisten wichtiger als Förderung und Schutz erstklassiger Forschung. Weshalb aber erleben die Betroffenen so wenig Solidarität von ihren Fachkollegen? Und warum zögern manche jüdische Forscher ihre Flucht dennoch gefährlich lange hinaus? Die Beurlaubung Schurs im Frühling 1933 kommt nicht überraschend: Bereits im Sommersemester 1931 reißen Jung-Nazis während einer seiner Vorlesungen die Tür zum Hörsaal auf und rufen: „Juden raus! Juden raus!“ Dann rennen sie davon. Die Studenten im Saal versichern Schur ihrer Sympathie. Doch er und viele weitere jüdische Gelehrte werden in den Monaten darauf zunehmend schikaniert. Nur wenige Wochen vor Schurs Beurlaubung, am 7. April, verabschieden die Nazis schließlich das sogenannte Berufsbeamtengesetz – das ihnen vor allem zur

Albert Exodus der Zahlenkünstler

Am Samstag, den 29. April 1933, erhält Mathematikprofessor Issai Schur Post vom Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kultur und Volksbildung. Hiermit sei er von seiner Lehrtätigkeit an der Berliner Friedrich-WilhelmsUniversität beurlaubt, so das Schreiben: „mit sofortiger Wirkung“. Schur ist wie vor den Kopf gestoßen. Der hagere Mann mit der filigranen Brille auf der Nase ist erst 58 Jahre alt und seine fachliche Expertise unbestritten. „Einer der produktivsten und ideenreichsten Mathematiker“, bescheinigen ihm Fachkollegen. Seit bald 40 Jahren lebt Schur, der in Mahiljou (Weißrussland) geboren wurde, in Deutschland. Längst hat er die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Seit 20 Jahren ist er Professor, seit gut zehn Jahren Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Seine Vorlesungen zur Zahlentheorie und zur Darstellungstheorie von Gruppen sind beliebt. Doch er ist Jude – und aus Sicht der Nationalsozialisten nicht mehr tragbar. Scharenweise drängen die neuen Machthaber in den 1930er Jahren jüdische Mathematiker wie Issai Schur aus dem akademischen Leben. Mit immer neuen Gesetzen und Schikanen schüchtern sie die Wissenschaftler ein.

„Dann sollte ich mir unverzüglich ein Zimmer mit Südbalkon reservieren lassen.“ Wahrscheinlich kann Landau, wie so viele andere, nicht glauben, dass die Deutschen wirklich einen solchen Fanatismus entwickeln würden. Manche Wissenschaftler erkennen den Ernst der Lage früher: Der aus einer jüdischen Familie stammende Mathematikprofessor Richard von Mises, Direktor des Instituts für Angewandte Mathematik der Friedrich-Wilhelms- ↘

Im Februar 1935 begrüßen Studenten der Friedrich-WilhelmsUniversität (1949 in Humboldt-Universität zu Berlin umbenannt) den Reichsführer der Deutschen Studentenschaft, Andreas Feickert, zum Semesterschlussappell. Zu diesem Zeitpunkt sind viele jüdische Mathematiker bereits aus dem akademischen Leben gedrängt und die Friedrich-Wilhelms-Universität hat ihre Stellung als Hochburg der mathematischen Forschung verloren. ↗

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Universität, bittet, obwohl katholisch getauft, bereits im Oktober 1933 um seine Entlassung und bemüht sich um eine Stelle im Ausland. Ab 1934 arbeitet der Experte für Aero- und Hydrodynamik an der Universität Istanbul. Die Ausnahme-Mathematikerin Emmy Noether von der Universität Göttingen emigriert bereits 1933 und arbeitet später an einem College bei Philadelphia. Und der in Berlin lebende Physik-Nobelpreisträger Albert Einstein verlässt Deutschland 1933 unter Protest Richtung Übersee, um in Princeton (New Jersey) weiter zu forschen. Issai Schur hingegen harrt in Berlin aus. Die Beurlaubung im April 1933 hat ihn schwer getroffen. Doch ein Angebot aus den USA für eine Professur lehnt er ab. Er fühle sich nicht mehr bei Kräften genug, in einer Fremdsprache zu unterrichten. Er könne Deutschland daher nicht verlassen, gesteht er einem Freund. Er wolle abwarten. Die Begeisterung für Hitler werde sicher bald ein Ende nehmen, die Vernunft obsiegen.

versage. Die Hauptursachen dafür, dass Menschen vom S-Typus entstehen, vermutet Jaensch in Tuberkuloseerkrankungen sowie in „extremer Rassenvermischung“. Bieberbach erweitert Jaenschs Konzept um antisemitische Elemente: Im Rahmen der „Deutschen Mathematik“ fordert er unter anderem eine Hinwendung zur Geometrie und eine Abkehr von den Forschungsgebieten Algebra und Zahlentheorie, da Letztere – wie überhaupt die gesamte moderne Mathematik – „jüdisch“ und daher minderwertig seien. Den jüdischen Mathematikprofessor und Algebra-Experten Edmund Landau aus Göttingen etwa bezeichnet er entsprechend als „eindringliches Beispiel“ eines S-Typen. Und fordert, die „Pflege deutscher Art“ habe mit der geeigneten Auswahl der Lehrer und Professoren zu beginnen.

Ludwig Bieberbach propagiert eine „Deutsche Mathematik“, die sich klar von einer minderwertigen „gegentypischen Mathematik“ abhebe, wie sie vor allem von jüdischen Wissenschaftlern betrieben werde. Anfang Oktober 1933 scheint sich für Schur noch einmal alles zum Guten zu wenden. Seine Beurlaubung wird aufgehoben. Erhard Schmidt, Präsident der Deutschen Mathematiker-Vereinigung in Berlin und Mitbegründer der Funktionsanalysis – ein einflussreicher „arischer“ Kollege –, hat sich für ihn starkgemacht. Eine Ausnahme. Denn die Mehrheit der jüdischen Mathematiker erlebt keine Solidarität. So mancher „arische“ Akademiker aus dem Mittelbau wittert vielmehr die Chance, bei geringer Qualifikation nun selbst einen hohen Posten zu ergattern, und unterstützt die Hetzkampagne der Nazis aus taktischen Gründen. Aber es gibt auch veritable Überzeugungstäter. Ludwig Bieberbach, der an der Friedrich-Wilhelms-Universität lehrt, ist einer von ihnen. Er propagiert eine „Deutsche Mathematik“, die sich klar von der minderwertigen „gegentypischen Mathematik“ abhebe, wie sie vor allem von jüdischen Wissenschaftlern betrieben werde. Bieberbach beruft sich auf die sogenannte Integrationstypologie des Marburger Psychologen Erich Rudolf Jaensch, die zwei Persönlichkeitstypen unterscheidet: den biologisch vollwertigen J-Typen sowie den S-Typen, mit „labilem, schwachem Seelenleben“ – der dadurch auch als Wissenschaftler

Als Studenten 1933 die Vorlesungen Lan­ daus boykottieren, schreibt er: „Man hat darin ein Musterbeispiel dafür zu sehen, dass Vertreter allzu verschiedener Rassen nicht als Lehrer und Schüler zusammenpassen. Der Instinkt der Göttinger Studenten fühlte in Landau einen Typus undeutscher Art, die Dinge anzupacken.“ Bald darauf wird Edmund Landau aus dem Amt gedrängt. Im Februar 1938 stirbt der 61-Jährige in Berlin an Herzversagen. Das Vorgehen der Nationalsozialisten gegen jüdische Gelehrte wirkt unkoordiniert und oft verwirrend – doch steckt Berechnung dahinter: Die ständig neuen und oft widersprüchlichen gesetzlichen Regelungen, die Demütigungen, Drohungen und Denunziationen zielen allesamt darauf ab, die Betroffenen und ihr Umfeld zu verunsichern. Aus Angst um die eigene Stellung soll niemand für die Opfer Partei ergreifen. Allein in Berlin werden im Lauf der 1930er Jahre insgesamt 49 Mathematiker aus dem akademischen Leben gedrängt, 39 von ihnen emigrieren. Aus Göttingen, der zweiten Hochburg

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der Fachrichtung, fliehen 24 Mathematiker ins Ausland. Die britische Hilfsorganisation Academic Assistance Council verzeichnet im Jahr 1935 insgesamt 1.202 aus Deutschland geflüchtete Wissenschaftler. Auch der Druck auf Schur wird immer größer. Am 29. August 1935, nachdem Ludwig Bieberbach, inzwischen Dekan der Friedrich-Wilhelms-Universität, ihn zu einem dringenden Gespräch in sein Büro zitiert hat, bittet er um seine endgültige Entlassung als Professor. Es soll aussehen, als würde Schur „von sich aus“ gehen. Bald darauf darf er nicht einmal mehr Fachbücher aus der Seminarbibliothek ausleihen. Schur versinkt in schwere Depressionen. Besucht ihn ein alter Freund in der Ruh­ laer Straße 14 in Berlin-Schmargendorf, wo er mit seiner Frau Regina lebt, so ruft er, wenn er auf dessen Klingeln die Wohnungstür geöffnet hat, manchmal erleichtert aus: „Ach, Sie sind es und nicht die Gestapo!“ Im Sommer 1938 tritt ein, wovor sich Issai Schur schon lange gefürchtet hat: Er erhält eine Vorladung der Staatspolizei. Doch seine Frau Regina verheimlicht ihm das Schreiben und schickt ihn in ein Sanatorium. Denn er hat mehrfach erklärt, bevor er sich von Hitlers Schergen verhören ließe, würde er sich lieber das Leben nehmen. Als Regina Schur mit dem ärztlichen Attest für ihren Gatten bei der Gestapo vorspricht, fragen die Männer in Uniform sie nur, weshalb sie und ihr Mann noch nicht ausgewandert seien. Sie gibt zu Protokoll, dass man die Auswanderung vorbereite. Aber erst die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November macht Schur endgültig klar, dass er fliehen muss. In ganz Deutschland töten Schlägertrupps hunderte Juden, fackeln 1.400 Synagogen ab und zerstören etwa 7.500 jüdische Geschäfte. Doch selbst die Emigration aus dem Land, in dem sie verhasst sind, wird jüdischen Wissenschaftlern inzwischen schwer gemacht. Das erste Ausreisegesuch stellt Schur wenige Tage nach der Pogromnacht. Doch erst nach zwei weiteren Anträgen genehmigt ihm das Ministerium am 14. Januar 1939 „unter Vorbehalt“ die Ausstellung eines Reisepasses. Am 15. Februar 1939 verlassen die Schurs Deutschland in Richtung Palästina. Dort finden viele vor den Nazis geflohene Mathematiker am Einstein Institute of Mathematics der Hebrew University in Jerusalem eine neue Stelle. Ab den 1970er Jahren wird dieses Institut auch als Forschungsanstalt für EDV und Informatik eine wichtige Rolle spielen. Die Mehrheit der deutschsprachigen MathematikerEmigranten zieht es jedoch in die USA. An der New York University bauen sie das Courant Institute of Mathematical Sciences auf: ein wichtiges Zentrum für angewandte Mathematik. Und das Institute for Advanced Study in Princeton (New Jersey), an dem neben Albert Einstein

auch der 1940 aus Wien geflohene renommierte Mathematiker Kurt Gödel wirkt, erlebt ebenfalls einen steilen Aufstieg. „Wenn Hitler es darauf angelegt hätte, Amerika zum Weltzentrum der mathematischen Forschung zu machen, hätte er es nicht besser anfangen können“, wird Raymond Fosdick, der langjährige Präsident der Rockefeller Foundation in New York, im Jahr 1955 konstatieren. Einige jüdische Mathematiker aber zögern ihre Flucht zu lange hinaus: Paul Epstein, der an der Universität Frankfurt lehrte, nimmt sich im August 1939, als ihn die Gestapo vorlädt, mit Tabletten das Leben. Sein Berliner Kollege Robert Remak, Experte für Potenzialtheorie und Geometrie der Zahlen sowie Privatdozent an der Friedrich-Wilhelms-Universität, kann sich 1939 gerade noch in die Niederlande retten. Doch dort greifen ihn die Nazis auf, deportieren ihn 1942 ins Konzentrationslager Auschwitz und ermorden ihn. Issai Schur und seiner Frau Regina schaffen es bis nach Palästina. Als sie im Mai 1939 Tel Aviv erreichen, ist der Mathematiker jedoch gesundheitlich angeschlagen und wirkt wie traumatisiert. Denn auch im Exil hält er sich an die Vorgaben der Nazi-Behörden aus Deutschland und besteht darauf, dass er nicht mehr das Recht habe zu publizieren. Nur ein einziges Mal gelingt es jüngeren Kollegen, ihn zu einem Vortrag an der Universität in Jerusalem zu überreden. Er beginnt die Vorlesung zu „inequalities in polynomial theory“ wie in seinen besten Zeiten. Doch mitten im Vortrag bittet Schur um Entschuldigung, lässt sich auf einen Stuhl nieder und neigt den Kopf vornüber, als grüble er über ein schweres Problem nach. Wenige Minuten später erhebt er sich plötzlich wieder und beendet den Vortrag so elegant, als sei nichts vorgefallen. In Wirklichkeit aber erlitt Schur während seines Referats einen leichten Herzinfarkt. Wenige Monate darauf, am 10. Januar 1941, stirbt er an einem weiteren Infarkt. Es ist sein 66. Geburtstag. Ein Jahr später entziehen ihm die Nationalsozialisten posthum die deutsche Staatsangehörigkeit. An jüdische Gelehrte wie Issai Schur, die jahrzehntelang entscheidend zum Ruhm der mathematischen Forschung in Deutschland beigetragen haben, soll in Berlin nichts mehr erinnern. 


Optimal ist besser Martin Grötschel liebt Effizienz. Der Mathematiker optimiert, wo er nur kann. Seine Algorithmen verringern die Wartezeit am Lift, berechnen die Frequenzverteilung von Mobilfunknetzen oder die Taktung von U-Bahnen in Großstädten


Text Holger Dambeck Grafik Raúl Kokott 83

Es ist kurz nach zwölf und Martin Grötschel kommt zum Verschnaufen für eine Kaffeepause in sein Büro. Bis eben hat er eine Mathematikvorlesung gehalten, die nächste Sitzung drängelt schon. Wenn es eine Methode gäbe, aus einer Sekunde zwei zu machen, Grötschel würde sie sofort anwenden. Denn er ist gut beschäftigt als Präsident des Konrad-Zuse-Zentrums für Informationstechnik Berlin, Professor an der Technischen Universität Berlin (TU) und Vorstandsvorsitzender der Einstein Stiftung. Doch solange man Sekunden noch nicht bei Bedarf verdoppeln kann, macht Martin Grötschel das, was er am besten kann: Er optimiert. Er entwickelt Methoden, um Zeit und Ressourcen effizienter zu nutzen. Grötschel ist ein nüchterner, freundlicher Mensch – aber er wird auch schon mal ungeduldig, wenn ihm etwas zu langsam geht oder für sein Verständnis zu umständlich organisiert ist. Wenig überraschend für jemanden, der eigentlich immer auf der Suche nach einer optimalen Lösung ist. „Für mich ist das normal“, sagt er. Er denke sehr genau über Abläufe nach, selbst beim Planen der Wochenendeinkäufe oder beim Kochen zu Hause.

„Niemand muss sich dem unterziehen, was manche Leute ‚Terror der Optimierung‘ nennen, aber wenn wir nicht die Effizienz unserer Zeit hätten, wäre unser Lebensstandard nicht so hoch.“ Gemeinsam mit Kollegen hat Grötschel Fahrpläne von Verkehrsbetrieben so lange umgekrempelt, bis weniger Busse dieselben Strecken mit unveränderter Taktung bedienten und trotzdem jeder Fahrer die ihm zustehenden Pausen bekam. Das war nur mit Computerhilfe möglich, denn dabei mussten abertausend Varianten getestet werden. Ein Beispiel: Soll der 100er Bus an der Endstelle zehn Minuten warten und auf derselben Linie zurückfahren? Oder ist es besser, wenn er nur fünf Minuten wartet, seine Nummer wechselt und auf einer anderen Linie weiterfährt? Durch geschickte mathematische Modellierung und anschließendes Bewerten und Aussortieren suboptimaler Lösungen findet die Software schließlich den gesuchten besonders effizienten Fahrplan. Das Optimieren hat Grötschel schon als Schüler beschäftigt: „Ich habe mir auf dem Weg in die Schule oder zu Veranstaltungen genau überlegt, welchen Weg ich hin und zurück nehme und wo ich zum Beispiel die Straßenseite wechsle“, erzählt er. Jetzt wollen wir von Grötschels ↘


Bunte Linien auf Netzplänen verheimlichen, wie kompliziert Fahrpläne im öffentlichen Nahverkehr in Wirklichkeit sind. Will man sie verbessern, helfen Optimierer wie Martin Grötschel. Sie setzen ihre Mathematik dafür ein, Umsteigezeiten für Fahrgäste zu minimieren oder Kosten einzusparen, indem sie die Fahrpläne so verändern, dass weniger Fahrzeuge dieselben Strecken mit unveränderter Taktung bedienen – und jeder Fahrer trotzdem die ihm zustehenden Pausen machen kann.



Wenn es eine Methode gäbe, aus einer Sekunde zwei zu machen, Grötschel würde sie sofort anwenden. Das Thema Fahrstuhl wäre damit eigentlich als unbezwingbar abgehakt, aber Grötschel und seine Kollegen haben es trotzdem versucht. In einem Bürogebäude gleich neben der TU müssen Angestellte beim Rufen des Lifts eintippen, in welche Etage sie fahren wollen. Mitunter wird sogar nach der Anzahl der Personen gefragt. „Mit diesen Informationen lassen sich die Fahrstühle deutlich besser steuern.“ Das spare Geld und den Benutzern auch Zeit. Die wohl beste Lösung für ungeduldige Liftbenutzer kommt allerdings ganz ohne Mathematik aus. „Ein neben dem Fahrstuhl angebrachter Spiegel verringert die gefühlte Wartezeit“, berichtet Grötschel. Das hätten Studien von Liftherstellern gezeigt. Den Leuten werde nicht langweilig, weil sie ihre Frisur ordneten oder die Krawatte zurechtrückten. Jetzt sind wir in der U-Bahnstation angekommen und studieren den Netzplan der BVG. Wie kommt man von hier am schnellsten zum Brandenburger Tor? Kriegt das ein Experte für Optimierung im Kopf hin? Grötschel macht sich gar nicht erst die Mühe und zückt sein Smartphone. „Ich nutze Routenplaner, so wie die meisten Menschen.“

Auch beim Autofahren vertraut er einem Navi, selbst in Berlin, wo er sich gut auskennt. „Es findet häufig bessere Wege als ich.“ Das Problem des kürzesten Wegs sei dank schneller Algorithmen auch auf kleinen Computern sehr gut lösbar. Clevere Lösungsverfahren weisen jeder einzelnen Straße und jeder Kreuzung Gewichte zu und finden mit raffinierten Verarbeitungsstrategien den kürzesten Weg. Perfekt könne ein Routenplaner freilich kaum sein. „Der eine will nicht gern links abbiegen, der andere in einem bestimmten Viertel keine Nebenstraßen fahren.“ Wollte man all das berücksichtigen, müsste der Anwender sich durch lange Menüs arbeiten, bis er alles eingetippt habe. „Da muss man einen Kompromiss finden zwischen höchster Genauigkeit und Nutzerfreundlichkeit.“ Das Geschimpfe auf Routenplaner, die einen falsch geleitet haben, versteht Grötschel nicht. „Jeder, der früher mit einem Straßenatlas unterwegs war, hat sich ständig verfahren. Aber das erzählt heute keiner mehr.“ Dass Navigieren unendlich viel besser geworden sei, werde kaum registriert. Grötschel weiß, dass Menschen das Streben nach immer effizienteren Abläufen auch als Last empfinden. „Niemand muss sich dem unterziehen, was manche Leute ‚Terror der Optimierung‘ nennen“, meint er. „Aber wenn wir nicht die Effizienz unserer Zeit hätten, wäre unser Lebensstandard nicht so hoch.“ Die Wirtschaft gerade in Deutschland profitiere von der Optimierung aller möglichen Prozesse und Bereiche durch Mathematiker. Dass dies kaum jemandem bewusst ist, wurmt Grötschel schon ein wenig. Aber einen Trost hat er: Die vielen Menschen, die Matheanwendungen wie Routenplaner, Internet-Suchmaschinen oder Computer benutzen, sind der beste Beleg dafür, dass Mathematik das Leben immer einfacher macht. 

Martin Grötschel forscht in den Bereichen Optimierung, Operations Research und diskrete Mathematik. Er ist Professor an der Technischen Universität Berlin, Präsident des Zuse-Instituts und seit 2011 Vorstandsvorsitzender der Einstein Stiftung Berlin. Im Oktober 2015 tritt er das Amt des Präsidenten der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften an und wird in dieser Funktion weiterhin Mitglied im Vorstand der Einstein Stiftung sein.

Albert Optimal ist besser

Büro in der TU Berlin zur U-Bahnstation Ernst-ReuterPlatz – und der Mathematiker hat auch diesen Weg längst für sich optimiert. „Nicht den Lift, sondern die Treppe“, meint er. „Das ist schneller und gesünder.“ Beim Herunterlaufen erklärt Grötschel, warum Fahrstühle ein ständiges Ärgernis sind: „Der Mensch wartet halt nicht gern.“ Als Mathematiker kann er dagegen wenig tun, denn beim Fahrstuhl stoßen Algorithmen an ihre Grenzen. „Wenn ich für den ganzen Tag im Voraus wüsste, wer wann von wo nach wo fahren möchte, könnte ich die optimale Reihenfolge der Aufzugsfahrten bestimmen.“ Doch das könne niemand vorhersagen. „Ohne Daten kann man nichts optimieren.“ Während der Fahrstuhl fahre, drückten irgendwo im Haus Leute auf Knöpfe – und darauf müsse der Lift reagieren. „Der Fahrstuhl fährt los, kurz danach kommt eine große Gruppe auf einer anderen Etage zum Lift.“ Hätte man das früher gewusst, wäre der Fahrstuhl anders gefahren.“ So kommt es, dass aufgrund fehlender Informationen Entscheidungen getroffen werden, die sich im Nachhinein als ungünstig herausstellen.“

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Fröhliche Fehlersuche Mathematik? Die einen hassen sie seit den Schultagen, die anderen lieben sie so sehr, dass sie sich ihr Leben nicht ohne sie vorstellen können. Für den Mathematiker Günter M. Ziegler ist sie die emotionalste Wissenschaft der Welt


Text Günter M. Ziegler 89

An Schlechtwettertagen fahre ich morgens mit der U3 zur Freien Uni­ versität Berlin, vom Nollendorfplatz bis Dahlem Dorf. Wenn die Bahn noch nicht auf dem Gleis steht, warte ich oft gemeinsam mit einer Reinigungsfrau, die den Zug vor der Abfahrt noch durchkehren und Müll entfernen wird: Die sitzt dann am Bahnsteig und löst Sudokus – mathematische Knobelaufgaben! Da ist er, der alltägliche Spaß am Kniffligen. Mich hat dieser Spaß schon sehr früh gepackt, etwa in Form des „3a+1“-Problems. Dieser Klassiker unter den Knobelaufgaben wird dem Polen Stanisław Ulam, dem deutschen Numeriker Lothar Collatz und auch dem russischen Geheimdienst zu Zeiten des Kalten Krieges zugeschrieben, der damit die mathematische Forschung der USA für mehrere Jahre lahmgelegt haben soll. Mit dem „3a+1“-Problem habe ich als Schüler einen ganzen Sommer lang gekämpft. Eine wirklich harte Nuss! Meine Mutter erzählt, ich sei immer wieder vom Tischtennis-Spielen mit meinen Brüdern weggerannt, um irgendeine Idee zu notieren. Keine war aber letztlich gut genug, um das Problem zu knacken. Es war trotzdem ein schöner Sommer. Und zu dem Problem komme ich alle paar Sommer mal wieder zurück, obwohl ich inzwischen weiß, dass ich mich mit Zahlentheorie nicht genügend auskenne, um es in den Griff zu bekommen (das "3a+1"-Problem zum Miträtseln auf Seite 106). Natürlich teilt nicht jeder meine Begeisterung für harte Nüsse, ganz im Gegenteil, es gibt ja auch viele und manchmal sehr lautstarke Mathematik-Hasser! Allzu häufig hört man den Satz: „Mathe hab’ ich schon in der Schule gehasst“. Aber hassen diese Menschen wirklich die ganze Mathematik? Sie ist mit ihren vielen tausend Teilgebieten so bunt und so vielfältig, dass man gar nicht alles an ihr hassen

kann! All die Bilder, Formeln, Entdeckungen, Erfahrungen. Aber auch lieben kann man nicht alles an ihr. Mich begeistert zum Beispiel weder Mengenlehre noch Analysis. Doch allein die Tatsache, dass mir jeder und jede sagen kann (und oft ungefragt verkündet), ob Mathe nun Hass- oder Lieblingsfach war, zeigt, wie emotional das Thema ist! Mathematik, möchte ich behaupten, ist die emotionalste Wissenschaft der Welt. Wer sich über Mathematik freuen will, muss sie sehen lernen. Dazu gehört für mich die fröhliche Fehlersuche mit dem „mathematischen Blick“. Wenn irgendwo Zahlen auftauchen, fallen mir immer wieder Fehler auf. An einer Litfaßsäule habe ich kürzlich eine lächelnde Blondine gesehen und den Werbeslogan: „Alle elf Minuten verliebt sich ein Single über Parship.“ Die Blondine habe ich ignoriert und über den sinnlosen Durchschnittswert geschmunzelt. Zur Liebe gehören doch immer zwei! Stimmt es, dass sich alle 22 Minuten zwei Singles über Parship verlieben? Und dann auch noch ineinander? Mathematische Ignoranz ist weit verbreitet, und wir dürfen uns daran erfreuen! Als Neuntklässler habe ich mich zum ersten Mal an den „Bundeswettbewerb Mathematik“ herangewagt. Damals war ich viel zu jung dafür, aber ich wollte es halt wissen – und allen zeigen! Drei Monate Zeit für drei Aufgaben, das musste doch zu schaffen sein! Trotzig habe ich immer wieder einen neuen Anlauf genommen und bis zum letzten Nachmittag nicht lockergelassen. Und es dann im nächsten wieder probiert. Nach vier Jahren hat mich das zum Bundessieg geführt. Trotz, Ehrgeiz, Entdeckerfreude – all das gehört zur Mathematik. Und wenn die Probleme zurückschlagen, heißt es: durchhalten, Fehler verstehen und einen neuen Versuch starten. Wenn man nur lange genug knobelt, kommt man selbst auf so ver-

rückte Entdeckungen wie den „Sharir-Würfel“, dessen Konstruktion mir 1999 gelungen ist. Micha Sharir, ein Informatiker aus Tel Aviv, hatte gefragt, ob es einen Würfel geben könnte (also ein Polyeder, mit sechs Vierecken begrenzt, von denen an jeder der acht Ecken drei zusammenstoßen), der so schräg ist, dass die Seitenflächen, die keine Ecke gemeinsam haben, nicht wie bei einem „normalen“ Würfel in parallelen Ebenen liegen, sondern in senkrecht aufeinander stehenden. Das können Sie sich nicht vorstellen? Das konnte ich auch nicht. Aber ich habe wochenlang geknobelt – und irgendwann war die Lösung offensichtlich. Ich freue mich noch heute ganz groß über solch kleine Entdeckungen. Große Emotionen werden unter Mathematikern nur selten gezeigt, doch es gibt sie. In dem Dokumentarfilm „Fermat’s Last Theorem“ spricht der britische Mathematiker Andrew Wiles, der 1995 das Fermat-Problem gelöst hat (eines der ganz großen Probleme der Zahlentheorie), über den Moment der Erkenntnis, als plötzlich alle Bausteine ganz wunderbar zusammenpassten: „Ich werde nie wieder so etwas Schönes entdecken können“, sagt er und wendet sich mit Tränen in den Augen von der Kamera ab. Kann man lernen, Mathematik zu lieben? Aber ja! Der erste Schritt ist das Kennenlernen, vielleicht auch das Wiederentdecken! Und es könnte sogar sein, dass man dabei merkt: „Ich habe sie schon immer geliebt!“  Günter M. Ziegler forscht und lehrt seit 1992 in Berlin, seit 2011 an der Freien Universität, vor allem zu Fragen der Diskreten Geometrie und Optimierung. In seinen Büchern „Darf ich Zahlen? Geschichten aus der Mathematik“ (Piper 2010) und „Mathematik – Das ist doch keine Kunst“ (Knaus 2013) versucht der Leibniz-Preisträger die Liebe zur Mathematik unter die Menschen zu bringen.


Odyssee der Zahlen Antike Mathematiker waren äußerst kreativ, wenn es darum ging, ihre Forschungs­ergebnisse zu verbreiten. Die Wissenschaftshistorikerin Liba Taub über knifflige Gedichte, Poesie-Wettkämpfe und Mathematiker-Biografien, die an Evangelien erinnern


Frau Taub, hatten antike Mathematiker ein Faible für die Dichtkunst?

Durchaus, in der „Griechischen Anthologie“ findet man mehr als 40 kurze Gedichte über mathematische Probleme. Sie wurden meist mündlich und vermutlich zum Vergnügen vorgetragen – so eine Art Unterhaltungsmathematik. Wir glauben, dass Gedichte und Lieder zum Beispiel bei Symposien rezitiert wurden, bei denen Männer zusammenkamen, um zu essen, zu trinken und einander zu zeigen, wie geistreich sie sind. Poesie hatte in der griechischen Kultur einen sehr hohen Status. Wahrscheinlich ist auch, dass mathematische Gedichte als Rätsel mit Bezug zu bekannten Epen oder Mythen präsentiert wurden. Wie hat man sich diese Mathematik in Gedichtform vorzustellen?

Interview Mirco Lomoth

Ein gutes Beispiel ist ein Brief, der Eratosthenes von Kyrene zugeschrieben wird und der an König Ptolemaios III. gerichtet ist. Eratosthenes, Bibliothekar in Alexandria und ein Mann von äußerster Gelehrtheit, war der Lehrer von Ptolemaios’ Sohn. Gleich zu Anfang des Briefs formuliert er ein mathematisches Problem in Gedichtform: König Minos möchte ein Grab-

„Gedichte und Lieder wurden zum Beispiel bei Symposien rezitiert, bei denen Männer zusammenkamen, um zu essen, zu trinken und einander zu zeigen, wie geistreich sie sind.“

nes von ihm erfundenen Instruments, eines sogenannten Mesolabiums. Als zweite Methode liefert er einen geometrischen Beweis. Am Ende des Briefes präsentiert er in einem zweiten sehr schönen Gedicht die Lösung. Erwähnt ist auch ein Denkmal, dem das Gedicht als Inschrift dient und das mit einem Bronzemodell seines Mesolabiums verziert ist. Er macht seine Erfindung also nicht nur bekannt, sondern lobt sich auch noch gleich selbst dafür. Gibt es noch andere Beispiele antiker mathematischer Poesie, die Sie beeindrucken?

Da wäre etwa noch das sogenannte „Rinderproblem“, welches wohl von Archimedes stammt. Es spricht von vier Rinderherden, die nach ihrer Farbe getrennt sind und sich jeweils aus mehr Bullen als Kühen zusammensetzen. Die Anzahl der Rinder ist unbekannt und soll bestimmt werden – „zähle, mein Freund, die Rinder unter der Sonne“. Insgesamt umfasst die Lösung des Problems acht Unbekannte. Dieser Brief in Gedichtform ist an Eratosthenes adressiert. Sein Verfasser hat offenkundig beweisen wollen, dass er in Mathematik und Dichtkunst gleichermaßen bewandert ist. Archimedes hat ähnliche herausfordernde Briefe auch an andere Freunde geschrieben. Es sieht beinahe so aus, als hätten einige Mathematiker eine Art Wettkampf untereinander ausgetragen und Spaß daran gefunden. Das Rinderproblem konnte erst im 20. Jahrhundert mithilfe des Computers gelöst werden. Das zeigt, um was für ein anspruchsvolles mathematisches Problem es sich handelt. Soweit wir wissen, gibt es keine Prosafassung – nur das Gedicht. Heutzutage sind mathematische Schriften

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mal für seinen Sohn errichten, das doppelt so groß sein soll wie das bisherige. Das erinnert an ein Problem der griechischen Geometrie, das die „Verdopplung des Quadrats“ zur Aufgabe hat und auch als „delisches Problem“ bekannt ist, nach den Bürgern von Delos, die versucht haben sollen, einen Orakelspruch zu erfüllen, der ihnen die Verdopplung eines Altars befahl. Eratosthenes nennt sodann zwei verschiedene Wege für die Lösung des Problems. Bei der „einfachen“ Methode bestimmt man die dafür notwendige mittlere Proportionale mithilfe ei-

ja eher in unpersönlicher und trockener Sprache verfasst …

Nicht unbedingt. Ein Blick in die Zeitschrift „The Mathematical Intelligencer“ genügt, um zu sehen, dass sich auch heute noch Mathematiker wie Laien an mathematischen Problemen erfreuen und sie als unterhaltend empfinden. Aber normalerweise benutzen Mathematiker für ihre Arbeit tatsächlich eine formale Sprache, die strengen Regeln folgt und vielleicht etwas trocken daherkommen mag. ↘


Haben sich Mathematiker in der Antike neben Gedichten, Liedern und Rätsel auch noch anderer künstlerischer Ausdrucksformen bedient?

Antike Mathematiker wählten die unterschiedlichsten Genres, um andere an ihrer Arbeit teilhaben zu lassen. Platon etwa handelte wissenschaftliche Themen in Dialogform ab; in den Dialogen „Menon“ und „Politeia“ gibt es auch Passagen über die Mathematik und die Astronomie. Eine Diskussion über die Astronomie, die von den antiken Griechen noch zur Mathematik gezählt wurde, findet sich auch bei Plutarch, in dem Dialog „Das Mondgesicht“. Andere Gattungen haben sich bis heute erhalten, etwa Handbücher wie das umfangreiche Werk „Problemata“, das der Schule des Aristoteles zugerechnet wird. Darin werden mathematische Probleme unter anderem in Form von Frage-und-Antwort-Listen präsentiert. Ein sehr interessantes Genre sind auch die aus der Spätantike überlieferten Berichte über das Leben großer Mathematiker. Manche dieser Berichte weisen deutliche Parallelen zu den Evangelien auf. So heißt es etwa über Pythagoras, er sei als Sohn eines Gottes und einer jungfräulichen Mutter mit besonderen Kräften und Kenntnissen ausgestattet. Das lässt den Schluss zu, dass diese biografischen Berichte in der Spätantike in unmittelbarer Konkurrenz zum Christentum und den Evangelien geschrieben wurden. Aber natürlich sollten sie die Mathematiker auch ehren.

Albert Odyssee der Zahlen

„Einige der größten Denker der Antike haben durchaus verstanden, dass die Menschen Abkürzungen wünschen.“

Sie haben neben Schriften auch Instrumente griechischer Mathematiker aus der Antike untersucht. Wofür wurden die genutzt?

Einige der wenigen Darstellungen antiker Wissenschaftler bei der Arbeit: Ein bemalter Kyathos, ein Tonbecher mit Henkel, aus dem 5. Jh. v. Chr., der wahrscheinlich aus der Werkstatt des Euphronios stammt.

Da gibt es etwa einen Himmelsglobus zur Bestimmung der Positionen der Sterne am Nachthimmel, den der Mathematiker Claudius Ptolemäus beschreibt. Vermutlich hat er selbst ein Instrument erfunden, um Probleme der Harmonik zu erforschen: das Meta-Helikon. In seinem Werk „Almagest“ beschreibt er einige Instrumente, darunter auch einen Astrolab oder „Sternen-Nehmer“, den er zur Bestimmung der Position der Sterne benutzte. Generell scheinen zur Lösung mathematischer Probleme in der Antike jedoch nicht oft Instrumente genutzt worden zu

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sein, vermutlich weil nach Platon der Rückgriff auf Hilfsmittel als nicht angemessen galt. Ptolemäus war da anderer Auffassung. Er schreibt über seinen Himmelsglobus, dieser erleichtere all jenen die Arbeit, die selbst keine Berechnungen anstellen wollen. Auch Eratosthenes schlägt mit seinem Mesolabium eine „einfache“ Methode zur Bestimmung der mittleren Proportionale vor, für die keine Kenntnisse in Geometrie erforderlich seien. Einige der größten Denker der Antike haben also durchaus verstanden, dass die Menschen Abkürzungen wünschen. Im Kontrast zu mathematischen Gedichten gibt es auch Abhandlungen wie Euklids „Elemente“, die das geometrische und

sich als Leser wünschten. Der Leser der heute gängigen Übersetzung von Lukrez’ „Über die Natur der Dinge“ aus dem 1. Jahrhundert vor Christus muss meinen, das sechsbändige Werk sei als zusammenhängender Prosatext verfasst worden. Tatsächlich aber handelt es sich beim lateinischen Original um ein in Hexametern verfasstes Lehrgedicht. Lukrez lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass er sich ganz bewusst für die dichterische Sprache entschied, weil sie für seine Leser besser zugänglich und unterhaltsamer sei. Er schreibt, Poesie sei wie der Honigrand, mit dem man einen Becher bitterer Medizin versehe, um sie einem Kind zu verabreichen. So sei sie schmackhafter und leichter verdaulich! 

arithmetische Wissen ihrer Zeit systematisch und in abstrakter Fachsprache zusammenfassen. Hat Euklid mit seinem Stil spätere Generationen von Mathematikern beeinflusst?

Das kann man wohl sagen! Nicht nur in der Geometrie wurde seine Präsentationsform mit Propositionen und Beweisen aufgegriffen, sondern auch als eines der besten Formate für andere Gattungen der Mathematik und der wissenschaftlichen Kommunikation überhaupt. Isaac Newtons „Principia Mathematica“ von 1686 orientiert sich ganz offenkundig am Vorbild der euklidischen Elemente, auch wenn das sonst eher nicht seinem Stil entsprach. Galileo Galilei wiederum – der auch als Mathematiker extrem begabt war – entschied sich in bewusster Abgrenzung zu Euklid dafür, manche seiner Werke in Dialogform zu verfassen und damit eher an Platon anzuknüpfen. Er hielt Dialoge mit Blick auf die Leser offenbar für eine interessantere und spannendere Präsentationsform als Formeln. Wie kommt es, dass Sie sich ausgerechnet für die Genres antiker Wissenschaftskommunikation interessieren?

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Wissenschaftsgeschichte gilt gemeinhin als ein Zweig der Ideengeschichte. Das heißt, sie betrachtet vor allem die Ideen in den Texten und nicht deren Format. Die Genres zu untersuchen zeigt uns aber, wie antike Wissenschaftler ihre eigene Arbeit gesehen haben und wen sie

Fragment eines Himmelsglobus, der von antiken Wissenschaftlern zur Bestimmung der Sterne am Nachthimmel genutzt und von dem Mathematiker Claudius Ptolemäus (2. Jh. n. Chr.) beschrieben wurde.

Liba Taub analysiert wissenschaftliche Diskurse und Instrumente der Antike. Sie ist Professorin für Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsphilosophie an der University of Cambridge und Leiterin des Whipple Museum of the History of Science in Cambridge, England. Von 2010 bis 2014 war sie Einstein Visiting Fellow am Berliner Exzellenzcluster zur Altertumsforschung TOPOI.


Noble Begegnung Zwei Mal hat der Regisseur und Schauspieler Gerald Uhlig-Romero, dem das Berliner Café Einstein Unter den Linden gehört, den im Mai verünglückten Nobelpreisträger John F. Nash getroffen. Eine Erinnerung an einen Popstar unter den Mathematikern

Zum ersten Mal traf ich John Forbes Nash 2005 bei einem festlichen Dinner während der Tagung der Nobelpreisträger auf Schloss Mainau in Lindau am Bodensee. Er hatte vor Jahren das Café Einstein Unter den Linden in Berlin besucht und wollte mich gerne kennenlernen. „Sie sind also der Kaffeehaus-Einstein. Ich erinnere mich noch gut an ihren Topfenpalatschinken“, begrüßte er mich und deutete auf einen leeren Stuhl neben ihm. Ich setzte mich. Aus der Nähe wirkte der Nobelpreisträger sehr zerbrechlich. Er griff meinen Arm und sagte mit ruhiger, leiser Stimme: „Ständig wollen mich alle fotografieren, als sei ich nur auf der Welt, um fotografiert zu werden.“ „Sie sind eben der Popstar unter den Nobelpreisträgern“, antwortete ich. „Hollywood hat Ihr Leben verfilmt, der Film hat vier Oscars bekommen, Sie erholen sich von Ihrer Schizophrenie, verlassen Ihre Frau, heiraten sie ein zweites Mal, bekommen den Wirtschaftsnobelpreis. Das alles berührt die Menschen, die sonst wenig mit den Themen der großen Wissenschaftler zu tun haben.“ Nash entgegnete: „Den Film über mein Leben mag ich überhaupt nicht. Er ist sentimental, unlogisch, nichts

für einen Mathematiker wie mich.“ Nach einer längeren Pause fuhr er fort: „Wissen Sie, seit einiger Zeit fotografiere ich sofort zurück, wenn mich einer fotografiert.“ „Das ist ja wunderbar“, sagte ich begeistert. „Dann könnten wir im Einstein ja mal eine Ausstellung mit dem Titel zeigen: ‚John F. Nash fotografiert

„Ich hatte damals eine Idee entwickelt, die mit Physik zu tun hatte, mit der Ausdehnung des Universums und der Gravitation. Ich dachte, das könnte Einstein interessieren.“ John Nash

die Menschen, die gerade John F. Nash fotografieren‘ – was halten Sie davon?“ Schweigen. Längeres Schweigen. Dann antwortete er zögerlich: „Darüber muss ich nachdenken. Spieltheoretisch müsste das möglich sein.“

Vier Jahre später stand John F. Nash tatsächlich mit seiner Ehefrau Alicia und seinem Sohn John im Café Einstein. Wir hatten ihn zu unserer Salon-Reihe „Noble Begegnungen“ eingeladen, bei der wir Nobelpreisträger mit ausgewählten Gesprächsgästen zusammenbringen. Da Nash seine Fotos, auf denen er Menschen fotografiert, die ihn fotografieren, nicht mehr auffinden konnte, hängten wir Porträts von ihm aus unterschiedlichen Lebensphasen auf, eingefärbt in Andy-Warhol-Manier. Es war eine ziemlich bunte Ausstellung. An diesem Tag kamen mehr Menschen als zu anderen „Noblen Begegnungen“. Nash war eben ein Weltstar. Er sprach mit einer so leisen Stimme über sein Leben, dass eine absolute Stille im Raum herrschte. Jemand fragte ihn nach seiner zweimaligen Hochzeit mit seiner Frau. „Alicia ist sehr wichtig für mich“, sagte er. „Sie ist meine Stütze, wir leben mit meinem Sohn John in einem Haus bei Princeton. Für gewöhnlich gehe ich auch erst nachmittags in mein Büro.“ Jemand fragte, wann ihm die besten Ideen kämen. „Das kann immer passieren. Ich muss nur wach sein.“ „Angeblich lesen Sie nicht und haben früher auch keine Vorlesungen

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Text Gerald Uhlig-Romero 95

besucht. Kamen Sie intuitiv zu Ihren Ergebnissen?“ „Es war kein intuitives Denken, nur unabhängiges.“ Gefragt nach seiner Krankheit, sagt er: „Es war eine Zeit, in der ich nicht rational denken konnte.“ Plötzlich fischte Nash verschiedenfarbige Stifte und einen Bleistift aus der Brusttasche und zeigte sie der Tischgesellschaft. „Mit diesen Stiften mache ich mir nach meinem eigenen System Notizen. Der Radiergummi ist dabei besonders wichtig.“ Während Nash sprach, saß sein 50-jähriger Sohn John, ebenfalls Mathematiker, in sich versunken mit einem Taschenrechner neben mir am Tisch. Er hatte eine Tasche unter seinem Stuhl, in der etwa 30 kleine Taschenrechner Platz hatten. Immer wenn ich ihm eine Frage stellte, zog er einen der Rechner heraus und begann darauf herumzutippen. Erst fünf Minuten später antwortet er dann irgendetwas, was er scheinbar auf seiner Maschine errechnet hatte. Nashs Ehefrau Alicia, die perfekt Spanisch spricht, unterhielt sich mit meiner argentinischen Frau Mara. Sie erzählte, dass sie der mathematischen Gespräche ihres Mannes und ihres Sohnes manchmal überdrüssig sei und wie schwierig, aber komisch und

interessant das Leben mit den beiden Supergenies sei. Ohne sie, sagte Alicia, hätten sie kein geregeltes Leben, weder Essen auf dem Tisch noch saubere Hemden im Schrank. Nash blieb noch zwei Tage mit seiner Familie in Berlin. Ständig fotografierte er mit einer Digitalkamera. „Wenn ich das Foto gemacht habe, dann ist es auf meinem Chip. Ansehen brauche ich es dann nicht mehr. Die Sache hat sich für mich erledigt.“ Er wollte unbedingt auch das Einsteinhaus in Caputh besuchen. Auf dem Balkon des Hauses erzählte er mir von seiner Begegnung mit Albert Einstein in Princeton. „Worüber haben Sie mit Einstein in Princeton gesprochen?“, frage ich. „Ich hatte damals eine Idee entwickelt, die mit Physik zu tun hatte, mit der Ausdehnung des Universums und der Gravitation. Ich dachte, das könnte Einstein interessieren.“ „Hat es Mut gekostet, zu ihm zu gehen?“ „Ja, natürlich. Er hatte eine gewisse Offenheit, man konnte auf ihn zugehen, aber er war kein Kindergärtner. Er sagte: ‚Wenn du deine Idee wirklich weiterentwickeln willst, musst du noch viel lernen.‘“ 

John F. Nash und Gerald Uhlig-Romero im Café Einstein Unter den Linden, wo Politiker, Schauspieler und Wissenschaftler ein- und ausgehen. Nash war hier 2009 zu Gast bei der Gesprächsreihe „Noble Begegnungen“ zu der Uhlig-Romero Nobelpreisträger einlädt.

John Forbes Nash zählt zu den schillerndsten Persönlichkeiten der Mathematik. Nach einem aussichtsreichen Karrierestart erkrankte er an Schizophrenie, erholte sich in den 1990er Jahren und erhielt 1994 mit Kollegen den Wirtschaftsnobelpreis für eine Arbeit auf dem Gebiet der Spieltheorie. Er starb am 19. Mai 2015 im Alter von 86 Jahren mit seiner Frau Alicia bei einem Autounfall, kurz nachdem er in Oslo den Abelpreis entgegengenommen hatte – eine der wichtigsten Auszeichnungen für Mathematiker.


Ordnung und Symmetrie Mathematik und Musik werden h채ufig als Gegens채tze betrachtet. Doch nicht nur die Harmonielehre ist eng mit der Mathematik verbunden, auch in Kompositionen verbirgt sich mathematische Ordnung. Der Mathematiker Albrecht G체ndel-vom Hofe und der Musikwissenschaftler Martin Supper bewegen sich in diesem Grenzgebiet


Text Martin Kaluza Fotos Pablo Castagnola

Im ehemaligen Gasthof von Trebel hat sich das kulturell interessierte Publikum der umliegenden Dörfer versammelt. Ein Bildhauer aus Berlin hat das Haus im Wendland gekauft und veranstaltet hier nun Ausstellungen, Vorträge und Konzerte. Viele Intellektuelle hat es in den letzten Jahren hierher verschlagen, das Einzugsgebiet reicht von Hamburg bis Berlin. An den Wänden des Festsaals hängen abstrakt wirkende Grafiken und Bilder, regelmäßige Muster, Linien und Bögen. Es sind Visualisierungen der Beziehungen zwischen den Primzahlen. Vor dem Publikum steht Albrecht Gündel-vom Hofe, Jahrgang 1957, dünne ovale Brille und gestutzter Bart, und hält mit sanfter, aber lebhafter Stimme einen Vortrag über den Zusammenhang von Musik und Mathematik. Er wird es nicht bei der Theorie belassen. Nach dem Vortrag wird er sich ans Klavier setzen und Jazz spielen, begleitet von Kontrabass, Saxophon und Schlagzeug. Das Repertoire: eigene Kompositionen, Jazz-Klassiker und Kirchenchoräle, die er in die Sprache und die harmonischen Strukturen des Jazz übersetzt hat. Gündel-vom Hofe ist Mathematiker. An der Technischen Universität (TU) Berlin unterrichtet er angehende Ingenieure und Mathematik-Lehramtsstudenten. Und er ist Musiker. Regelmäßig tritt er als Jazzpianist in unterschiedlichen Besetzungen auf, veröffentlicht sogar Alben. Schon als Dreijähriger begann er mit dem Klavierspielen, lernte später unter anderem

„Ich habe nichts gegen Unterhaltungsmusik, aber sie interessiert mich null.“ Martin Supper

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bei der japanischen Jazzpianistin und Komponistin Aki Takase. Doch weil die beruflichen Perspektiven besser waren, entschied er sich für ein Studium der Mathematik, belegte aber nebenher Seminare in Musikwissenschaft und gründete bald sein erstes Jazzquartett. „Unsere Premiere hatten wir vor fast 24 Jahren bei einer Feier hier am Mathematischen Institut der TU.“ Mit seiner Doppelbegabung für Musik und Mathematik ist Gündel-vom Hofe in guter Gesellschaft. Der Mathematiker Leonhard Euler (1707–1783), der einen großen Teil der heuti-

gen mathematischen Symbolik entwickelt hat, galt als hervorragender Musiker. Auch Albert Einstein spielte Violine und Klavier und pflegte einen regen Briefwechsel mit dem Komponisten Arnold Schönberg. Dennoch gelten Musik und Mathematik oft als Gegensätze – oder zumindest als weit voneinander entfernte Sinnprovinzen. Liegen sie am Ende doch eng beieinander?

Pythagoras und die Mathematik des Wohlklangs „Ich glaube, dass wir Menschen sehr viel mehr Mathematik in uns tragen, als uns bewusst ist. Musik ist nur ein Beispiel dafür“, sagt Gündelvom Hofe. „Vielleicht sind wir so gestrickt, dass wir bestimmte Ordnungen suchen oder intuitiv erkennen. Wenn ein Ton schwingt, schwingen auch die Obertöne mit, also das Mehrfache einer Schwingung. Wahrscheinlich spüren wir das als eine Resonanz auch in uns.“ Er bewegt sich damit in einer Tradition, die sich letztlich auf Pythagoras von Samos zurückführen lässt, der ungefähr von 560 bis 480 vor Christus lebte. Pythagoras versuchte die Ordnung der Welt in Zahlenverhältnissen zu erkennen. Er sah Zahlen in der Musik ebenso wie in der Mathematik als Ausdruck einer göttlichen Harmonie. „Alles ist Zahl“ lautete sein Credo. Gündel-vom Hofe zieht einen zwei Meter langen schmalen Holzkasten auf die Bühne, der mit drei Saiten bespannt ist. Es ist ein Trichord – die dreisaitige Version eines Monochords. Anhand eines solchen Instruments untersuchte Pythagoras die Teilungsverhältnisse einer Saite. Daraus leitete er seine Konsonanztheorie ab. Gündel-vom Hofe zupft und streicht eine Saite in ihrer Mitte so, dass ein Oberton entsteht – ein Flageolett-Ton, genau die Oktave des Grundtons. „Die Oktave entspricht für Pythagoras dem Zahlenverhältnis 1:2“, sagt Gündel-vom Hofe. Und er fährt fort: „Der nächste Oberton entsteht, wenn man die Saite auf zwei Dritteln ihrer Länge teilt – das ist die Quinte. Bei einem Viertel der Länge schwingt wieder der Grundton, nur zwei Oktaven höher.“ Gündel-vom Hofe zupft an den Saiten. Auf dem Korpus des Instruments sind bestimmte Stellen mit ganzzahligen Brüchen markiert: 1:2, 2:3, 3:4. Was die Zuschauer nacheinander hören, ist die Reihe der natürlichen Obertöne. ↘


„Ich glaube, dass wir Menschen sehr viel mehr Mathematik in uns tragen, als uns bewusst ist.“ Albrecht Gündel-vom Hofe

Instrumente wurden bis in die Neuzeit nach einer Stimmung gestimmt, die auf Pythagoras zurückgeht. Allerdings gibt es dabei ein Problem. Gündel-vom Hofe setzt an, um das zu erklären. „Wenn Sie eine Saite sieben Mal halbieren, landen Sie bei einem Hundertachtundzwanzigstel ihrer Länge. Damit haben Sie sieben Oktaven durchschritten“, erklärt er. Wenn man vom gleichen Grundton zwölf Quinten durchschreitet, müsste man theoretisch beim gleichen a ankommen, weil zwölf Quinten sieben Oktaven ergeben. Doch das ist nicht der Fall. „Die Quinte entsteht, wenn ich eine Saite bei zwei Dritteln der Länge teile. Wenn Sie diese zwei Drittel zwölf Mal mit sich multiplizieren, kommt dabei nicht ein Hundertachtundzwanzigstel heraus, sondern nur ein Wert, der in der Nähe liegt. Und den Unterschied hören Sie!“ Das Problem hat Musiker und Theoretiker lange beschäftigt. „Pythagoras konnte es mit dem ihm zur Verfügung stehenden Vokabular rationaler Zahlen nicht lösen“, sagt Gündel-vom Hofe. Abgelöst wurde die pythagoreische Stimmung erst ab dem 17. Jahrhundert durch die wohltemperierte Stimmung. Die weicht von den ganzzahligen Intervallen, auf denen Pythagoras’ Weltbild aufbaute, jeweils leicht ab. Jetzt setzt sich Gündel-vom Hofe ans Klavier, mit dem Rücken zum Publikum. Bass und Schlagzeug nehmen den Beat auf, Gündel-vom Hofe wiegt den Oberkörper, tupft scheinbar mühelos swingend Melodien in die Jazzkadenzen. Im Wechsel spielen Klavier, Saxophon und manchmal Bass und Schlagzeug ihre Soli. Die Musiker haben die Mathematik der Harmonie und die rhythmischen Symmetrien so weit verinnerlicht, dass sie in ihren Improvisationen regelrecht mit ihnen spielen.

Albert Ordnung und Symmetrie

Die wohltemperierte Stimmung

Schuberts entschlüsselte Handschrift Albrecht Gündel-vom Hofe ist Mathematiker und Musiker in Personalunion. An der Technischen Universität Berlin unterrichtet er Mathematik für Lehramtsstudenten und Ingenieure. Als Jazz-Pianist tritt er in unterschiedlichen Formationen auf – vom Duo bis zum Sextett. Er verjazzt Kirchenchoräle, bringt Jazz und Lyrik zusammen und veröffentlicht eigene Alben. ↑

Doch nicht allein die Harmonielehre ist eng mit Mathematik verbunden. Auch in Kompositionen verbergen sich Ordnung und Symmetrien. Die Computertechnik ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass sie die musikalische Handschrift eines Komponisten, seine Vorlieben, Ma-

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rotten und Kompositionsprinzipien entschlüsseln kann. Sie kann sie sogar reproduzieren. „Innerhalb der künstlichen Intelligenz werden mit neuronalen Netzen hochintelligente Maschinen gebaut“, sagt Martin Supper, Jahrgang 1947, Komponist, Musikwissenschaftler und Professor an der Universität der Künste (UdK) in Berlin. Supper ist Experte für computergenerierte Musik und leitet dort seit 1985 das Studio für Klangkunst und Klangforschung. „Es hat schon Versuche gegeben, ihnen über Monate hinweg Schubert zu instruieren. Das neuronale Netzwerk war dann irgendwann in der Lage, etwas zu komponieren, von dem selbst ausgewiesene Experten sagen: Das muss doch von Schubert sein. Das kennen wir noch gar nicht.“ Doch heißt das, dass der Computer eigenständig komponieren kann? Kann er ein Stück Musik schaffen, das Bedeutung hat? Supper winkt ab, als habe er die Frage schon zu oft gehört. „Der Computer kann gar nichts, er folgt nur Handlungsanweisungen. Wenn man dem Rechner nur immer Schubert beigebracht hat, bleibt er auch bei Schubert“, sagt Supper. „Wenn Sie aber als Künstler einen Komponisten wie Schubert studieren, ist Ihr Ziel ja nicht, wie er zu komponieren, sondern Sie wollen neue Wege beschreiten. Neue Richtungen kann nur der Mensch beschreiten, die Maschine nicht.“

Der Computer eröffnet Komponisten neue Wege

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Supper sitzt im Regieraum des Studios für Klangkunst und Klangforschung am Ende eines Ganges im zweiten Stock des UdK-Gebäudes in der Fasanenstraße in Charlottenburg. Ein paar Zimmer weiter hämmert ein Student Rachmaninow in den Flügel. Im Nebengang dringt die Arie aus Alfredo Catalanis „La Wally“ durch ein offenes Fenster. Hier in Suppers Studio wird weder gesungen noch auf klassischen Instrumenten musiziert. Hinter einer Trennscheibe arbeitet eine Kollegin an einem Laptop. Hin und wieder dringen vom Computer elektronisch erzeugte Töne durch die gedämmten Wände. Supper ist auf entspannte Art fokussiert. Wenn er mit ruhiger Stimme spricht, bewegt er sich nicht viel. Man kann ihn sich als wachen und akribischen Tüftler vorstellen. Der Musik hat sich Supper von der Seite der Technik genähert. ↘

Martin Supper forscht zur Geschichte und Ästhetik der elektroakustischen Musik, Computermusik und Klangkunst. Der Komponist und Musikwissenschaftler leitet seit 1985 das Studio für Elektro­ akustische Musik & Klangkunst an der Universität der Künste Berlin und ist seit 2009 Leiter des post­gradualen Masterstudiengangs Sound Studies. Supper hat Informatik, Linguistik und Musikwissenschaft an der Technischen Universität Berlin studiert. ↓

„Neue Richtungen kann nur der Mensch beschreiten, die Maschine nicht.“ Martin Supper


Inspiration aus den Naturwissenschaften Die Komponisten, mit denen Supper sich beschäftigt, haben sich, wie auch die Vertreter anderer Künste, immer wieder von den Naturwissenschaften und der Mathematik inspirieren lassen. „Als die Relativitätstheorie veröffentlicht wurde, hat sich jeder damit beschäftigt, auch wenn er sie nicht völlig verstanden hat“, sagt Supper. „Als ich noch studierte, habe ich, ebenso wie die Komponisten damals, Bücher über Chaostheorie gelesen.“ Einer der bekanntesten Vertreter dieses Ansatzes war Iannis Xenakis (1922 – 2001). Er suchte nach Wegen, in seinen Kompositionen Zufallsverfahren, Spieltheorie und Zahlentheorie umzusetzen. Andere Musiker haben die Naturwissenschaften regelrecht nach Algorithmen abgesucht, um sie dann in Musik zu übersetzen. „Bekannt waren eine Zeit lang die sogenannten L-Systeme. Das sind mathematische Formalismen, mit denen der Biologe Aristid Lindenmayer Ende der 1960er Jahre versuchte, das Wachstum von Pflanzen algorithmisch zu beschreiben“, sagt Supper. „Dessen Algorithmen wurden von zahlreichen Komponisten übernommen. Blättchen, Ästchen und Blütchen

kann man dann bestimmten musikalischen Parametern zuordnen, zum Beispiel Tonhöhen, -dauern und Lautstärken.“

Suchen Menschen mathematische Ordnung in den Dingen? Bei Kompositionen dieser Art ist die Verbindung zur Mathematik buchstäblich in die Musik hinein konstruiert. Doch das ist keine Erfindung des 20. Jahrhunderts. „Bach hat kunstvoll Symmetrien und Muster in seine Musik eingearbeitet. Er hat viel mit Verschlüsselungen gearbeitet. Das bekannteste Beispiel ist sein Name. Den hat er in Gestalt der Tonfolge B-A-C-H in Kompositionen hineinkodiert“, sagt Gündel-vom Hofe. „Die Musik wirkt sehr strukturiert. Sie passt in das Bild der Zeit: Barockgärten, barocke Schlösser und Häuser sind ja auch stark nach geometrischen Prinzipien gebaut.“ Bei Bach landet unweigerlich, wer sich mit der geteilten Leidenschaft für Mathematik und Musik befasst. So unterschiedlich ihre Vorstellungen von Musik sind, in der Bewunderung Bachs finden Gündel-vom Hofe, der Kirchenund Jazzmusiker, und Supper, der sich für Musik begeistert und die Grenzen der traditionellen Harmonik sprengt, einen gemeinsamen Nenner. Doch woher kommt die emotionale Kraft, die diese gewissermaßen auf dem Reißbrett entworfene Musik entwickelt? Ist die enge Verbindung von Mathematik und Musik, von Symmetrien und Zahlenverhältnissen, die unser Harmonieempfinden und unseren Sinn für musikalische Schönheit ansprechen, vielleicht ein Hinweis darauf, dass wir als Menschen immer bestrebt sind, mathematische Ordnung in den Dingen zu erkennen? „Schon Pythagoras hat verschiedenen musikalischen Skalen bestimmte Emotionen zugeordnet“, sagt Gündel-vom Hofe. „Genauso hat die Mathematik eine ästhetische Seite, die emotional wirken kann. Wenn ein Mathematiker forscht und dabei auf neue Strukturen und Zusammenhänge stößt, kann das bei ihm regelrecht zu Glücksgefühlen führen, ähnlich wie das Gelingen einer gemeinsamen Improvisation bei einem Jazzensemble.“ 

Albert Ordnung und Symmetrie

Zu Schulzeiten schon hatte er Radios gebaut, absolvierte dann eine Lehre als Radio- und Fernsehtechniker. „Studiert habe ich erst nach der Lehre, mit Schwerpunkt theoretische Informatik, Musikwissenschaft und Linguistik. Ich bin dann als Kind eines Musikerhaushaltes aber doch auf die Musik zurückgekommen“, sagt er. Fasziniert von den Möglichkeiten elektronischer Klangerzeugung interessierte sich Supper schnell für Musik, die tradierte harmonische, klangliche und kompositorische Grenzen überschreitet. „Musik hat für mich per se keinen Unterhaltungscharakter. Ich habe nichts gegen Unterhaltungsmusik, aber sie interessiert mich null. Wenn ich in ein Konzert gehe oder eine Platte auflege, will ich mit neuen Räumen konfrontiert werden und nicht zum 150. Mal mit der G-Moll-Symphonie von Mozart“, sagt Supper. In der Musikrichtung, die er vertritt, kommt es darauf an, neue kompositorische Regeln zu entdecken, mit alten zu brechen oder diese gezielt in neuen Kontexten einzusetzen.

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Mathe = ein großes Rätsel 1 die Lösung vieler Probleme 2 Ordnung und Struktur  3 mehr als schön 4 ein Kaleidoskop 5

➊ Mathematik ist ein großes Rätsel. André Wagner ➋ Mathematik ist ein Werkzeug zur strukturellen Durchdringung der von ihr geschaffenen abstrakten Modelle. Sie ermöglicht damit die Lösung vieler Probleme des täglichen Lebens und trägt zu einem tieferen Verständnis unserer Welt bei. Martin Grötschel ➌ Mathematik ist für mich Philosophie, geboren aus dem tiefen Bedürfnis des Menschen, Ordnung und Struktur in dem ihn umgebenden scheinbaren Chaos zu finden. Albrecht Gündelvom Hofe ➍ Mathematik ist mehr als schön. Martin Supper ➎ Mathematik ist ein Kaleidoskop: bunt, faszinierend und immer 101

wieder neu! Günter M. Ziegler


G(x) = Gott Gibt es ihn doch? Christoph Benzmüller vom Fachbereich Mathematik und Informatik an der Freien Universität Berlin und seinem Kollegen Bruno Woltzenlogel Paleo von der Technischen Universität Wien gelang es, mithilfe eines Computerprogramms den mathematischen Gottesbeweis des Logikers Kurt Gödel aus dem Jahr 1941 zu bestätigen. Wir haben nachgefragt, was das für unser Weltbild bedeutet


Herr Benzmüller, wie bitte beweist man einen

Das heißt, der Gottesbeweis war ein einfacher

Gottesbeweis? Bei den ontologischen Gottes-

Startpunkt, um auszuprobieren, was Ihr Theo­

beweisen – angefangen von Anselm von Canterbury über Descartes und Leibniz bis hin zu Gödel – will man von der konkreten Erfahrung abstrahieren. Man bedient sich einer A-priori-Herangehensweise. Das heißt, man lässt alle Erfahrungen in der realen Welt außen vor und versucht, nur mit abstrakten Definitionen einen Begriff von Gott zu skizzieren. Ein solcher Beweis besteht aus einer Reihe von Annahmen, Definitionen und Schlüssen. Wir haben mittels eines selbst entwickelten Programms, eines sogenannten Theorembeweisers, nachgewiesen, dass Gödels Argument logisch korrekt ist.

rembeweiser leisten kann? Exakt! Man muss

Also man kann jetzt jemandem, der nicht an Gott glaubt, Ihren Beweis unter die Nase halten und sagen: „Gott gibt es!“ Nein. Wir haben

Interview Martin Kaluza

nur gezeigt, dass Gödels Beweis – zumindest in einer der zwei überlieferten Fassungen – logisch korrekt ist. Wenn ein Gottesbeweis nicht die Existenz Gottes beweist, was ist daran dann so interessant? Es geht um begriffliche Klarheit, um

größtmögliche Reduktion. Ontologische Gottesbeweise versuchen, mit möglichst wenigen Grundannahmen zu dem Schluss zu kommen: „Notwendigerweise existiert Gott.“ Diese Annahmen kann man dann natürlich – wenn man die Argumentationskette für logisch fehlerfrei hält – kontrovers diskutieren. Zum Beispiel, indem ich sage: „Gödels erstes Axiom: ‚Entweder eine Eigenschaft oder ihre Negation ist positiv‘ finde ich absurd, weil es keine neutralen Eigenschaften vorsieht. Deswegen ist für mich der Gottesbeweis hinfällig.“ Als Sie Ihren Theorembeweiser entwickelt haben, war es da von Anfang an Ihre Absicht, Gottesbeweise zu überprüfen? Nein, wir sind

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bei der Suche nach Anwendungsmöglichkeiten auf Gödels Gottesbeweis gestoßen. Wir haben überlegt: Können wir das? Können wir das nicht? Sehr große Axiommengen kann der Beweiser noch nicht verarbeiten. Wir wussten, Gödels Gottesbeweis ist eine schöne, kleine, kompakte Arbeit, die eine ambitionierte und relevante Modallogik verwendet.

sich nur einmal die Art der Argumentführung in den philosophischen Aufsätzen über ontologische Gottesbeweise anschauen. Da steht dann: „Satz eins lautet …“, „Definition A lautet …“, „hieraus ergibt sich …“. Genau diese Schritte lassen sich direkt mit den Kapazitäten bearbeiten, die Theorembeweiser wie der unsrige heute bereits haben. Es passt wie die Faust aufs Auge! Wie lange hat Ihr Computer denn an der Bestätigung des Gottesbeweises gerechnet? Das

geht ganz schnell. Wenn ich mich richtig erinnere: Theorem eins, ein paar Millisekunden. Erste Schlussfolgerung, weitere Millisekunden. Theorem zwei waren dann wenige Sekunden und die Aussage am Ende wieder ein paar Millisekunden. Das musste man bislang mühsam mit Bleistift und Papier ausrechnen. Man könnte sich auch vorstellen, dass ein Philosoph, der sich mit solch einer Beweisführung beschäftigt, einfach die Schritte formal ins System eingibt, eine Taste drückt und dann einfach zehn oder vielleicht dreißig Sekunden auf die Antworten wartet. 


Die Stiftung

Journal Wir wollen Spitzenforschung nicht nur fördern, sondern auch darüber reden. Aus diesem Grund ist Albert, das neue Journal der Einstein Stiftung, entstanden. Thema der ersten Ausgabe ist die Mathematik. Zukünftige Ausgaben werden weitere, exzellente Bereiche der Berliner Wissenschaft beleuchten. Wenn Sie das nächste Heft nicht verpassen oder Kommentare, Anregungen oder Kritik loswerden wollen, freuen wir uns über Ihre Nachricht an albert@ einsteinfoundation.de Veranstaltungen Sie wollen die Wissenschaftler der Einstein Stiftung live erleben? Wir laden regelmäßig zu Vorträgen und Gesprächen mit geförderten Professoren und Fellows ein – an verschiedene Veranstaltungsorten in der Stadt. Aktuelle Termine finden Sie auf unserer Website oder auf Twitter unter @einstein_berlin Online Die Einstein Stiftung Berlin bietet eine umfangreiche zweisprachige Website an, auf der Sie sich über die Aufgaben, Förderprogramme, Antragsmöglichkeiten, Beispiele von bereits geförderten Personen und Projekten und vieles mehr informieren können: einsteinfoundation.de Für die Wissenschaft. Für Berlin.

Berlin soll sich dauerhaft als eine der weltweit wichtigsten Wissenschaftsmetropolen etablieren. Die Einstein Stiftung leistet hierzu einen besonderen Beitrag. 2009 vom Land Berlin gegründet, fördert sie Wissenschaft und Forschung auf internationalem Spitzenniveau. Renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wählen in einem Wettbewerbsverfahren die besten Personen, Projekte und Strukturen aus. Das besondere Augenmerk der Stiftung liegt auf institutionenübergreifenden Forschungskooperationen. Damit versteht sich die Einstein Stiftung als strategischer Partner der Berliner Universitäten. Antragsberechtigt sind die Freie Universität Berlin, die HumboldtUniversität zu Berlin, die Technische Universität Berlin, die Universität der Künste Berlin sowie die Charité-Universitätsmedizin. Es gibt weder fachbezogene noch institutionelle Quoten. Das Förderspektrum reicht von der Altertumsforschung bis zur Zoologie, von der Entwicklung neuer Musikinstrumente bis zur Bekämpfung von Krebs bei Kindern. Insgesamt hat die Stiftung bislang 50 Wissenschaftler und 45 Projekte gefördert. Zudem finanziert sie das Einstein-Zentrum für Mathematik.


Einsteins fallen nicht vom Himmel – sie werden gefördert. Fördern auch Sie! Für jeden Euro, den die Stiftung an privaten Spenden erhält, gibt das Land Berlin 50 Cent dazu. Sie stärken mit Ihrem Geld exzellente Wissenschaft und Forschung am Standort Berlin – dauerhaft. Werden Sie Förderer der Einstein Stiftung Berlin! Spendenkonto: Deutsche Bank Berlin IBAN: DE78 1007 0000 0769 6644 44 BIC: DEUTDEBBXXX


Das „3a+1“-Problem: Eine Beschreibung von Günter M. Ziegler Um zu verstehen, worum es beim „3a+1“-Problem geht, nehmen Sie Ihr Geburtsjahr (und vielleicht einen Taschenrechner) und teilen es durch 2, wenn es gerade ist, sonst multiplizieren Sie mit 3 und addieren 1. Und mit dem Ergebnis machen Sie genau dasselbe wieder: durch 2, wenn das geht, sonst mal 3 plus 1. Und das, bis Sie bei der 1 angekommen sind. Ich bin Jahrgang 1963, da ergibt das die Zahlenfolge 1963, 5890, 2945, 8836 und so weiter, bis man nach 81 Schritten bei der 1 ankommt! Probieren Sie es für Ihre eigene Jahreszahl aus! Das gibt eine Achterbahnfahrt durch die Zahlen, mal rauf (mal 3 plus 1), mal runter (durch 2). Aber stimmt das, dass man von jeder Zahl aus immer irgendwann bei der 1 ankommt? Das hat bisher niemand beweisen können, das ist das „3a+1“- Problem! Günter M. Ziegler spricht über seine Erfahrungen mit dieser Kopfnuss auf Seite 88 / 89 im Heft.

Impressum Albert Das Journal der Einstein Stiftung Berlin Ausgabe Nr. 1  Thema: Mathematik Herausgeber Einstein Stiftung Berlin Jägerstraße 22 /23 10117 Berlin einsteinfoundation.de Redaktion Christian T. Martin (verantw.), Mirco Lomoth Kontakt T +49 30 20 370 248 F +49 30 20 370 377 albert@einsteinfoundation.de albert-journal.de

Lektorat Anne Vonderstein Autoren Christina Bylow, Holger Dambeck, Caspar Dohmen, Till Hein, Martin Kaluza, Daniel Kastner, Jürg Kramer, Mirco Lomoth, Dietrich von Richthofen, Maria Rossbauer, Gerald Uhlig-Romero, Kristina Vaillant, Julia Walter, Kirsten Wenzel, Günter M. Ziegler

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Das Zitat auf der Rückseite des Hefts entstammt einem Brief Albert Einsteins an den Mathematiker und Physiker Arnold Sommerfeld vom 18. Dezember 1919.

Bildnachweise S. 6 Ben Richards, Tom Feller, Gary Hannabarger, Marcel Ringel, Bildarchiv des Mathematischen Forschungsinstituts Oberwolfach; S. 17 Ekaterina Eremenko; S. 34 Southold Historical Society; S. 36 – 37 Simone Besendörfer, Karin Eichentopf, Christian Liebchen, Carl Stephan, Sadegh Jokar; S. 46, 90, 93 Pablo Castagnola; S. 59 iStock; S. 60 Norbert Michalke; S. 61 Kay Herschelmann; S. 65 Mirco Lomoth; S. 72, 75 VRmagic; S. 77 Bildarchiv des Mathematischen Forschungs­instituts Oberwolfach, Hebrew University Photo Archive; S. 79 bpk; S. 86 Martin Grötschel; S. 88 Sven Paustian; S. 89 Sandro Most; S. 92 bpk /Antikensammlung, SMB / Johannes Laurentius; S. 93 bpk /Antikensammlung, SMB / Ingrid Geske; S. 95 Café Einstein UdL

Lösungen finden Sie im Netz unter albert-journal.de

Gestaltung Fons Hickmann m23 GmbH Prof. Fons Hickmann, Bjoern Wolf, Raúl Kokott

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Druck Medialis Offsetdruck GmbH © 2015 Einstein Stiftung Berlin ISSN 2365–4066 Nachdruck nur nach vorheriger Einwilligung.

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Von der Ferne sieht alles schief und suspekt aus, besonders, wenn es von den verflixten Berlinern kommt!


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