Euro 8,00 ISSN 2365– 4066
Das Journal der Einstein Stiftung Berlin Nr. 2 – Neurowissenschaften
Das macht Berlin für mich als Unternehmerin so einzigartig: Für jede Fragestellung finde ich hier wissenschaftliche Expertise. www.berlin-sciences.com
© Berlin Partner, Fotografie: Philipp Jester
Prof. Christine Lang Gründerin und geschäftsführende Gesellschafterin der Organobalance GmbH
Albert Editorial 3
Günter Stock Vorstandsvorsitzender Einstein Stiftung Berlin
Das Gehirn versetzt uns immer wieder in Staunen. Das Nachdenken über seine Vollkommenheit führt direkt zu den großen Fragen des Lebens, so als schauten wir in die Sterne. Das Gehirn ist das Universum in uns – jeder Gedanke, den wir fassen, jede Erinnerung, die wir hervorrufen, jeder Schmerz, den wir verspüren, wird von ihm vermittelt. Und es ist das Gehirn selbst, das es uns ermöglicht, seiner milliardenfach vernetzten Komplexität auf den Grund zu gehen. Doch wo stehen wir heute bei der Erforschung dieses Universums? Um es mit den Worten des Neuropsychiaters und ehemaligen Einstein Visiting Fellows Ray Dolan zu sagen: „Am Fuße des Himalaya – auf einem beschwerlichen Weg zu den Gipfeln der Erkenntnis.“ Wir möchten Sie einladen zu einer Wanderung durch die zerklüftete Bergwelt der Neurowissenschaften. Die zweite Ausgabe von Albert, dem Journal der Einstein Stiftung, widmet sich dem Gehirn und denen, die Tag für Tag versuchen, ihm Antworten abzuringen. Für dieses Heft haben wir mit einigen der führenden Hirnexperten der Stadt gesprochen. Der Neurowissenschaftler Bassem Hassan erklärt uns, wie bei Fruchtfliegen Hirnentwicklung und individuelles Verhalten zusammenhängen, der Psychiater Andreas Heinz, wie sich Flucht und Ausgrenzung auf die Psyche auswirken. Wir begleiten den Hirnchirurgen Peter Vajkoczy in seinem aufreibenden Klinikalltag und erfahren von dem Neurologen Harald Prüß, wie er herausfand, dass der berühmte Berliner Eisbär Knut aufgrund einer seltenen Hirnentzündung starb. In der Reportage „Mensch Maschine“ ab Seite 38 lässt sich unser Autor die Gedanken auslesen und berichtet über Chancen und Gefahren neuer Gehirn-Computer-Schnittstellen, die es immer präziser vermögen, das Universum in unserem Kopf auszukundschaften, um Prothesen zu steuern – oder tödliche Schusswaffen. Forscher gelangen auch immer wieder an unüberwindbare Schluchten, die sie zur Umkehr zwingen oder zu Fehltritten verleiten. Doch darüber schweigt sich der Wissenschaftsbetrieb meist aus. Der Schlaganfallexperte Ulrich Dirnagl fordert in seinem Kommentar ab Seite 36 einen massiven Kulturwandel in der biomedizinischen Forschung, der Raum fürs Scheitern lässt und dieses auch dokumentiert. Albert erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. In Berlin gibt es weitaus mehr exzellente Wissenschaftler und Forschungsprojekte als in dieses Heft passen. Die Stadt entwickelt sich seit der Wende zu einem international beachteten Zentrum der Hirnforschung und knüpft damit an eine große Tradition der Vorkriegszeit an. Heute gibt es hier wieder zahlreiche neurowissenschaftliche Einrichtungen. Einige der innovativsten Techniken zur Erforschung des Gehirns entstehen in Berlin, wie unser Beitrag „Neuro-Tüftler“ ab Seite 18 zeigt, und auf Seite 100 lesen Sie, wie das neu gegründete EinsteinZentrum für Neurowissenschaften dazu beitragen will, all diese Energien zu bündeln. Ich bin mir sicher, dass wir in den nächsten Jahren in Berlin viele spannende Gipfelversuche in den Neurowissenschaften erleben werden. Mit diesem Heft wollen wir zeigen, dass es sich lohnt, sich auf den Weg der Erkenntnis zu begeben. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre!
3
Editorial Gipfelversuche
6
Inhalt 24
Innere Schönheiten
Der Kopfkünstler
Bilder aus dem Universum in uns
Experimenteller Philosoph: Jesse Prinz vermittelt zwischen Geist und Gehirn
48
Das Böse ist kein Hirndefekt Der forensische Psychiater Hans-Ludwig Kröber erkundet das Innenleben von Straftätern
50
Gut gescheitert? Wissenschaftler verraten, wann Fehler sie vorangebracht haben
30
Knuts Vermächtnis Harald Prüß fand heraus, woran der Berliner Eisbär gestorben ist
10
32
Jäger und Sammler
Neuronenklau
Der Philosoph und der Neurobiologe. Ein Gespräch über Hirn und die Welt
Ein Pathologe stahl Albert Einsteins Gehirn. Die Geschichte einer Odyssee
18
36
Neuro-Tüftler
Mehr Scheitern wagen!
Berliner Techniken für die Neurowissenschaften
Ulrich Dirnagl fordert mehr Raum für Fehler in der Forschung
Lost in Translation
Albert fragt …
Warum es so schwierig ist, Erkenntnisse aus dem Labor auf den Menschen zu übertragen
Experten beantworten spannende Hirnfragen – auf den Seiten 29, 35, 49, 73, 87, 95, 101
Magie und Wahrheit Thomas Südhof über die Chancen der Neurowissenschaften
Wie der Nobelpreisträger Eric Kandel Brücken zwischen Wissenschaft und Kunst schlägt
58
21
22
54
Springer zwischen den Welten
60
38
Mensch Maschine Hirnsignale können Computer und Prothesen steuern. Unser Autor hat seine Gedanken lesen lassen
Haben Sie gut gemacht Ein Tag in der Klinik mit dem Neurochirurgen Peter Vajkoczy 4
65
96
Noch Fragen?
Der Fliegenmann
Die neurowissenschaftlichen Projekte der Stiftung
Selbst Fruchtfliegen zeigen individuelles Verhalten. Ein Chat mit Bassem Hassan
68
100
Ich und Du Vittorio Gallese über Verdi-Opern und Empathie im digitalen Zeitalter
80
Zwei Forscher, eine Stadt
Denk-Zentrum Die Einstein Stiftung eint Berliner Forschungsverbünde
Durch Berlin mit den Einstein Fellows Roarke Horstmeyer und Michiel Remme
Impressum und Bildnachweise Seite 91
86
Like!
74
Das große Vergessen Andreas Wenderoth hat seinen Vater auf dem Weg in die Demenz begleitet
77
Lichtblicke Strategien gegen die Demenz
Soziale Medien sprechen ein uraltes Verhaltensmuster in uns an
88
Psychiater ohne Grenzen
Zeit ist Hirn Über mobile Erstversorgung und den Stand der Schlaganfallforschung spricht Matthias Endres
Underdog Gliazelle 5
Helmut Kettenmann über die Zellen seines Lebens
Sezierer des Verstandes Oskar und Cécile Vogt leisteten Pionierarbeit für die modernen Neurowissenschaften
Wie sich Flucht und Ausgrenzung auf die Psyche auswirken, erforscht Andreas Heinz
92
78
102
107
Berliner Hirne Viele kluge Köpfe haben in Berlin das Gehirn erforscht. Eine Chronik
110
Neuro-Trash Felix Hasler über Neuro-Ehrfurcht und Wissenschaftsdadaismus
Pointillistisches Wurmloch? Bunt gefärbte Nervenzellen der Großhirnrinde wirken wie Farbpunkte vom Pinsel des Neoimpressionisten Paul Signac. Aus der Ferne betrachtet verschwimmen sie zu einer Fläche.
Blick in die Weiten des Universums? Rot und blau eingefärbt schweben Neuronen und Zellkerne im Raum wie weit entfernte Sterneninseln mit ausschweifenden Ringgalaxien.
Ein Ozean aus leuchtendem Pyhtoplankton? Die Nervenzellen (magenta) und Zellkerne (blau) eines Mausgehirns erstrahlen wie biolumineszente Algen an der Meeresoberfläche, dazwischen schimmern filigrane Microglia in Grßn.
Ein Mosaik aus Eiskristallen? Menschliche Nierenzellen, deren Zellskelett wie im Frost erstarrt wirkt, dienen Neurowissenschaftlern bei der Erforschung von Neurotransmitterrezeptoren.
Jäger und Sammler Der Philosoph und der Neurobiologe: Michael Pauen und Dietmar Schmitz nähern sich dem Gehirn von ganz unterschiedlichen Seiten. Mit Albert sprachen sie über Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Berliner Neurowissenschaften, über temporäre und grundsätzliche Erkenntnisgrenzen sowie spektakuläre Heilungserfolge
10
Berlin ist seit Langem ein Zentrum für Neurowissenschaften. Man könnte sogar sagen, dass Emil du Bois-Reymond die moderne Hirnforschung in Berlin begründet hat, als er Mitte des 19. Jahrhunderts mit seinem sogenannten Multiplikator zum ersten Mal Ströme im Nervensystem messen konnte. Korbinian Brodmann untersuchte gut 60 Jahre später in Berlin die Zellarchitektur der Großhirnrinde und erarbeitete eine bis heute verwen-
hirns durch Ramón y Cajal und Camillo Golgi zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das führte dazu, dass in Berlin Wissenschaftler wie Wilhelm von Waldeyer die große Frage debattierten, ob die Nervenzellen durch einen Faserfilz verbunden sind oder ob das Neuron als eine autonome Einheit existiert. Durch die mit einem Nobelpreis gewürdigte Erfindung des Elektronenmikroskops durch den Elektroingenieur Ernst Ruska hier in Berlin konnte das später aufgeklärt werden.
dete Einteilung der verschiedenen Areale. Wilhelm von Waldeyer kreier-
… zugunsten der Neuronentheorie,
te hier den Begriff Neuron, Oskar
die Nervenzellen als einzelne,
und Cécile Vogt leisteten bis zur
in sich abgeschlossene Einheiten
Herr Pauen, was macht für Sie die
Machtübernahme durch die Nazis
versteht.
neurowissenschaftliche Gegenwart in Berlin aus?
im Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut Interview Matthias Eckoldt Fotos Nora Heinisch
für Hirnforschung Herausragendes. Die Liste könnte man fortführen. Was bedeutet dieses große historische Erbe für die heutigen Neurowissenschaften in Berlin?
Natürlich wäre Hirnforschung sinnlos, wenn sie nicht über das hinausgehen würde, was vorher gemacht wurde, aber sie baut gleichzeitig auch darauf auf. Gerade für den Standort Berlin sind die Durchbrüche, die hier gelungen sind, Ansporn und Verpflichtung gleichermaßen. Das gilt zuallererst für wissenschaftliche Leistungen, aber auch dafür, über den Tellerrand hinauszublicken. Nehmen Sie den von Ihnen genannten Emil du Bois-Reymond. Der hat nicht nur in seiner Disziplin Großes geleistet, sondern auch als Sekretär der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften weit über sein Gebiet hinausgewirkt. Das ist etwas, was auch heute wieder unter dem Stichwort Interdisziplinarität eine große Rolle spielt. PAU E N
Entscheidend für die modernen Neurowissenschaften war aus meiner Sicht die Entdeckung der zellulären Beschaffenheit des GeSCHMITZ
11
Diese Frage hat in den letzten 50 Jahren weite Bereiche der Neurowissenschaften beschäftigt. Und wenn man dann auf meinen Forschungsbereich schaut, hat sich herausgestellt, dass die Prozesse an der Synapse sogar plastisch sind. Das heißt, dort wird nicht einfach nur anund ausgeschaltet, sondern die Erregung kann beim Übergang von einem Neuron zum anderen viele mögliche Zwischenwerte annehmen. Damit sind wir in einem Parforceritt durch die Geschichte der Neurowissenschaften bereits in der Gegenwart angekommen. SCHMITZ
Genau. Und daraus ergab sich das nächste Problem. Wenn die Neuronen abgeschlossene Einheiten sind, wie kommunizieren sie dann miteinander? Wie sieht die Synapse aus, also wie gestaltet sich der Übergang zwischen einem Neuron und dem nächsten?
SCHMITZ
Die Frage also, wie die Erregung über den sogenannten synaptischen Spalt kommt, den winzig kleinen Raum zwischen Neuronen.
„Wir sollten uns immer im Klaren sein, dass unsere Vorstellungen von dem, was im Gehirn vor sich geht, fehlerhaft und völlig unvollständig sind.“ Michael Pauen
Am auffälligsten scheint mir, dass wir hier eine extrem vielgestaltige Landschaft mit sehr unterschiedlichen Spezialisierungen haben, die aber eng vernetzt sind. Die Forschungseinrichtungen, die sich in Berlin mit den Neurowissenschaften beschäftigen, arbeiten nicht nebeneinanderher, sondern kooperieren sehr erfolgreich auf unterschiedlichsten Ebenen. An genau dieser Stelle setzt ja auch die Einstein Stiftung mit ihrer Förderung ein. Hinzu kommt: Berlin ist nicht isoliert. Berliner Wissenschaftler arbeiten eng mit Kooperationspartnern in der ganzen Welt zusammen. PA U E N
Anders, als noch vor 30 Jahren, als die Stadt geteilt war … PAU E N Das ist wohl wahr. Heute haben wir einen Standortvorteil in Berlin, weil viele Leute sehr gern in die Stadt kommen. Ein beachtlicher Prozentsatz der Menschen, die heute hier leben, ist nicht in Berlin geboren. Das heißt, bestimmte Verkrustungen, die es in anderen Städten gibt, werden Sie hier nicht finden. Dadurch ist Berlin aber auch nicht unbedingt attraktiv für Leute, die ihren alltäglichen Trott ↘
brauchen. Wer nicht nach neuen Wegen sucht, findet morgens angesichts ständig wechselnder Baustellen noch nicht einmal den Weg zur Arbeit. Diese Offenheit für Neues schlägt sich in sehr produktiver Weise in den Wissenschaften nieder. Und wo liegen aus Ihrer Sicht die Stärken der Berliner Neurowissenschaften, Herr Schmitz?
Dass wir hier besonders breit aufgestellt sind und gerne miteinander kooperieren – auf verschiedenen Ebenen. Bei der Erforschung der Vorgänge an den Synapsen gibt es viele herausragende Wissenschaftler in der Stadt. Zugleich versucht man aber auch eine Ebene höher zu kommen. Also zu der Verbindung von Zelle zu Zelle. Da hat sich – besonders durch das Bernstein Center für Computational Neuroscience und den Exzellenzcluster NeuroCure – viel getan. Da sind tolle Wissenschaftler nach Berlin geholt worden, zum großen Teil über eingeworbene ForSCHMITZ
schungsgelder. Vielleicht ist das auch so eine Besonderheit für Berlin, dass sich viele Forschergruppen eingeworbene Mittel nicht selbst in die Tasche stecken, sondern in Köpfe investieren und spannende Leute berufen, die hervorragende Techniken mitbringen oder hier vor Ort etablieren (siehe dazu den Beitrag „Neuro-Tüftler“ ab Seite 18). Beispielsweise optogenetische Untersuchungsmethoden, mit denen es gelingt, durch bestimmte Lichtreize Gene an- und auszuschalten. Damit eröffnen sich Möglichkeiten, in den Kern molekularer Vorgänge in den Nervenzellen vorzustoßen. In der Forschungslandschaft der Stadt sind solche Forschungen immer eingebunden in Kooperationen mit vielen anderen Disziplinen. Es leuchtet ein, dass bei einem Großprojekt wie der Erforschung des Gehirns alle Kräfte gebündelt werden müssen. In der Praxis scheitert die Interdisziplinarität jedoch oft an Verständnisproblemen oder institutionellen Hürden …
Das stimmt sicher. Umso glücklicher sind wir, dass uns in Berlin Interdisziplinarität ein ums andere Mal glückt. Ein Beispiel ist ein Projekt, das interessanterweise in der Klinik begonnen hat, nicht im Labor. Dabei ging es im ersten Fall um eine etwa 45-jährige Patientin, die unter auditorischen Halluzinationen in Verbindung mit einer bereits ausgeprägten Demenz litt. Dieser Fall warf viele Fragen auf, es gab weder eine Diagnose noch eine Behandlungsmöglichkeit. Eine Berliner Arbeitsgruppe unter Leitung von Harald Prüß hat dann gefunden, dass auch andere Patienten Antikörper gegen jene körpereigenen Eiweiße bilden, die eine wichtige Rolle für die synaptischen Vorgänge spielen. Diese Antikörper haben wir dann in Zusammenarbeit mit weiteren Arbeitsgruppen untersucht und konnten deren Wirkweise erklären. Daraufhin wurde ein Verfahren entwickelt, das die Antikörper aus dem Organismus entfernt und den Zustand der Patienten wesentlich verbessert. In einigen Fällen gab es sogar SCHMITZ
12
eine 100-prozentige Heilung. Daran waren Psychiatrie, Neurologie und verschiedene Disziplinen der Grundlagenforschung direkt beteiligt. Das ist nur ein Beispiel von vielen und in der Zwischenzeit konnten viele Patienten mit solch einer Erkrankung – NMDAR-Enzephalitis – diagnostiziert und behandelt werden (siehe dazu „Knuts Vermächtnis“ ab Seite 30).
wurden möglich durch eine interdisziplinäre Kooperation von Hirnforschung und Philosophie. Für einen groben Überblick der Neurowissenschaften kann man sie in drei Ebenen aufteilen. Auf der untersten Ebene steht die molekulare Forschung, die der Frage nachgeht, was sich im und am Neuron tut. Hier sind wohl die größten Erfolge
Funktioniert die Interdisziplinari-
zu verbuchen. Die obere Ebene
tät auch zwischen Natur- und
dagegen untersucht, an welchen
Geisteswissenschaft, Herr Pauen?
Orten im Gehirn welche Funktionen
Sie sitzen ja als Philosophiepro-
auf welche Weise geleistet werden.
fessor an der Berlin School of Mind
Hier gibt es mehr Fragen als Antwor-
and Brain an einer der zentralen
ten. Das hängt unter anderem
Schnittstellen der Hirnforschung
damit zusammen, dass die mittlere
in Berlin.
Ebene als Vermittlungsinstanz zwischen unterer und oberer Ebene
Vor etwa zehn Jahren gab es eine hitzig geführte Debatte darüber, dass der Mensch angeblich keinen freien Willen habe. Ausgangspunkt dafür waren bereits damals über 20 Jahre alte Experimente, aus denen einige renommierte Hirnforscher problematische Schlussfolgerungen zogen, eben weil es diese Kooperation zwischen den Fakultäten da noch nicht gab. Heute haben wir die Möglichkeit, bei Mind and Brain ebenso wie im Bernstein Center in intensiver Zusammenarbeit zwischen Neurowissenschaftlern und Philosophen überhaupt erst einmal einen sinnvollen Begriff von Handlungsfreiheit und freiem Willen zu gewinnen. Auf dieser Grundlage werden dann Experimente entworfen. Bei einem dieser Experimente konnte gezeigt werden, dass man eine bereits geplante Handlung bis direkt vor der Ausführung immer noch abbrechen kann. PAU E N
Albert Jäger und Sammler
Damit war die Idee des freien Willens gerettet …
… ewige Wahrheiten gibt es in der Wissenschaft nicht, aber die Experimente sprechen dafür. Und sie PA U E N
13
noch weitgehend im Dunkeln liegt. Darüber, wie größere Gruppen von Neuronen auf der Netzwerkebene zusammenarbeiten, existieren bestenfalls plausible Vermutungen. Insofern forschen Sie, Herr Schmitz, eher auf gesichertem Terrain.
Es stimmt, dass wir im Verständnis der Prozesse auf molekular-zellulärer Ebene am weitesten sind. Da sind gerade in den letzten zwei, drei Jahrzehnten unglaubliche Fortschritte gemacht worden. Auf SCHMITZ
„Letztlich wissen wir nicht einmal, welche Daten wir brauchen, um höhere Hirnfunktionen zu verstehen – das ist mit Jägern und Sammlern gut ausgedrückt.“ Dietmar Schmitz
der mittleren Ebene fehlt tatsächlich sehr viel, eine wichtige Frage lautet: Wie sind Nervenzellen in Verbünden oder Netzwerken exakt miteinander verschaltet, sowohl lokal als auch zwischen Hirnarealen? Da gab es bis vor Kurzem nicht einmal die richtigen Techniken, um überhaupt an Datenmaterial zu kommen. Hier gibt es noch viel zu tun. Die reichhaltigen Kenntnisse, die man auf der zellulären Ebene hat, in ein allgemeines Verständnis von Netzwerken zu integrieren, scheitert schlicht auch an der Komplexität. Das am weitesten fortgeschrittene und, ↘ PAU E N
tätsgrad als die Sache hat, die man verstehen möchte. Gibt es aus Ihrer Sicht überhaupt Mittel und Wege, das Gehirn als Einheit zu verstehen?
Das von der EU mit der geradezu märchenhaften Summe von einer Milliarde Euro gefördert wurde.
Die haben dort einen Supercomputer genutzt, um eine kleine Einheit des Rattengehirns zu simulieren, und haben verkündet, dass sie das auf das menschliche Gehirn übertragen wollen. Nur: Wenn sie allein für diese kleine Einheit bereits einen Supercomputer brauchen, der unvorstellbare 1.000 Milliarden Operationen pro Sekunde leistet, wird das Problem rasch deutlich, denn der Mensch verfügt über eine Million dieser Einheiten. Außerdem könnte man die Untersuchungen schon aus ethischen Gründen nicht durchführen, denn man kann in das Gehirn eines lebenden Menschen nicht einfach eingreifen. PA U E N
Wir haben ja unser Gespräch mit der Geschichte der Neurowissenschaften begonnen. Wenn man auf frühere Perioden des Fachs zurückblickt, sieht man sehr schön, wie begrenzt das jeweilige Verständnis war, weil bestimmte Techniken und Einsichten noch fehlten. Wir sollten uns immer im Klaren sein, dass dasselbe auch für uns gilt. Das heißt, dass uns nicht nur Daten fehlen, sondern dass unsere Vorstellungen von dem, was im Gehirn vor sich geht, fehlerhaft und völlig unvollständig sind. Wenn man sich das klarmacht, sollte man vorläufig keine Vermutungen darüber anstellen, ab wann das Gehirn als verstanden gelten kann. PAU E N
Dementsprechend hieß es ja auch im „Manifest führender Neurowissenschaftler über Gegenwart und
Damit sind wir bei einer philoso-
Zukunft der Hirnforschung“ von
phisch eminent wichtigen Kategorie,
2004, dass die Hirnforscher sich
der des Verstehens. Diese führt
allenfalls auf dem Stand von
beim Hirn in eine Paradoxie, da
Jägern und Sammlern befinden.
←Michael Pauen ist Professor am Institut für Philosophie der HumboldtUniversität zu Berlin und Sprecher der Berlin School of Mind and Brain. Er beschäftigt sich mit der Philosophie des Geistes und mit Kulturphilosophie. Zuletzt ist sein Buch „Die Natur des Geistes“ erschienen (S. Fischer, 2016 ), in dem er der Frage nachgeht, ob das Bewusstsein erklärt werden kann. →Dietmar Schmitz ist Einstein-Professor für Zelluläre und Molekulare Neurobiologie und Direktor des Neurowissenschaftlichen Forschungszentrums an der Charité. Sein Schwerpunkt liegt auf der Untersuchung physiologischer und pathophysiologischer Mechanismen der synaptischen Transmission und Plastizität sowie der neuronalen Netzwerkaktivität. Er ist Sprecher des neu gegründeten Einstein-Zentrums für Neurowissenschaften.
Albert Jäger und Sammler
wie sich immer mehr herausstellt, problematischste Projekt in dieser Richtung ist das Human Brain Project in Lausanne.
man ja nur das Gehirn hat, um das Gehirn zu verstehen. Zum Verständnis einer Sache braucht man jedoch einen höheren Komplexi-
„Albert Einstein könnte uns da ein gutes Vorbild sein. Er hat Dinge hinterfragt, die als unumstößliche Gesetze galten.“ Dietmar Schmitz
Genau. Zunächst muss man aber feststellen, dass der Begriff des Verstehens nicht klar definiert werden kann, was auch in der Philosophie immer wieder diskutiert wird. In der Physik, Mathematik und insbesondere den Ingenieurwissenschaften könnte man mit diesem Wort arbeiten, sobald man ein Modell rechnen kann oder eine Maschine baut, die repetitiv, reliabel sowie präzise eine Funktion ausführen kann. In der Hirnforschung könnte man die Funktion solch einer Maschine etwa mit dem Verhalten gleichsetzen, aber wir sind weit davon entfernt, den Zusammenhang zwischen Maschine und Funktion zu verstehen. Konkret gesagt, ↘ SCHMITZ
14
„Für ein wissenschaftliches Verständnis geistiger Prozesse müssen wir zunächst einmal wissen, was jemand fühlt und denkt.“ Michael Pauen wir wissen fast bis in die atomare Ebene hinein, wie die Proteine im Gehirn zusammenkommen und den entsprechenden Transmitter freisetzen. Auf der anderen Seite der Synapse geht dann ein Ionenkanal auf, durch den kleinste Strömchen hindurchfließen – 10 hoch minus 15 Ampere, das sind 14 Nullen hinter dem Komma. Das haben wir – würde ich sagen – relativ gut verstanden. Aber deswegen haben wir noch lange nicht höhere Hirnfunktionen wie etwa das Gedächtnis begriffen. Letztlich wissen wir nicht einmal, welche Daten wir dafür brauchen – und das ist mit Jä-
gern und Sammlern gut ausgedrückt. Albert Einstein könnte uns da ein gutes Vorbild sein. Der hat seine fantastischen Ergebnisse letztlich dadurch erzielt, dass er einen Schritt zurückgetreten ist und Dinge hinterfragt hat, die als unumstößliche Gesetze galten. So jemanden bräuchten wir. Womit wir wieder bei der Historie wären. Ich würde aber gern noch einmal auf die Gegenwart zu sprechen kommen. Mit welchen Fragen beschäftigen Sie, Herr Schmitz, sich im Exzellenzcluster NeuroCure derzeit?
Mit der Analyse von Hirnfunktionen und der Entstehung von Krankheiten des Gehirns. Wir konzentrieren uns nicht auf eine Krankheit allein, sondern verfolgen im Gegenteil die Hypothese, dass Symptome bei vielen neurologischen und psychiatrischen Krankheiten mit ähnlichen Mechanismen einhergehen. Langfristig hegen wir die Erwartung, sowohl diagnostische als auch therapeutische Möglichkeiten aus unseren Forschungen zu entwickeln. Für dieses Projekt ist die Zusammenarbeit grundlagenwissenschaftlicher Arbeitsgruppen mit den Kliniken immens wichtig. Hoffnungsvoll stimmt mich, dass auch hier ein ziemlich festgefügtes Paradigma zu kippen scheint. Bislang hat man angenommen, dass eine Entwicklungsstörung im Gehirn, die zu einer Behinderung führt, unumkehrbar ist. Wir haben erste Anzeichen gefunden, die dieser Forschungsmeinung widersprechen. SCHMITZ
16
Möglicherweise kann man auch im Alter Entwicklungsstörungen auf molekularer und genetischer Ebene noch therapieren. Aber da ist es noch zu früh für Erfolgsmeldungen. Wie sieht Ihre Forschungsgegenwart aus, Herr Pauen?
Ich arbeite gewissermaßen am anderen Ende der Gehirnvorgänge. Lange Zeit ist man davon ausgegangen, dass man über bewusste Empfindungen nur in der sogenannten Ersten-Person-Perspektive etwas sagen kann: Nur ich selbst weiß, wie es ist, einen Schmerz zu empfinden oder eine Farbe zu sehen. Wenn dem so wäre, könnte man über Empfindungen aus der Dritten-Person-Perspektive der Wissenschaft nur bedingt etwas aussagen. Wir wären also nicht imstande, eine wissenschaftliche Erklärung der natürlichen Grundlagen des Bewusstseins zu geben. Wir versuchen gerade in Zusammenarbeit mit Philosophiehistorikern, Neurowissenschaftlern, Psychologen, Neurologen und Psychiatern die Grenze der Erkenntnis in diesem Bereich auszukundschaften. Bis zu welchem Grad kann die Naturwissenschaft sinnvolle objektive Aussagen über subjektive Empfindungen treffen? PAU E N
Albert Jäger und Sammler
Auch hier sind wir wieder bei der Vergangenheit – Emil du BoisReymond behauptete mit seinem sogenannten Ignorabimus-Argument, dass die Wissenschaft nie herausfinden wird, wie es sich anfühlt, die Farbe Rot zu empfinden.
Genau das ist unsere Frage. Hatte Emil du Bois-Reymond da wirklich recht? Wir benötigen ein wissenschaftliches Verständnis geistiger Prozesse. Und dazu müssen wir zunächst einmal wissen, was jemand fühlt und denkt. Das ist schon für Psychiater PA U E N
17
„Bislang hat man angenommen, dass eine Entwicklungsstörung im Gehirn, die zu einer Behinderung führt, unumkehrbar ist. Wir haben erste Anzeichen gefunden, die dieser Forschungsmeinung widersprechen.“ Dietmar Schmitz
Wir sind schon ziemlich weit in der Zusammenarbeit der verschiedenen Bereiche und Initiativen, die sich mit Neurowissenschaften beschäftigen. Gleichwohl sehe ich noch Luft nach oben. Und je enger man die einzelnen Projekte miteinander koordiniert, desto besser ist das für die gesamte Forschergemeinde. Im gerade neu gegründeten EinsteinZentrum für Neurowissenschaften versuchen wir die Doktorandenausbildung zwischen all den unterschiedlichen Neuro-Initiativen zu koordinieren. Das ist so eine Baustelle, bei der durch noch mehr Vernetzung und Synchronisation große Verbesserungen erzielt werden können. PAU E N
Ich denke, wir müssen in Berlin auch über die Neurowissenschaften hinausgehen. Beispielsweise könnten wir viel erreichen, wenn wir den Zusammenhang von neurowissenschaftlichem und immunologischem System untersuchen würden. Da gibt es vieles, was wir noch gar nicht verstehen. Warum bilden sich überhaupt bestimmte Antikörper, die dann auf die synaptische Aktivität Einfluss nehmen? Wie wirken diese? Übersehen wir kritische Krankheitsmechanismen genau an dieser Schnittstelle? Solche fächerübergreifenden Fragen stellen und in einer sinnvollen Weise bearbeiten zu können, das wäre eine Zukunftsvision, die einem Wissenschaftsstandort wie Berlin angemessen wäre.
SCHMITZ
enorm wichtig, die sich ein objektives Bild von den psychischen Störungen seines Patienten machen müssen. Und dieses Bild kann von den Angaben des Patienten abweichen. Dasselbe Problem stellt sich, wenn man mit neurowissenschaftlichen Methoden zu bestimmen versucht, in welchem mentalen Zustand sich ein Proband befindet. Spannend ist auch die Frage, ob es Fälle gibt, in denen sich der Proband selbst über seinen inneren Zustand täuscht. Wenn man das mit naturwissenschaftlichen Methoden bestimmen könnte, wüsste man gewissermaßen mehr über den inneren Zustand der Person als diese selbst. Es gibt hierfür eine Reihe von Indizien, zum Beispiel aus der Psychologie. Werfen wir noch einen Blick in die Zukunft – was wünschen Sie sich für den Neurostandort Berlin?
Der Berliner Philosoph und Autor Matthias Eckoldt veröffentlicht Fachbücher und Essays über das Gehirn. Zuletzt erschien von ihm „Eine kurze Geschichte von Gehirn und Geist: Woher wir wissen, wie wir fühlen und denken“ (Pantheon Verlag, 2016) sowie mit Randolf Menzel „Die Intelligenz der Bienen“ (Albrecht Knaus, 2016). Für seine Arbeit wurde Eckoldt unter anderem mit dem idw-Preis für Wissenschaftsjournalismus ausgezeichnet.
Neuro-Tüftler Berliner Neurowissenschaftler entwickeln und optimieren wegweisende Techniken für die Hirnforschung
Revolutionäre Lichtschalter: Optogenetik Der Chemiker Peter Hegemann von der Humboldt-Universität zu Berlin hat den Grundstein für die Optogenetik gelegt, die eine Revolution in den Neurowissenschaften in Gang gesetzt hat. Über lange Zeit mussten Hirnfor-
scher sich mit dem Beobachten von Vorgängen in der Denkzentrale begnügen. Das änderte sich schlagartig 2002 mit einer Entdeckung des Chemikers Peter Hegemann. Gemeinsam mit Kollegen stieß Hegemann auf ein lichtempfindliches Protein einer Zelle in einer Grünalge. Die Entdeckung wurde schon kurze Zeit später begeistert von Neurowissenschaftlern aufgegriffen. Denn mithilfe von Viren lassen
in Gang gesetzt. Forscher können Neuronen seither so einfach und präzise wie nie zuvor beeinflussen. Beispielsweise kann man bei einem Fadenwurm für die Bewegungssteuerung zuständige Nervenzellen mit einem blauen Lichtblitz anregen und mit einem gelben hemmen. Unter blauem Licht zappelt der Fadenwurm munter herum, unter gelbem Licht erstarrt er. So lässt sich die Funktion der verantwortlichen Nervenzellen viel gezielter untersuchen als durch bloßes Beobachten. Die Gene für die molekularen „Lichtschalter“, die von Neurowissenschaftlern weltweit verwendet werden, kommen häufig von Peter Hegemann aus Berlin. Sein interdisziplinäres Team ist Teil des Forschungsverbunds „Protein-based photoswitches as optogenetic tools“. Gemeinsam mit einer Forschungsgruppe um den Chemiker Joachim Heberle von der Freien Universität Berlin studieren die Berliner Forscher die Struktur und Funktion ihrer „Lichtschalter“ und erweitern beständig den optogenetischen Instrumentenkasten.
Schnappschuss im Eisfach: „Flash-and-freeze“– Elektronenmikroskopie Der Neurowissenschaftler Christian Rosenmund von der Charité lässt Nervenzellen
sich Bauanleitungen der Proteine in den genetischen Bauplan von Nervenzellen einschleusen. Einmal in die Zellmembran der Neuronen eingebaut, braucht nur noch Licht der richtigen Wellenlänge auf die Proteine zu fallen und schon lassen sie elektrisch geladene Teilchen ins Innere der Zelle strömen: Die Nervenzelle wird je nach Protein elektrisch erregt oder gehemmt. Die Optogenetik, eine Fusion von Optik und Genetik, war damit geboren und eine Revolution in den Neurowissenschaften
schockgefrieren, um so in Schnappschüssen ihre Funktionsweise studieren zu können. Das
Labor von Christian Rosenmund birgt einen Fotoapparat der besonderen Art: Mit Licht aktivieren die Wissenschaftler zunächst eine Nervenzelle in der Petrischale. In einem zweiten Schritt schockgefriert ein Hochdruckgefriergerät die Nervenzelle unter hohem Druck und mithilfe von flüssigem Stickstoff. Die zellulären Strukturen und Prozesse erstarren innerhalb von Millisekunden. Das Ergebnis ist ein
18
Schnappschuss, den die Forscher in aller Ruhe unter einem Elektronenmikroskop studieren können. Diese Kombination von Optogenetik und Schockgefrieren konnte man ursprünglich nur bei Zellen von Fadenwürmern anwenden.
Blick in lebende Neuronen: In-vivo-Ganzzellableitungen Der Neurobiologe Michael Brecht vom Bernstein Center for Computational Neuroscience Berlin hat eine Technik mitentwickelt, mit der sich einzelne Nervenzellen bei sich frei bewegenden Tieren belauschen lassen. Möchte man
Text Christian Wolf Illustrationen Lizzy Onk 19
Doch die Berliner Forscher um Christian Rosenmund haben die Technik weiterentwickelt. Nun können sie auch Synapsen von Säugetieren untersuchen, also die Kontaktstellen, über die Nervenzellen miteinander kommunizieren. „Die Technik ermöglichst es uns, Schnappschüsse von Synapsen mit Millisekundengenauigkeit zu machen, während sie Signale übertragen“, sagt Rosenmund. Sein Team konnte zeigen, dass die Verpackungseinheiten, über die Nervenzellen ihre Botenstoffe zur Kommunikation freisetzen, innerhalb von wenigen hundertstel Sekunden wiederverwendet werden – und damit viel schneller, als man zuvor vermutet hatte. Rosenmund hat weitreichende Pläne für die Zukunft. „Die Technik lässt sich auch in anderen Bereichen der Biologie einsetzen, in denen sich Strukturen dynamisch ändern, beispielsweise bei Muskelkontraktionen. Auch wollen wir die Zeitauflösung weiter verbessern, um noch schnellere Prozesse einfangen zu können.“
einen detaillierten Einblick in die elektrische Aktivität von Nervenzellen bekommen, muss man die Zelle selbst unter die Lupe nehmen. Dafür nähert man eine gläserne Messpipette vorsichtig an. Hat man eine stabile Verbindung zwischen Zelle und Pipette, saugt man diese an, sodass sich die Zellmembran an dieser Stelle etwas ausbeult. Infolge des Unterdrucks sitzt das Glas so fest auf der Membran, dass der kleine Membranabschnitt innerhalb der Pipette vom Rest der Membran elektrisch isoliert ist. Mit einem speziellen Messgerät lassen sich nun die elektrischen Ströme der Zelle mes-
sen. Solche klassischen Ganzzellableitungen waren bis 2006 nur an Hirnschnitten toter Tiere möglich. „Wir haben daraufhin die Ganzzellableitung erfolgreich auf Miniaturgröße gebracht“, sagt Brecht. „So können wir sie auch bei Tieren anwenden, die sich frei bewegen.“ ↘
Impulse für ParkinsonPatienten: Tiefe Hirnstimulation Die Neurologin Andrea Kühn von der Charité arbeitet daran, einen Hirnschrittmacher individuell auf Patienten mit Parkinson zuzuschneiden. Bewegungsstörungen wie Morbus
Parkinson sind Netzwerkerkrankungen des Gehirns. Dabei ist der Informationsfluss zwischen verschiedenen Hirnregionen gestört, darunter die Basalganglien tief im Gehirn, die für Bewegungsabläufe eine wichtige Rolle spielen. Bei Parkinson etwa ist ein bestimmtes Gebiet der Basalganglien überaktiv. Es liegt wie ein bleiernes Gewicht auf der hirninternen Bremse, indem es Areale stimuliert, die hemmend auf Bewegungszentren wirken. So kommt es zur krankhaft verlangsamten Motorik der Parkinsonpatienten. Die tiefe Hirnstimulation ist bei Parkinsonpatienten als Therapie schon seit Jahrzehnten im Einsatz. Dem Patienten wird operativ eine dünne Elektrode ins Gehirn eingesetzt. Über einen Stimulator können dann elektrische Impulse vergleichbar mit einem Herzschrittmacher direkt in die Zielregion geleitet werden, um deren aus dem Gleichgewicht geratene Aktivität zu beeinflussen. Die elektrischen Impulse drosseln die überaktive
Hirnstruktur, und die Betroffenen haben wieder mehr Kontrolle über ihre Bewegungen. Die Neurologin Andrea Kühn, Leiterin der Sektion Bewegungsstörungen und Neuromodulation an der Berliner Charité, arbeitet seit Jahren daran, das gängige Verfahren zu verbessern. Das ist
auch eines der Ziele des von der DFG und der Charité geförderten Forschungsverbunds „Tiefe Hirnstimulation“, dem Kühn vorsteht. Die Forscherin widmet sich vor allem der rhythmischen Aktivität von Neuronen, gewissermaßen dem Code, in dem Nervenzellen miteinander kommunizieren. „Wir möchten in Erfahrung bringen, welche Veränderungen in der Kommunikation bei Erkrankungen wie Parkinson auftreten und wie sie durch die Stimulation beeinflusst werden.“ Das Ziel: „Einen Hirnstimulator zu entwickeln, der die neuronalen Signale aus der Tiefe des Gehirns des jeweiligen Patienten auswertet und sich daran anpasst.“ Herkömmliche Geräte geben Impulse an die anvisierten Hirnregionen in den Basalganglien immer mit der gleichen Frequenz ab, unabhängig davon, wie es dem Patienten gerade geht. „Die Idee ist nun, diese Aktivität der Basalganglien kontinuierlich zu messen und immer, wenn sie zu stark ist, über die tiefe Hirnstimulation herunterzuregulieren.“
Albert Neuro-Tüftler
Der Messaufbau befindet sich nun auf dem Kopf des lebenden Tiers. „Wir haben die Pipette mit schnell härtendem Kunststoff auf dem Schädel einzementiert, um sie relativ zur Zelle stabil zu halten.“ Brecht ergründet in Berlin mit der Technik unter anderem die räumliche Gedächtnisbildung auf Zellebene. Sogenannte Platzzellen feuern immer dann, wenn sich ein Lebewesen an einem bestimmten Punkt im Raum befindet. „Mit unseren In-vivo-Ganzzellableitungen konnten wir zeigen, dass Platzzellen schon nach wenigen Sekunden in einer neuen Umgebung stabile räumliche Aktivitätsmuster zeigen. Das heißt, das Gehirn entwirft in Sekundenschnelle eine mentale Karte der Umwelt.“ Brecht und seine Kollegen arbeiten stetig daran, ihre Technik weiterzuentwickeln. Ein Ziel des Teams: Die Platzzellen direkt nach der Messung anzufärben, um herauszufinden, wie die noch weitgehend unbekannten Zellen von ihrer Struktur her im Detail aussehen.
20
Albert fragt …
1/8
Das Gehirn wirft viele Fragen auf. Hier beantworten Berliner Neurowissenschaftler einige der spannendsten
Warum träumen wir? Aufgezeichnet von Ragnar Vogt 21
Träumen ist wie Wachsein, nur die Augen sind dabei geschlossen und unsere Muskeln blockiert. Das Gehirn ist genauso aktiv wie im wachen Zustand. Warum ist das so? Der Traumschlaf – auch REMSchlaf genannt – ist ein sehr wichtiges Schlafstadium. Es gibt die Theorie, dass in unser Gehirn nur die Informationen von 16 Stunden an Erlebtem passen. Danach müssen die Erfahrungen, Sinneseindrücke, Emotionen verarbeitet werden. Sie werden sortiert, manche gespeichert, andere verworfen oder modifiziert. Das passiert alles im Traumschlaf. Davon bekommt unser Bewusstsein einen Teil mit, und das empfinden wir als Träumen. Die Bedeutung des Traumschlafs für unser Gedächtnis können wir ausnutzen. Wenn wir etwa
etwas besonders Schönes erleben, vielleicht im Urlaub, dann sollten wir früh schlafen gehen, keinen Alkohol trinken. So stellen wir sicher, dass diese schöne Erinnerung sich festsetzt. Auch wenn wir lernen, sollten wir uns danach bald schlafen legen. Sie können dabei einen Trick anwenden: Hören Sie beim Lernen Musik, zum Beispiel Mozart, und spielen Sie genau diese Musik dann auch beim Schlafen leise ab. Damit provozieren Sie gezielt den Lernprozess.
Ingo Fietze leitet das Schlafmedizinische Zentrum der Charité. Er erforscht die Behandlung von Krankheiten wie Narkolepsie oder Schlafstörungen. 2015 erschien sein Buch „Über guten und schlechten Schlaf“ (Kein & Aber).
Magie und Wahrheit Der Biochemiker und Nobelpreisträger Thomas Südhof über seine Berliner Forschung, die Chancen der Neurowissenschaften und die erstaunliche Vollkommenheit unserer Hirnprozesse
22
Aufgezeichnet von Mirco Lomoth Foto Pablo Castagnola 23
Wenn zwei Nervenzellen im Gehirn miteinander kommunizieren, sorgt ein biochemischer Transmitter dafür, dass Informationen von einer Synapse an die andere übertragen werden. Das ist ähnlich wie in der Kommunikation zwischen zwei Menschen mittels Sprache. In beiden Fällen müssen Sender und Empfänger zeitlich und räumlich präzise aufeinander abgestimmt sein, damit die Botschaft Sinn ergibt. Wir beschäftigten uns in unserer Forschung ursprünglich mit dem Senden der Botschaft, also mit der Freisetzung des Neurotransmitters: Wie verläuft dieser Prozess und wie wird er zwischen den Synapsen orchestriert? An diesen Fragen arbeiten wir teilweise heute noch und wir kollaborieren dabei mit dem Labor von Christian Rosenmund an der Charité, das eine geniale Methode entwickelt hat: Die Synapsen werden innerhalb von Mikrosekunden schockgefroren und so in Zeit und Raum fixiert. Damit
„Manches haben wir verstanden, aber vieles wirkt auf uns noch immer wie Magie.“ wird es möglich, die Veränderungen zu beobachten, die sich im Verlaufe der Informationsübertragung in der Synapsen-Architektur vollziehen (siehe dazu „Schnappschuss im Eisfach“ ab Seite 18). Als Menschen stehen wir mit offenem Mund vor der Komplexität biologischer Prozesse. Ich bin immer wieder erstaunt, wenn ich die unglaubliche Vollkommenheit beobachte, mit der sie funktionieren. Wie ist es möglich, dass sie jedes Mal mit derselben Präzision ablaufen? Ich denke, dieses Gefühl begleitet jeden, der in
der Biologie arbeitet. Manches haben wir verstanden, aber vieles wirkt auf uns noch immer wie Magie. Die Chancen der Neurowissenschaften für die Zukunft sind irrsinnig groß, weil die Instrumente immer leistungsstärker werden und sich damit viel mehr entdecken lässt als je zuvor. Außerdem wird diese Disziplin zu einem immer wichtigeren Zweig der biomedizinischen Forschung. Das liegt vor allem an der Erkenntnis, dass sehr viele Krankheiten ihren Ursprung im Gehirn haben. Andererseits machen sich auch Grenzen bemerkbar, weil die Sicht auf die Wissenschaft längst nicht mehr so positiv ist wie früher. Zwar nutzen wir alle die Früchte der Wissenschaft – Handys, Autos, Medikamente –, und doch herrscht ein zusehendes Misstrauen gegenüber dem wissenschaftlichen Denken. Es liegt an uns Wissenschaftlern, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die Wissenschaft ein Wert an sich ist, von dem die Gesellschaft selbst dann profitiert, wenn sie einmal kein unmittelbares Ergebnis daraus ergibt. Eine weitere Herausforderung besteht darin, die begrenzten finanziellen Mittel für die Forschung künftig so einzusetzen, dass wir die realen Chancen der Neurowissenschaften ausnutzen. Das gilt sowohl für die Forschung, die zu Krankheitserkennung und -behandlung beitragen kann, als auch für die Grundlagenforschung, die Erkenntnisfortschritte bringt. Die anwendungsbezogene Forschung könnte sogar überwiegen, allerdings nur solange sie nicht nach dem Modell geplant wird: Das ist die Krankheit, und die heilen wir jetzt. Denn selbst Krankheiten mit klarem monogenetischen Ursprung wie Huntington – eine seltene vererbbare Krankheit des Gehirns – verstehen wir noch nicht einmal ansatzweise. Deshalb sollten wir bei der Untersuchung der Krankheitsprozesse ansetzen, statt von Anfang an auf die Entwicklung
von Therapien abzuzielen. Ein Neurowissenschaftler ist nun einmal kein Ingenieur, der ein Produkt plant. Für mich besteht die gesellschaftliche Verantwortung von Wissenschaftlern darin, die Wahrheit herauszufinden, nicht einen möglichst großen Teil vom Geld-Kuchen abzubekommen. Wir sollten uns gelegentlich eingeste-
„Es herrscht ein zusehendes Misstrauen gegenüber dem wissenschaftlichen Denken.“ hen, dass wir etwas nicht wissen, oder den Mut haben, Kollegen zu widersprechen. Wissenschaft beruht darauf, dass man sich streitet und an einem gewissen Punkt darauf einigt, was wahr ist, um von dort aus weiterzumachen. Wie viele Wissenschaftler möchte ich zu Forschungsergebnissen beitragen, die der Menschheit nützen. Aber ich bin genauso fasziniert von der Tatsache, dass mein Gehirn – die Gesamtheit meiner Erfahrungen, Gedanken, Gefühle und Ideen – mich zu dem macht, was mich als Individuum definiert. Ich glaube, wir werden das alles in naher Zukunft nicht begreifen. Aber das Schöne ist, dass schon kleinste Erkenntnisse dazu beitragen, dass wir ein wenig besser verstehen, wer wir als Menschen sind. Thomas Südhof ist Einstein BIH Visiting Fellow am Rosenmund Lab an der Charité, wo er den Einfluss spezifischer Gene und Moleküle auf die Architektur von Synapsen im Prozess der Informationsübertragung untersucht. Gemeinsam mit James Rothman und Randy Schekman erhielt er 2013 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin für grundlegende Erkenntnisse zum Transportsystem menschlicher Zellen. Seit 2008 ist er Professor für Zellphysiologie an der kalifornischen Stanford University.
Fotos Pablo Castagnola Text Martin Kaluza
Der Kopfkßnstler Der Philosoph Jesse Prinz vermittelt zwischen Geist und Gehirn – und verbindet dabei philosophische Fragestellungen mit psychologischen Experimenten
24
Es ist Vormittag, die Berliner Gemäldegalerie hat gerade erst geöffnet, durch die Hallen schlendert ein Mann in grauen Jeans, dunkelgrauem Jackett und schwarzen Wanderschuhen. Seine Haare strahlen so pink, dass ihm die Kinder einer Schulklasse mehr Beachtung schenken als dem Rembrandt, den die Lehrerin ihnen gerade erklären will. Jesse Prinz, der Mann mit den auffälligen Haaren, ist Professor an der City University of New York und einer der profilier-
testen Philosophen des Geistes. Seit 2015 ist er Einstein Visiting Fellow an der Berlin School of Mind and Brain. An diesem Vormittag ist er auf der Suche nach einem Bild des florentinischen Malers Piero del Pollaiuolo – „Bildnis einer jungen Frau im Profil“. Er kennt es seit seiner Kindheit. „Eine Reproduktion davon hatte meine Großmutter immer bei sich, bis ins hohe Alter“, sagt Prinz. Als Jugendlicher ist er mit ihr zusammen einige Male von New York nach Ber-
Albert Der Kopfkünstler
„Manche Neurowissenschaftler, die den freien Willen infrage stellen, haben sich mit der philosophischen Seite überhaupt nicht befasst.“
lin gereist. Sie zeigte ihm die Stadt, aus der sie vor den Nationalsozialisten fliehen musste, die Museen, die sie geliebt hatte. Sie war Kunsthistorikerin. „Mit ihr habe ich damals auch ein bisschen Deutsch gesprochen.“ Vielleicht war es die Liebe seiner Großmutter zur Kunst, die ihn selbst zu einem Kunstkenner machte – und zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Ästhetik brachte, einem seiner weitverzweigten Forschungsschwerpunkte. Prinz besitzt den Blick für die großen Verbindungslinien. Die Einstein-Gruppe, die er an der Berlin School of Mind and Brain leitet, heißt „Consciousness, Emotions, Values“ – also „Bewusstsein, Emotionen, Werte“. Dieses Begriffsdreieck markiert einen theoretischen Rahmen, aus dem er Fragen zu Ethik, Erkenntnistheorie und Ästhetik ableitet: Welche Rolle spielen Emotionen bei der Bildung moralischer Urteile? Welche psychologischen Prozesse beeinflussen unsere Wahrnehmung der Welt? Und wie trägt das Staunen zu unserer Erfahrung und unserem Verständnis von Schönheit und Erhabenem in der Kunst bei? Prinz gehört einer Generation von Philosophen an, die über den Tellerrand der abstrakten Reflexion hinausschauen und auch empirische Erkenntnisse in ihre Theoriebildung einbeziehen. Dazu führt er psychologische Experimente durch. Einmal zeigte er Probanden verschiedene Gemälde, einige von anerkannten Meistern, andere waren Fälschungen oder stammten von unbedeutenderen Künstlern – eine Information, die er den Probanden nicht vorenthielt. Die Betrachter standen anderthalb Meter vor Reproduktionen der Bilder und sollten deren Größe schätzen. Interessanterweise schätzten sie die Meisterwerke im Durchschnitt einige Zentimeter zu groß, die anderen Bilder etwas zu klein ein. „Das hat damit zu tun, dass wir uns als Men-
26
27
schen im Angesicht großer Kunst als klein und unbedeutend empfinden“, deutet Prinz die Ergebnisse. Wir sehen und beurteilen ein Bild nicht für sich genommen, sondern immer in seinem Kontext. Das Experiment war ein kleiner Beitrag zu einer Debatte der Ästhetischen Theorie. Für einen Philosophen ist ein solches Vorgehen ungewöhnlich. Lange Zeit gehörte die Durchführung von Experimenten nicht zum methodischen Repertoire der Disziplin. Im 20. Jahrhundert dominierte, besonders im angelsächsischen Raum, die rationalistische Schule. Einflussreiche Philosophen wie Heidegger und Wittgenstein hielten Naturwissenschaften und Philosophie streng getrennt. Doch die Einbeziehung empirischer Methoden, das ist Prinz wichtig zu erwähnen, ist kein Bruch mit der philosophischen Tradition – experimentelle Philosophie gab es bereits im 17. Jahrhundert. Er sieht sich in der Tradition britischer Empiristen wie David Hume. „Seine These lautete: Erfahrung beruht auf Wahrnehmung, Moral auf Emotionen. Allein durch begriffliche Reflexion kann man beides nicht erklären.“ Als Einstein Visiting Fellow kommt Prinz über drei Jahre regelmäßig nach Berlin, in die Stadt seiner Großeltern. Wie die Großmutter teilte auch sein Großvater, Joachim Prinz, eine Leidenschaft für die Kunst. Auch er war Philosoph und zudem beliebter Rabbiner in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße. Nach der Flucht der Familie vor den Nationalsozialisten, 1937, wurde er in den USA zum Bürgerrechtler. Als Martin Luther King beim Marsch auf Washington seine berühmte Rede „I have a dream“ hielt, stand Joachim Prinz neben ihm auf der Tribüne. Jesse Prinz’ Berlin, das ist jedoch nicht nur das Berlin seiner Großeltern, die Gemäldegalerie und die Synagoge in der Oranienburger Straße,
sondern auch das wilde Westberlin der Vorwendezeit. „In den 80er Jahren kamen mein Bruder und ich her, um uns Kreuzberg anzusehen. Wir hatten gehört, dass es cool und irgendwie wild war“, sagt Prinz. Sein Bruder machte damals Musik und zog mit ihm durch die Clubs für die das morbide Westberlin bekannt war. „Die Berliner Punkrocker wollten die Menschen mit ihrer Musik verstören. An den Wänden lasen wir Graffitis wie ‚Amis raus!‘ Wir wurden als amerikanische Teenager nicht gerade mit offenen Armen empfangen, aber die Szene war auf charmante Weise grob.“ Heute zieht es ihn eher in die vielen Galerien der Stadt. Man sieht Prinz den Punkrocker noch an, der in seiner Jugend in ihm steckte. Etwas Rebellisches hat er sich erhalten, in seinen pinkfarbenen Haaren, die auch schon mal blau waren, in seinem Denken – und in einer Marotte, die er pflegt. Wer sich auf Jesse Prinz’ Internetseite subcortex.com umschaut, stößt nämlich auf unzählige Zeichnungen menschlicher Köpfe mit meist ausdruckslosen Gesichtern, aus denen Elefanten oder Schrauben herauswachsen, in denen Uhrwerke ticken oder kleine Menschen wohnen. „Das sind Kritzeleien, ich habe schon Tausende davon. Ich kritzele, wenn ich mir Vorträge anhöre“, sagt Prinz. „Auf Köpfe kam ich, weil es in eigentlich allen Vorträgen um den Geist geht. Das Kritzeln bringt mich
zu einem ‚Sweet Spot‘ der Aufmerksamkeit: Meine Gedanken können so nicht einfach abschweifen, aber ich kann auch nicht zu stark ins Grübeln über das Vorgetragene geraten.“ Auch dazu hat Prinz schon Experimente durchgeführt. Das Ergebnis: Kritzelnde Probanden nehmen Informationen besser auf. Allerdings nur, wenn sie ziellos kritzeln dürfen. Die Frage, wie denn der Geist und das, was in den Köpfen drin ist, zusammenhängen, beschäftigt Prinz immer wieder. Die Naturwissenschaften haben uns gelehrt, dass das Gehirn eine biochemische Maschine ist, deren Funktion den Naturgesetzen unterworfen ist. Zugleich spielt sich in unseren Köpfen ein reiches Innenleben ab: Bewusstsein, Emotionen, ein freier Wille. Wie passen diese beiden Welten zusammen? Und wie kann man sie angemessen beschreiben, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln? In der Philosophie bezeichnet man diesen Fragenkomplex als das „LeibSeele-Problem“. Das Thema ist nicht neu, hat aber durch die Neurowissenschaften frische Impulse bekommen. Zudem haben sich Neurowissenschaftler in die philosophische Debatte eingeschaltet. Einige bestreiten etwa, dass der Mensch einen freien Willen habe – Entscheidungen, so ihr Argument, treffe das Gehirn ohne unser Zutun und Bewusstsein darüber, und auch die Idee der Verantwortung sei eine Illusion. Diese Art des radikalen ↘
„Die Berliner Punkrocker wollten die Menschen mit ihrer Musik verstören. An den Wänden lasen wir Graffitis wie ‚Amis raus!‘“
Reduktionismus ist in der Philosophie umstritten. Jesse Prinz kennt beide Seiten der Debatte, die neurophysiologische und die philosophische. „Manche Neurowissenschaftler, die den freien Willen infrage stellen, haben sich mit der philosophischen Seite überhaupt nicht befasst. Sie äußern sich zu Fragen, die bereits seit Jahrhunderten debattiert und wissenschaftlich bearbeitet werden. Dabei unterlaufen ihnen oft rudimentäre Fehler.“ Jesse Prinz ist ein schlagfertiger Gesprächspartner. Auf fachliche Fragen antwortet er so eloquent, als hätte er sie vorher gekannt. Und er argumentiert mit Leidenschaft. Man merkt ihm an, dass er es nicht für ein folgenloses Gedankenspiel hält, welche Seite recht hat. Die Debatte um das Gehirn und den Geist etwa reiche bis in die Verteilung von Forschungsbudgets hinein: „Über Generationen hat sich in den Wissenschaften ein extremer Trend zum Reduktionismus etabliert und eine tiefe Skepsis gegen humanistische Methoden. Viele Wissenschaftler tendieren zum Naturalismus, also zu der Ansicht, dass die menschlichen Fähigkeiten stark von unserer Biologie bestimmt sind. Das hat dazu geführt, dass viel Geld in die teure Erforschung genetischer und neurobiologischer Erklärungen unseres Verhaltens investiert wird – zulasten anderer Disziplinen.“
Etwa der Erforschung von Suchtursachen. „Der Beitrag, den die Gene einer Person darauf haben, ob sie Suchtverhalten ausbildet, ist jedoch extrem klein. Studien zeigen, dass kulturelle und ökonomische Faktoren eine viel größere Rolle spielen“, sagt Prinz. „Oder nehmen wir ein Phänomen wie Selbstmordattentate. Es wäre lächerlich, nach bestimmten Hirnprozessen zu suchen, um sie zu erklären. Die Erklärung liegt klar anderswo. Wir müssen auf die Geschichte schauen, auf kulturelle Aspekte, auf die Erziehung und die Umstände, unter denen Menschen aufwachsen.“ Er sagt das nicht, ohne zu betonen, dass er sehr an den Nutzen der Neurowissenschaften glaubt. Kaum einen Artikel hat er geschrieben, in dem er nicht neurowissenschaftliche Studien zitiert hätte, kein Buch, das nicht auf ihren Erkenntnissen fußen würde. „Der Blick auf das Gehirn kann an bestimmten Punkten extrem hilfreich sein. Aber um den Geist zu durchleuchten, braucht es auch Philosophie, Geschichte, Soziologie, Literatur und Kunst. All diese Ansätze sind für die Erklärung menschlichen Verhaltens mindestens so wichtig wie alle Daten, die wir aus einem Magnetresonanztomografen bekommen.“ Prinz hat in der Gemäldegalerie das Bild von Piero del Pollaiuolo gefunden. Es zeigt eine blasse Frau mit
feinen Gesichtszügen und einem aufwendig gearbeiteten Kleid vor kräftig hellblauem Hintergrund. „Das ist offensichtlich eine Auftragsarbeit von jemandem, der sehr reich war und damit sagen wollte: Das ist meine Frau, das ist das teure Kleid, das ich ihr gekauft habe, und das ist der Meister, bei dem ich das Gemälde in Auftrag gegeben habe.“ Warum trug seine Großmutter ausgerechnet dieses Bild immer bei sich? „Sie fühlte sich immer als Berlinerin, es war für sie eine Erinnerung an ihre Stadt.“ Auf dem Weg zum Ausgang passieren wir das bekannte Ölgemälde „Mann mit dem Goldhelm“. Prinz hält kurz inne. Lange Zeit hielt man das Werk für einen Rembrandt, erzählt er, doch seit den 80er Jahren wird es einem Maler seines Umfelds zugeschrieben. Das führte zu einer Umwertung, die sich in seinen psychologischen Experimenten messen ließ. „Das Bild ist dadurch im Auge des Betrachters gewissermaßen kleiner geworden“, sagt Prinz. „Darauf hat man auch hier in der Ausstellung reagiert: Es hängt jetzt nicht mehr im Saal mit den großen Meisterwerken, sondern in einer Ecke neben einem Durchgang.“ Er selbst widmet dem falschen Rembrandt weiterhin einen Ehrenplatz: Eine Reproduktion steht auf seinem Schreibtisch in New York.
Jesse Prinz zählt zu den bedeutendsten Vertretern einer empirisch informierten Philosophie des Geistes. Er ist Einstein Visiting Fellow und Professor für Philosophie am Graduiertenzentrum der City University of New York (CUNY). Seit 2015 leitet er die Einstein-Gruppe „Consciousness, Emotions, Values“ an der Berlin School of Mind and Brain → einsteinmindbrain.de
Albert Der Kopfkünstler
„Als Menschen empfinden wir uns im Angesicht großer Kunst als klein und unbedeutend.“
28
Albert fragt …
2/8
Wann werden wir das menschliche Gehirn am Computer nachbauen können?
Aufgezeichnet von Ragnar Vogt 29
Dafür müssen wir zunächst einmal die erste Hürde überwinden. Sie besteht darin, eine einzelne Nervenzelle am Rechner nachzubauen. Verschiedene Eigenschaften einer einzelnen Zelle können wir bereits simulieren, dafür reichen die Datenmengen aus, die wir in Computermodellen zusammengetragen haben. Natürlich liegt dann die Vermutung nahe, dass man nur genügend Rechenleistung braucht, um anstelle von einer Zelle die Milliarden Neuronen des menschlichen Gehirns zu simulieren. Doch so einfach ist das nicht. Schon wenn man das Verhalten von 1.000 Zellen am Rechner nachbauen will, gelingt das nur schlecht.Warum? Es gibt viele Typen von Nervenzellen mit unterschiedlichen Eigenschaften. Zudem ändern sich die chemischen Umstände im Gehirn ständig, was wieder-
um einen Einfluss auf das Verhalten der Nervenzellen hat. Sobald man für eine Hirnregion Erkenntnisse gewonnen hat und sich einer anderen zuwendet, stellt man fest: Dort läuft alles komplett anders. Man muss wieder ganz von vorn anfangen. Ich muss nach 40 Jahren Forschung feststellen, dass wir erst einen winzigen Schritt gegangen sind auf dem Weg zur Simulation des gesamten Gehirns. Ob es überhaupt jemals möglich sein wird? Ich weiß es nicht. Aber falls ja, wird es sicher noch Generationen dauern.
Der Mathematiker und Mediziner Roger D. Traub forscht am IBM Watson Research Center in New York. Traub ist Experte für die Computersimulation von Schaltkreisen aus Nervenzellen. Von 2010 bis 2014 war er Einstein Visiting Fellow am CharitéExzellenzcluster NeuroCure.
Knuts Vermächtnis Eisbär Knut war eine Berliner Ikone. Der Neurologe Harald Prüß erzählt, wie er der Ursache seines plötzlichen Todes auf die Schliche kam
30
Aufgezeichnet von Kristina Vaillant
Die Ereignisse rund um Eisbär Knut habe ich ehrlich gesagt nur am Rande verfolgt: die Millionen Besucher, die er dem Berliner Zoo bescherte, und der plötzliche Tod seines Pflegers. Aufgehorcht habe ich das erste Mal, als die Medien nach Knuts Tod im März 2011 berichteten, die Autopsie habe ergeben, dass er unter einer Gehirnentzündung litt, einer Enzephalitis. Als Ursache vermutete man eine Virusinfektion. Knapp drei Jahre später hörte ich wieder genau hin. Damals stellten Forscher vom Berliner LeibnizInstitut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) die abschließende Diagnose: Enzephalitis mit unklarer Ursache. In den Medienberichten klang ihre Enttäuschung durch. In Laboren auf der ganzen Welt hatten sie über Jahre Proben von Knut auf Bakterien, Parasiten und mehrere Tausend Viren untersucht und lediglich Antikörper gegen Influenzaviren gefunden. Die kamen als Ursache für die Gehirnentzündung aber nicht infrage. In diesem Moment erinnerte ich mich an eine Patientin, die ich 2006 als junger Arzt auf der Intensivstation der Charité betreut hatte und bei der ich später eine bis dahin weitgehend unbekannte Krankheit nachweisen konnte: Die Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis. Wegen der verblüffenden Gemeinsamkeiten war mir sofort klar: Daran muss auch Knut gelitten haben.
„Weil Knut so bekannt war, haben viele Menschen von der Krankheit erfahren.“ Das Nervenwasser dieser Patientin war, wie später das von Knut auch, untersucht worden und man hatte eine Gehirnentzündung festgestellt, ohne einen Erreger zu finden. Weil die junge Frau unter Wahnvorstellungen litt, wurde sie in die Psychiatrie verlegt. Über ein Jahr später hörte ich einen Vortrag der Neurowissenschaftlerin Angela Vincent von der Universität Oxford. Sie beschrieb als eine der Ersten das Krankheitsbild der Anti-NMDARezeptor-Enzephalitis: den abrupten Wechsel zwischen wahn- und komahaften Zuständen und wachen Phasen, aber auch epileptische Anfälle. Knut hatte durch einen epileptischen Anfall die Kontrolle über seinen Körper verloren, war in das Wasserbecken seines Geheges gestürzt und ertrunken.
31
↖ Heute kann man Knut im Berliner Naturkundemuseum besuchen, wo er als Präparat ausgestellt ist.
Mit viel Mühe gelangte ich an eingefrorene Proben meiner Patientin. Die Blutproben und das Nervenwasser ließ ich in einem Lübecker Labor untersuchen, das einzige, das zu der Zeit den Antikörpertest in Deutschland machen konnte. Der Befund war positiv. Sowohl im Blut als auch im Nervenwasser waren die Antikörper, die im Gehirn einen Rezeptor an den Synapsen – den NMDARezeptor – blockieren und dadurch die Gehirnentzündung auslösen. Wir holten die Patientin sofort auf die neurologische Station. Mit Blutwäschen, die den Antikörper herausfiltern, und Kortison, das die Immunreaktion unterdrückt, konnten wir sie heilen. Diese Geschichte hat sich bei mir eingebrannt. Und so ist diese Krankheit zu meinem wissenschaftlichen Thema geworden. Knut konnten wir leider nicht retten. Er ist erst posthum „mein Patient“ geworden. Ich habe damals, als die vermeintliche Abschlussdiagnose feststand, sofort Alex Greenwood, den Experten für Wildtierkrankheiten beim IZW angerufen. Dann hat es noch ein gutes halbes Jahr gedauert, bis wir die Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis bei Knut nachweisen konnten. Glücklicherweise hatte Greenwood Nervenwasser von Knut aufbewahrt, aber wir mussten erst neue Verfahren entwickeln, um nun die Eisbär-Antikörper sichtbar zu machen. Das Testergebnis war eindeutig. Knuts Tod war nicht umsonst. Zootierforscher und Veterinäre wissen nun, dass die Krankheit auch im Tierreich vorkommt, dass sie gezielter danach suchen müssen und die Tiere auch behandeln können. Was für mich aber wichtiger ist: Weil Knut so bekannt war, haben viele Menschen von der Krankheit erfahren. So sind auch Angehörige von Patienten mit Gehirnentzündungen unklarer Ursache und den typischen psychiatrischen Symptomen zu mir in die Sprechstunde gekommen. Bei zwei Patienten konnten wir eine eindeutige Diagnose stellen. Für sie besteht nun Hoffnung auf Heilung. Für mich ist das Knuts Vermächtnis.
Harald Prüß ist Facharzt für Neurologie an der Charité und leitet die Arbeitsgruppe für Autoimmune Enzephalopathien am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in Berlin. Seit 2009 erforscht er die Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis, die bis vor zehn Jahren noch niemand kannte. Sie wird ausgelöst durch Antikörper, die der Körper selbst bildet – beim Menschen wie beim Eisbären.
Neuronenklau
Text Till Hein
Albert Einstein wollte nach dem Tod verbrannt werden. Doch ein Pathologe stahl sein Gehirn, um die Ursache seiner Genialität zu erforschen. Die Geschichte einer Verirrung
32
Am 18. April 1955, früh morgens, stirbt Albert Einstein im Alter von 76 Jahren an inneren Blutungen, verursacht durch eine geplatzte Arterienerweiterung an seiner Hauptschlagader, in einem Krankenhaus in Princeton. Wenige Stunden darauf verschwindet sein Gehirn. Unter der Schädeldecke klafft nur noch ein Loch. Diebstahl!, wird sich später herausstellen. Thomas Harvey, seit drei Jahren Chefpathologe des Princeton Hospitals, hat das Hirn heimlich herauspräpariert, in Formalin eingelegt und mit nach Hause genommen. Will er berühmt werden? Geht es ihm um wissenschaftliche Erkenntnisse? Oder ist Harvey, der auch Einsteins Augen gestohlen hat, einfach nur verrückt? Wissenschaftshistoriker werden über diese Fragen noch Jahrzehnte später streiten. Wahrscheinlich ist aber, dass Harvey, als er die Schädeldecke aufsägt, davon träumt, das Rätsel von Einsteins Genialität durch die Untersuchung seiner grauen Zellen zu lösen. Schon lange erhoffen sich Wissenschaftler mit dem Blick in die graue Masse großer Geister bahnbrechende Erkenntnisse. Seit Ende des 19. Jahrhunderts verpflichten sich Intellektuelle freiwillig, ihr Hirn posthum der Forschung zu vermachen. Anders Einstein: Sein ausdrücklicher Wunsch war es, dass sein Leichnam verbrannt werde. Doch sein Sohn, Hans Albert, gibt Harvey nachträglich sein Einverständnis für die Entnahme des Gehirns. Denn der Mediziner versichert ihm, ausschließlich im Dienst der Wissenschaft zu handeln. Als Pathologe ist Harvey damit vertraut, Todesursachen abzuklären. Was die Funktion einzelner Hirnareale betrifft, fehlt ihm hingegen jegliche Expertise. Zumindest geht er sorgfältig mit Einsteins Hirn um. Er fotografiert es aus unterschiedlichen Perspektiven und vermisst es. Um systematische Untersuchungen der Feinstruktur zu ermöglichen, lässt er das Gehirn in einem Labor der University of Pennsylvania in Zehntausende hauchdünne Scheiben schneiden. Er schickt Hirnproben an
33
↖ Zersprungenes Genie: Eine der in Celloidin gegossenen Hirnscheiben Einsteins
Koryphäen auf dem Gebiet der Neuroanatomie in ganz Nordamerika. Doch die Wissenschaftler erhalten viel zu kleine Proben, um ernsthaft arbeiten zu können. Niemandem fallen irgendwelche Besonderheiten auf. Die Suche nach Anzeichen für Genialität in Gehirnen, die jahrzehntelang boomte, ist seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr so populär. Und ausgerechnet der fachfremde Harvey spielt sich als wissenschaftlicher Leiter auf. Prompt stoßen die Experten bei ihren halbherzigen Untersuchungen auf überhaupt keine Besonderheiten. Harvey aber ist weiterhin überzeugt, etwas ungemein Wertvolles zu besitzen. Als das Princeton Hospital Einsteins Gehirn zurückfordert, weigert er sich und nimmt 1960 sogar seine Kündigung in Kauf.
Als Harvey vorübergehend seine Wohnung verliert, lagert Einsteins Gehirn unter Bierdosen in einer Kühlbox Harvey verlässt bald darauf seine Familie und sucht sein Glück im Mittleren Westen der USA. Im Gepäck hat er zwei Einmachgläser mit den Proben von Einsteins Denkapparat. In Kansas verliert Harvey seine Zulassung als Arzt. Jahrzehntelang irrt er ziellos durch die Lande. Er jobbt als Fabrikarbeiter, trinkt zu viel. Einsteins Hirn ist sein treuester Begleiter. Als Harvey vorübergehend seine Wohnung verliert, lagert er es unter Bierdosen in einer Kühlbox. Erst in den 1980er Jahren rafft sich der verarmte Harvey noch einmal auf und schickt erneut Proben von Einsteins Gehirn an Experten in Amerika, Europa und Asien. Und tatsächlich: 30 Jahre, nachdem er das Hirn geklaut hat, wird es doch noch ernsthaft untersucht: 1985 nimmt die Neuroanatomin Marian C. Diamond von der University of California in Berkeley Einsteins Gliazellen unter die Lupe. Denn in Tierversuchen hat sie festgestellt, dass Mäuse, die in einem anregenden Umfeld gehalten werden, im Gehirn mehr von diesen Zellen ausbilden als ihre Artgenossen in einer wenig inspirierenden Umgebung. Prompt findet sie bei Einstein im Bereich der unteren ↘
Scheitellappen, die für räumliche Vorstellung und mathematisches Denken zuständig sind, einen auffallend hohen Anteil von Gliazellen. Ob diese allerdings durch Einsteins besondere Art zu denken entstanden sind oder sein außergewöhnliches Denkvermögen erst ermöglicht haben, kann Diamond nicht klären.
Bei Einstein fehlen die parietalen Opercula – wulstartige Hirnwindungen in den Scheitellappen Zwei weitere Forscher versuchen in den späten 1990er Jahren ihr Glück: Die kanadische Neurowissenschaftlerin Sandra Witelson vergleicht Einsteins Hirn mit 91 Gehirnen von Personen von durchschnittlicher Intelligenz. Wie zuvor Diamond konzentriert sie sich auf die unteren Scheitellappen. „In dieser Region ist Einsteins Gehirn um 15 Prozent breiter als die Vergleichsgehirne“, schreibt sie 1999 im Wissenschaftsmagazin Lancet. Das Verblüffende: Bei Einstein fehlen hingegen die parietalen Opercula – wulstartige Hirnwindungen in den Scheitellappen, deren Aufgabe noch näher erforscht werden muss – vollständig. In allen
Albert Neuronenklau
↖ Harvey zeigt 1994, mit 81 Jahren, die in Formaldehyd konservierten Überreste von Einsteins Gehirn, die ihn ein Leben lang begleitet haben. Auch die Augen entwendete der Pathologe und schenkte sie einem ehemaligen Augenarzt des Physikers. Heute liegen sie in einem Safe in New York.
Vergleichsgehirnen sind sie vorhanden. Zum Ausgleich habe Einstein andere Strukturen in diesen Arealen stärker ausgeprägt, vermutet Witelson: Genialität als Kompensationsleistung des Gehirns. Britt Anderson von der University of Alabama wiederum misst die Dicke der Hirnrinde und ermittelt Größe und Anzahl der Neuronen. Zahl und Volumen sind unauffällig, stellt er fest. Aber Einsteins Hirnrinde ist dünner als die aller Vergleichsgehirne. Die Neuronen sind bei ihm also dichter gepackt – und genau das habe eine schnellere Informationsübertragung ermöglicht, folgert Anderson. Eine mutige These, zumal Fachleute sonst in der Regel behaupten, dass größere Gehirne leistungsfähiger seien als kleine. 2011 schließlich findet Dean Falk von der Florida State University wieder eine andere Erklärung für Einsteins Genialität: Ihr fällt die außergewöhnliche Dicke seines Corpus callosums auf, das die beiden Hirnhemisphären verbindet. Die intensive Kommunikation zwischen den Gehirnhälften sei eine wesentliche Grundlage für kreatives, ganzheitliches Denken, so Falk. Unterm Strich gilt für die Analyse von Einsteins Hirn das Gleiche wie für alle Versuche, von der individuellen Gehirnarchitektur auf das intellektuelle Potenzial zu schließen: Sie liefern interessante Hypothesen, aber auch viele Widersprüche und Ungereimtheiten. Die meisten Fachleute gehen heute davon aus, dass sowohl Intelligenz als auch Genialität erst durch ein Zusammenspiel vieler verschiedener Bereiche des Hirns zustande kommen. Und es hat sich herausgestellt, dass sehr unterschiedlich gebaute Gehirne sich in ihrer Leistungsfähigkeit stark ähneln. Die Scheibchen von Einsteins Hirn finden, als Thomas Harvey 2007 im Alter von 94 Jahren stirbt, verteilt auf verschiedene Museen in den USA ihre letzte Ruhestätte. Harveys Fotos vom weltberühmten Denkapparat aber werden ab 2012 als App angeboten. Der Erlös kommt forschenden Museen für Wissenschaftsgeschichte zugute. In gewisser Weise kann Harvey sein Versprechen also posthum einlösen: Einsteins Hirn dient der Wissenschaft – wenn auch nicht so, wie der Pathologe es sich vorgestellt hatte.
34
Albert fragt …
Aufgezeichnet von Ragnar Vogt 35
3/8
Kann man sein Gehirn dopen? Nahezu jeder Mensch dopt sein Gehirn täglich. Wenn man morgens einen Kaffee trinkt, um sich besser konzentrieren zu können, dann ist das legales Doping. Auch Nikotin ist konzentrationsfördernd. Wer allerdings erwartet, dass Medikamente die Intelligenz oder die Kreativität steigern, wird enttäuscht: Das gibt es bisher nicht. Man kann sein Gehirn nicht dopen, um schlauer zu werden. Dennoch sind Mittel verbreitet, die beim Lernen helfen sollen. Manche Studenten nehmen zum Beispiel Amphetamine, Ritalin oder Modafinil. Damit werden sie zwar nicht intelligenter, können aber beim Lernen länger durchhalten, sich besser konzentrieren und
sind motivierter. Dabei ist es illegal, als gesunder Mensch solche Mittel zu nehmen, und bei falscher Anwendung sogar gefährlich. Viele Lernwillige neigen dazu, es zu übertreiben. Dann drohen bei Ritalin und Amphetaminen psychotische Episoden und Abhängigkeit. Was ich aber als größtes Problem sehe: Wir wissen bisher nicht, was diese Mittel auf Dauer mit dem Gehirn anstellen.
Isabella Heuser ist Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité am Campus Benjamin Franklin in Steglitz. Einer ihrer Schwerpunkte ist die klinische Anwendung in der Psychopharmakologie.
Um die biomedizinische Forschung aus ihrer Krise zu holen, braucht es einen massiven Kulturwandel. Ein Kommentar des Berliner Schlaganfallforschers Ulrich Dirnagl
„Wissenschaftliche Entdeckungen in der Biomedizin sind mittlerweile ein langweiliges Ärgernis.“ So formuliert es John Ioannidis, Epidemiologe, Agent Provocateur und einer der am häufigsten zitierten Wissenschaftler der Biomedizin. Bereits vor gut zehn Jahren behauptete er, die Mehrzahl der publizierten Ergebnisse in der Biomedizin sei wahrscheinlich falsch. Seine Begründung: Sehr viel Bias, also Wunschdenken, im Verbund mit schlechter Methodik und
„Wir hasten von einem spekta kulären experimentellen Befund zum nächsten.“ Interessenkonflikten verfälsche die Ergebnisse. Dazu komme noch niedrige statistische Power durch zu geringe Fallzahlen in den Studien. All das führe zu falsch positiven Ergebnissen und übertriebenen Effekten. Die Arbeit von Ioannidis ist mittlerweile die am häufigsten zitierte biomedizinische Publikation der letzten Dekade.
Man könnte Ioannidis’ Behauptung ungläubig abtun, wären da nicht zwei Probleme, die seit einigen Jahren nicht nur die Fachwelt, sondern mittlerweile auch die breitere Öffentlichkeit und die Fördergeber beunruhigen. Das erste ist die ausgesprochen geringe Erfolgsrate bei der Übertragung von Ergebnissen der Grundlagenforschung in neue, effektive Therapien. Das zweite die erst vor Kurzem in vielen Disziplinen diagnostizierte Replikationskrise: Die meisten der oft spektakulären Erfolge bei der experimentellen Behandlung von Modellerkrankungen und in kleinen Studien am Menschen (sogenannte Phase-II-Studien) lassen sich nicht wiederholen. Mich haben diese Probleme aufgeschreckt und in meiner wissenschaftlichen Arbeit in eine Krise gestürzt. Als translationaler Schlaganfallforscher strebe ich danach, grundlegende Krankheitsmechanismen besser zu verstehen, um neue Therapien zu entwickeln. Das Ziel dabei ist, Patienten mit Schlaganfall zu helfen, diese dramatische Erkrankung besser zu überstehen. In zahlreichen unserer Publikationen und Schlaganfallmodellen sind wir – und damit meine ich auch
meine Tausenden von Wissenschaftlerkollegen, die den Schlaganfall weltweit beforschen – auf wundersame Weise in der Lage zu therapieren. Doch keiner dieser Befunde übersteht erfolgreich die Überprüfung in großen Studien am Patienten. Abgesehen davon, dass keiner unserer Befunde systematisch repliziert wird. Wir hasten von einem spektakulären experimentellen Befund zum nächsten. Für das Nachprüfen von Studien gibt es in dieser Wissenschaft nicht einmal Fleißpunkte! Und dort, wo doch mal etwas nachgekocht wird, funktioniert es meist nicht. Aber das wird höchstens abends beim Bier besprochen, veröffentlicht wird es nicht. John Ioannidis hat vor Kurzem nahezu 13 Millionen auf PubMed Central verfügbare biomedizinische Arbeiten der letzten 25 Jahre daraufhin untersucht, wie viele davon ein „statistisch signifikantes Ergebnis“ berichten – also die untersuchten Hypothesen bestätigen. Das unglaubliche Resultat: 96 Prozent! Ist es wirklich so, dass die Befunde richtig sind und die Hypothesen fast immer bestätigen, die die Wissenschaftler formulieren? Das hieße nichts anderes,
Text Ulrich Dirnagl
Mehr Scheitern wagen!
36
➊ Randomisierung: Proben, Versuchstiere oder Versuchspersonen werden unter Verwendung eines Zufallsmechanismus unterschiedlichen Untersuchungsoder Therapiegruppen zugeordnet, um eine höhere statistische Sicherheit der Studie zu erreichen. ➋ Verblindung: Der Untersuchende weiß bei der Auswertung nicht, ob der Patient (oder das Versuchstier) das zu untersuchende Medikament oder ein Placebo erhalten hat. So sollen Verzerrungen durch Erwartungen vermieden werden. Bei Doppelblindstudien wissen weder Arzt noch Patient Bescheid. ➌ Ein- und Ausschlusskriterien: Vor Studienbeginn wird definiert, aufgrund welcher Eigenschaften ein Patient (oder Versuchstier) in die Studie eingeschlossen werden kann und beim Auftreten welcher Ereignisse die Resultate eines Versuchsteilnehmers nicht für die Analyse verwendet werden dürfen. Hierdurch wird verhindert, dass im Nachhinein für das erwünschte Ergebnis förderliche Daten ausgewählt werden können.
37
als dass diese langweilige Forschung machen und an trivialen Sachverhalten forschen. Das wiederum käme einer massiven Ressourcenverschwendung gleich. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Ergebnisse dieser Studien häufig, wenn nicht sogar in den überwiegenden Fällen, in Wirklichkeit falsch positiv im Sinne von Ioannidis sind. Was tun? Zunächst müssen wir für aussagekräftigere Ergebnisse sorgen. Wir brauchen weniger Bias, das heißt eine verbesserte Studienmethodik. Was in klinischen Studien Standard ist, muss auch für experimentelle Untersuchungen gelten: Randomisierung1, Verblindung 2, Angabe von Einund Ausschlusskriterien 3 sowie von klaren Hypothesen und geplanten statistischen Verfahren vor Studienbeginn. Zweitens brauchen wir eine Erhöhung der statistischen Power. In meinem Forschungsfeld, und das ist kein Scherz, ist diese bei experimentellen Studien nicht einmal so hoch wie die eines Münzwurfs. In anderen Feldern ist sie sogar noch niedriger. Wenn wir auf diese Weise die Qualität unserer Forschung erhöhen, wird das dazu führen, dass viel
mehr Studien ihre Hypothesen nicht bestätigen oder die Wirksamkeit eines Therapeutikums nicht nachweisen werden. Nach gegenwärtigem Verständnis werden sie also scheitern: Die Ergebnisse werden weniger spektakulär und weniger eindeutig als bislang ausfallen. Aber das ist gut so, weil es die Biologie widerspiegelt. Wichtig ist, dass wir diese „negativen“ Befunde dann auch genauso veröffentlichen wie die gelungenen. Auch gescheiterte Replikationen von wichtigen eigenen Befunden oder denen anderer Wissenschaftler dürfen wir nicht länger nur untereinander beim Bier besprechen. Wir müssen mehr Scheitern wagen! Nur wird sich diese Forderung leider zurzeit nicht durchsetzen lassen. Denn für die Karrieren von Wissenschaftlern ist nicht die Qualität ihrer wissenschaftlichen Arbeit ausschlaggebend, sondern vor allem die Zahl ihrer Publikationen in Journalen mit hohem „Impact Factor“ – also solchen mit hoher Zitationsrate – wie Cell, Nature und Science. Und diese sind auf spektakuläre Storys aus. Für aussagekräftige Ergebnisse müssen wir also zunächst unser Belohnungssystem in der Wissenschaft reformieren. Bei der Vergabe von Stellen, Professuren und Forschungsanträgen wäre dann nicht nur auf spektakuläre Storys in Journalen mit hohem Impact-Faktor zu achten. Vielmehr sollten auch die Qualitätsmerkmale der Forschung eine wichtigere Rolle spielen, etwa ob ein Kandidat oder eine Kandidatin auch negative und neutrale Ergebnisse veröffentlicht hat, ob sie Originaldaten in den Veröffentlichungen zur Verfügung stellen usw. Das klingt einfach, erfordert aber einen massiven Kulturwandel. Vermutlich geht das nur auf Druck von Universitäten und Fördergebern. In den USA sind sie da schon einen Schritt weiter. Die National Institutes of Health verändern ihre För-
derrichtlinien und Vergabekriterien bereits massiv in diese Richtung. Für eine Förderung ist dort die Einhaltung einer Reihe von qualitätsfördernden Maßnahmen Voraussetzung – zum Beispiel Verblindung, Randomisierung oder die Veröffentlichung auch von negativen Daten. Am Ende der Förderung wird deren Einhaltung
„In meinem Forschungsfeld ist die statistische Power nicht einmal so hoch wie die eines Münzwurfs.“ überprüft. Auch beginnt man, geförderte Grundlagenforschung zu auditieren, das heißt sich vor Ort in den Laboren über die Durchführung der Experimente zu informieren. Mir macht das Hoffnung, denn wir können davon viel lernen. Und selbst Skeptiker, die am hiesigen System nichts ändern wollen, werden hellhörig, wenn sich im amerikanischen Wissenschaftssystem etwas bewegt. Der Ball liegt im Spielfeld der akademischen Institutionen und Fördergeber!
Ulrich Dirnagl ist Direktor der Abteilung für Experimentelle Neurologie an der Charité sowie des „Centrums für Schlaganfallforschung Berlin“. Er erforscht Schadensmechanismen und körpereigene Schutzreaktionen nach dem Schlaganfall und setzt sich für eine Verbesserung präklinischer Forschung ein. Hierzu führt er Forschungsprojekte durch und etabliert und testet strukturierte Qualitätsmaßnahmen im Labor.
Fotos Heinrich Holtgreve Text Dietrich von Richthofen
Mensch Maschine Berliner Neurowissenschaftler erforschen die Mechanismen des Denkens und nutzen Hirnsignale, um Computer und Prothesen zu steuern. Unser Autor hat ihnen sein Gehirn fĂźr Experimente zur VerfĂźgung gestellt
38
Albert Mensch Maschine 41
Die Gedankenlesemaschine muss noch hochfahren. Carsten Bogler, Wissenschaftler am Bernstein Center for Computational Neuroscience (BCCN) in Berlin, wirft einen prüfenden Blick auf die Monitore im Kontrollraum und führt mich in ein Nebenzimmer, wo ich mich aufs Auslesen meiner Gedanken vorbereiten soll: Gürtel ausziehen, Münzgeld aus den Hosentaschen. Metallteile können sich im drei Tesla starken Magnetfeld des hochauflösenden Magnetresonanztomografen (MRT), mit dem mein Gehirn gescannt werden soll, in Geschosse verwandeln. Gedankenlesen – bis vor Kurzem war das der Stoff von Science-Fiction-Filmen. Mittlerweile können Neurowissenschaftler zuverlässig erkennen, ob eine Person an einen Hund denkt oder an eine Katze. Sie können aus der Gehirnaktivität herauslesen, welches unter Tausenden von Bildern sich ein Proband gerade ansieht, aber auch, ob er eine Zahl addieren oder subtrahieren möchte. Bei dem Experiment des BCCN, an dem ich teilnehme, geht es um die Speicherung von Informationen im Langzeitgedächtnis. Ich bin dafür in die Rolle eines Einbrechers geschlüpft. Am Tag zuvor musste ich verschiedene Räume auf dem Campus der Uniklinik Charité in BerlinMitte besuchen: eine Anatomie-Ausstellung mit Schädelmodellen, einen schlichten Büroraum, ein Untergeschoss mit einer Wendeltreppe. Im Hirnscanner werden mir die Forscher Bilder und Videoaufnahmen dieser „Tatorte“ zeigen, im Wechsel mit Bildern von Räumen, die ich nie zuvor gesehen habe. Wird meine Gehirnaktivität verraten, in welchen Räumen ich tatsächlich gewesen bin? Wichtigstes Werkzeug der Gedankenleser ist die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT). Das Anfang der 1990er Jahre entwickelte Bildgebungsverfahren zeigt in immer höher aufgelösten Aufnahmen, wo im Gehirn sich die Durchblutung verändert. Daraus entstehen dreidimensionale Muster der Hirnaktivität. Ist das nun Hirnforschung oder die Ergründung des menschlichen Geistes?
Die Räume des Berlin Center for Advanced Neuroimaging auf dem Campus Charité Mitte gleichen einem Hochsicherheitstrakt: Eine Türdichtung aus Kupfer schützt das Magnetfeld des MRT vor Störsignalen.
„Wenn Geist und Gehirn getrennt wären, könnten wir aus Mustern der Hirnaktivität nicht auf Gedanken schließen“, sagt der Neurowissenschaftler John-Dylan Haynes, der einer der Pioniere auf dem Gebiet ist und an der Charité die BCCN-Gruppe leitet, an deren Versuch ich teilnehme. Genau dies können die Forscher aber – und zwar mit immer größerer Präzision. Bereits wenige Jahre nach Einführung der fMRT lieferten erste Studien in der Neurobildgebung eine holzschnittartige Topografie des Denkens: Verarbeitet der Proband gerade visuelle Reize? Ist das Planungszentrum aktiv? Davon ausgehend begannen die Neurowissenschaftler vor rund zehn Jahren, nach und nach auch spezifische Inhalte aus den Mustern herauszulesen – etwa, ob ein Proband an einen Hund oder an eine Katze denkt. Um die relevanten Muster zu erkennen, nutzten sie neue mathematische Verfahren, die für die Bilderkennung und den Abgleich von Fingerabdrücken entwickelt wurden – mit Erfolg. Seither versuchen sie, verschiedenste Gedanken systematisch mit spezifischen Aktivitätsmustern des Gehirns ↘
Alles unter Kontrolle: Von diesem Raum aus beobachten die Forscher des BCCN die Hirnaktivitäten ihrer Probanden, um Rückschlüsse auf deren Gedanken zu ziehen.
in Beziehung zu setzen – und dann im Umkehrschluss von Hirnmustern auf Gedanken zu schließen. „Brain Reading“ nennt sich das neue Forschungsfeld. „Das Wort ‚Lesen‘ trifft es eigentlich nicht richtig, denn wir kennen den sprachlichen Code des Gehirns noch gar nicht“, sagt Haynes. Ähnlich wie die englischen Code-Knacker, die im Zweiten Weltkrieg die Botschaften der deutschen Verschlüsselungsmaschine Enigma dechiffrierten, müssen die Neuroforscher die „Sprache des Gehirns“ erst mühsam entziffern. Eine Mammutaufgabe, denn das Gehirn ist ein sich selbst organisierendes System aus 86 Milliarden Neuronen. Jeder Mensch hat zudem eigene Aktivitätsmuster – und damit einen ganz
spezifischen Sprachcode im Gehirn. Bislang ist unklar, ob sich hinter diesen individuellen Codes ein universelles Codierungssystem finden lässt. „Das Fernziel unserer Forschung ist die universelle Gedankenlesemaschine, aber davon sind wir heute noch weit entfernt.“
Ob die Gedankenleser meinen Gedankenbrei entziffern können? Bei meinem Experiment geht es darum, Gemeinsamkeiten in den Aktivitätsmustern zu finden, die auftreten, wenn ich die Tatorte sehe. Ich werde auf einer Liege in den Hirnscanner gefahren, und kurz darauf legt das MRT ratternd los. Eine knappe Stunde muss ich mir – bewegungslos in einer engen Röhre liegend – Bilder von Räumen anschauen. Ich erkenne alle am Tag zuvor besuchten Orte eindeutig wieder. Doch nach dem fünften Durchlauf kommen mir auch Räume, die ich nicht besucht habe,
42
Albert Mensch Maschine
sehr bekannt vor. Wie Traumsequenzen ziehen die Bilder an mir vorbei, während meine Gedanken abdriften. Ob die Gedankenleser meinen Gedankenbrei entziffern können? Mir geht eine Frage durch den Kopf: Was, wenn derartige Anwendungen in der Kriminalistik zum Einsatz kommen? Wenn Richter bei ihren Entscheidungen über Schuld und Unschuld Hirnscans heranziehen? In ersten Verfahren in den USA und Indien wurden fMRTSequenzen vor Gericht bereits als Beweismittel vorgebracht. Die US-amerikanischen Unternehmen Cephos und No Lie MRI versuchen, die Verfahren, ähnlich wie Gentests, in der Beweisführung zu etablieren, zum Beispiel als neue Methode der Lügendetektion. Bisher wurde ihnen die Zulassung verweigert. „Zu Recht, die Verfahren sind noch lange nicht praxisreif“, warnt Haynes. Ein Verdächtiger kann sich dem Test etwa entziehen, indem er die Augen schließt oder an ganz andere Dinge denkt. Ein Psychopath ohne Schuldbewusstsein kann gar jegliche Erinnerung erfolgreich verdrängen. Haynes wird nicht müde zu betonen, dass die meisten Anwendungen noch in weiter Ferne liegen. Zudem müsse man die Frage stellen, ob andere Wissenschaftsdisziplinen, etwa die Psychologie, nicht einfachere oder zielführendere Lösungen anbieten können. „Wenn ich wissen will, wo Sie wohnen, kann ich Sie in den Hirnscanner legen – oder Sie einfach fragen“, scherzt er. Wir nehmen den Umweg über die Hirnmuster, Experiment ist Experiment. „In ein paar Tagen haben wir Ihre Ergebnisse“, verabschiedet mich Haynes.
Bei der Fußball-WM 2014 in Brasilien führte ein Querschnittsgelähmter den symbolischen Anstoß aus
43
In der Zwischenzeit unterziehe ich mein Gehirn einem weiteren Selbstversuch. An der TU Berlin arbeiten Mathematiker, Informatiker und Ingenieure gemeinsam an der Entwicklung von Hirn-Computer-Schnittstellen, auch BCI (BrainComputer-Interface) genannt. Per Elektroenzephalografie (EEG) lesen sie die von den Gehirnströmen erzeugte elektrische Spannung an der Kopfhaut aus – und koppeln das Gehirn über diese Signale mit Rechnern.
Die Technologie mutet futuristisch an, klingt nach Cyborgs und Science-Fiction – und ist deshalb schlagzeilenträchtig. Immer wieder liest man davon, wie Amputierte mit Gedankenkraft Prothesen steuern, Gelähmte mit ihren Hirnsignalen Computer bedienen. Bei der Fußballweltmeisterschaft 2014 in Brasilien führte ein Querschnittsgelähmter den symbolischen Anstoß aus – mit seinem Gehirn bediente er dafür ein Exoskelett, eine Art Roboteranzug, mit dem er die Beine bewegte. Bis Anwendungen wie diese im Alltag ankommen, wird noch viel Zeit vergehen. Doch die Szene ist für Überraschungen gut. Unternehmen aus der Spielebranche werfen bereits erste Headsets für Gamer auf den Markt, im Netz verbreiten sich Tutorials, wie man sich mit einfachen ↘
„Das Fernziel unserer Forschung ist die universelle Gedankenlesemaschine, aber davon sind wir heute noch weit entfernt.“ John-Dylan Haynes
Albert Mensch Maschine 45
Bausätzen sein eigenes EEG-System basteln kann. In Open-Source-Projekten machen Neuroforscher und Brain-Hacker gemeinsame Sache und tüfteln an selbst gebauten Systemen, um Meditation zu unterstützen oder Spiele zu steuern. „Bei solchen Anwendungen muss man immer genau hinsehen“, sagt Benjamin Blankertz, der an der TU Berlin das Fachgebiet Neurotechnologie leitet und wie Haynes Mitglied des Bernstein Netzwerks für Computer-Neurowissenschaften ist. „Oft werden dabei nicht Hirnsignale, sondern Muskelsignale genutzt oder die Elektroden sind unter der Schädeldecke implantiert, wo die Signale viel stärker sind als an der Kopfoberfläche.“ Hirn-Computer-Schnittstellen seien derzeit noch weit von der Marktreife entfernt. Gemeinsam mit der Arbeitsgruppe von Klaus-Robert Müller, einem der weltweit führenden Experten für maschinelles Lernen, arbeiten die Wissenschaftler um Blankertz an neuen Algorithmen, um aus den komplexen Hirnsignalen diejenigen herauszufischen, die sich nutzen lassen, um Systeme zu steuern oder Aussagen über den mentalen Zustand einer Person zu treffen. Für erste Testsysteme klappt das schon ganz gut: Die Forscher konnten mit Hirnsignalen Computerspiele steuern und aus EEG-Signalen ablesen, ob jemand gleich seinen rechten oder linken Arm bewegen wird. In einem Projekt zeigten sie, dass sich die Absicht zu bremsen beim Autofahren bereits 130 Millisekunden vor dem Bremsmanöver aus den Hirnsignalen ablesen lässt. In dieser Zeit bewegt sich ein 100 Kilometer pro Stunde fahrendes Auto knapp vier Meter weit. Könnte man also, indem man EEG-Signale an die Bordelektronik übermittelt, Unfälle vermeiden, Leben retten? „Der Fahrer könnte im letzten Moment merken, dass die Straße nass ist und sich doch für ein Ausweichmanöver entscheiden“, gibt Blankertz zu bedenken. Ein Gedankenspiel, das sich auch auf militärische Anwendungen übertragen lässt. Das USamerikanische Militärforschungsinstitut Darpa arbeitet bereits an Gehirnschnittstellen, mit denen Soldaten Feinde per Fernglas oder auf Satellitenbildern schneller identifizieren können. Was, wenn diese Technologien direkt mit dem Auslöser von Waffen gekoppelt werden? „Wenn solche Signale genutzt werden, umgeht man letzte Entscheidungsinstanzen“, warnt
Blankertz. Der Soldat könnte zwar schneller reagieren. Aber vielleicht möchte er seine Entscheidung im letzten Augenblick korrigieren – ein BCI-System würde ihm diese Entscheidungsfreiheit verwehren.
Ich stülpe die weiße EEG-Haube mit 36 Elektroden über, die schweren Kabel hängen mir wie schlaffe Tentakel vom Kopf Die Arbeitsgruppe von Blankertz arbeitet an ethisch weniger bedenklichen Anwendungen. In mehreren Projekten untersucht sie aktuell, wie sich BCIs sinnvoll in die Arbeitswelt integrieren lassen. Für Siemens haben die Wissenschaftler beispielsweise Mitarbeiter im Leitstand einer Industrieanlage mit einem speziellen BCI-System ausgestattet. Die Fragestellung dahinter: Lässt sich durch die Messung der Hirnsignale feststellen, ob eine Warnmeldung wirklich wahrgenommen wurde? Ähnliche Systeme könnten auch Zugführer im ICE unterstützen – und Unfälle vermeiden helfen. ↘
Labor-Mode: Mit EEG-Hauben zapfen Forscher Hirnsignale an, etwa um sie zur Steuerung von Computern zu nutzen. Verlässlich funktionieren Brain-Computer-Interfaces bisher jedoch nur im Experiment.
Der Mathematiker Benjamin Blankertz befasste sich mit der Verarbeitung akustischer Reize, bevor er zur Entwicklung von Hirn-ComputerSchnittstellen kam. Er ist Professor für Neurotechnologie an der Technischen Universität Berlin.
In dem Versuch von Blankertz’ Arbeitsgruppe, an dem ich nun teilnehme, geht es um die Entwicklung einer wissenschaftlichen Rechercheplattform, deren Bedienung durch ein direktes Auslesen der Hirnaktivität unterstützt wird. Der Computer verfolgt meine Augenbewegungen und leitet aus den EEG -Signalen ab, welche der angezeigten Begriffe mich interessieren. Als ich im Labor ankomme, hat der Informatiker Mihail Bogojeski schon alles vorbereitet: Ich stülpe die weiße EEG -Haube mit 36 Elektroden über, die schweren Kabel hängen mir wie schlaffe Tentakel vom Kopf. Bogojeski verbindet die Schnittstelle mit dem BrainAmp – einer Art Verstärker für Hirnsignale – und beginnt, jede einzelne Elektrode mit Kontaktgel zu unterspritzen. Es dauert eine knappe Stunde, bis ich verkabelt bin. Dann muss der Algorithmus trainiert werden: Der Computer misst meine persönlichen EEG -Signale und lernt, sie richtig zu interpretieren. Nach 45 Minuten beginnen die Maschine und ich uns langsam zu verstehen. Regungslos sitze ich da und richte meine Aufmerksamkeit auf die am Computerbildschirm aufblinkenden Begriffe. Es ist faszinierend: Nach einiger Zeit klappt es wirklich. Der Computer registriert meine Hirnsignale und passt die Suchergebnisse entsprechend an. Was den Entwicklern für die Zukunft vorschwebt: eine Art symbiotische Suchmaschine, bei der Eingaben über die Tastatur um kognitive Signale ergänzt werden.
Doch noch ist die Entwicklung alltagstauglicher EEG -Geräte eine der größten Herausforderungen auf dem Weg zu reibungslos funktionierenden BCIs. Präzise Messungen sind ohne operative Eingriffe bis heute nur mit Nasselektroden möglich – oder in der schmerzhaften Variante mit Trockenelektroden, die mit großem Druck auf die Schädeldecke gepresst werden. Ich muss nach dem Test jedenfalls erst mal Haare waschen. Wenige Tage später erhalte ich eine Mail von Haynes. Meine Ergebnisse sind da. „Wir konnten mit 100-prozentiger Genauigkeit unterscheiden, welchen Raum Sie gerade sahen“, schreibt er. Ob ich in einem Raum vorher schon war, ließ sich mit 80-prozentiger Genauigkeit ablesen. Wissenschaftlich betrachtet liegt das weit über Zufallsniveau – die Forscher konnten meine Gedanken also tatsächlich auslesen. Ein juristisch gültiges Beweismittel ist das jedoch nicht. Verraten haben mich übrigens spezifische Muster im medialen Parietalkortex und im parahippocampalen Campus – Hirnareale, die mit dem Gedächtnis und mit räumlich-visuellen Eindrücken zu tun haben. Als Einbrecher wäre ich trotzdem davongekommen.
Albert Mensch Maschine
Digitale Gedankenwelt: Die EEG-Signale vom Kopf des Probanden werden über Kabel in den Kontrollraum der Forscher geleitet – und unterwegs von einem BrainAmp verstärkt.
Der Psychologe und Hirnforscher John-Dylan Haynes war schon als Jugendlicher von der Macht des Unterbewussten fasziniert. Heute ist er Professor für Theorie und Analyse weiträumiger Hirnsignale am Bernstein Center for Computational Neurosciences und einer der führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet des Brain Reading.
46
Der forensische Psychiater Hans-Ludwig Kröber erkundet das Denken und Entscheiden von Verbrechern – und warnt davor, die Schuld für Straftaten im Gehirn zu suchen
Nach besonders grausamen Verbrechen heißt es oft, der Täter sei ein Monster, er sei psychisch krank oder in seinem Gehirn stimme etwas nicht. Doch psychische Krankheit ist nur selten die Ursache einer Straftat. Weit mehr als 99 Prozent der psychisch Kranken werden nie straffällig. Bei zwei Gruppen spielen psychische Störungen jedoch eine gewichtige Rolle für Straffälligkeit. Einerseits bei Psychosekranken, die sich akut bedroht und verfolgt fühlen und deswegen Gewalthandlungen begehen. Ihre Hirnbefunde unterscheiden sich jedoch nicht von denen der übergroßen Mehrheit an Schizophrenen, die keine Gewalttaten begehen. Andererseits bei Tätern, die eine Persönlichkeitsstörung haben. Vor einigen Jahren habe ich Mario M. begutachtet. Er hatte eine Jugendliche entführt, in seine Gewalt gebracht und fünf Wochen lang gefangen gehalten. M. ist weit überdurchschnittlich intelligent, sehr eigenwillig, sehr narzisstisch. Er hat eine ausgeprägte Persönlichkeitsstörung, eine
„Alles, was Menschen denken und tun, hat neuronale Korrelate: Diese erklären aber nichts.“ Generalabsolution für jegliches Verbrechen – von der Steuerhinterziehung bis zum Massenmord. Das Gehirn war ja schuld, nicht der Täter. Forensische Psychiater sehen das anders. Alles, was Menschen denken und tun, hat neuronale Korrelate: Diese erklären aber nichts. Unsere Erfahrungen bestimmen unser Handeln, nicht die Tatsache, dass sie neuronal gespeichert werden. Wir
kümmern uns um die Frage, warum Menschen Straftaten begehen. Unsere Aufgabe ist es, den Juristen und der Allgemeinheit eine Antwort darauf zu geben, ob von Tätern weiterhin ein Risiko ausgeht. Dem kann man durch Hirn-Kartierung nicht auf die Schliche kommen, sondern nur durch intensive Beschäftigung mit der Person. Die Psychiatrie hat lange nur auf die Person des Täters geschaut, auf das klinische Bild und auf mögliche Hirnschädigungen. Gerade bei dissozial Persönlichkeitsgestörten wie Mario M. berücksichtigen wir inzwischen aber viel stärker das Wechselverhältnis zwischen dem sozialen Rahmen und dem Individuum. Fast die Hälfte aller Straffälligen ist unter katastrophalen Bedingungen aufgewachsen, hat als Kind Gewalt erlebt oder ansehen müssen. Doch auch hier gilt: Wer so aufwächst, wird nicht zwangsläufig straffällig – die allermeisten werden es nicht. Wie also schätzen wir einen Fall wie Mario M. ein? Die Frage lautete, ob man ihm wegen seiner Persönlichkeitsstörung, also dem, was Juristen „schwere seelische Abartigkeit“ nennen, eine verminderte Schuldfähigkeit zuschreibt. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass M. ein starkes Motiv hatte, eine starke Selbstrechtfertigung, die sozialwidrig und normwidrig ist. Die Entscheidung für oder gegen diese Straftat lag durchaus im Rahmen seiner Möglichkeiten. M. hat sich für diese böse Tat entschieden, nicht sein Gehirn an seiner Stelle.
Hans-Ludwig Kröber ist einer der profiliertesten Gerichtsgutachter Deutschlands. Seit 1996 ist er Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie an der Berliner Charité. In seinem Buch „Mord. Geschichten aus der Wirklichkeit“ erzählt er anhand wahrer Fälle, was Menschen zu Mördern macht (Rowohlt, 2012).
Aufgezeichnet von Martin Kaluza
Das Böse ist kein Hirndefekt
narzisstische Selbstüberhöhung, hielt sich für genial. Von außen betrachtet führte er ein sehr eingeschränktes Leben, aber mit großen Fantasien und Plänen. Er wusste genau, dass seine Tat verboten war, und hat sie entsprechend sorgfältig geplant. Es war ihm bewusst, dass er diesem Mädchen, das er verschleppt und zum Sex zwingt, Gewalt antut, dass das Mädchen darunter leidet und er dessen Rechte verletzt. Er hat es sich schöngeredet: Die wahre Liebe würde schon irgendwann kommen. Einige Neurobiologen wie Gerhard Roth und Wolf Singer vertreten lautstark eine These, die darauf hinausläuft, dass es das Böse nicht gebe, ebenso wenig wie Verantwortung und individuelle Schuld. Sie behaupten, weil es für das menschliche Denken, Fühlen, Wahrnehmen, Urteilen und Handeln eine materiale Basis in Form des Gehirns gebe, sei nicht der Mensch, sondern dessen Gehirn die determinierende Ursache allen Handelns. Freiheit sei nichts weiter als eine Illusion. Das endet in einer
48
Albert fragt …
4/8
Sind wir wirklich zum Multitasking fähig? Aufgezeichnet von Ragnar Vogt 49
Es gibt natürlich Aufgaben, die unser Gehirn gleichzeitig bewältigen kann. Zum Beispiel können wir Autofahren und dabei ein Gespräch mit dem Beifahrer führen. In vielen anderen Situationen dagegen ist unser Gehirn nicht fähig, mehrere Dinge zur selben Zeit zu tun. Wann ist das der Fall? Als Faustregel gilt: Immer dann, wenn wir bewusst über etwas nachdenken oder eine Entscheidung treffen müssen. Sobald etwa der Autofahrer in eine Verkehrssituation kommt, die seine Aufmerksamkeit für solche Dinge erfordert, unterbricht er sein Gespräch. Diese Einschränkung des Gehirns sehen wir in unseren Experimenten besonders deutlich, wenn Testpersonen sich zwischen einfachen Alternativen entscheiden sollen – zum Beispiel rechts oder links
abzubiegen. Für solche Entscheidungen benötigen sie circa 200 Millisekunden. Bekommen sie aber gleichzeitig zwei Aufgaben, die jeweils eine Entscheidung verlangen, verdoppelt sich die Zeit. Bewusste Entscheidungen kann unser Hirn also nur nacheinander abarbeiten. Im Alltag strömen zwar ständig auf vielen Kanälen gleichzeitig neue Informationen auf uns ein, die nach Multitasking verlangen. Doch leider sind wir dazu meistens nicht in der Lage.
Der Experimentalpsychologe Torsten Schubert ist Professor am Institut für Psychologie der Humboldt-Universität zu Berlin. In seiner Forschung beschäftigt er sich unter anderem damit, wie das Gehirn mit zwei Aufgaben gleichzeitig umgeht.
Gut gescheitert?
Rückschläge gehören zur Wissenschaft, doch niemand redet gern über sie. Albert hat Berliner Neurowissenschaftler gefragt, ob Fehler sie vorangebracht haben
„Wissenschaft ist keine Schicksalsangelegenheit“ Vittorio Gallese
genden und wichtigen Fragen nachzugehen – ihr seid privilegiert, auch wenn ihr viel weniger Geld verdient als euer Schulkamerad, der Broker geworden ist. Der Neurophysiologe Vittorio Gallese ist Einstein Visiting Fellow
Aufgezeichnet von Christina Bylow, Martin Kaluza, Daniel Kastner, Mirco Lomoth, Dietrich von Richthofen 51
Scheitern ist etwas wirklich Ärgerliches, am meisten ärgert man sich dabei über sich selbst. Aber natürlich lernt man auch eine Menge. Wissenschaft ist ja keine Schicksalsangelegenheit. Man muss Hypothesen wagen, manche Teile davon bestätigen sich, andere nicht oder nicht in der Weise, wie man es erwartet hat. 2003 habe ich einen Artikel über Schizophrenie verfasst, der im Journal of Psychopathology erschienen ist, er hieß „The Roots of Empathy“. Darin habe ich die Hypothese aufgestellt, dass man Schizophrenie als ein Empathie-Defizit charakterisieren könne, welches durch eine Fehlfunktion von Spiegelneuronen entsteht. Nach vielen Jahren empirischer Forschung und vielen weiteren Artikeln zu diesem Thema muss ich heute sagen, dass die Dinge viel komplizierter sind als damals angenommen. Zwar wurde meine ursprüngliche Hypothese teilweise bestätigt, da wir zeigen konnten, dass bei schizophrenen Patienten die Spiegelneuronen weniger aktiv sind. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Wir haben in der Zwischenzeit viele andere Mechanismen entdeckt, die weit über die ursprüngliche Hypothese hinausgehen und zu neuen Fragen und Hypothesen führten. Das zeigt uns wieder mal, dass wir unsere Hypothesen immer wieder an empirischen Ergebnissen überprüfen und korrigieren müssen. Aber es ist auch ein Grund dafür, warum es so aufregend ist, Wissenschaftler zu sein. Jeder Tag ist anders, es gibt keine Routine. Ich sage zu jungen Leuten oft: Als Forscher könnt ihr euer Leben damit verbringen, sehr aufre-
an der Berlin School of Mind and Brain. Im Sommer 1991 entdeckte er mit Kollegen eine neue Klasse von Neuronen, die Spiegelneuronen. Über die Entdeckung und über seine Liebe zu Verdi-Opern spricht er ab S. 68.
„Das Scheitern in der Replikation war für viele von uns ein Weckruf!“ Ulrich Dirnagl
Im Centrum für Schlaganfallforschung Berlin wurde ein völlig neuer Ansatz entwickelt, der es möglich macht, Patienten mit Schlaganfall erstmals schon auf dem Weg zum Krankenhaus zu behandeln. Durch ein spezielles Rettungsfahrzeug, das sogenannte STEMO, in dem ein Neurologe mitfährt und das auch einen Computertomografen an Bord hat, kann die Therapie bei dieser Erkrankung, bei der „time is brain“ gilt, erstmals innerhalb der ersten Stunde nach Symptombeginn einsetzen (siehe dazu den Beitrag „Zeit ist Hirn“ ab Seite 92). Wir wollten diese einmalige Chance nutzen, um das weltweit in Tiermodellen effektivste Medikament für Schlaganfälle durch Replikationsexperimente zu identifizieren, um damit dann eine klinische Therapiestudie im STEMO durchzuführen. Leider gelang es uns nicht, die Wirkung auch nur einer der getesteten und in der Literatur als hocheffektiv beschriebe-
nen Substanzen zu replizieren. Dieses eigentlich traurige Scheitern in der Replikation von zum Teil hochrangig publizierten Ergebnissen war für viele von uns ein Weckruf! Es führte zu einer kritischen Analyse unserer präklinischen Forschung, bei der wir eine Reihe von Faktoren identifizieren konnten, die zu mangelhafter Robustheit und Reproduzierbarkeit von Experimenten führen. Seither arbeiten wir konsequent und systematisch an der Verbesserung der Vorhersagekraft für eine klinische Übertragung unserer Schlaganfallforschung. Der Neurologe und Schaganfallforscher Ulrich Dirnagl ist Direktor der Abteilung für Experimentelle Neurologie an der Charité. In diesem Heft fordert er mehr Mut zum Scheitern und einen Kulturwandel in der biomedizinischen Forschung, ab Seite 36.
„Offen und ehrlich mit Fehlern umgehen“ Peter Vajkoczy
Man scheitert nie gerne – und dass man etwas daraus gelernt hat, erkennt man immer erst hinterher. Chirurgisch habe ich sehr viel aus meinen Fehlern gelernt: Wie man sie von vornherein vermeidet oder Plan B und C für unvorhergesehene Komplikationen vorbereitet. Eine wichtige Erkenntnis ist aber auch, dass man Fehler nicht vollständig vermeiden kann und offen und ehrlich damit umgehen muss. Man lernt, auf dem Boden zu bleiben. In meiner Forschungsarbeit habe ich mit Kollegen mal vier Jahre an einer Fragestellung gearbeitet, die wichtig und neu für die Hirntumor-Forschung war. Es ging darum, dass nicht, wie bisher angenommen, Entzündungs- ↘
zellen aus dem Blut eine hohe Relevanz bei Hirntumoren haben, sondern vielmehr Mikrogliazellen. Mit einem Knochenmark-Chimären und einem Transplantationsmodell haben wir das nachgewiesen. Als wir das Ergebnis gerade bei einem bedeutenden Journal eingereicht hatten, kam die Arbeit von Marco Prinz et al. in Nature Neuroscience raus – gleiches Ergebnis, aber ein eleganterer experimenteller und genetischer Ansatz. Es hat zwei Jahre gedauert, bis unser Manuskript in einem weniger bedeutenden Journal endlich publiziert wurde. Doch es wurde von den Fachkollegen wahrgenommen und wird bis heute häufig zitiert. Das hat mir gezeigt, dass gute und sorgfältige Arbeit langfristig immer die Aufmerksamkeit erhält, die sie verdient. Es hat mir mehr Selbstvertrauen in die eigenen Projekte gegeben. Der Hirnchirurg Peter Vajkoczy ist Direktor der neurochirurgischen Kliniken der Charité. Ab Seite 60 gewährt er einen Einblick in seinen Arbeitsalltag.
„Ich ruderte zurück und gab zu, dass mein erstes Gutachten nicht stimmte“ Hans-Ludwig Kröber
Ich habe mal ein Gutachten über einen kleinen Gauner erstattet, der nach der Wende aus Mannheim in die neuen Bundesländer gegangen ist und mit einer Bande dort insgesamt neun Millionen Deutsche Mark von neu eröffneten Konten abgehoben hat. Er wurde inhaftiert, saß in Heidelberg im Gefängnis und war sehr unruhig und verstört. Ich gab ein Gutachten ab, dass er schwer gestört
sei und daher vermindert schuldfähig. Aber es stellte sich heraus, dass er nur in Dauerpanik war, seinen Anteil an der Beute nie wiederzusehen. Ich musste ihn später noch einmal begutachten und da war er vollkommen entspannt. Es hatte sich also ein dramatischer Wechsel in seinem Zustand ergeben. Ich ruderte zurück und gab zu, dass mein erstes Gutachten nicht stimmte. Aus diesem Fehler habe ich gelernt, wie viel Spielraum in solchen Fällen möglich ist und was man alles übersehen kann. Wir lernen aus Gutachten, die sich hinterher als unzureichend erweisen. Der Gerichtsgutachter HansLudwig Kröber ist Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie an der Charité. Auf Seite 48 warnt er vor der Gefahr, Straftaten im Gehirn zu suchen.
„Wir können Fortschritt durch Scheitern fast nie kommunizieren“ Thomas Südhof
Die meisten Wissenschaftler erleben Momente in ihrer Karriere, in denen es einfach nicht gut läuft. Doch Scheitern ist genauso wichtig wie Erfolg, weil es dazu beiträgt, falsche Entscheidungen und Ideen zu korrigieren. Als Wissenschaftler erleben wir drei Arten von Scheitern. Das in vieler Hinsicht positivste Scheitern ist, wenn man eine Hypothese aufstellt und herausfindet, dass sie falsch ist; denn das bedeutet, man hat einen Erkenntnisfortschritt gemacht. In der Kommunikation wissenschaftlicher Ergebnisse haben wir im Moment jedoch ein Problem, weil wir Fortschritt durch Scheitern fast nie vermitteln können. Keines der wichtigen Journale würde das publizieren.
Ich selbst habe gleich mehrere Male erlebt, dass meine Ideen und Hypothesen nicht zutrafen. Das ist schmerzhaft, aber immer nützlich. Als wir vor 30 Jahren begonnen haben, an der Synapse zu arbeiten, dachten wir, dass bestimmte Proteine, etwa Synaptophysin oder Synapsin, für die Informationsübertragung sehr wichtig seien. Also begannen wir damit, sie zu untersuchen. Unsere Hoffnung war, dass wir nur schnell herausfinden müssten, wie genau sie aussehen und welche Rolle sie spielen, um berühmt zu werden. Aber es stellte sich heraus, dass sie in vielen Fällen überhaupt keine Rolle spielen – und wir nicht mal eben so berühmt werden würden. Unser Fehler war, dass wir auf bestehendem Wissen über wichtige und unwichtige Moleküle aufbauten. Stattdessen sollte man offen sein für Neues und alle Perspektiven einbeziehen, nicht nur die bereits bekannten. Die zweite Art zu scheitern ist, wenn man eine richtige Entdeckung macht, aber Kollegen sie nicht akzeptieren oder Journal-Redakteure sie nicht verstehen. Das ist kein wissenschaftliches Scheitern, sondern ein Scheitern an der Kommunikation. Es gibt enorme Probleme, die mit dem Apparat zu tun haben, der die Wissenschaft umgibt, vor allem mit der Publikation wissenschaftlicher Ergebnisse. Das größte Problem ist, dass die Redakteure von wissenschaftlichen Zeitschriften unbegrenzte Macht haben, aber häufig nur begrenztes Wissen – und außerdem oft unter Interessenkonflikten leiden. Ob ein Manuskript überhaupt veröffentlicht wird oder nicht, entscheiden Redakteure, und zwar ausschließlich aufgrund von persönlichem Geschmack – es gibt hier keine überprüfbaren Kriterien. Mir ist es mehrfach passiert und es passiert mir immer wieder, dass ich Entdeckungen, die ich für wichtig halte, nicht
52
Albert Gut gescheitert?
veröffentlichen kann. Als Autor bin ich natürlich voreingenommen gegenüber meinen eigenen Arbeiten, und denke immer, dass wir gute Sachen machen, was am Ende nicht immer wahr ist. Aber manche unsere Manuskripte sind wirklich gut, obwohl sie abgelehnt werden! Die dritte Art des Scheiterns ist, wenn man auf der Karriereleiter nicht aufsteigt, weil man einen Preis nicht bekommt oder einen Posten. Es gab so manche Stelle, die ich gerne gehabt, so manchen Preis, den ich mir gewünscht hätte – aber letztlich haben dann Leute die Stellen und Preise erhalten, die dafür besser geeignet waren, und mein Leben war dadurch auch nicht schlechter.
andere als ursprünglich erwartet. Ich neige ohnehin nicht dazu, mich vorab zu stark auf eine Theorie festzulegen. Man sollte immer die Theorie wählen, die die Daten am besten erklärt. Einen solchen Perspektivwechsel sehe ich nicht als Scheitern an, eher als Lernen. Es gibt auch viele Situationen, in denen unsere Methoden nicht die Erwartung erfüllen, dass sie Licht in bestimmte Hirnprozesse bringen. Aber auch da bin ich optimistisch, dass die Zukunft bessere Techniken bringen wird und wir diese Fragen dann beantworten können.
es ins Gewebe eintritt. Wir konnten das mathematische Modell so verändern, dass es genau zu unseren Daten passt. Überraschenderweise haben wir dabei auch herausgefunden, wie man die Streuung eines Lichtstrahls im Gewebe rund 100-mal schneller messen kann als bisher. Jetzt messen wir nur noch die wahrscheinlichsten Stellen und füllen den Rest mit vorhandenen Daten digital auf. Das ist ein wirklich großer Fortschritt. Scheitern ist manchmal genauso wichtig, wie Erfolg zu haben.
John-Dylan Haynes ist Professor
meyer ist Einstein International Post-
für Theorie und Analyse weiträumi-
doctoral Fellow am Judkewitz Lab an
ger Hirnsignale am Bernstein Center
der Charité. Albert begleitete ihn und
for Computational Neuroscience und
den Neurobiologen Michiel Remme
Der Biochemiker und Nobelprei-
am Berlin Center for Advanced Neu-
auf einen Ausflug in den Treptower
träger Thomas Südhof ist Einstein
roimaging. Ab Seite 38 beschreibt
Park, ab Seite 80.
BIH Visiting Fellow am Rosenmund
unser Autor Dietrich von Richthofen,
Lab an der Charité. Ab Seite 22
wie er sich in Haynes’ Labor das Ge-
spricht er über seine Berliner For-
hirn auslesen lässt.
schung und die Zukunft der Neuorwissenschaften.
„Perspektivwechsel sehe ich nicht als Scheitern an“ John-Dylan Haynes
53
Scheitern ist ein sehr starker Begriff. Es gab in meiner Karriere viele Situationen, in denen die Ergebnisse anders waren, als ich erwartet hatte, und sich eine Theorie als falsch herausstellte. Aber daraus kann man immer etwas lernen. Ein Beispiel: Neulich hatten wir die Erwartung, dass Probanden nicht dazu in der Lage sein würden, einmal im Gehirn angebahnte Entscheidungen noch einmal zu ändern. Es stellte sich dann heraus, dass Probanden das sehr wohl können. Das lässt wichtige Schlüsse in Bezug auf die Mechanismen der Entscheidungsfindung zu aber eben
„Scheitern ist manchmal genauso wichtig wie Erfolg“ Roarke Horstmeyer
Ich bin vor einiger Zeit daran gescheitert, ein bestehendes mathematisches Modell für die Berechnung der Streuung von Licht im Hirngewebe anzuwenden. Das ist notwendig, um klare Bilder von Neuronen im Gehirn zu bekommen. Doch die Daten, die wir mit unseren Mikroskopen messen konnten, haben nicht erwartungsgemäß zum Modell gepasst. Das hat uns zunächst entmutigt. Aber durch diesen Rückschlag haben wir herausgefunden, dass das Modell fälschlicherweise davon ausgeht, dass Licht im Gewebe in alle Richtungen gleichmäßig streut. Unsere Messungen hingegen ergaben, dass es nur der Richtung folgt, in der
Elektro-Ingenieur Roarke Horst-
Springer zwischen den Welten
Dieser federnde Gang. Ignoriert einfach mehr als acht Jahrzehnte Lebenszeit, als sei das nichts. Eric Kandel entert das Podium des Audimax der Berliner Humboldt-Universität mit der Leichtfüßigkeit eines Tänzers. Er trägt einen blauschimmernden Anzug, auf dem weißen Hemdkragen prangt eine schwarzgepunktete rote Fliege. Langer Applaus, eine Dame im Publikum wirft Kusshändchen nach oben, Eric Kandel wirft Küsschen zurück. Der Saal ist überfüllt an diesem Abend, die Türen zum Foyer bleiben offen. Junge Leute kauern neben ihren Rucksäcken auf dem Boden, in der ersten Reihe sitzt Denise Kandel, Professorin der Medizinsoziologie und seit 60 Jahren mit Eric Kandel verheiratet. Als dieser seinen Laptop aufklappt, ist für einen Moment ein Foto von ihr auf der Leinwand zu sehen, dann der Titel seines Vortrags: „The Role of Functional Prion-Like Proteins in the Persistence of Memory: A Perspective“. Um prionartige Proteine wird es gehen und ihre Bedeutung für die Beständigkeit von Erinnerung. Eingeladen hat ihn die Leopoldina, Nationale Akademie der Wissenschaften, die älteste Gelehrtengesellschaft in Deutschland. Noch bevor Kandel über die winzigen Eiweißpartikel spricht, die als „Killer-Proteine“ schlecht beleumundet sind, zu Unrecht, wie er
erklären wird, lobt er Deutschlands Kanzlerin für ihre Politik der offenen Grenzen in der Flüchtlingskrise. Verhaltener Beifall. Kandel lässt sich nicht beirren. „Ich habe ein besonderes Gefühl im Hinblick auf Deutschland. Das Land ist offen und ehrlich mit seiner Vergangenheit umgegangen. Im Gegensatz zu Österreich, das sich lange zu den Opfern des Nationalsozialismus zählte.“ Er sagt es auf Englisch, das längst zu seiner Muttersprache geworden ist. Wenn Kandel deutsch spricht, was er nicht gern tut, dann mit einem nasalen Wiener Akzent. Wien war das Paradies, aus dem er vertrieben wurde. Im November 1938 jagten GestapoMänner die jüdisch-österreichische Familie aus ihrer bescheidenen Wohnung im neunten Bezirk. Erich Kandel, damals neun Jahre alt, erlebt, wie der Vater verhaftet wird, die Wohnung geplündert. 70 Jahre später wird er in seinem viel gelesenen Lebens- und Forschungsbericht „Die Suche nach dem Gedächtnis“ schreiben: „Es ist schwierig, die komplexen Interessen und Handlungen eines Erwachsenenlebens auf einzelne Erfahrungen in Kindheit und Jugend zurückzuführen. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass mein späteres Faible für den menschlichen Geist – dafür, wie sich Menschen verhalten, wie unberechenbar ihre Motive ↘
Text Christina Bylow
Eric Kandel, Popstar der Neurowissenschaft, bekam den Nobelpreis für seine Forschungen zum menschlichen Gedächtnis. Inzwischen schlägt er Brücken zwischen Kunst und Wissenschaft. Eine Begegnung in Berlin
54
und wie dauerhaft Erinnerungen sind – auf mein letztes Jahr in Wien zurückgeht.“ Die Eltern, die ein kleines Spielwarengeschäft betrieben, schickten die beiden Söhne zu Verwandten nach New York, ein Jahr später gelang auch ihnen die Flucht. Kandels Weg ist fortan der eines hochbegabten Emigrantenkindes, das jede Möglichkeit nutzt, seiner Wissbegier und Lust am Lernen zu folgen. Ein geglücktes Leben nimmt seinen Lauf, voller Optimismus und Begegnungen mit Persönlichkeiten, die ihn leiten und inspirieren wie der Psychoanalytiker Ernst Kris. Ihm verdankt Kandel nach seinem ersten Studium der Literatur und Geschichte in Harvard seine Hinwendung zur Medizin und zur Psychoanalyse. Der Neurologe Harry Grundfest weckt sein Interesse für die Biologie des Gehirns.
Kandels bevorzugtes Versuchsobjekt ist die mit ihm berühmt gewordene Meeresschnecke Aplysia californica Damals ein unpopuläres Gebiet. Kandel wird es nie wieder verlassen und ihm bahnbrechende Erkenntnisse hinzufügen. Vor allem interessieren ihn die Zusammenhänge zwischen Lernprozessen und Hirnveränderung. In den 1990er Jahren entdeckt Kandel zusammen mit anderen Forschern prionartige Proteine, die eine Schlüsselrolle bei der Speicherung von Ereignissen und Inhalten aus dem Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis spielen. Unter dem Einfluss dieser Proteine nimmt die Anzahl der Synapsen bei wiederholten intensiven Lernvorgängen zu, das Langzeitgedächtnis entsteht. Lernen, das war nun bewiesen, verändert das Gehirn bis in seine neuroanatomische Struktur hinein. Kandels bevorzugtes Versuchsobjekt bei diesen Untersuchungen ist die mit ihm berühmt gewordene Meeresschnecke Aplysia californica, ein Tier mit ungewöhnlich großen Nervenzellen und einer durchaus vorhandenen Lernfähigkeit. Auf dem Wegweiser zur Vorlesung Kandels im Eingang der Humboldt-Universität
ist Aplysia in ihrer ganzen gefleckten Pracht zu sehen – mit der Nobelpreis-Medaille um den glitschigen Hals. Kandel hatte das Bild während seiner Nobelpreis-Rede in Stockholm an die Wand projiziert. Begleitet von seinem charakteristischen unbändigen Lachen. Der Nobelpreis, den er zusammen mit Arvid Carlsson und Paul Greengard im Jahr 2000 entgegennahm, markierte nicht, wie seine Frau befürchtete, das Ende seiner Forschungstätigkeit. Kandel setzt seine neurologischen Forschungen fort und schlägt parallel sogar eine neue Richtung ein – er wendet der Geistesgeschichte einer einzigartigen, unwiederbringlichen Ära, der Wiener Moderne um 1900 zu. Hier findet Kandel, was er bei aller Forschung im Labor nie aus den Augen verloren hat: die Brücke zwischen Wissenschaft und Kunst. Darüber hätte er in Berlin auch lieber gesprochen, sagt Kandel nach dem Vortrag. Aber die Gastgeber wollten einen Abriss seiner aktuellen Forschung, und so erklärte er unter anderem, wie die neu entdeckte Prion-Variante TIA weiblichen Mäusen ermöglicht, psychischen Stress abzufedern. Seit 15 Jahren beschäftigt Kandel sich schon mit Prionen, winzigen Eiweißpartikeln. Killer-Proteine wurden sie genannt, weil sie die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit und BSE verursachen können. Doch nicht alle Varianten sind schädlich. Die gutartigen tragen dazu bei, Synapsen zu stabilisieren. Im Anschluss signiert er, was ihm seine Fans unter die Augen halten. Den knapp 1.000 Seiten dicken Wälzer „Neurowissenschaften. Eine Einführung“ – „Was, damit schleppen Sie sich ab!“ – ebenso wie seine große Studie „Das Zeitalter der Erkenntnis“, 2012 erschienen. Beim Anblick des Covers mit dem vergoldeten Antlitz von Adele Bloch-Bauer, gemalt von Gustav Klimt, hellt sich Kandels feines, freundliches Gesicht mit den lebhaften braunen Augen immer wieder auf. Sein Buch ist nicht nur ein Grundlagenwerk über Kunst, Ästhetik, den Sehprozess und Kognitionspsychologie, sondern auch Zeugnis seiner Sehnsucht nach einer untergegangenen Welt. Einer Welt, in der sich Künstler, Ärzte, Wissenschaftler, Schriftsteller und Philosophen in Salons und Kaffeehäusern miteinander austauschten. An drei Malern, Schiele, Kokoschka und Klimt, zeigt Kandel, wie sich deren Blick
56
Albert Springer zwischen den Welten 57
auf den Menschen gerade in ihren Porträts mit Freuds Theorie des Unbewussten und den neuesten Erkenntnissen aus der Medizin verbinden. Und er erklärt, warum dem Betrachter die sublimen Porträts aus der Zeit der Jahrhundertwende nicht aus dem Sinn gehen. „Dass wir auf die figurativen und emotionalen Aspekte von Gesichtern in der Kunst intensiv reagieren, liegt teilweise daran, dass die Gesichtswahrnehmung so zentral für das soziale Miteinander, für Gefühle und Erinnerungen ist. Tatsächlich beansprucht die Gesichtswahrnehmung im Menschengehirn mehr Raum als jede andere figurative Repräsentation.“ Ein Gespräch über seine ganz persönliche Liebe zur Kunst, die auch die Liebe eines Sammlers ist. Das hatte er in Aussicht gestellt. Was für ein Versprechen! Zu schön, um es im durchgetakteten Zeitplan seines Berlin-Besuchs unterzubringen. Stattdessen eine Verabredung zum Skypen, ganz zeitgemäß. Zwischen Berlin und New York, seinem Institut an der Columbia University. Doch Skype ist keine Kaffeehauskonversation, insbesondere wenn die elektrischen Entladungen eines Gewitters die Datenübertragung gewaltig durchkreuzen. Kandels Gesicht taucht auf und verschwindet wieder. „Ach, da verpassen Sie nicht viel“, sagt er, als er wieder da ist. Im Hintergrund die Umrisse seines Labors und vergnügte Mitarbeiterinnen. Welches war sein erstes Bild? „Trude. Eine Lithografie von Oskar Kokoschka von 1922. Das Bild eines jungen Mädchens. Ich habe es 1964 in einer Galerie in Boston gekauft. Es hat mich an das verlorene Wien meiner Kindheit erinnert.“ Was löst bei ihm den Impuls aus, ein Werk erwerben zu wollen? „Es ist wichtig, dass das Werk ein bestimmtes Stadium in der Laufbahn eines Künstlers beschreibt, denn es ist wunderbar, die Entwicklung eines Künstlers von seinen Anfängen bis zum Spätwerk zu verfolgen. Uns faszinieren auch die Varianten einer Arbeit. Von Edvard Munchs ‚Der Kuss‘ haben wir eine Radierung und einen Holzschnitt. Dabei sieht man, wie er mit demselben Thema in unterschiedlichen Kunstformen umgeht.“ Inzwischen genießt Kandel seine Schätze noch intensiver als früher: „Wir sind aus unserem Haus am Hudson ausgezogen und wohnen nun in einem großen Apartment in Manhattan. Nun sind die Wän-
de voll. Ich spaziere in der Wohnung herum wie in einer Galerie. Die Kunst muntert mich auf, inspiriert mich, macht mir einfach Freude. Der neue Raum verändert meinen Blick. Ich habe erst jetzt wirklich wahrgenommen, wie skulptural die Kunst von Günther Uecker ist.“
„Die Kunst muntert mich auf, inspiriert mich, macht mir einfach Freude.“ Kandel studiert an der Kunst ein Verfahren, das er selbst in seiner wissenschaftlichen Arbeit verwendet. Das der Reduktion. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen an einfachen Organismen wie der Meeresschnecke Aplysia californica ließen sich entgegen der Meinung mancher Kritiker auf die komplexeren Strukturen von Wirbeltieren übertragen. Nun fand er Wahlverwandte unter den Künstlern. Darunter Pollock, Rothko, Flavin, Katz: allesamt Meister der Reduktion. Er hat ein neues Buch darüber geschrieben. „Reductionism in Art and Brain Science“. Gerade ist es in den USA erschienen. Das ist das letzte Bild: ein lächelnder, altersloser Mann mit blauem Hemd und dunkler Fliege, der sein jüngstes Buch in die Kamera des Computers hält.
Eric Kandel, geboren 1929 in Wien als Kind einer jüdischen Familie, ist einer der bedeutendsten Neurowissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Im Jahr 2000 erhielt er für seine Entdeckungen zur Signalübertragung im Nervensystem zusammen mit Arvid Carlsson und Paul Greengard den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Seit 1974 ist er Professor am Institut für Physiologie und Psychiatrie der Columbia University in New York. Kandel hat zwei erfolgreiche Bücher geschrieben, in denen er sein Forschungsinteresse, Wissenschaftsgeschichte und Autobiografie verbindet. „Auf der Suche nach dem Gedächtnis“ (Goldmann, 2014) und „Das Zeitalter der Erkenntnis“ über die Wiener Moderne um 1900 (Pantheon, 2014). Zuletzt erschien in den USA sein neuestes Buch über reduktionistische Ansätze in Hirnforschung und Kunst (Columbia University Press, 2016). Kandel ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
Lost in Translation Viele Erkenntnisse in den Neurowissenschaften entstehen durch Forschung an Fruchtfliegen und anderen Modellorganismen. Die Ergebnisse auf den Menschen zu übertragen, ist jedoch nicht immer einfach
Ihr Gehirn wiegt zwar nur 0,25 Milligramm und hat nicht einmal die Größe eines Brotkrümels – dennoch hat die Fruchtfliege ein Gedächtnis. Und auch sie wird, wie der Mensch, im Alter vergesslich. Welche molekularen Mechanismen stecken hinter dem altersbedingten Gedächtnisverlust? Und wie lässt er sich aufhalten? „Die Fliege ist ein idealer Modellorganismus, um solche Fragen zu erforschen“, sagt der Berliner Neurowissenschaftler und Einstein-Professor Stephan Sigrist. Functional Food fürs Fliegenhirn
Einige Antworten hat sein Team bereits geliefert. Mit einem spermidinhaltigen Nahrungsergänzungsmittel konnten die Forscher dem alternden Fliegenhirn auf die Sprünge helfen. Spermidin aktiviert Reinigungsprozesse, mit denen die Nervenzellen verklumpte Proteine und ausrangierte Zellbestandteile abbauen. Die körpereigene Spermidin-Produktion versiegt mit steigendem Alter zusehends – bei Fliegen wie bei Menschen. Die Zellen können den Zellschrott nicht mehr entsorgen. Verklumpte Proteine, die sich dadurch anreichern, sind die Hauptverdächtigen für die Entstehung von Altersdemenz. Mit ihren Versuchen enthüllten die Forscher 2013 eine kleine Sensation: Die vergreisenden Fliegen, die sich vom Functional Food der Forscher ernährten, zeigten in den Verhaltenstests ein deutlich besseres Erinnerungsvermögen als ihre konventionell gefütterten Artgenossen.
Spermidine – ein Mittel gegen Altersdemenz? Der Ansatz wird mittlerweile in einem Berliner Verbundprojekt von mehreren Arbeitsgruppen verfolgt – mit dem Ziel, eine Präventivtherapie für Altersdemenz zu entwickeln (weitere Strategien gegen Demenz auf Seite 77). Große Lücke zwischen Mensch und Tiermodell
Doch bis dahin ist es noch ein weiter, steiniger Weg. Besonders in den Neurowissenschaften ist die Translation, also die Übertragung von der Grundlagenforschung in die Anwendung, nicht einfach. Viele Wirkstoffe geben in präklinischen Versuchen Potenzial zu erkennen, zeigen aber in klinischen Tests kaum oder gar
keinen Effekt. Zum Teil liegt das an den anatomischen und physiologischen Unterschieden zwischen den Versuchstieren und dem Menschen, befindet ein Team US-amerikanischer Forscher in der Fachzeitschrift Neuron. Tiermodelle können immer nur isolierte Aspekte der Krankheit darstellen, nicht das gesamte Krankheitsbild. Vor allem bei psychiatrischen Erkrankungen ist die Lücke zwischen Mensch und Tiermodell groß – die schizophrene Fruchtfliege oder Maus wird es nie geben. Auch mangelnde Kenntnis der Krankheitsmechanismen sowie möglicher Zielmoleküle und Biomarker – also solcher Moleküle, die eine objektive Beurteilung des Gesundheitszustands zulassen – stellen die Forscher vor Probleme. Die Entwicklung neuer
Menschenhirn Gewicht 1,5 kg Größe 1.300 cm3 Nervenzellen 80.000.000.000
58
Text Dietrich von Richthofen Illustrationen Lizzy Onk 59
Therapien für neurologische Erkrankungen birgt deshalb große wissenschaftliche Herausforderungen und finanzielle Risiken, was bereits zahlreiche Pharmafirmen abgeschreckt habe, so die US -Forscher. Ein Befund, dem sich auch der Schlaganfallexperte Ulrich Dirnagl von der Neurologischen Abteilung der Berliner Uniklinik Charité anschließt. Intensive Grundlagenforschung habe eine Fülle präklinischer Ansätze für die Schlaganfall-Prävention hervorgebracht, ohne dass auch nur eine einzige darauf basierende klinische Studie zur Zulassung einer neuen Substanz für dieses Anwendungsgebiet geführt habe. Viele Pharmafirmen hätten sich mittlerweile von der Suche nach Wirkstoffen abgewandt, Nihilismus mache sich breit. „Lost in Transla-
tion“ ist in der Wissenschaftscommunity zu einem geflügelten Wort geworden. Hauptgrund sei die mangelnde Aussagekraft vieler präklinischer Studien, so Dirnagl, der sich für höhere Qualitätsstandards einsetzt, um die Übertragung in die Anwendung zu verbessern (siehe dazu Dirnagls Kommentar ab Seite 36). Wie Dirnagl ist auch Sigrist Koordinator des klinischen Forschungsprogramms im Berliner Exzellenzcluster NeuroCure. Der interdisziplinäre Forschungsverbund hat sich dem Ziel verschrieben, wissenschaftliche Erkenntnisse über neurologische und psychiatrische Erkrankungen aus der Grundlagenforschung in die klinische Anwendung zu übertragen. Um das zu erreichen, finanziert NeuroCure Projekte, an denen Grundlagenfor-
Fliegenhirn Gewicht 0,25 mg Größe 0,2 mm3 Nervenzellen 250.000
scher und klinische Forscher über einen längeren Zeitraum gemeinsam arbeiten. Auch Sigrists Arbeiten zur Prävention der Altersdemenz werden nun in einem Verbundprojekt weiterverfolgt, an dem NeuroCure beteiligt ist. „Die erste klinische Studie ist bereits auf dem Weg“, sagt Agnes Flöel, Professorin für Kognitive Neurologie am Universitätsklinikum Charité und Leiterin der Studie. Für sie ist entscheidend, dass die beteiligten Wissenschaftler einen konstanten interdisziplinären Austausch pflegen und die Ergebnisse aus der klinischen Forschung auch zurück in die Grundlagenforschung fließen. Diese Rückübertragung könne viel zum Verständnis der molekularen Mechanismen von Erkrankungen beitragen und wertvolle Informationen für künftige Studien liefern. Die Versuchsteilnehmer der ersten Studie erhalten als Nahrungsergänzung ein Weizenkeim-Extrakt mit hoher Spermidin-Konzentration. Für Vorhersagen zur Wirksamkeit ist es noch zu früh, die klinischen Studien werden erst im Verlauf der nächsten zwei Jahre Resultate erbringen. Sollten die Ergebnisse positiv ausfallen, könnte in dem Projekt eine Präventivsubstanz entstehen, um das Einsetzen der Altersdemenz beim Menschen hinauszuzögern. Für Sigrist ein lohnendes Ziel seiner Forschung: „Schon eine geringfügige Verschiebung nach hinten wäre ein großer Schritt für den einzelnen Patienten und die Gesellschaft.“
Protokoll und Fotos Daniel Kastner
Haben Sie gut gemacht
Ein Tag mit Peter Vajkoczy, dem Direktor der Klinik fĂźr Neurochirurgie der CharitĂŠ
60
9:18
5:30
In einem Schlafzimmer in Wilmersdorf klingelt ein Wecker. Peter Vajkoczy duscht, frühstückt Cornflakes, trinkt Kaffee.
6:16
Ausnahmsweise fährt er heute zuerst zu einer Besprechung am Campus Mitte, wohin die Neurochirurgie im April 2017 umziehen soll.
Im schmal geschnittenen grauen Anzug federt er in sein Büro am VirchowKlinikum der Charité im Wedding. Als er wieder herauseilt, trägt er einen grünen Kittel und blaue Plastikschuhe.
9:22
Im Fahrstuhl geht er die anstehende OP noch einmal durch: Einem 11-Jährigen ist ein Tumor um die Hirnschlagader gewachsen. „Wir legen einen Bypass mit einer Vene aus seinem Oberschenkel. Dann kann man in einer späteren OP den Tumor entfernen.“
9:29
Vajkoczy durchschreitet die Schleuse in den sterilen Bereich, zieht eine grüne Haube auf, legt den Mundschutz an.
61
10:14
Im Vorraum des OP desinfiziert er Hände und Arme.
10:28
Die Kollegen haben den rasierten Schädel des Jungen mit Jod eingepinselt und mit Filzstift die Schnittführung markiert.
10:33
Vajkoczy schneidet die Kopfhaut auf. Blut fließt.
10: 54
Hinter zwei Löchern im Kopf des Jungen pulsiert zartrosa sein Gehirn. Durch einen Schlauch fließt Telefone klingeln, Schiebetüren öffnen und schließen eine klare Flüssigkeit ab. sich, OP-Schwestern reichen Instrumente an, Assistenzärzte schieben Mikroskope und Messgeräte durch „Wir müssen uns einen den Saal. Weg zwischen den Hirnlappen bahnen, um an die Arterie zu kommen“, erklärt Vajkoczy den Doktoranden, die ihm zusehen. 15 Leute Es klingt wie ein Zahnarztsind jetzt im OP. bohrer, als Vajkoczy die Schädeldecke aufsägt. Späne fliegen, es riecht nach verbrannten Haaren. Auf dem Tisch liegt die Bypass-Vene wie ein blutiger Wurm. Vajkozy markiert sie mit schwarzen Punkten, „damit sie sich nicht verdreht“.
10: 44
11:17
10: 51
11:27
11: 56
„Aua!“ Er hat sich in den Finger geschnitten, sofort wechselt er den Handschuh.
11:55
Er klemmt die Arterie ab.
11: 57
Die Arterie schlitzt er an einem Ende längs auf. Herztöne piepen, die Klimaanlage rauscht, der Sauger röchelt. Niemand spricht.
62
13:37 Albert Haben Sie gut gemacht
12:25
Der Bypass-Eingang ist auf die Arterie genäht. „Ich bin etwas angespannt jetzt“, sagt Vajkoczy, als er auch am geplanten Ausgang die Arterie aufschneidet. Wenn jetzt etwas schiefgeht, stirbt der Junge an einem Schlaganfall.
12:34
Die Pinzetten kommen sich ins Gehege, ein Faden fällt herunter. „Scheiße“, murmelt Vajkoczy.
63
12:40
„Alles gut?“, fragt er den Assistenzarzt. „Alles gut“, sagt der.
12: 47
Der letzte Stich ist gesetzt, sie nehmen die Klemmen ab.
12: 56
Die Anästhesistin spritzt dem Jungen ein fluoreszierendes Mittel. Ein OPPfleger schaltet das Licht aus. Auf dem Monitor leuchtet das Gehirn grün auf. Ein gutes Zeichen: Nirgends ist Blut, wo keines hingehört.
Im Büro packt Vajkoczy eine Brezel aus, sein Mittagessen. Auf dem Boden stapeln sich Dankesgeschenke. „Die meisten schenken Alkohol, aber ich trinke nicht“, sagt er. Am Bildschirm ruft er Röntgenbilder für die Sprechstunde auf.
14:22
Kaum ein Patientengespräch dauert länger als fünf Minuten. Nach jedem Gespräch diktiert er einen Brief und verschluckt dabei aus Zeitgründen alle Floskeln.
„Haben Sie gut gemacht“, murmelt der Junge mit dem Bypass auf Zimmer 9 der Intensivstation.
14:53
20:09
Zwischendurch verödet er im OP einen Nerv und operiert eine Bandscheibe.
16:59
Im stickigen Besprechungsraum geht er mit den Doktoranden Vorträge für eine Tagung durch. Den ersten zerreißt er in der Luft, am nächsten hat er wenig auszusetzen, ein dritter löst eine fast einstündige Debatte aus.
17:34
Vajkoczy bekommt eine SMS: „Bypass ist gut aufgewacht, bewegt 4/4 und spricht.“ Dem Jungen geht es gut.
Im Anzug verlässt Vajkoczy die Klinik. Er wird jetzt mit der Familie zu Abend essen, seine drei Kinder ins Bett bringen – und ab 23 Uhr Mails beantworten.
Albert Haben Sie gut gemacht
19:47
19:22
Er tauscht den grünen Kittel gegen einen weißen für die Visite.
Peter Vajkoczy ist Direktor der neurochirurgischen Kliniken der Berliner Charité und operiert dort bis zu 800-mal im Jahr. Seine Spezialgebiete sind Gefäßneurochirurgie, Tumor- und Wirbelsäulenchirurgie. Von 2013 bis 2016 leitete er ein Einstein-Forschungsvorhaben zu der Frage, wie das Gehirn nach einem Schlaganfall neue Blutgefäße bildet.
64
Noch Fragen? Die Einstein Stiftung Berlin unterstützt Forschungsvorhaben und Arbeitsgruppen zu aktuellen Themen in den Neurowissenschaften
neuronalen Informationsverarbeitung und -weiterleitung bisher nicht berücksichtigt. Welchen Zweck könnten diese Signale erfüllen? Bisher haben wir
Interviews Jana Schlütter Illustrationen Lizzy Onk
Die Signaldeuter Einstein-Forschungsvorhaben „Der axonale Code der Informationsverarbeitung“ Laufzeit 2014 bis 2017 Worum geht es? Um die Signalübermittlung durch das Axon . Das Axon leitet nicht nur Informationen weiter, sondern kann auch selbst Signale senden. Die Forscher wollen herausfinden, welche Funktion diese Signale haben Wer ist beteiligt? Tengis Gloveli von der Charité und Michael Brecht vom Bernstein Center for Computational Neuroscience
Herr Gloveli, Sie haben eine überraschende Entdeckung gemacht … Das
65
stimmt. Bisher galt die Informationsverarbeitung zwischen den Nervenzellen als Einbahnstraße. Dabei werden durch die Verarbeitung der synaptischen Eingänge der Dendriten vom Zellkörper ausgehend Signale – sogenannte Aktionspotenziale – erzeugt und als elektrische Impulse über das Axon zu den synaptischen Ausgängen und damit zu den nachgeschalteten Nervenzellen geleitet. Wir haben bemerkt, dass es neben diesen klassischen, vom Zellkörper erzeugten Signalen auch noch andere Signale im Axon gibt. Bei Messungen stellte sich heraus: Das Axon kann eigenständig elektrische Signale erzeugen und senden. Das wurde in den Theorien zur
diese zusätzlichen axonalen Signale am Hirnschnittpräparat bei den sogenannten Gammaoszillationen gemessen, einem neuronalen Aktivitätsmuster, das bei Zuständen erhöhter Aufmerksamkeit auftritt und eine wichtige Rolle für das Lernen spielt. Wir vermuten aber, dass sie auch bei anderen neuronalen Aktivitätsmustern auftreten können und eventuell sogar an deren Erzeugung beteiligt sind. Daher wollen wir den Vorgang nun im Gehirn lebender Mäuse oder Ratten beobachten. Das ist keine leichte Aufgabe, denn Axone sind weniger als zwei Mikrometer dünn, und wir müssen sie im Hippocampus – dem Tor zum Gedächtnis – mit der Ableitelektrode ohne visuelle Kontrolle treffen. Könnten die Signale auch Schaden anrichten? Das ist eine Frage, der wir
nachgehen. Denn bei manchen neurologischen Erkrankungen wie der Epilepsie wurden am Zellkörper der Neuronen zusätzliche elektrische Signale registriert. Das könnte mit der Aktivität der Axone zusammenhängen. Grundsätzlich werden Signale, die im Axon erzeugt werden, vom Ort ihres Ursprungs in beide Richtungen geleitet. Daher treffen diese Signale nicht nur auf die synaptischen Ausgänge, sondern werden auch in Richtung Zellkörper geleitet, wodurch dieser zusätzlich aktiviert werden
könnte. In früheren Arbeiten haben wir allerdings gezeigt, dass bei Gammaoszillationen diese axonalen Signale den Zellkörper nicht erreichen, da bestimmte Filterzellen – hemmende Neuronen – die Rückleitung verhindern. Aber diese Filterzellen sind sehr empfindlich und sterben bei manchen neurologischen Erkrankungen leicht ab. Damit könnte sich die Signalübertragung pathologisch verändern.
Die Hirn-Retter Einstein-Forschungsvorhaben „Mechanismen kognitiver Dysfunktion nach lebensbedrohlicher Erkrankung“ Laufzeit 2016 bis 2018 Worum geht es? Die geistige Leistungsfähigkeit jedes vierten Patienten, der auf einer Intensivstation um sein Leben gekämpft hat, ist langfristig eingeschränkt. Das Team erforscht, warum solche Kollateralschäden entstehen und wie man sie verhindern kann Wer ist beteiligt? Claudia Spies und Ulrich Dirnagl von der Charité und Gilbert Schönfelder vom Deutschen Zentrum zum Schutz von Versuchstieren (Bf3R)
Frau Spies, wie ausgeprägt können Kollateralschäden im Gehirn nach einem Aufenthalt auf der Intensivstation sein? Sie sind vergleich-
bar mit einer milden Alzheimer- ↘
Demenz, selbst nach einem Jahr noch. Auf der Intensivstation muss der Körper mit vielen Herausforderungen fertig werden. Der Stoffwechsel verändert sich, es kommt zu Entzündungen und Kreislaufstörungen, mitunter ist nicht genug Sauerstoff im Blut. Medikamente greifen zusätzlich ein, Organe können versagen, Nervenzellen sterben ab. 30 bis 80 Prozent der Patienten entwickeln einen sogenannten Delir. Sie sind desorientiert, ihre Wahrnehmung spielt verrückt, das Bewusstsein ist getrübt. Je länger der Zustand unbehandelt bleibt, desto größer ist das Risiko für langfristige Folgen. Aber auch wer in der Klinik nicht verwirrt war, kann diese Schäden davontragen. Wie wollen Sie das verhindern? Wir
wollen möglichst viele Nervenzellen retten. In unserem Projekt überprüft der Nachwuchswissenschaftler Julius Emmrich die These, dass die Müllbeseitigung des Gehirns schiefläuft. Während einer schweren Entzündung, wie sie auf der Intensivstation vorkommen kann, senden die Neuronen möglicherweise Signale aus, die Immunzellen anlocken. Von diesen werden sie dann bei lebendigem Leib aufgefressen. Was dabei im Detail passiert und wie die Nervenzellen ihrer Entsorgung entkommen können, untersucht Emmrich an Mäusen. Eine wichtige Frage, aber ist das für die Mäuse nicht sehr belastend? Mäu-
se sind Fluchttiere, sie zeigen Schmerz normalerweise nicht. Gemeinsam mit dem Deutschen Zentrum zum Schutz von Versuchstieren haben wir daher einen Parcours entwickelt, der Verhaltensänderungen der Mäuse vollautomatisch registriert. Wir machen damit ihr Leid objektiv messbar. Das nutzt dem Tierschutz, denn wir können Belastungskataloge und Abbruchkriterien für Versuche definieren und bestehende überprüfen.
ist ungewöhnlich, dass junge Wissenschaftler unterschiedlicher Universitäten die Möglichkeit bekommen, sich in einem eher unkonventionellen Rahmen direkt auszutauschen, nicht von oben verordnet. Das ist toll. Zu unseren Treffen konnten wir zudem bekannte Forscher einladen. Hat sich etwas daraus ergeben? Ja,
Der TumorThinktank Einstein-Zirkel „Die Biologie des Glioblastoms“ Laufzeit 2013 bis 2016 Worum geht es? Das Glioblastom ist der bösartigste und zugleich häufigste Hirntumor bei Erwachsenen. Eine Gruppe junger Forscher sucht nach neuen Wegen, um ihn zu bekämpfen Wer ist beteiligt? 15 Neurologen, Molekularbiologen und Bioinformatiker aus Berlin, Zürich, Heidelberg und Bergen unter der Leitung von Philipp Euskirchen, Postdoktorand an der Charité
im letzten Jahr war zum Beispiel Roel Verhaak vom MD Andersen Cancer Center Texas hier, der bahnbrechende Arbeiten zur molekularen Klassifikation des Glioblastoms veröffentlicht hat. Um von diesen Methoden zu lernen, kooperiert nun Christoph Harms von der Charité mit ihm.
Herr Euskirchen, Sie haben sich mit dem Glioblastom einen extrem widerspenstigen Gegner ausgesucht.
Die Prognose für Patienten ist unglaublich schlecht. Daran haben auch 50 Jahre Forschung nichts geändert. Retten können wir sie nicht. Die Tumorbiologie ist besonders kompliziert. Wir wissen noch nicht einmal, wann im Gehirn etwas schiefgeht. Ist es schon während der Tumorentwicklung? Eine Frage ist auch, wie sich der Tumor im Laufe der Zeit verändert. Das sind riesige Herausforderungen, die man nur bewältigen kann, wenn Spezialisten aus möglichst vielen Fachgebieten zusammenarbeiten. Was bringt Ihnen die Kooperation im Einstein-Zirkel? Durch den Blickwin-
kel der anderen können sich Prioritäten verschieben. Etwa wenn man ein Experiment plant und dabei ein Detail unter den Tisch fallen lassen möchte. Ein Kollege sagt dann mitunter: „Um Himmels willen!“ Der Einzelne kann nicht alles im Auge behalten. Es
Die Labyrinthbauer Einstein-Forschungsvorhaben „Somatosensorische virtuelle Realität für die Gehirnforschung“ Laufzeit Projekt abgeschlossen Worum geht es? Wenn eine Maus durch dunkle Gänge rennt oder in der Nacht nach Futter sucht, orientiert sie sich vor allem mithilfe ihrer Schnurrhaare. Um dabei Gehirnaktivitäten bei der Entscheidungsfindung beobachten zu können, haben die Forscher ein auf einem Luftkissen schwebendes Labyrinth entwickelt Wer ist beteiligt? York Winter und Matthew Larkum von der Humboldt-Universität zu Berlin und Mickey London von der Hebräischen Universität in Jerusalem
Herr Winter, warum braucht die Gehirnforschung ein schwebendes MäuseLabyrinth? Wir wollen den Code für
66
Entscheidungsfindung in der Großhirnrinde knacken. Während eine Maus eine Aufgabe löst, entstehen dynamische Muster in den Netzwerken miteinander verschalteter Nervenzellen. Die eingehenden Sinneseindrücke werden in Befehle für die Muskeln umgewandelt. Die Krux ist, dass der Kopf der Maus fixiert sein muss, damit die präzise platzierten Elektroden nicht verrutschen, mit denen wir die Nervenzellen beobachten. Trotzdem soll sich das Tier möglichst natürlich verhalten. Das schwebende Labyrinth macht das möglich. Wie genau funktioniert es? Die Maus
Albert Noch Fragen?
bekommt eine Art Geschirr. Wenn sie in der Dunkelheit losrennt, bewegt sie mit ihren Pfoten nun nicht mehr ihren Körper, sondern die Labyrinthscheibe. Sie schiebt den Boden unter sich hindurch und nimmt zum Beispiel die Oberflächenstruktur der Wände wahr oder ein LED -Licht. Das muss sie sich merken, denn nur eine bestimmte Signalabfolge führt sie zu ihrer Belohnung. Gleichzeitig bekommt der Computer, der das Experiment vollautomatisch steuert, in Echtzeit eine Rückmeldung über ihr Verhalten. Den Versuchsaufbau haben Sie gerade publiziert … … und wir sind sehr
67
dankbar, dass die Einstein Stiftung die Entwicklung gefördert hat. So etwas braucht Zeit. Erst mussten wir herausfinden, ob die Maus eine schwebende Plattform zielgerichtet genug bewegen kann und wie diese Scheibe beschaffen sein muss. Dazu kommt das technische Überwachungssystem. Das Ergebnis ist flexibler als alle bisherigen Lösungen und im 3-D-Druck einfach herzustellen. Im Sinne von Open Science stellen wir alle technischen Informationen zum Nachbau zur Verfügung. Nun können die eigentlichen Experimente beginnen.
Die Gen-Detektive
im Bett und kriegen keine Luft. Nach der Publikation riefen uns Ärzte aus aller Welt an, es kamen etwa 150 Proben mit DNS von Kindern mit einer Muskelschwäche, die schlecht atmen können. Manche hatten genau den gleichen Gendefekt, aber bei den meisten sahen die Symptome nur ähnlich aus. Ungelöste Fälle müssen wir erst einmal beiseitelegen, aber sobald es ein neues Werkzeug gibt, geht die Suche weiter. Next Generation Sequencing ist ein
Einstein-Forschungsvorhaben „Aufklärung neurogenetischer Erkrankungen mittels Homozygotiekartierung und Next Generation Sequencing“ Laufzeit Projekt abgeschlossen Worum geht es? Seltene Erkrankungen des Nervensystems werden oft durch einen einzigen Gendefekt verursacht. Diesen zu finden gleicht einer Detektivarbeit Wer ist beteiligt? Markus Schülke-Gerstenfeld von der Charité und Shimon Edvardson von der Universitätsklinik der Hebräischen Universität in Jerusalem
Herr Schülke-Gerstenfeld, warum interessieren Sie sich für seltene Erkrankungen? Als Kinderarzt erlebe
ich immer wieder verzweifelte Eltern, die mit ihren kranken Kindern schon bei vielen Ärzten waren. Sie bringen dicke Aktenordner mit und wollen endlich wissen, was das Kind hat. Die Diagnose ist selbst für die Familien, denen wir keine ursächliche Hilfe anbieten können, eine Erleichterung. Sie haben dann die Gewissheit: Wir haben nichts falsch gemacht, das ist genetisch. Als Forscher reizt mich auch das Detektivische an der Arbeit. Wir gehen davon aus, dass es bis zu 8.000 monogenetische Krankheiten gibt, nur bei etwa 3.000 ist der Defekt bekannt. Da gibt es viel zu entdecken.
solches neues Werkzeug. Ja, damit
haben wir jene Erbgutabschnitte sequenziert, die die Blaupause für Eiweiße sind, also das Exom. Next Generation Sequencing bezeichnet Hochdurchsatzverfahren, die eine automatisierte und schnelle Analyse des Erbguts möglich machen. Das hat die Entschlüsselung billiger, effizienter und präziser gemacht. Der Knackpunkt ist die Auswertung der Daten. Man findet unzählige Varianten und nur eine macht krank. Die muss man mithilfe von Bioinformatik herausfiltern. Unsere Doktorandin hat wesentlich zu einer Software beigetragen, die die Auswahl zum Beispiel von 1.000 auf fünf abschmelzen lässt, die man dann im Labor untersuchen kann. Eine neuromuskuläre Krankheit konnten wir durch das Projekt bereits aufklären. Unser nächstes Ziel ist es, das Genom von Patienten zu entschlüsseln, bei denen die Exomsequenzierung keine Diagnose brachte.
Werden Sie meistens fündig? Nein!
Wir haben vor mehr als 15 Jahren zum Beispiel einen Gendefekt aufgeklärt, durch den Kinder eine Atemstörung erleiden. Wegen einer Zwerchfelllähmung liegen sie plötzlich blau
Weitere Informationen zu Einstein-Forschungsvorhaben und Einstein-Zirkeln unter → einsteinfoundation.de
Ich und Du Vittorio Gallese gehört zu den Entdeckern der Spiegelneuronen. Der italienische Neurologe interessiert sich seit jeher auch für Kunst und Philosophie. Ein Gespräch über seine Leidenschaft für Verdi-Opern, den Fluch der Popularität und seine neuen Forschungen über Empathie und ihre Zukunft im digitalen Zeitalter
Eine Bücherkammer im Medizinhistorischen Museum der Charité in Berlin-Mitte. Das Gesamtwerk des Pathologen Rudolf Virchow füllt die Regale in dem schmalen Raum. Vittorio Gallese, dunkler Bart, dunkle Augen hinter runder Brille, setzt sich an die lange Arbeitsplatte vor dem einzigen Fenster und lässt sich nicht lange bitten. Ein geborener Erzähler mit didaktischem Talent. Herr Professor Gallese, beginnen wir mit einer privaten Leidenschaft von Ihnen: Sie sind Mitglied im „Club dei 27. Gruppo Appassionati Verdiani“ – einer Art Giuseppe-Verdi-Fanclub in Parma. Was fasziniert Sie so an diesem Komponisten?
Interview Christina Bylow
Mein Vater war ein Opernenthusiast, ich konnte damit zunächst einmal gar nichts anfangen. Im Gegenteil, ich fand Opern langweilig. Bis ich im Auto eines Freundes zufällig etwas Wunderschönes hörte und nicht wusste, was es ist. Mein Freund war erstaunt, dass ich das Liebesduett aus „Un ballo in maschera“ (Maskenball) nicht kannte. Er lieh mir die CD. Danach habe ich mich in Verdi vertieft. Ein furchtloser, unabhängiger
Fotos Florian Büttner
„Ich brauche einen Raum, in dem ich mich erholen kann, in dem ich etwas einfach nur genießen kann, ohne mir Gedanken darüber zu machen.“
Bleiben wir noch kurz bei der Musik. Was passiert im Gehirn, wenn uns Musik zu Tränen rührt? Hat das auch mit den Spiegelneuronen zu tun, die Sie erforscht haben?
Wenn wir Musik hören, verwenden wir Areale im Gehirn, die auch für Sprache zuständig sind. Musik hat keine erkennbare Kontur oder visuelle Gestik, aber sicher Stimuli, die sofort körperlich empfunden werden. Das hat mit dem Rhythmus zu tun, auch mit Tonarten – wobei diese nicht universell sind. Auch das Gedächtnis spielt eine große Rolle. Aber wissen Sie, ich versuche zwar, Theorien über ästhetische Erfahrungen zu entwickeln, aber ich beziehe mich dabei vor allem auf Bilder – die Musik lasse ich da außen vor. Sie wollen sich die Musik als rein emotionales Erlebnis bewahren?
Ja, ich will das schützen. Ich brauche einen Raum, in dem ich mich erholen kann, in dem ich etwas einfach nur genießen kann, ohne mir Gedanken darüber zu machen, auch wenn das manchmal schwerfällt. Denn ich bin vollkommen besessen von den Fragen, die ich mir stelle. Bei allem, was mir im alltäglichen Leben begegnet, egal ob es Filme sind, Artikel oder Bilder, stelle ich sofort eine Verbindung zu den Themen her, an denen ich gerade arbeite. Als Sie die Spiegelneuronen entdeckten, waren Sie aber mehr im Labor als im Kino oder
69
Mensch, der genau wusste, was er wollte. Ich zitiere Verdi gern im wissenschaftlichen Zusammenhang. Als es um die Reform des Curriculums für Musikstudenten am Konservatorium in Neapel ging, schrieb er in einem Brief: „Torniamo all’antico e sarà un progresso“ – „Kehren wir zum Alten zurück, und es wird ein Fortschritt sein.“ Das ist natürlich nicht immer wahr, etwa im Hinblick auf Politik (lacht). Als Wissenschaftler jagen wir dem Neuen geradezu obsessiv hinterher. Jeder glaubt, er habe etwas Neues entdeckt. Aber wenn man in die Vergangenheit blickt, merkt man, dass es schon Menschen vor uns gab, die auf dieselben Gedanken gekommen sind wie wir. Das kann bei der Entwicklung neuer Hypothesen sehr helfen. Die historische Perspektive ist für die Wissenschaft unglaublich wichtig.
in Museen. Sie experimentierten mit Affen, denen Sie Erdnüsse vor die Nase hielten.
Sie sitzen jetzt quasi dort, wo damals der Affe war, nur hatte er eine Elektrode im Kopf, was für ihn völlig schmerzfrei war, da es im Gehirn keine Schmerzrezeptoren gibt. Wir untersuchten Neuronen, die die Bewegung der Hand beim Greifen nach einem Objekt steuern. Das Gehirn des Affen war mit einem Monitor verbunden, der ein akustisches Signal sendete, sobald ein Neuron feuerte. Und plötzlich ertönte das Signal, obwohl der Affe gar nicht nach der Nuss gegriffen hatte, sondern nur gesehen hatte, dass einer der Forscher das tat. So stellten wir fest, dass es Neuronen gibt, die beim bloßen Zusehen einer Handlung feuern, wir ↘
nannten sie Spiegelneuronen. In monatelangen Kontrollexperimenten bestätigte sich unser Gefühl, etwas Wichtiges entdeckt zu haben. Zunächst wurden Ihre Forschungsergebnisse nicht ganz ernst genommen, ein paar Jahre später waren sie Popkultur. Spiegelneuronen schienen der Schlüssel zum menschlichen Verhalten, erklärten das Phänomen des Mitgefühls und dessen Abwesenheit. War Ihnen die Stilisierung Ihrer Entdeckung zur Weltformel manchmal unheimlich?
Das war bedauerlich, aber von uns nicht mehr zu kontrollieren. Der Begriff Spiegelneuronen ging in die Alltagssprache ein, kam sogar plötzlich in Romanen vor. Als ein Mann in New York ein ihm unbekanntes Mädchen rettete, das im U-Bahn-Schacht auf die Schienen gefallen war, hieß es in einem Zeitungsbericht: „Nun wissen wir, warum wir altruistisch sind – weil wir Spiegelneuronen haben.“ Das ist eine Schlussfolgerung, die jeder Grundlage entbehrt. Dafür kann man mich nicht verantwortlich machen. Unsere Aufgabe ist es, Experimente durchzuführen, Hypothesen zu erarbeiten, immer neue Fragen zu stellen, die sich aus vorhergegangenen Antworten ergeben. Niemand kann bisher mit Sicherheit sagen, wie das Gehirn arbeitet. Niemand kann behaupten, er verstehe, was Empathie wirklich ist und wie sie zustande kommt. Es gibt unterschiedliche Theorien und unterschiedliche Grauzonen innerhalb jeder Theorie. Die Pop-Qualität der Spiegelneuronen in den Medien wurde letztendlich wie eine Waffe eingesetzt. Gegen ihre Entdecker?
Ja, um uns herauszufordern. Wenn ein Forscher sein ganzes Leben der Überzeugung ist, soziale Kognition sei vor allem eine Sache der Sprache, und dann komme ich daher und sage, das ist noch nicht die ganze Wahrheit, dann wird ihm das garantiert nicht sonderlich gefallen. An der Berlin School of Mind and Brain haben Sie nun mit der Sprachphilosophin Valentina Cuccio einen Essay mit dem Titel „The Paradigmatic Body“ geschrieben. Worum geht es Ihnen darin?
Zunächst einmal haben wir zu beschreiben versucht, was die Neurowissenschaften können und was nicht. Ich fürchte, dass die Neurowissenschaften zu viel versprechen. Die Erwartungshaltung ihnen gegenüber ist riesig, jedes Problem sollen sie lösen, alle Fragen beantworten, vor allem die Fragen, die mit dem Menschen geboren wurden: Was heißt es, ein Mensch zu sein? Was macht uns zu Menschen? Sehr lange Zeit haben wir geglaubt, dass unsere Kognition im Wesentlichen von unserer Sprachfähigkeit abhängt, von hochkognitiven Leistungen wie dem schlussfolgernden Denken. Durch unsere Experimente mit den Affen entdeckten wir aber, dass es Spiegelmechanismen gibt, durch die soziale Kognition ohne Sprache vollzogen wird. Man hat die Spiegelneuronen dann später auch bei Singvögeln und beim Menschen nachgewiesen. Ein simples Beispiel: Sie versuchen, die Flasche hier auf dem Tisch zu erreichen, und ich frage Sie sofort: „Wollen Sie etwas Wasser?“ Um herauszufinden, was Sie wollen, brauche ich nicht erst eine mentale Repräsentation Ihrer mentalen Repräsentationen in meinem Gehirn herzustellen. Das lässt sich mit der Aktivität der Spiegelneuronen erklären. Bekannt wurden Sie auch mit Ihrer Theorie der „Embodied Simulation“ − ein für Laien schwer verständlicher Begriff.
Was ich „Embodied Simulation“ nenne, geht über die Spiegelneuronen hinaus. Es beruht auf der Annahme, dass es in unserem Körper fundamentale Mechanismen gibt, die uns einen direkten Zugang zum Geist anderer erlauben, und zwar nicht durch konzeptuelles Nachdenken, sondern durch direkte Simulation des beobachteten Verhaltens. Das heißt nicht, dass wir die Handlungen des anderen imitieren. Gemeint ist vielmehr, dass wir unsere Umgebung im Gehirn abbilden – und zwar nicht allein mittels sprachlicher Prozesse oder auf den Aktivitäten der Sehnerven beruhender Vorgänge, sondern auch durch Bewegungsneuronen. Bewegungsneuronen sprechen auf visuelle, auditive und auf taktile Reize an. Bei den Affen etwa wurden die Bewegungsneuronen auch dann aktiv, wenn sie uns nur hörten. Die funktionale Architektur der „Embodied Simulation“ scheint eine fundamentale Charakteristik unseres Gehirns zu sein, evolutionär gesehen ist es wahrscheinlich der älteste Mechanismus, um unsere Umgebung, Raum, Objekte, andere Individuen zu erfassen. ↘
70
„Niemand kann behaupten, er verstehe, was Empathie wirklich ist und wie sie zustande kommt.“
71
Zweifeln Sie manchmal an Ihren eigenen Theorien?
Oh ja. Es gibt nicht vieles, von dem ich vollkommen überzeugt wäre. Als Wissenschaftler muss man alles anzweifeln. Aber auf eine Überzeugung könnte ich mein Leben setzen: Wir sind soziale Wesen. Unser Ich, unser Selbst, kann nicht verstanden werden, wenn man ein Individuum vom anderen trennt. Das Selbst und der Andere sind zwei wechselseitig miteinander verbundene und untrennbare Einheiten. „Es gibt kein Ich an sich …“ schreibt Martin Buber, dessen Schrift „Ich und Du“ Sie zitieren.
Ja,1923! Zur selben Zeit erschienen wie Sigmund Freuds „Das Ich und das Es“. Können solche Ich-Du-Beziehungen überhaupt noch existieren in einer Welt digitaler
Der Neurophysiologe Vittorio Gallese ist Professor am Institut für Neurowissenschaften an der Università di Parma. Im Sommer 1991 gehörte er zur Forschergruppe um Giacomo Rizzolatti, die bei Affen die Spiegelneuronen entdeckten. Er ist einer der renommiertesten Experten auf dem Gebiet der Social Cognitive Neuroscience, die das menschliche Verhalten innerhalb der Gemeinschaft erforscht. Als Einstein Visiting Fellow an der Berlin School of Mind and Brain untersucht er die Entwicklung soziokultureller Identität. Gerade hat er zusammen mit dem Filmwissenschaftler Michele Guerra ein Buch über Gefühle bei der Betrachtung von Filmen geschrieben, das voraussichtlich 2017 erscheinen wird: „The Empathic Screen“.
Ich denke, wir sollten uns vor der Digitalisierung nicht fürchten, aber man muss bei den Kindern schon etwas Vorsicht walten lassen. Meine Frau und ich versuchen, die sozialen Medien nicht zu dämonisieren, aber bei uns zu Hause gelten klare Regeln. Unsere Kinder, die Tochter ist zwölf, der Sohn neun, haben nur am Wochenende Zugang zu Computer, Tablets und Playstation. Denn natürlich besteht das Risiko, dass junge Leute komplett in die virtuelle Welt abdriften. Plötzlich sind sie populär, weil sie viele Likes haben, und nicht weil sie gut Ski fahren oder tanzen können. Und Likes und Friends beruhen immer mehr darauf, was du vorgibst zu sein in dieser virtuellen Welt, und immer weniger darauf, wer du in Wirklichkeit bist. Die direkte soziale Interaktion von Angesicht zu Angesicht verschwindet zusehends. Wenn man apokalyptisch sein will, kann man sich eine Welt vorstellen, in der Politik und Menschenrechte an Bedeutung verlieren, weil der Bürger, der sich eigentlich verantwortlich fühlen sollte, einen Zufluchtsort in der virtuellen Welt gefunden hat. Und diese Welt hat er sich auf der Basis seines extremen Narzissmus so eingerichtet, dass alle, mit denen er zu tun hat, genauso sind wie er.
Albert Ich und Du
Kommunikation?
72
Albert fragt …
5/8
Warum ist es so schwer, eine Sucht zu überwinden? Aufgezeichnet von Ragnar Vogt 73
Alle Stoffe, die abhängig machen können, wirken auf das Belohnungssystem im Gehirn, Drogen meist sehr viel stärker als natürliche Reize wie Essen und Sex. Bei Kokain etwa schlägt das Belohnungssystem sechsmal stärker an, als das jemals mit natürlichen Auslösern möglich wäre. Ein Problem von Abhängigen ist, dass Drogen bei Wiederholung in ihrer Wirkung kaum nachlassen. Wenn Sie zehnmal Ihr Lieblingsessen zu sich nehmen, dann nimmt die Begeisterung dafür ab. Bei Drogen ist das nicht der Fall, der Rausch, den sie erzeugen, ist reproduzierbar. Das Hirn reagiert jedoch auf das Dauerfeuer: Es regelt als Gegenmaßnahme die Empfindlichkeit des Belohnungssystems herab. Natürliche Auslöser haben dann kaum noch eine Chance. Man fühlt sich nur noch gut,
wenn man immer mehr von dem Suchtmittel nimmt. Hinzu kommt, dass einige Drogen, etwa Alkohol, das Gehirn schädigen können. Oft sind Bereiche betroffen, die für die Kontrolle des Verhaltens wichtig sind. Die Überwindung einer Sucht ist in jedem Fall eine enorme Aufgabe. Einem langjährigen Alkoholiker fällt es schon allein wegen der Hirnschäden schwer, das zu meistern. Aussichtslos ist es aber keinesfalls, mit einer umfassenden Langfrist-Therapie gibt es gute Erfolgschancen.
Andreas Heinz leitet die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité in Mitte. Er erforscht unter anderem die neurobiologischen Grundlagen von Suchterkrankungen. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina.
Das große Vergessen Wie geht es dir heute? Also mir
geht’s wahnsinnig gut. Ich hab’ mich ins Bett gelegt, habe dies und jenes Positive überdacht, dann muss ich eingeschlafen sein und habe hier drin wohl auch mal kurz geprüft, wie die Luft ist und so weiter. Ich hatte ja heute einen Termin beim Arzt. Bin ein bisschen wirrwarrig, das ist typisch für chaotische Zustände, dann muss ich was Warmes essen oder irgendwas. Ich weiß zum Beispiel heute nicht, wie ich mit dem Auto zum Arzt gekommen bin, das Auto steht doch dort unten. Der Arzt ist zu dir gekommen. Du bist nicht Auto gefahren. Ach, der ist zu mir gekommen.
Ja, welcher Arzt denn? Wie dem auch sei, ich hab mich jedenfalls ins Bett geworfen und habe mir gesagt, in deinem Bett ist solches Chaos, du wirst doch in Ruhe nachher mal aufräumen, zunächst mal in deinem Kopf. Das ist das Wichtigste. An einem schneelosen Sonnabend im November 2013 verliert mein Vater sich selbst. Er will im Badezimmer das Fenster öffnen. Weil es ihm nicht gelingt, nimmt er seinen Spazierstock und will das Glas einschlagen. Meine Mutter versucht ihm den Stock zu entwenden. Er wehrt sich nach Leibeskräften, schafft es, das Fenster zu öffnen und brüllt auf die Straße: „Hilfe, Hilfe, meine Frau will mich umbringen!“ Passanten bleiben stehen, verfolgen die Szene. Ein Nachbar ruft die Feuerwehr. So hat es angefangen. Jedenfalls kam es uns damals so vor, weil sich
die Krankheit zum ersten Mal mit Nachdruck offenbarte. In Wahrheit hatten wir ihren Beginn versäumt. Weil wir zu wenig wussten. Weil wir die Zeichen nicht gelesen hat-
Er bewegt sich in einer Zwischenwelt, voller Ängste und Irritationen ten. Natürlich hatte es Hinweise gegeben. Zum Beispiel im Urlaub ein paar Monate zuvor, der unsere letzte gemeinsame Reise werden sollte. In jenen drei Wochen auf Usedom wollte er nichts unternehmen, aber verlangte oft ängstlich nach unserer Gesellschaft. Ein Strandspaziergang? Ausgeschlossen, er könne nicht gehen. „Ich will nach Hause“, sagte er immer wieder. Aber wo war „nach Hause“? Sechs Wochen später sagt er auch zu Hause, dass er nach Hause wolle. Zuhause ist für ihn kein Ort mehr, sondern eine Befindlichkeit, die er verloren hat. Er ist in sich selbst nicht mehr zu Hause. Wird sich bald mit Toten, die er im Raum wähnt, unterhalten oder von ihnen gestört fühlen. Es macht ihm Angst, wenn er seinen Freund Herbert im Zimmer stehen sieht. Wir sehen Herbert nicht. Und sagen, um ihn zu beruhigen, Herbert möchte sich sicher nur nach ihm erkundigen. Vielleicht aber ist Herbert der Vorbote eines Reiches, das bereits nach ihm gerufen hat. Auf der
Erde ist der Vater nicht mehr hinreichend verwurzelt, aber noch hat er zu viel Kraft, sie zu verlassen. Er bewegt sich in einer Zwischenwelt, voller Ängste und Irritationen. Immer wieder schlägt er meiner Mutter vor, mit ihr zusammen sterben zu wollen. Frage ich in seinen klareren Momenten nach, wird deutlich, dass er sich nicht den Tod wünscht, er will nur nicht dieses Leben. Meine Mutter versucht es hin und wieder burschikos und sagt: „Jetzt wird nicht gestorben, jetzt trinken wir erst mal’n Tee!“ Aber irgendwann gehen auch ihr die Antworten aus.
Der Verstand leistet mehr als das Gedächtnis
Text Andreas Wenderoth
Demenz verschlingt den Menschen von innen. Der Berliner Autor Andreas Wenderoth hat seinen Vater auf dem Weg in das Vergessen begleitet
Es gibt sehr verschiedene Demenzformen, die kombiniert auftreten können. Vaskuläre – gefäßbedingte – Demenz ist nach Alzheimer die zweithäufigste Form und oft die Folge kleiner, oft unbemerkter Schlaganfälle. Dadurch werden die Verbindungen zwischen den Nervenzellen zerstört, sodass die betroffene Hirnregion zu wenig Sauerstoff erhält und die Zellen absterben. Auf kleine Verbesserungen folgen in der Regel Zustände der Verschlechterung, die die vorübergehende Hoffnung, es könnte sich doch zum Besseren wenden, wieder zerschlagen. Im Vergleich zu Alzheimer ist sich der Kranke oft viel länger ↘ → „Ich will Freiheit beim Malen“, so heißt eines der Bücher über Eberhard Warns (EB-Verlag, 2008). Rund 250 Gemälde des demenzkranken Künstlers sind bis zu seinem Tod 2007 entstanden.
74
Darf ich dein Bett ein bisschen höher stellen? Wenn es eine Nuance ist
… Ich warne hier vor gefährlichen Sachen, nicht, es darf kein gefährlicher Murks gemacht werden. Das ist von mir noch nicht erkundet, du siehst ja, das liegt noch alles rum. Ich glaube, es würde dir ganz guttun, wenn ich deine Lehne etwas aufrichte. Das ist wahrscheinlich wahr,
und deswegen werde ich mich jetzt eine halbe Stunde anziehen.
Nun brechen ihm die Anekdoten weg, er verliert seine Haftung, seine Basis Als RIAS -Redakteur, Abteilung Ostpolitik und Kultur, hat mich mein Vater oft mit ins Theater nach Ostberlin genommen. Seine Beiträge hatten eine geschliffene Sprache, er verstand es, Gesellschaften zu unterhalten und mit einer feinen Mischung aus Charme und Selbstironie Zuhörer in den Bann zu ziehen. Nun brechen ihm die Anekdoten weg, er verliert seine Haftung, seine Basis. Aber immer noch versteht er es, sich relativ gut auszudrücken. Mehr noch: Er versucht die Tatsache, dass er nicht mehr so viel zu sagen hat, hinter gesteigerter sprachlicher Eleganz zu verstecken. Bemüht sich, seine Ausfälle wortreich zu kaschieren, Nichtigkeiten in endlosen Wiederholungen Nachdruck zu verleihen, sie zu ummanteln mit den Taschenspielertricks des Redners, der er einmal war. Aber neben der Verschleierung seiner Vergesslichkeit zeugen seine Worte natürlich auch von dem Kampf um ureigenes Terrain: seine Sprache. Seine Fantasie. Den fantasievollen Umgang mit der Sprache. Vordergründig sagt er nun oft lustige Dinge, weil ihn der Wegfall von
Wörtern in eine eigenartige Kreativität zwingt. Fällt ihm ein Begriff nicht ein, muss er anders ausdrücken, was er sagen will. Einmal, als er glaubt, meine Freundin schlecht unterhalten zu haben, bittet er mich, ihr etwas auszurichten. Er sagt einen Satz, der mich in seiner klarsichtigen Poesie erschüttert: „Entschuldige mich bitte für meine Inhaltslosigkeit, aber ich bin nur noch ein halber Held.“ Mein Vater hatte gehofft, dass er ganz diskret aus dieser Welt gezogen werde. Ohne viel Aufhebens. In einer guten Laune vielleicht. In jedem Fall gnädig. Aber nun muss er seinem eigenen stückweisen Sterben zuschauen. Merkt, wie jeden Tag etwas Neues in ihm verloren geht. Diebesbanden wüten in ihm und räumen ihn langsam aus. Seine Fähigkeiten, seine Vorlieben, seine Gedanken, seine Identität. Eigentlich hatte ihm ein sauber geordneter Zeitenwechsel vorgeschwebt. Aber nun hat jemand diese Zeiten in einen Würfelbecher geworfen und kräftig geschüttelt. Er weiß nie genau, wo er gerade herauskommen wird.
Albert Das große Vergessen
seines Zustandes bewusst. Sein Verstand leistet mehr als sein Gedächtnis. Er weiß zumindest vage, was er eigentlich hätte wissen müssen. Das ist das Problem meines Vaters. Am Telefon meldet er sich: „Hier spricht dein verwirrter Vater!“ Die Krankheit, sagt Isabella Heuser, Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité, sei ein „Stück weit schicksalhaft“. Zuverlässig vorbeugen könne man nicht. Gesunde Ernährung, Bewegung, soziale Interaktion und sinnstiftende Tätigkeiten können zu einem gewissen Grad schützen. Gedächtnistraining bringe entgegen einem weitverbreiten Vorurteil leider nichts. Vor 15 Jahren war Heuser noch voller Hoffnung, dass sich im kommenden Jahrzehnt ein Medikament finde, mit dem man der Krankheit wirkungsvoll entgegentreten könne. Sie stand damit nicht allein. Damals, in der Hochphase der Immunisierungstherapien, glaubte man, einem Impfstoff gegen Alzheimer, mit 85 Prozent aller Fälle die häufigste Demenzform, nahe zu sein, Tierversuche waren erfolgreich, Mäuse reagierten hervorragend, aber bei Menschen stellten sich Hirnhautentzündungen ein, die Testreihen mussten abgebrochen werden. Bei Alzheimer gibt es inzwischen vier zugelassene Mittel, mit denen der Krankheitsverlauf leicht verzögert werden kann; aufhalten lässt er sich nicht. Prognosen, wer eine Demenz entwickeln wird, sind schwierig. Nur in etwa einem Prozent aller Fälle wird Alzheimer vererbt, vaskuläre Demenz grundsätzlich nicht. Wohl aber ihre Risikofaktoren: Bluthochdruck, Diabetes und zu hohe Cholesterinwerte. „Wurden alle drei Faktoren ein Leben lang mit Medikamenten scharf eingestellt, gibt es kein erhöhtes Risiko für eine vaskuläre Demenz“, sagt Isabella Heuser. „Ist die Krankheit allerdings erst einmal ausgebrochen, haben wir nichts mehr in der Hand.“
Wollen wir mal auf die Terrasse?
Lass mich das erst überprüfen, wenn ich mich hierhin gesetzt habe. Willst du den Anorak haben? Wir werden das sehen, ohne getrieben zu werden. Willst du deine Mütze? Ohne Kopfbedeckung, das ist nun ganz schleierhaft! Brauchst du noch einen zusätzlichen Stock? Wenn ich auf der Terrasse liege, werden wir’s sehen … Das machst du gut. Na, gut ist falsch übertrieben … Wie lang muss ich denn noch rumlaufen? Ich will jetzt wieder rein. Ist es erlaubt?
Andreas Wenderoth ist Autor in Berlin. Er schreibt unter anderem für GEO, Stern und die Berliner Zeitung. Sein Buch „Ein halber Held. Mein Vater und das Vergessen“ ist 2016 im Blessing Verlag erschienen.
76
Lichtblicke Medikamente gegen Demenzen zielen bisher lediglich auf Symptome und verzögern den Krankheitsverlauf bestenfalls um einige Jahre. Berliner Forscher setzen auf unterschiedliche Strategien, um Fortschritte zu erzielen
Ein Farbstoff gegen Faserbündel
Text Christian Wolf
Vielversprechend ist ein Versuch, bei den Ursachen von Demenzen anzusetzen. Dafür kommt ein alter Verdächtiger infrage: das Tau-Protein1. Es sammelt sich bei bestimmten demenziellen Erkrankungen zu unauflöslichen gedrehten Faserbündeln im Inneren der Neuronen an. In der Folge sterben die Nervenzellen ab. Das gilt nicht nur für die Alzheimer-Erkrankung, bei der Neuronen im für das Gedächtnis wichtigen Hippocampus 2 untergehen. Es trifft auch auf die seltenere Frontotemporale Demenz 3 zu. Hierbei sind zunächst vor allem Nervenzellen im Stirnund Schläfenbereich betroffen, die für Emotionen und Sozialverhalten eine entscheidende Rolle spielen. Ein vielversprechender Ansatz versucht nun, das Verklumpen bei Alzheimer und Frontotemporaler Demenz zu blockieren. Schon Ende der 1980er Jahre hatte man eher zufällig entdeckt, dass ein Tropfen des für Laborexperimente verwendeten Farbstoffs Methylenblau 4 die Tau-Bündel in einem Teströhrchen auflöste. Aktuell läuft eine große internationale Studie zur Wirksamkeit dieser Substanz bei Alzheimer. Mit dabei: die Berliner Charité.
Schädliche Antikörper aufspüren
77
Neueren Ursprungs ist die Entdeckung, dass Antikörper eine ursächliche Rolle bei Demenzen spielen können. Durch ein aus dem Gleichgewicht geratenes Immunsystem bilden sich Antikörper gegen das eigene Hirngewebe, die zum Tod von Nervenzellen führen. Die Symptome umfassen schwerwiegende Gedächtnisstörungen und ähneln einer neurodegenerativen Krankheit wie der AlzheimerErkrankung oder der Frontotemporalen Demenz. Am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen Berlin arbeiten mehrere Forschergruppen daran, weitere Varianten von Antikörpern ausfindig zu machen, die eine schädliche Wirkung auf Nervenzellen haben könnten. Das
Ziel ist es letztlich, solche Antikörper mit einer Immuntherapie zu behandeln. Bei dieser Blutwäsche werden sie aus dem Blut entfernt. Die Behandlung kommt heute bereits bei klarem Antikörperbefund erfolgreich zum Einsatz. Antikörper waren auch für den Tod des bekannten Eisbären Knut im Zoologischen Garten Berlin verantwortlich, er litt an einer Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis (siehe dazu „Knuts Vermächtnis“ ab Seite 30).
Biomarker zur Früherkennung identifizieren Eine weitere Strategie gegen Demenzen ist es, mithilfe der Früherkennung eine medikamentöse Behandlung einzuleiten, bevor große Teile des Gehirns geschädigt sind. In einer Langzeitstudie unter Mitwirkung der Charité werden Personen über einen Zeitraum von zehn Jahren begleitet, um zu schauen, bei welchen sich aus einer leichten kognitiven Störung, einem frühen Demenzstadium, Alzheimer entwickelt. Das Ziel ist es, Biomarker zu identifizieren, also biologische Kennzeichen mit diagnostischer Aussagekraft. Davon erhofft man sich eine präzise Voraussage der Alzheimer-Erkrankung. Einer der Biomarker im Visier der Berliner Forscher ist das Volumen des Hippocampus. Diese Hirnregion ist für das Gedächtnis wichtig und bei Alzheimerpatienten substanziell verringert (über einen weiteren Berliner Ansatz zur Bekämpfung von Demenz mittels Spermidinen erfahren Sie mehr ab Seite 58). ➊ Tau-Proteine halten Zellskelett in Form, indem sie den Zusammenbau der Gerüststrukturen von Nervenzellen regulieren. Doch sie können verklumpen, was dazu führt, dass Transportprozesse behindert werden und die Nervenzelle abstirbt ➋ Der Hippocampus ist eine bogenförmige Struktur in der Gehirnmitte. Als eine Art Gedächtnishüter entscheidet er unter anderem, welche Informationen wir speichern und welche wir vergessen ➌ Frontotemporale Demenz oder Pick-Krankheit ist eine Form der Demenz, bei der es zu einem Abbau von Nervenzellen im Stirnund Schläfenbereich kommt, wo unter anderem das Sozialverhalten und Emotionen kontrolliert werden. Neben Alzheimer, Vaskulärer Demenz, der Lewy-Körperchen-Demenz und Demenz im Zusammenhang mit Parkinson zählt sie zu den häufigsten Demenzformen ➍ Methylenblau ist ein Farbstoff, der seit dem 19. Jahrhundert bekannt ist und unter anderem in der mikroskopischen Diagnostik zum Einsatz kommt.
Underdog Gliazelle Gliazellen sind so unentbehrlich wie Neuronen. Doch ihre Sprache haben wir lange nicht gehĂśrt. Helmut Kettenmann Ăźber die Zellen seines Lebens
Dass ich mich seit dem Studium mit Gliazellen beschäftige, ist das Ergebnis eines Zufalls. Ich hatte einfach die falschen Zellen in meiner Kultur. Eigentlich sollte ich für meine Abschlussarbeit Aktionspotenziale von Motorneuronen elektrophysiologisch ableiten, also von Nervenzellen, die unsere Muskulatur steuern. Das funktionierte aber mit den Zellen in meiner Kultur nicht. Um Glia-
schen, der aus einer Million solcher Verbindungskabel besteht, wäre bei dieser Lösung allerdings 75 Zentimeter dick. Unser ganzes Gehirn hätte dann einen Durchmesser von zehn bis zwanzig Meter. Oder man tut es den Fischen gleich, die vor 500 Millionen Jahren mit der Ausbildung von Oligodendrozyten einen anderen Weg gefunden haben. Diese Gliazellen bilden eine isolierende
„Meine Kollegen fanden das Thema zunächst exotisch. Der Kettenmann und seine Gliazellen!“
Aufgezeichnet von Jana Schlütter 79
zellen konnte es sich nicht handeln, schließlich reagierten sie auf chemische Botenstoffe des Gehirns. Und Informationen zu verarbeiten, galt damals – Ende der 1970er Jahre – noch als alleinige Aufgabe von Neuronen. Gliazellen billigte man nur eine Stützfunktion im Hirn zu. Ich war verwirrt. Was hatte ich da in der Petrischale? Glücklicherweise arbeitete eine Kollegin an der Universität Heidelberg gerade an Antikörpern, die bestimmte Gliazellen identifizieren können. Es stellte sich heraus: Es waren Oligodendrozyten – also doch Gliazellen, nur eine besondere Art. Heute halte ich Oligodendrozyten für die bedeutendste Erfindung der Wirbeltiere. Wenn man Signale im Gehirn schnell weiterleiten will, kann man es entweder so machen wie der Tintenfisch. Wenn man bei ihm einen Fluchtreflex auslöst, wird das über ein Riesenaxon vermittelt, das einen Millimeter Durchmesser hat. Allein der Sehnerv des Men↖ Grazile Erscheinung: Durch Einfärbung mit dem Pflanzengift Phalloidin werden feinste Strukturen des Zellskeletts einer Gliazelle sichtbar.
Myelinschicht um die Axone und erhöhen damit die Leitungsgeschwindigkeit im zentralen Nervensystem. Meine Kollegen fanden das Thema zunächst exotisch. Der Kettenmann und seine Gliazellen! Bei den ersten Befunden haben sie noch an ein Zellkultur-Artefakt geglaubt. Dann hieß es: Ganz nett, aber ziemlich irrelevant. Mich hat das eher angespornt. Ich sehe die Welt aus der Sicht des Biologen. Wenn ein Organismus Energie für die Hälfte seiner Hirnzellen aufbringt, dann macht er das nicht, ohne dass diese Zellen auch eine Funktion haben. Eine solche Verschwendung hätte die Evolution längst bereinigt. Für mich hat sich damals ein neues Forschungsfeld aufgetan. Mit etwas Verzögerung hat es viele andere Forscher angezogen und ist richtig explodiert. Rudolf Virchow gab 1856 den Gliazellen ihren Namen. Er sah sie als Nervenkitt, als Stütze und Versorger im Hirn. Doch heute wissen wir, dass Astrozyten – eine sehr vielfältige Art von Gliazellen – Informationen im Gehirn über Kalziumsignale weitergeben. Das geht langsamer als bei
Neuronen, könnte aber bei Erkenntnisprozessen eine Rolle spielen. Übrigens zeigen auch Hirnscan-Bilder, was Gliazellen sonst noch machen, sie regeln unter anderem Veränderungen des Blutflusses. Und den misst man bei den Scans. Wir interessieren uns im Moment besonders für Mikroglia. Die werden immer dann aktiv, wenn das Gehirn bedroht ist. Allerdings ist das kein An-Aus-Schalter, sondern variiert je nach Schaden und Krankheitsphase. Wir wollen wissen, welche Rolle diese Gliazellen bei Alzheimer spielen, bei Schizophrenie oder Autismus. Warum sie Hirntumore sogar unterstützen und wie man sie daran hindern kann, das zu tun. Mikrogliazellen kappen zudem Verbindungsstellen zwischen Nervenzellen. Das muss kein pathologischer Prozess sein, sondern hilft dem Gehirn, sich zu wandeln: alte Synapsen zu entsorgen, neue zu schaffen. Forschung ist eine Reise ins Unbekannte. Man weiß nie, was auf einen zukommt. Der Zufall spielt dabei eine große Rolle – etwa, wenn bei einem Experiment Unerwartetes passiert. Man muss sorgfältig arbeiten und unvoreingenommen an die Daten herangehen. Und erkennen, ob es sich lohnt, an einem Rätsel weiterzuarbeiten.
Dass Gliazellen inzwischen aus dem Schatten der Neuronen herausgetreten sind, ist nicht zuletzt Helmut Kettenmann zu verdanken. Er kam 1991 ans Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin (damals Akademie der Wissenschaften) und hat dort den Bereich der Neurowissenschaften aufgebaut. Seit 1996 ist er Professor für Zelluläre Neurobiologie an der Charité.
Zwei Forscher, eine Stadt
Wie lange bist du jetzt schon in Berlin? H O R S T M E Y E R Seit Ende März, vorher habe ich in Los Angeles meine Doktorarbeit geschrieben. R E M M E Auf welchem Gebiet? H O R S T M E Y E R Im Fachbereich Elektro-Ingenieurwesen. Davor habe ich Physik und Computerwissenschaften studiert, aber am meisten beschäftige ich mich mit Optik. Hier in Berlin helfe ich dabei, neue Mikroskope für die Neurowissenschaften zu entwickeln. R E M M E Was sind das für Mikroskope? H O R S T M E Y E R Es sind Zweiphotonenmikroskope. Mit denen versuchen wir tief ins Gehirn zu schauen. Doch je tiefer man ins Gewebe vordringt, desto stärker streut das Licht und desto schwieriger wird es zu fokussieren. Schon nach wenigen Hundert Mikrometern ist das Bild ziemlich schlecht. Niemand hat bisher die Aktivität von In-vivo-Neuronen abgebildet, die tiefer als einen Millimeter im Gehirn liegen. REMME
Unser Ziel ist es, immer mehr tieferliegende Neuronen in hoher Auflösung abzubilden. Dafür entwickeln wir die Optik und verarbeiten die Daten am Computer. R E M M E Ich nutze Daten, die mit sehr ähnlichen Technologien gewonnen werden. Ich modelliere und nutze Mathematik, um die Dynamiken hinter den Prozessen der Informationsverarbeitung im Gehirn zu verstehen. Dabei schaue ich auf einzelne Neuronen oder kleine Netzwerke von Neuronen und untersuche, wie elektrische Ströme durch Zellmembranen fließen. H O R S T M E Y E R Mit unseren Mikroskopen kann man die Nervenzellen dazu bringen aufzuleuchten, wenn sie auf diese Weise aktiv sind. Man kann sie quasi strahlen sehen. R E M M E Dabei kommen wirklich schöne Bilder heraus – einzelne Zellen, die erstrahlen und wieder in der Dunkelheit verschwinden.
Interview Mirco Lomoth
Fotos Pablo Castagnola
Roarke Horstmeyer entwickelt Mikroskope, um ins Gehirn zu schauen, Michiel Remme Computermodelle, um Hirnprozesse besser zu verstehen. Beide sind als Einstein Fellows nach Berlin gekommen. Albert hat sie auf einen Ausflug in den Treptower Park begleitet
80
„Ich lebe mit meiner Familie nah am Treptower Park und komme oft her. Ich liebe diesen Park, weil er so viele schöne Ecken hat. Auf der Insel der Jugend kann man in aller Ruhe am Wasser sitzen und einen Kaffee trinken. Und im Plänterwald nebenan läuft man ewig durchs Grüne. Für mich ist es immer ein bisschen wie Urlaub, hierherzukommen.“ Michiel Remme ↗ 82
„Teleskope haben mich schon immer fasziniert. In Kalifornien habe ich bei der NASA gearbeitet. Wir haben Informationen aus weit entfernten Nebeln im All eingesammelt, um zu verstehen, woraus diese bestehen, wie sie wachsen und wie sie sterben. Astronomen bedienen sich vieler Tricks, die wir auch für unsere Mikroskope nutzen, um ins Gehirn zu schauen. Mir gefällt die Analogie, dass Neuronen den Sternen gleichen.“ Roarke Horstmeyer ↘
Albert Zwei Forscher, eine Stadt 83
Der Große Refraktor der Archenhold-Sternwarte im Treptower Park ist das längste bewegliche Linsenfernrohr der Welt. Im Gebäude, das heute ein Astronomie-Museum ist, hielt Albert Einstein am 2. Juni 1915 seinen ersten öffentlichen Vortrag über die allgemeine Relativitätstheorie.
„Meine Frau und ich verbringen viel Zeit damit, die Stadt zu erkunden. Wir probieren ständig neue Cafés und Bars aus oder gehen zum Tischtennisspielen in den Park. Mich beeindruckt besonders, wie viele Gesichter Berlin hat.“ Roarke Horstmeyer ↗
„Berlin ist für mich neben London und Paris der interessanteste Ort für Neurowissenschaftler in Europa. Es gibt eine hohe Konzentration von Neurowissenschaftlern, die an sehr unterschiedlichen Fragen arbeiten. Für meine theoretische Arbeit ist der Exzellenzcluster NeuroCure mit seinen vielen experimentellen Gruppen besonders anregend.“ ↖ Michiel Remme 84
Roarke Horstmeyer ist Elektro-Ingenieur am Judkewitz Lab an der Charité. Er ist in Kalifornien aufgewachsen, hat an der Duke University in Durham und am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge studiert und am California Institute of Technology in Pasadena promoviert. Im März 2016 ist er als Einstein International Postdoctoral Fellow nach Berlin gekommen. Er lebt mit seiner Frau im Wedding. Michiel Remme ist Neurobiologe am Institut für Theoretische Biologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist in Haarlem in den Niederlanden aufgewachsen, hat an der Universiteit van Amsterdam studiert und danach an der École Normale Supérieure in Paris sowie an der New York University geforscht. Von 2012 bis 2015 war er Einstein International Postdoctoral Fellow.
85
also in das Nachdenken über uns selbst eingebunden sind. Je stärker diese Regionen vernetzt sind, desto mehr Nachrichten über sich selbst veröffentlicht jemand auch in den sozialen Medien.
Herr Meshi, Sie interessieren sich für eine Hirnregion, die eine Schlüsselrolle im sogenannten Belohnungssystem spielt. Stimmt es, dass der Nucleus accumbens auf Sex und Essen genauso reagiert wie auf ein Facebook-„Like“? Noch hat niemand ein-
Und beim Lob käme dann Facebook ins Spiel. Facebook und andere so-
ziale Medien liefern uns eine neue Technologie für ein uraltes Verhaltensmuster. Unsere Vorfahren haben vom sozialen Austausch ganz konkret profitiert: Sie kamen leichter an Nahrung und waren besser vor Fressfeinden geschützt. Die Evolution hat davon übrig gelassen, dass unser Gehirn soziale Interaktion und Verbindungen belohnt – etwa wenn jemand mich versteht oder mir zustimmt. Genau dafür sind wir heute auf Facebook: um Komplimente zu bekommen und unseren Ruf zu managen. Wie ist das bei Ihnen – wozu nut-
Wenn sich herausstellen sollte, dass ein „Like“ das Belohnungszentrum
Like! Wer in sozialen Medien postet, hofft auf Komplimente und Anerkennung. Dar Meshi untersucht, welche Hirnregionen dafür verantwortlich sind
Keine Urlaubsfotos? Keine Selfies?
Ich glaube, ich bin dort weniger aktiv als die meisten meiner Freunde. Das war übrigens eine der Fragen, die mich zu meinen Studien geführt haben: Ich wollte wissen, was manche Leute dazu bringt, viel in sozialen Netzwerken zu veröffentlichen, und andere eben nicht. Sie haben dafür die Hirnaktivitäten von Leuten gemessen, die ein Kompliment bekamen … Richtig, wir ha-
ben den Probanden damals Kompli-
zip auch überlisten und absichtlich nicht geschmeichelt sein? Sie kön-
nen ja mal versuchen, auf Belohnungen nicht anzuspringen – das wäre ziemlich anstrengend. Wenn ich Ihnen jetzt 100 Euro schenke, würde es Ihnen vermutlich schwerfallen, sich nicht belohnt zu fühlen. Auch ein soziales Lob würde diese Reaktion auslösen. Skeptiker befürchten ja, platt gesagt, dass Facebook oder Snapchat uns verblöden lassen. Gibt es Erkenntnisse, dass die Nutzung sozialer Medien das Gehirn tatsächlich verändert? Na-
mente gemacht, die mit ihrem Ruf zu tun hatten – „Du bist ehrlich“, „Du bist hübsch“, solche Sachen – und gemessen, wie ihr Gehirn darauf reagierte. Danach haben wir sie befragt, wie intensiv sie Facebook nutzten.
zen Sie selbst Facebook? Ach, ich
poste überwiegend wissenschaftliche Artikel.
aktiviert – könnte man dieses Prin-
Und gab es da einen Zusammenhang?
türlich verändert sich unser Gehirn, wenn wir Facebook nutzen – weil es dabei lernt und assoziiert. Aber das geschieht auch, wenn wir zur Arbeit gehen, Auto fahren oder jetzt hier miteinander reden. Die wichtige Frage lautet: Sind das schlechte Veränderungen oder gute? Wir wissen es einfach noch nicht.
Interview Daniel Kastner
deutig nachgewiesen, dass ein „Like“ tatsächlich das Belohnungssystem aktiviert – auch wenn das sehr wahrscheinlich ist. Das System springt immer dann an, wenn wir etwas erhalten oder uns auf etwas freuen. Das kann Essen sein, Sex oder ein Lob.
Allerdings: Je sensibler der Nucleus accumbens einer Person für solche Komplimente war, desto intensiver nutzte sie nach eigenen Angaben soziale Medien. In Ihrer jüngsten Studie haben Sie dann untersucht, was im Gehirn passiert, wenn wir bei Facebook persönliche Dinge posten. Was haben Sie herausgefunden? Im Belohnungszen-
trum selbst konnten wir keinen Unterschied feststellen – aber wir haben ein Netzwerk von Hirnregionen entdeckt, die mit selbstbezogenen Informationen in Zusammenhang stehen,
Dar Meshi erforscht die Verarbeitung sozialer Informationen im Gehirn und nutzt soziale Medien, um Einblicke in sozial-kognitive Prozesse und neuronale Systeme zu gewinnen. Meshi ist Postdoktorand im Arbeitsbereich Biologische Psychologie und Kognitive Neurowissenschaft an der Freien Universität Berlin. Neben Facebook nutzt er gerne Instagram, seine Accounts bei Twitter und Snapchat liegen jedoch meist brach.
86
Albert fragt …
6/8
Kann ich mich bei Entscheidungen auf meine Intuition verlassen? Aufgezeichnet von Ragnar Vogt 87
Das kommt darauf an. Nehmen Sie zum Beispiel einen Headhunter mit jahrzehntelanger Erfahrung. Der kann sich bei der Beurteilung einer Führungskraft auf seine Intuition verlassen. Muss derselbe Headhunter dagegen Finanzdinge entscheiden, womit er keine Erfahrung hat, dann ist seine Intuition kein guter Ratgeber. Dann braucht er bewusstes Abwägen. Ein Teil des Wissens ist unterbewusst gespeichert. Darauf kann man nur über die Intuition zugreifen, nicht über bewusstes Abwägen. Wer also über viele Erfahrungen verfügt, sollte sich auf seine Intuition verlassen. Tut er es nicht, ignoriert er einen Teil seines Erfahrungswissens. Intuitiv spürt man schnell, was richtig ist, kann es aber nicht begründen. Das Problem im Berufsalltag ist, dass oftmals Begründungen erwartet wer-
den. Wir haben in einer Studie herausgefunden, dass Führungskräfte etwa die Hälfte ihrer Entscheidungen aus dem Bauch heraus treffen. Aber sie haben Angst, dies in der Öffentlichkeit zuzugeben. Also stellt man eine Unternehmensberatung ein, die im Nachhinein Gründe findet, damit man die Bauchentscheidung als eine faktenbasierte Entscheidung darstellen kann. Das ist Verschwendung von Zeit, Intelligenz und Geld – nur weil man Angst hat, die Verantwortung für die eigene Intuition zu übernehmen.
Gerd Gigerenzer ist Direktor am MaxPlanck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Sein Schwerpunkt ist die Erforschung der Intuition. 2014 erschien sein Buch „Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft“ (btb).
Psychiater ohne Grenzen
Der Neurologe, Psychiater und Philosoph Andreas Heinz erforscht die Auswirkungen von Migration, Flucht und Ausgrenzung auf die Psyche und engagiert sich fĂźr FlĂźchtlinge in Berlin
88
Text Christina Bylow 89
Mit seinen Türmchen und dem Renaissance-Giebel sieht der rote Backsteinbau wie eine Mischung aus Kaserne und Kathedrale aus, typisch für die Gründerzeit. Freistehend und mit viel Grün rundum residiert die Psychiatrie auf dem historischen Gelände der Charité in Berlin-Mitte. Die zentrale Lage war fortschrittlich um 1900, als „Irre“ eher am Stadtrand verwahrt wurden, weggesperrt aus dem Blickfeld der Bürger. Die Tür der „Psychiatrischen U. Nervenklinik“, so die schlichte Inschrift über dem Portal, steht offen – wie die meisten Türen in diesem Gebäude. Die Öffnung der Stationen setzte Andreas Heinz Schritt für Schritt um, nachdem er 2002 zum Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité berufen wurde. Sein Büro liegt zwischen den Stationen 152 a und 153. Das Plakat einer MarkRothko-Ausstellung hängt an der Tür zum Sekretariat. Andreas Heinz, ein schlanker Mann in dunklem Anzug und hellem Hemd, schließt die von innen gepolsterte Tür zwischen seinem Büro und dem Vorzimmer auf und lässt sich auf einem der schwarzen Ledersessel vor dem Besprechungstisch nieder. Er strahlt Geduld aus, aber auch die leichte Ermattung eines Menschen, der einen langen Tag hinter sich hat. Es ist früher Abend, blasses Licht dringt durch die großen Fenster, draußen im Garten gehen Patienten spazieren. In schnell aufeinanderfolgenden Sätzen schlägt Andreas Heinz Verbindungslinien zwischen Geistes- und Naturwissenschaft, Philosophie und Neurobiologie, Sozialpolitik und Medizingeschichte, wie es nur jemand vermag, der sein Tun ganzheitlich begreift. In seinem 2014 erschienenen Buch „Der Begriff der psychischen Krankheit“, seiner philosophischen Dissertation, lässt sich dieser Denkansatz nachvollziehen. Heinz stellt darin den Krankheitsbegriff in politische, ethische und anthropologische Bezüge und warnt angesichts immer neuer Krankheitsklassifikationen davor, jeden menschlichen Leidenszustand zu pathologisieren. Und er beklagt die Tendenz, psychisch schwer erkrankten Menschen zu wenig erforderliche Unterstützung zukommen zu lassen. In einem Radiointerview sagte Heinz: „Wer jung und arbeitsfähig ist, der bekommt eine Therapie. Wer wirklich schwer krank ist, wird nicht ausreichend behandelt – das Gesundheitssystem ist ungerecht.“
↖ Malen als Ausdruck von Hoffnung: Bilder von Flüchtlingskindern in der Eingangshalle der Notunterkunft Kruppstraße in Alt-Moabit
Andreas Heinz wird hellhörig, wenn irgendwo Menschenverachtung und Abwertung mitschwingen, sei es offen oder subtil Andreas Heinz, 1960 in Stuttgart geboren, gehört zu den Vertretern einer kritischen Neurowissenschaft. Kritisch, weil sie die anthropologischen Modelle auf den Prüfstand stellt, die ihr zugrunde liegen, kritisch auch, weil sie die Verstrickung der Psychiatrie in politische Interessen untersucht und anprangert. Heinz nennt ein Beispiel: „Denken Sie an die Behauptungen bestimmter Genetiker – ebenfalls ein Feld der Psychiatrie – zu angeblichen Korrelationen zwischen Intelligenz und ethnischer Zugehörigkeit. Die Hautfarbe ist ein sehr begrenzter Prädiktor für weitere Informationen. Wir haben dazu viele Studien gemacht. Aber solche Thesen flossen in den USA in die Sozialpolitik ein, lieferten die Argumente für drastische Kürzungen von Sozialhilfe für bedürftige Afroamerikaner.“ Genau das ist das fragwürdige Fundament, das sich Thilo Sarrazin für sein umstrittenes Buch „Deutschland schafft sich ab“ aneignete. Heinz hat in dem Buch „Einwanderung – Bedrohung oder Zukunft“ 2012 auf die gravierenden methodischen Mängel in Sarrazins Ausführungen hingewiesen. Und er schrieb ihm persönlich. Eine Antwort bekam er nie. Andreas Heinz wird hellhörig, wenn irgendwo Menschenverachtung und Abwertung mitschwingen, sei es offen oder subtil. Das hat vermutlich auch etwas mit seinem Aufwachsen zu tun, als Sohn einer Berlinerin und eines Schwaben, als Enkel von Großeltern, die über Schlesien aus Berlin geflohen waren. „Dann bisch du ja ein Baschtard“, zitiert Heinz den Spruch eines Nachbarsjungen in Stuttgarter Originalton. Bei allem Humor, mit dem Heinz die eigene Erfahrung betrachtet: Die brutale Ausgrenzung von Vertriebenen und Flüchtlingen beschönigt er nicht: „An der Hauswand hing eines Tages ein Zettel: ‚Das Flüchtlingspack soll sich hinscheren, wo es herkommt‘. Die Nachbarn waren damals so unangenehm gegenüber den Flüchtlingen, wie es viele heute auch sind.“ Jahrzehnte später suchen wieder Hunderttausende von Geflüchteten in Deutschland Schutz. Andreas Heinz reagiert schnell. Er reiste 2011 mehrmals nach Kabul, um Ärzte, Krankenschwestern und psychosoziale Helfer auszubilden. „Dort herrscht nach über 30 Jahren Krieg eine Kultur der Gewalt. Mehr als die Hälfe der Bevölkerung ist traumatisiert, aber in der Dreimillionenstadt Kabul gibt es gerade einmal 220 Betten in den beiden psychiatrischen Kliniken.“ Mit dem Aufbau von grundlegenden Versorgungsstrukturen unter extremen Bedingungen ist ↘
Heinz seitdem vertraut. Im Sommer 2015, auf dem Höhepunkt des Flüchtlingszustroms, greift er auf Erfahrungen und Mitstreiter aus der Zeit in Kabul zurück. Zusammen mit dem israelischen Kollegen Rony Berger und der Psychologin Inge Missmahl, mit der Heinz in Kabul zusammengearbeitet hat, entwickelt er ein Selbsthilfeprogramm. „Es ging zunächst um einfache Entspannungsübungen, denn auf einer grundlegenden Ebene hilft es allen Menschen, wenn sie selber etwas tun können. Natürlich gibt es Grenzen, man sollte solche Übungen nicht überschätzen, wenn es um starke Ängste geht. Wir haben versucht, den Menschen etwas an die Hand zu geben, und sie darin unterstützt, ihre Kenntnisse an andere weiterzugeben. Flüchtlinge spüren dabei auch ihre Ressourcen.“
Wie wirken sich die Flucht und das Dasein in den Unterkünften auf die psychische Gesundheit aus? Im Februar 2016 richtet er zusammen mit Kollegen am LaGeSo (Landesamt für Gesundheit und Soziales) in Berlin-Moabit eine psychologische Anlaufstelle für Flüchtlinge ein. Dort sind zwei Psychiater und ein Kinder- und Jugendpsychiater mit Dolmetschern vor Ort, klären akute Probleme und vermitteln an psychosoziale
Beratungsstellen oder auch Kliniken weiter. Etwa zehn bis 20 Prozent der Flüchtlinge, schätzt Heinz, brauchen psychologische Hilfe. „Aber man starrt bei den Flüchtlingen zu sehr auf die Traumata, dabei kommen hier Menschen an, die psychische Erkrankungen haben wie andere Menschen auch.“ Psychosen, Depressionen, Suchterkrankungen. Die Fixierung auf Traumata führe dazu, dass Symptome falsch eingeordnet würden. Heinz erlebte eine Frau mit schwerer Antriebslosigkeit, vielleicht depressiv. Tatsächlich litt sie an einer Schilddrüsenfunktionsstörung, auf dem langen Weg konnte sie ihre Medikamente nicht regelmäßig nehmen, sie war schlicht nicht mehr eingestellt. „Wir hatten einen jungen Mann, der verzweifelt nach seinem Bruder suchte, er war getrieben, angsterfüllt. Die Erstaufnahmestelle schickte ihn in die psychiatrische Ambulanz, dort stellt sich heraus, dass gar kein psychiatrisches Problem vorlag. Der Mann hat eine leichte geistige Behinderung, er wurde zu Hause von seinem Bruder betreut, aber während der Flucht von ihm getrennt.“ Inzwischen lebt er in einer Behinderteneinrichtung. Wie wirken sich die Flucht und das Dasein in den Unterkünften auf die psychische Gesundheit aus? Heinz antwortet dieses Mal aus neurobiologischer Sicht: „Fast alle psychischen Erkrankungen sind die Folgen eines
Albert Psychiater ohne Grenzen
Kicker statt Privatsphäre: In vielen Notunterkünften haben Flüchtlinge kaum Rückzugsmöglichkeiten. Das kann Stress und psychische Erkrankungen auslösen.
90
Zusammenspiels von Umweltfaktoren und erblichen Vulnerabilitäten, die aber stärker in die Epigenetik hineinreichen, als man das bisher bedacht hat, also umweltabhängig getriggert werden. Und das verschlechtert ganz viele Erkrankungen.“ Eine zentrale Rolle spielen dabei die als Glücksbotenstoffe populär gewordenen Neurotransmitter Dopamin und Serotonin. Beide sind zuständig für die Regelung zahlreicher lebenswichtiger Funktionen, beide haben starke Auswirkungen auf den psychischen Zustand. Dopamin beeinflusst Psychosen, Serotonin Depressionen. „Das dopaminerge System ist extrem stressmodulierbar. Das serotonerge System kann durch Isolation nachhaltig verändert werden“, erklärt Heinz. Stress entsteht überall, in Turnhallen, in denen mittels Bettlaken und Decken notdürftig ein wenig Sichtschutz gebaut wird. Während tagelangem Anstehen, aus Wut über enttäuschte Erwartungen, durch die Trennung von Angehörigen. An der Charité leitet Andreas Heinz die Abteilung „Migration und Gesundheit“. In der Forschungsgruppe, der neben Psychiatern, Psychologen und Neurologen auch Medizinanthropologen und Ethnopsychoanalytiker angehören, geht es immer auch darum, wie sich sozialer Ausschluss auf die Gesundheit von Menschen auswirkt. „Isolation macht krank. Das wurde selbst bei Experimenten mit Affen nachgewiesen, isolierte Affen griffen häufiger zu Futter, das mit Drogen versetzt war.“ Wer Unterschiede zwischen Menschen vor allem in der Herkunft zu finden meint, befördere die Ausgrenzung. „Natürlich gibt es biologische Unterschiede zwischen Menschen, und es gibt auch kleine Marker, die auf die regionale Herkunft verweisen, aber Menschen aus anderen Ländern sind nicht grundsätzlich anders als wir, und deshalb kann mich möglicherweise eine Bluttransfusion von einem Afrikaner retten und die eines Deutschen umbringen.“ Andreas Heinz hat in Interviews immer wieder auf die extremen Lebensumstände von Flüchtlingen hingewiesen. Die Kommentarspalten dazu sind voller Neid auf die Hilfe, die „denen“ zuteilwird. Andreas Heinz liest so etwas nicht.
91
Andreas Heinz ist seit 2002 Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Transkulturelle Psychiatrie, Medizinanthropologie, Neurobiologische Korrelate psychischer Störungen und Abhängigkeitserkrankungen. Er ist Mitherausgeber des Lehrbuchs „Praxis der interkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie: Migration und psychische Gesundheit“ (Urban & Fischer, Elsevier, 2011).
Impressum Albert Das Journal der Einstein Stiftung Berlin Ausgabe Nr. 2 Neurowissenschaften Herausgeber Einstein Stiftung Berlin Jägerstraße 22 /23 10117 Berlin einsteinfoundation.de Redaktion Christian T. Martin (verantw.), Mirco Lomoth Kontakt T +49 30 20 370 248 F +49 30 20 370 377 albert@einsteinfoundation.de albert-journal.de Gestaltung Fons Hickmann m23 GmbH Fons Hickmann, Bjoern Wolf, Raúl Kokott, Piotr Zapasnik Lektorat Anne Vonderstein Journal-Beirat Michael Pauen, Dietmar Schmitz, Ursula-Friederike Habenicht Autoren Christina Bylow, Ulrich Dirnagl, Matthias Eckoldt, Felix Hasler, Till Hein, Martin Kaluza, Daniel Kastner, Helmut Kettenmann, Mirco Lomoth, Dietrich von Richthofen, Jana Schlütter, Linda Faye Tidwell, Kristina Vaillant, Ragnar Vogt, Andreas Wenderoth, Christian Wolf Bildnachweise Titel: Kunstwerk des in Berlin lebenden dänischen Künstlers Jeppe Hein „You make me wonder“ (2014), Abdruck mit freundlicher Genehmigung von König Galerie / Berlin, 303 Gallery / New York, und Galleri Nicolai Wallner / Copenhagen, Foto: Studio Jeppe Hein, S. 4 Florian Büttner, Heinrich Holtgreve, picture alliance, S. 5 Eberhard Warns, Jochen Meier / MDC, Pablo Castagnola, Archiv H. Kettenmann, S. 6 Jochen Meier / MDC S. 7 Christin Stottmeister / MDC S. 8 Laura Korvers / MDC S. 9 Jochen Meier / MDC S. 28, 29 Pablo Castagnola, S. 30 Sean Gallup / Getty Images, S. 32 Steve Pyke / Getty Images, S. 34 Michael Brennan / Getty Images, S. 55 picture alliance, S. 75 Eberhard Warns, S. 78 Jochen Meier / MDC, S. 87 Dietmar Gust, S. 88, 90 Claudia Neuhaus, S. 92, 93 Charité-Universitätsmedizin, S. 102, 104, 105, 107 Archiv H. Kettenmann, S. 21, 31, 35, 37, 46, 48, 49, 64, 73, 79, 86, 91, 94, 95, 98, 99, 101, 110 privat Druck Medialis Offsetdruck GmbH © 2016 Einstein Stiftung Berlin ISSN 2365–4066 Nachdruck nur nach vorheriger Einwilligung.
Zeit ist Hirn Rund 14.000 Berliner erleiden jedes Jahr einen Schlaganfall. Der Neurologe Matthias Endres Ăźber schnelle Erstversorgung auf dem Weg zum Krankenhaus und den Stand der Schlaganfallforschung
92
Matthias Endres bittet in sein Büro in der Klinik für Neurologie, einem roten Backsteingebäude auf dem Campus der Berliner Charité in Mitte. Auf seinem Schreibtisch steht ein Plastikmodell des Organs, dem das ganze Interesse des groß gewachsenen Mannes gilt: dem Gehirn. Endres ist Schlaganfallexperte. Als behandelnder Arzt ist er auf der Stroke Unit tätig, einer spezialisierten Schlaganfallstation. Dort geht es oft um jede Minute, denn bei den Betroffenen sterben pro Minute rund 1,9 Millionen Nervenzellen ab.
allem das Absterben von Nervenzellen im Gehirn zu begrenzen. Außerdem klären wir die Schlaganfallursache, um die weitere Behandlung anzupassen, und beginnen mit präventiven Maßnahmen, um weitere Hirnschläge zu vermeiden. Auf der Stroke Unit starten wir auch bereits mit der Rehabilitation – etwa Krankengymnastik, Ergotherapie und Logopädie. Seit ein paar Jahren verfügt Berlin über ein Stroke-Einsatz-Mobil oder kurz „STEMO“ – was leistet diese mobile Schlaganfallstation? Das STEMO ermöglicht es,
Herr Endres, worauf kommt es in den ersten Stunden nach einem Schlaganfall an? Die ersten Stunden sind
Interview Christian Wolf
kritisch. In diesem Zeitfenster sind Behandlungen möglich, die wir später nicht mehr durchführen können. Zunächst klären wir mittels Computertomografie, ob eine Blutung im Gehirn vorliegt oder nicht. Bei schweren Fällen prüfen wir zudem, ob Gefäße verschlossen sind, die das Gehirn mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgen. Dann beginnen wir sofort mit der sogenannten StrokeUnit-Therapie, die dazu beiträgt, die Sterblichkeit und spätere Behinderungen zu verringern. Sie besteht aus einem Mix an Maßnahmen, um den akuten Schlaganfallpatienten vor Komplikationen zu schützen und vor
noch vor dem Eintreffen im Krankenhaus alle notwendigen Untersuchungen durchzuführen. Der Wagen ist mit einem CT ausgerüstet und wird von einem neurologisch ausgebildeten Notarzt und einem radiologischtechnischen Assistenten begleitet. Das schafft die Voraussetzungen für eine schnelle Diagnostik. So kann man nach der CT-Untersuchung schon am Einsatzort mit der Thrombolyse-Therapie beginnen, die in den ersten viereinhalb Stunden nach einem Schlaganfall erfolgen muss. Dabei gibt man über die Vene ein Medikament, das die Blutgerinnsel im Gehirn auflöst, um das minderversorgte Hirngebiet wieder zu durchbluten und die Spätfolgen einzudämmen. ↘
bensvorteil für Berliner Schlaganfallopfer? Daten aus
einer Studie zeigen, dass Patienten durch das STEMO im Schnitt 25 Minuten eher eine Thrombolyse-Therapie erhalten und der Anteil der Patienten, die rechtzeitig mit einer Thrombolyse-Therapie behandelt werden konnten, von 21 auf 33 Prozent gestiegen ist. Ob das STEMO aber tatsächlich einen Überlebensvorteil bringt oder in größerem Maß vor Behinderungen bewahrt, muss in weiteren Studien erst noch untersucht werden. Sie sind im Vorstand des Centrums für Schlaganfallforschung Berlin, das vom Bundesforschungsministerium gefördert wird. Woran forschen Sie dort? Wir untersu-
chen unter anderem den chronischen Krankheitsverlauf. Derzeit schauen wir uns dafür den Einfluss von körperlichem Fitnesstraining auf den Rehabilitationserfolg an, ob sich die Patienten besser erholen und wie sich das Fitnesstraining auf die Regenerationsfähigkeit des Gehirns auswirkt. Zu diesem Zweck engagieren wir uns in der Berliner Schlaganfallallianz, einem Zusammenschluss von Schlaganfallversorgern wie Akutkrankenhäusern und Rehabilitationskliniken. Das ermöglicht uns, umfangreiche Patientenregister anzulegen, über die wir die chronischen Krankheitsverläufe von Patienten nachverfolgen können. Zudem führen wir die sogenannte Wake-up-Studie durch, bei der wir mittels Magnetresonanztomografie das ungefähre Alter des Hirninfarkts anhand der einsetzenden Gewebeschädigung bestimmen. Das ist für eine rechtzeitige Thrombolyse-Therapie wichtig. Was treibt Sie bei Ihrer Arbeit an? Mich reizt die Kombi-
nation aus Grundlagenforschung und klinischer Forschung. Ich will mühsam im Labor entwickelte Ansätze ans Patientenbett bringen. Es bereitet mir Freude mitzuerleben, wenn eine Entdeckung von uns aus dem Labor einen tatsächlichen Nutzen für die Patienten bringt. Ich habe beispielsweise vor vielen Jahren mit Kollegen im Labor entdeckt, dass Cholesterinsenker vor Schlaganfällen schützen können. Wir konnten damit dazu beitragen, dass Cholesterinsenker jetzt in die Therapie Einzug gehalten haben.
Lungenentzündungen beitrug, sondern sich auch positiv auf den Schlaganfall auswirkte. Dieser Befund bestätigte sich leider nicht bei Patienten. Wie steht es denn Ihrer Meinung nach um die Schlaganfallforschung? Die Schlaganfallforschung ist immer mal
wieder an ihre Grenzen gekommen. Man hat zum Beispiel jahrelang versucht, die sogenannte Neuroprotektion voranzubringen, also nach einem Schlaganfall nicht nur den Blutfluss im Gehirn wiederherzustellen, sondern auch das Hirngewebe durch die Entwicklung eines Schlaganfallmedikaments zu schützen. Doch die Hoffnungen haben sich bislang noch nicht erfüllt. Auf anderen Gebieten verzeichnen wir aber auch Erfolge. Sie spielen auf die Thrombektomie an. Studien aus den beiden letzten Jahren haben gezeigt, dass man mittels eines Katheters bei Patienten mit schweren Schlaganfällen wirksam Blutgerinnsel aus großen Hirngefäßen entfernen kann … Ja, die Thrombektomie kommt heute
bereits zum Einsatz, wenn die Therapie früh genug eingesetzt hat, der Schlaganfall schwer ist und nachweislich ein großes Hirngefäß verschlossen ist. An der Charité verfügen wir über ein Team von sechs spezialisierten Neuroradiologen, die diesen Eingriff durchführen. Wir haben in Berlin gute Voraussetzungen, diese Therapie in naher Zukunft flächendeckend anzubieten.
Albert Zeit ist Hirn
Das STEMO bietet also einen entscheidenden Überle-
Und welche Fragen würden Sie in Zukunft gerne noch beantworten? Mich reizt die Frage, wie psychische Er-
krankungen in Folge eines Schlaganfalls zustande kommen. Viele Schlaganfallpatienten entwickeln eine Depression, aber dieses Thema wird oft vernachlässigt. Man konzentriert sich sehr auf die Akutbehandlung und die Rehabilitation. Dabei berücksichtigt man nicht, was all das für die Psyche der Patienten bedeuten kann. Mit Kollegen aus der Neurologie und Psychiatrie führen wir derzeit eine Befragung bei Schlaganfall-Betroffenen durch, um zu untersuchen, wie sich das Ereignis als Auslöser von Stress und Trauma niederschlägt.
Die Schlaganfallforschung wird aber auch dafür kritisiert, dass Therapien, die im Labor funktionieren, sich in klinischen Untersuchungen am Menschen fast immer als Flop erweisen. Ist Ihnen das auch schon widerfahren? Natürlich habe ich auch Rückschläge in der
Forschung miterlebt. So konnten Kollegen bei uns im Labor zeigen, dass die Therapie von Infektionen nach einem Schlaganfall nicht nur zur besseren Heilung von
Matthias Endres ist Direktor der Klinik und Hochschulambulanz für Neurologie der Charité und Vorstandsmitglied des Centrums für Schlaganfallforschung Berlin. Er forscht unter anderem zu Faktoren, die Schlaganfälle vorbeugen können, sowie zu Regenerationsmechanismen des Gehirns.
94
Albert fragt …
7/8
Ist eine Partydroge wirklich das beste Mittel gegen Depression?
Aufgezeichnet von Ragnar Vogt 95
Ketamin ist als Special K tatsächlich eine beliebte Partypille, unter den 15- bis 25-Jährigen landet sie regelmäßig in den Top 5 der konsumierten illegalen Drogen. In den letzten Jahren hat sich herumgesprochen, dass Ketamin ein wirksames Mittel gegen Depressionen sein soll. Manche Betroffene besorgen sich deshalb das Medikament illegal bei Dealern. Das ist gefährlich, denn Ketamin hat starke Nebenwirkungen. Es drohen erhöhter Blutdruck, Horrortrips, Blasen-Nekrosen, das Mittel sollte deshalb niemals ohne ärztliche Aufsicht genommen werden. Allerdings zeigen erste Ergebnisse, dass Ketamin tatsächlich gegen Depressionen helfen kann. Es gibt bereits zahlreiche Antidepressiva, doch die Krankheit hat viele Gesichter, jedes Mittel hilft nur einer bestimmten Gruppe von Patienten.
Das gilt auch für Ketamin: In unseren Versuchen schlug das Medikament nur bei jedem dritten Patienten an. Nun sind größere Studien erforderlich. Sollte sich dabei die gute Wirksamkeit bestätigen, könnte Ketamin in das Standartrepertoire der Mittel gegen Depressionen aufgenommen werden. Denn es hat einen großen Vorteil: Während andere Antidepressiva erst nach drei bis vier Wochen anschlagen, wirkt es schon nach 24 Stunden. Ketamin ist also nicht für jeden das beste, aber in jedem Fall das schnellste Mittel gegen Depressionen. Der Psychiater Malek Bajbouj leitet das Centrum für Affektive Neurowissenschaften an der Charité. Sein Schwerpunkt liegt auf der Erforschung von Emotionen und der Behandlung von Depressionen.
Der Fliegenmann Bassem Hassan schaut in Fliegenhirne, um zu lernen, wie sich die Entwicklung von Neuronen auf individuelles Verhalten auswirkt. Ein Chat zwischen Paris und Berlin
98
Der Neurowissenschaftler Bassem Hassan ist Gruppenleiter am Pariser Institut du cerveau et de la moelle épinière (ICM), das sich der Erforschung und Heilung von Hirnkrankheiten und Krankheiten des Rückenmarks widmet. Als Einstein BIH Visiting Fellow kommt er regelmäßig nach Berlin, um in Kooperation mit Peter Robin Hiesinger von der Freien Universität Berlin die Hirnentwicklung und das Verhalten von Fruchtfliegen zu erforschen.
Interview Mirco Lomoth Fotos Pablo Castagnola, Naturkundemuseum Berlin 99
Denk-Zentrum
Fortschritte beim Verständnis der hochkomplexen Leistungen des Gehirns entstehen heute vor allem durch die Zusammenarbeit unterschiedlicher Fachbereiche. „Ein einzelnes Institut oder gar Labor im Bereich der Neurowissenschaften kann heute kaum mehr alle relevanten technischen und
„Wir wollen eine Generation von Forschern ausbilden, die Wissenschaft in großen Zusammenhängen begreift.“ theoretischen Entwicklungen kompetent abdecken“, sagt Dietmar Schmitz, Einstein-Professor für Neurowissenschaften an der Charité und Sprecher des neu gegründeten EinsteinZentrums für Neurowissenschaften (ECN). „Durch die Strukturen des ECN werden die bereits vorhandenen Vernetzungen von Teildisziplinen wie beispielsweise der Genetik, Molekular- und Zellbiologie, Biochemie, Neurologie, Philosophie oder auch Materialwissenschaft und Informatik nun weiter ausgebaut und gestärkt.“ Eine der wichtigsten Aufgaben des ECN ist die interdisziplinäre Ausbildung von Nachwuchswissenschaft-
lern. Um exzellente Doktoranden aus aller Welt anzusprechen, wird unter dem Dach des ECN ein einheitliches, englischsprachiges und Modulbasiertes Curriculum für die neurowissenschaftliche Ausbildung angeboten – das sogenannte Einstein Training Program. „Gegenstand des PhD ist ein strukturiertes Forschungs- und Ausbildungsprogramm, bei dem jeder Doktorand von einem PromotionsKomitee individuell begleitet wird“, erläutert ECN-Ausbildungskoordinator Benedikt Salmen. Das Programm setzt sich zusammen aus Modulen der bereits bestehenden Berliner Graduiertenschulen sowie der universitären und außeruniversitären Institute und wird um neu entwickelte Inhalte ergänzt. „Zu Beginn des Studiums wird es sechs Monate lang eine Art Rotation durch verschiedene Labore geben – so können die Studenten einen Einblick in die verschiedenen Teildisziplinen bekommen“, berichtet Schmitz. „Im Anschluss haben die Teilnehmer die Möglichkeit, ihren ganz eigenen Interessen zu folgen.“ Doktoranden können sich über eine jährliche Ausschreibung bewerben. Nach einem Auswahlprozess wird für den Kandidaten ein maßgeschneidertes interdisziplinäres Promotionsprogramm zusammengestellt, das über vier Jahre läuft. Angelehnt an internationale Modelle stehen den
Teilnehmer während des Studiums mehrere Betreuer aus dem ECN-Mitgliederpool zur Seite, die „ihre“ Studenten bis zum Abschluss des jeweiligen PhD -Projekts begleiten. Zudem können die Kandidaten ein Stipendium erhalten. Das Ziel der Vernetzung der neurowissenschaftlichen Forschung in Berlin beginnt für das ECN schon mit dem Einstein Training Program. Ein gemeinsames „Bootcamp“ in den ersten zwei Wochen der Ausbildung sowie regelmäßige Tagungen sollen den Austausch unter den Studenten von Anfang an fördern. „Mit dem ECN schaffen wir Strukturen, die die Neurowissenschaften in Berlin auf eine Ebene heben, die höchsten internationalen Ansprüchen genügt“, fasst Schmitz zusammen. „Wir wollen hier eine neue Generation von Forschern ausbilden, die Wissenschaft in großen Zusammenhängen begreift.“
Mit den Einstein-Zentren bietet die Einstein Stiftung Berlin Spitzenforschungsverbünden in der Hauptstadt die Möglichkeit, Forschungs- und Lehrnetzwerke über bestehende Institutionen hinweg zu etablieren. 2014 entstand das erste Einstein-Zentrum für Mathematik, 2016 ein Zentrum für Katalyse-Forschung, das ECN, sowie Zentren in den Bereichen Altertumswissenschaften, Regenerative Therapien und Digitalisierung.
Text Linda Faye Tidwell
Berlin hat sich zu einem Standort neurowissenschaftlicher Spitzenforschung entwickelt. Das neu gegründete Einstein-Zentrum für Neurowissenschaften vereint die Berliner Forschungsverbünde unter einem Dach. Ziel ist es, Teildisziplinen enger zu vernetzen, den Forschungsstandort international sichtbarer zu machen und Nachwuchswissenschaftler auf höchstem Niveau auszubilden
100
Albert fragt …
8/8
Können wir das Gehirn verjüngen?
Aufgezeichnet von Ragnar Vogt 101
Mit dem Alter verändert sich die Struktur des Gehirns, das kann man sogar unter dem Mikroskop erkennen. Dieser Prozess lässt sich nicht rückgängig machen. Was ein alter Mensch aber möglicherweise wiedergewinnen kann, ist die mentale Leistungsfähigkeit der Jugend. Wir haben dazu ein Experiment gemacht, indem wir mit einem Computerspiel die Lernfähigkeit in einer sich verändernden Umwelt getestet haben. Es zeigte sich: Die 20- bis 30-jährigen Testpersonen schnitten besser ab als die 60- bis 70-jährigen. Doch dann haben wir den Alten L-Dopa gegeben, ein etabliertes Medikament zur Behandlung der Parkinson-Krankheit, und daraufhin waren sie genauso gut wie die Jüngeren. Wir wissen, dass mit dem Alter das Level des Hirn-Botenstoffes Dopamin abnimmt. Durch die Gabe von
L-Dopa wird dieser Effekt ausgeglichen – und die jugendliche Lernfähigkeit wiedergewonnen. Das bedeutet: Bestimmte Hirnfunktionen kann man tatsächlich verjüngen. Es birgt natürlich ethische Konflikte, gesunden Menschen Medikamente zur Leistungssteigerung zu geben. Ich bin allerdings der Meinung, wenn keine gravierenden Nebenwirkungen nachgewiesen wurden: Warum nicht? Wir sollten uns unser Leben so angenehm und gut wie möglich gestalten.
Der Neuropsychiater Raymond J. Dolan ist Professor am University College London. 2014 hat er das Centre for Computational Psychiatry and Ageing Research gegründet, mit Sitz in London und Berlin. Er erforscht, wie Entscheidungen entstehen und wie sich das Gehirn im Alter verändert. Von 2010 bis 2014 war er Einstein Visiting Fellow.
Sezierer des Verstandes In den frühen 1930er Jahren wollten Oskar und Cécile Vogt in Berlin durch die anatomische Analyse von Gehirnen herausfinden, weshalb manche Menschen Geistesgrößen werden und andere Verbrecher. Das Forscherehepaar leistete wichtige Pionierarbeit für die modernen Neurowissenschaften – verfolgte aber auch Irrwege
Text Till Hein
Als Ende Dezember 1924 ein offizieller Brief aus Moskau bei ihm eintrifft, ist Oskar Vogt bereits ein berühmter Mann. Die Anfrage aus dem Kreml aber kommt selbst für den erfahrenen Hirnforscher und Psychiater überraschend. Ob er Interesse habe, das Gehirn von Wladimir Iljitsch Lenin zu untersuchen? Eigens um das Denkorgan des unlängst verstorbenen Gründervaters der Sowjetunion zu analysieren, wird in Moskau ein Institut für Hirnforschung gegründet – und die Leitung nicht etwa einem Russen, sondern Oskar Vogt aus Berlin in Aussicht gestellt. Lenins Intellekt sei einzigartig gewesen, behauptet die sowjetische Führung. Nun soll die Anatomie seines Hirns die Erklärung für dieses Phänomen liefern: ein Fall für Oskar Vogt. Seit einem Vierteljahrhundert sezieren er und seine Frau Cécile in Berlin die Gehirne Verstorbener. Sie wollen ergründen, wo im Hirn welche geistigen Fähigkeiten ihre Wurzel haben. Und wodurch psychische Krankheiten entstehen. Oskar Vogt, 1870 geboren, stammt aus einer Husumer Pfarrersfamilie. Fasziniert von der Artenvielfalt, beginnt er ein Biologiestudium. Er legt eine Sammlung mit 300.000 Hummeln und 100.000 Käfern an. Doch bald wechselt er zu den Medizinern, wo er sich für Anatomie ebenso begeistert wie für Neurologie und Psychiatrie. Die Neurologin Cécile Mugnier aus der ostfranzösischen Kleinstadt Annecy lernt er 1898 während einer Weiterbildung in Paris kennen. Als eine der ersten Frauen überhaupt in Frankreich hat sie Medizin studiert.
Ihre Forschung finanzieren sich die Vogts durch Einnahmen aus der psychotherapeutischen Praxis, die Oskar betreibt
103
Frisch verheiratet, lässt sich das Ärztepaar im Jahr darauf in Berlin nieder. An der Magdeburger Straße 16, im Stadtteil Dahlem, gründen die Vogts ein kleines privates Forschungsinstitut mit dem ambitionierten Namen „Neurologische Centralstation“. In ihrem Minilabor beschäftigen sie sich mit der Entwicklung des frühkindlichen Gehirns und versuchen, die Großhirnrinde in unterschiedliche Areale zu gliedern. Ihre Forschung finanzieren sie durch die Einnahmen aus der psychotherapeutischen Pra-
xis, die Oskar im selben Haus betreibt. Cécile hingegen, die in Paris in Medizin promoviert hat, wird von den deutschen Behörden bis 1922 eine Zulassung als Ärztin verweigert. Auch die Teilnahme an Fachtagungen ist ihr als Frau lange untersagt. Wissenschaftshistoriker kommen später zu dem Schluss, dass ihr Anteil an der gemeinsamen Forschung mindestens so groß ist wie der ihres Mannes. Doch erst 1911 darf sie Ergebnisse ihrer Studien erstmals selbst der Öffentlichkeit präsentieren. Als Therapeut setzt Oskar Vogt unter anderem auf Hypnose: eine neue Methode, die er Mitte der 1890er Jahre während eines Forschungsaufenthalts an der Psychiatrischen Klinik Burghölzli in Zürich erlernt hat. Durch intensiven Blickkontakt und verbale Anweisungen versetzt er seine Klienten in einen Zustand der Trance und erreicht so erleichterten Zugang zu sonst verborgenen Bereichen der Psyche. Anders als ihr Zeitgenosse Sigmund Freud aus Wien verstehen die Berliner Oskar und Cécile Vogt psychische Krankheiten aber in erster Linie als Erkrankungen des Gehirns. Ein zentrales Ziel ihrer Forschung wird es daher, in der individuellen Hirnanatomie die Wurzeln für solche Krankheiten zu finden. Aber auch Neigungen und Talente spiegeln sich in der Ausstattung der Gehirnrinde, glauben die Vogts. Der Anatom Franz Joseph Gall aus Pforzheim behauptete bereits im frühen 19. Jahrhundert, dass Begabungen und Charakter ihren Sitz im Hirn hätten. Nach seiner umstrittenen Theorie, der Phrenologie (Schädellehre), verweisen die Dellen und Wölbungen des Schädels auf die darunterliegenden Bereiche der Hirnrinde. Nach dem Tod Immanuel Kants im Februar 1804 wurde dessen Schädel nach Galls Methode abgetastet und vermessen: Wo die Phrenologen das Organ für „Gutmütigkeit“ lokalisieren, weist Kants Schädel eine Wölbung auf. Die – nach Gall – für den Geschlechtstrieb zuständigen Organe am Schädelgrund fehlen hingegen. Der Befund passt zu Berichten von Zeitgenossen über den Philosophen, die ihn als besonders unaggressiv und keusch beschreiben. Oskar und Cécile Vogt entwickeln Galls Ansatz weiter. Statt der Schädel Verstorbener vermessen sie die Gehirne selbst. Und ihre Ideen werden populär. Denn unter den Klienten von Vogts therapeutischer Praxis sind reiche, einflussreiche Bürger. Auch der Großindustrielle Friedrich Alfred Krupp sucht in der Dahlemer Praxis Hilfe – und wird bald zu einem wichtigen Förderer. Krupps enge Kontakte zu Entscheidungsträgern in Wissenschaft und Politik machen es möglich, dass die private „Neurologische Centralstation“ der Vogts im Jahr 1902 als „Neurobiologisches Universitäts-Laboratorium“ der FriedrichWilhelms-Universität Berlin – heute Humboldt-Universität zu Berlin – angegliedert wird. ↘
Auch im Westen schlägt die Studie zu Lenins Gehirn aufgrund von reißerischen Zeitungsberichten hohe Wellen. Oskar Vogt wird immer berühmter Die Grundfrage „Wie bestimmt das Gehirn unser Sein?“ prägt die meisten ihrer Untersuchungen. Die Vogts sammeln etwa die Gehirne und klinischen Daten Verstorbener und stellen Quervergleiche an. Besondere Aufschlüsse erhoffen sie sich von Geistesgrößen, geistig Behinderten oder Verbrechern. Durch die Analyse der Hirnwindungen solcher „Extremtypen“ wollen sie der anatomischen Grundlage von Intelligenz, Genialität und kriminellen Handlungen auf die Spur kommen. Vogt korrespondiert mit Fachleuten aus aller Welt und baut ein Netzwerk auf, das sich von Neapel bis Stockholm und von Porto über Moskau bis nach Tiflis erstreckt. Wahrscheinlich ereilt ihn aufgrund solcher Verbindungen Ende Dezember 1924 auch der Ruf aus der Sowjetunion. Als die deutsche Regierung grünes Licht gibt – Vogt will die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion nicht gefährden –, sagt er zu. Mitte Februar 1925 trifft er in Moskau ein. Seine Frau und eine weitere Mitarbeiterin aus Berlin reisen ein paar Tage später nach, um ihn im neu gegründeten sowjetischen Hirnforschungsinstitut, in einem Palais unweit des Roten Platzes, zu unterstützen. Als Leiter des neuen Moskauer Hirnforschungsinstituts widmet er sich bis 1928 Lenins Hirn. Um einzelne Areale bis ins Detail untersuchen zu können, lässt er es in 30.000
Scheibchen schneiden. Vogt stellt fest, dass die dritte Schicht der Großhirnrinde bei Lenin besonders dick ist, und führt das auf die außergewöhnliche Größe und Anzahl der dort lokalisierten Pyramidenzellen zurück. Genau wegen dieser Besonderheit sei Lenin ein Meister des ganzheitlichen Denkens gewesen, argumentiert er schließlich: ein „Assoziationsathlet“. Die sowjetische Führung nimmt Vogts Befund begeistert auf. „Ein bedeutender Beitrag zur materialistischen Erklärung des Psychischen überhaupt“, jubelt die Parteizeitung Prawda („Wahrheit“). Und auch im Westen schlägt die Studie aufgrund von reißerischen Zeitungsberichten hohe Wellen. Vogt wird immer berühmter.
Ohne die Pionierstudien der Vogts zur Architektur des Gehirns wäre die heutige Neurochirurgie undenkbar Aus heutiger Sicht handelt es sich bei seinen Aussagen um eine Überinterpretation der Messdaten. Andere Leistungen von Oskar und Cécile Vogt aber gelten auch im 21. Jahrhundert noch als Meilensteine der Forschung: Als erste Wissenschaftler weltweit stellen sie etwa fest, dass sich die menschliche Hirnrinde in
104
Albert Sezierer des Verstandes 105
einen stammesgeschichtlich älteren Allocortex (der unter anderem das sogenannte Riechhirn beinhaltet) sowie einen jüngeren Isocortex gliedern lässt. Sie finden Hinweise darauf, dass psychische Krankheiten sowohl Anzahl als auch Verteilung der Neuronen im Gehirn verändern können. Und in einer Zeit, in der das Gehirn für die meisten Anatomen noch ein unverständlicher Klumpen grauer Masse ist, fertigen die Vogts und ihr wohl begabtester Mitarbeiter, der Neuroanatom und Psychiater Korbinian Brodmann aus Süddeutschland, bereits verblüffend präzise Übersichtskarten der Großhirnrinde an. Ohne ihre Pionierstudien zur Architektur des Gehirns wäre die heutige Neurochirurgie undenkbar. Bereits in den 1920er Jahren unterscheiden die Vogts mehr als 200 Hirnareale. Doch bedeuten strukturelle Differenzen auch zugleich funktionelle Verschiedenheit? Die Vogts überprüfen das in Tierversuchen: Mit Stromstößen reizen sie die Hirnrinde von Meerkatzen. So gelingt ihnen der Nachweis zahlreicher „scharf gegeneinander abgegrenzter Gebiete mit spezifischer Reizreaktion“. Weitere Untersuchungen in Dahlem erhärten, dass sich die Grenzen der Reizreaktionen – zumindest bei Affen – in der Tat mit den Grenzen der architektonischen Einheiten decken.
Vor allem missfallen den Nazis Vogts gute Kontakte in die Sowjetunion, die aus der Zeit seiner Analyse von Lenins Hirn stammen 1931 erreicht die Karriere Oskar Vogts ihren Höhepunkt: In Berlin-Buch wird das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung eröffnet und Vogt zu seinem Direktor ernannt. Er, der seine wissenschaftlichen Studien anfangs aus eigener Tasche finanzieren musste, leitet nun das weltweit größte Zentrum für Hirnforschung: mit Abteilungen für Anatomie, Histologie, Genetik sowie acht weiteren Fachbereichen und einer neurologischen Forschungsklinik. Hier, in einem Gebäudeensemble aus hell verputzten kubischen Baukörpern mit klar gegliederter Fassade, treibt er gemeinsam mit seiner Frau und 100 Mitarbeitern die modernen Neurowissenschaften weiter voran. Mehr denn je glauben die Vogts, die anatomischen Wurzeln für Genialität im Gehirn finden zu können. Inzwischen wollen sie gar zu einer „Höherzüchtung des geistigen Menschen“ beitragen. Ideen, die auch den Nationalsozialisten gefallen könnten, die 1933 in Deutschland an die Macht kommen und davon träumen, die „arische Herrenrasse“ von „minderwertigen“ Elementen zu säubern. Dennoch geraten Oskar und Cécile Vogt bald in Bedrängnis. Denn politisch stehen sie nicht der extremem Rechten, sondern den Sozialdemokraten nahe. Vogt beschäftige an seinem Institut Ausländer und Juden, lautenVorwürfe. Und er dulde kommunistische Propaganda. ↘
Querschnitt durchs Hirn: Als Oskar und Cécile Vogt 1902 das Neurobiologische Universitäts-Laboratorium gründen, erscheint ihr erstes bedeutendes hirnanatomisches Werk „Beiträge zur Hirnfaserlehre“ mit 175 Lichtdrucktafeln.
Nicht mehr die Suche nach Anzeichen für Genialität oder „Entartung“ im Gehirn steht jetzt im Zentrum, sondern die Erforschung der Informationsverarbeitung 1946 versucht Oskar Vogt – im Alter von 75 Jahren – noch einmal ein Comeback auf der großen Bühne: Nach den Nürnberger Prozessen will er die Hirne zum Tode verurteilter Nazis sezieren, um darin nach Missbildungen zu suchen. Doch die Resonanz ist bescheiden. Sein Ansatz, von der individuellen Architektur des Gehirns auf Veranlagungen und Charakter zu schließen, ist unpopulär geworden. Dass es tatsächlich Querverbindungen zwischen Hirnanatomie und geistigen Leistungen gibt, werden Jahrzehnte später Forschungsarbeiten aus London beweisen: Im Jahr 2000 vergleichen Wissenschaftler die Gehirne von 16 Taxifahrern und 50 anderen Menschen im Kernspin. Sie stellen fest, dass der hintere Teil der Hippocampi – daumengroße Hirnstrukturen in den Schläfenlappen, die für Gedächtnisfunktionen eine zentrale Rolle spielen – bei den Londoner Taxifahrern deutlich breiter ist als in der Vergleichsgruppe. Ihre Tätigkeit, bei der man damals noch rund 25.000 Straßennamen im Kopf behalten musste, scheint die Hippocampi gleichsam wie einen Muskel zu trainieren. Ob es Menschen mit angeborenen breiten Hippocampi allerdings grundsätzlich leichter als Normalsterblichen fällt, sich Dinge einzuprägen, bleibt ungeklärt. Der wissenschaftliche Ansatz, aus der architektonischen Beschaffenheit von Gehirnen auf die geistigen Fähigkeiten und den Charakter von Menschen zu schließen, hat die hohen Erwartungen, die in ihn gesteckt wurden,
Mit Federhut und Dreiteiler an der Hirnschneidemaschine: Cécile und Oskar Vogt um 1905 im „Neurobiologischen UniversitätsLaboratorium“ der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, heute Humboldt-Universität zu Berlin
letztlich nicht erfüllt. Seit dem Zweiten Weltkrieg konzentriert sich die Hirnforschung auf die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Denkens und Wahrnehmens. Nicht mehr die Suche nach Anzeichen für Genialität oder „Entartung“ im Gehirn steht im Zentrum ihres Interesses, sondern die Erforschung der Informationsverarbeitung. Übersichtskarten der Gehirnrinde, wie sie die Vogts und ihre Mitarbeiter als Erste in hoher Qualität vorgelegt haben, spielen dabei aber noch immer eine Rolle. Am 31. Juli 1959 stirbt Oskar Vogt in Freiburg im Breisgau, seine Frau Cécile am 4. Mai 1962 in Cambridge. Sechs Jahrzehnte lang haben die beiden Seite an Seite geforscht. Gewürdigt aber wurde fast ausschließlich die Arbeit Oskars. Im Lauf seiner Karriere brachte er es zu Ehrendoktorwürden von acht Universitäten im In- und Ausland. Cécile erlangte keine einzige solche Auszeichnung. 1989 aber, mehr als ein Vierteljahrhundert nach ihrem Tod, erfährt auch sie eine bescheidene Ehrung: Ihr Gesicht wird auf einer Sonderbriefmarke der Deutschen Bundespost verewigt.
Albert Sezierer des Verstandes
Vor allem aber missfallen den Nazis seine guten Kontakte in die Sowjetunion, die aus der Zeit seiner Analyse von Lenins Hirn stammen. SA-Leute durchsuchen die Räumlichkeiten des Hirnforschungszentrums. Sie nehmen Mitarbeiter fest, quälen sie in Verhören. Als Vogt protestiert, fällt er endgültig in Ungnade. Im Juli 1935 wird er von den Nationalsozialisten zwangsweise in den Ruhestand versetzt. 1937 verlassen die Vogts Berlin. Eine Rückkehr nach Moskau ist keine Option mehr, da Josef Stalin, der neue Herrscher im Kreml, die sowjetische Elitegehirnforschung zum Staatsgeheimnis erklärt hat. Mithilfe der Familie Krupp gründen die Vogts in der Provinz, in Neustadt im Schwarzwald, erneut eine kleine private Forschungseinrichtung und widmen sich dort, fernab der Öffentlichkeit, weiter der Anatomie der grauen Zellen.
106
Berliner Hirne In Berlin befassen sich kluge Köpfe seit mehr als 200 Jahren mit dem Gehirn. Eine Chronik der Ereignisse
veröffentlicht Rudolf Virchow mit seiner „Cellularpathologie“ das Konzept, dass Erkrankungen sich an charakteristischen Veränderungen in der Form und Zusammensetzung von Zellen beschreiben lassen, und begründete damit die moderne Pathologie. Virchow beschreibt zum ersten Mal auch die Gliazellen als separate Population von Zellen im zentralen Nervensystem.
1797
1861
1836
1870
veröffentlicht Alexander von Humboldt sein Werk „Versuche über die gereizte Muskel und Nervenfaser“, in dem er Experimente an 300 verschiedenen Tierarten beschreibt und das Konzept etabliert, dass Tiere elektrisch erregbar sind, Pflanzen hingegen nicht.
Text Helmut Kettenmann
publiziert Christian Ehrenberg, Professor an der Friedrich-WilhelmsUniversität (heute HumboldtUniversität zu Berlin), das erste Bild einer Nervenzelle in seiner Arbeit über die „Beobachtung einer auffallenden, bisher unbekannten Structur des Seelenorgans bei Menschen und Thieren“. Ehrenberg führte systematisch die Mikroskopie in die Forschung ein.
1838
beschreibt Theodor Schwann Zellen im peripheren Nervengewebe, die mit Nervenfasern assoziiert sind und später nach ihm benannt werden: Die Schwannzellen. Der Physiologe vertritt mit Matthias Schleiden und Jakob Henle die neue Zelltheorie, die besagt, dass alle Organe bei Pflanzen und Tieren aus Zellen aufgebaut sind.
1848
107
1858
etabliert Emil du BoisReymond das Konzept, dass Nerven und Muskeln nicht nur durch elektrischen Strom erregt werden können, sondern selbst auch Elektrizität produzieren. Ihm gelingt die Messung dieser sehr kleinen Ströme mit von ihm selbst entwickelten Messgeräten, die der Mechaniker Georg Halske baut.
erscheint das Lehrbuch von Wilhelm Griesinger „Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten“, das den „Irren“ nicht als Aussätzigen, sondern als Patienten mit einer Erkrankung des Nervensystems beschreibt. Das löst eine Erneuerung der Psychiatrie und Neurologie aus, auch in Berlin, wohin Griesinger 1864 als Direktor der psychiatrischen Klinik berufen wird.
zeigen Gustav Fritsch und Eduard Hitzig, dass Funktionen im Gehirn in definierten Arealen lokalisiert sind. Durch Reizung an bestimmten Stellen des Seitenlappens der Großhirnrinde können Fritsch und Hitzig bestimmte Muskelgruppen aktivieren und damit den Motorkortex definieren. Damit ist die Lokalisationslehre auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt.
1893
definiert Wilhelm Waldeyer in einem kleinen Büchlein das Neuron als eine zelluläre Entität, die sich aus drei Elementen zusammensetzt, dem Zellkörper, den Dendriten und dem Axon. In visionärer Voraussicht behauptet er, dass viele dieser anatomisch wie genetisch nicht zusammenhängenden Nerveneinheiten (Neuronen) das Nervensystem bilden.
1902
entwickelt Max Bielschowsky die nach ihm benannte Färbemethode, die die Ablagerungen im Gehirn bei Alzheimer-Patienten anfärbt. Der Neuropathologe leitet später die pathologische Abteilung unter Oskar Vogt.
1909
definiert Korbinian Brodmann, ein Mitarbeiter von Oskar Vogt, Areale im Gehirn und assoziiert diese mit Funktionen. Die Brodmann-Areale dienen heute noch als Grundlage zur Kartierung des Gehirns.
1931
eröffnet Oskar Vogt als Direktor das neu etablierte Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch, eine Institution der Kaiser-WilhelmGesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (heute Max-Planck-Gesellschaft). Die damals weltweit größte Forschungseinrichtung auf diesem Gebiet vertritt einen sehr breiten Ansatz für Hirnforschung, von der klinischen Arbeit über Genetik bis hin zum Gerätebau.
1937
entwickelt Alois Kornmüller, basierend auf den Pionierarbeiten von Hans Berger in Jena, das erste MehrstrahlEEG am Institut von Oskar Vogt in Berlin-Buch. Er schaffte damit die Grundlage für die Interpretation dieser Daten bei verschiedenen neurologischen Erkrankungen.
Nach 1945
Mit Gründung der Akademie der Wissenschaften der DDR 1946 wurden die Neurowissenschaften in BerlinBuch abgeschafft. Man konzentrierte sich hier fortan vor allem auf die Herz-Kreislauf- und Krebsforschung. In Westberlin begann die neurowissenschaftliche Forschung erst wieder mit der Gründung des Instituts für Neurobiologie an der Freien Universität 1976 und der Berufung von Randolf Menzel, an der Technischen Universität 1987 mit der Gründung des Fachbereichs Neurobiologie und der Berufungvon Joachim Erber. Nach der Wiedervereinigung fanden die Neurowissenschaften in Berlin wieder eine breitere Basis mit der Gründung von zwei neurowissenschaftlichen Sonderforschungsbereichen 1995 – „Die Bedeutung nichtneuronaler Zellen bei neurologischen Erkrankungen“ an der Charité und „Mechanismen entwicklungs- und erfahrungsabhängiger Plastizität des Nervensystems“ an der Freien Universität. 2007 folgte die Gründung des interdisziplinären Exzellenzclusters NeuroCure an der Charité.
Die Stiftung
Das Journal Wir wollen Spitzenforschung nicht nur fördern, sondern auch darüber reden. Aus diesem Grund ist Albert, das Journal der Einstein Stiftung, entstanden. Thema der ersten Ausgabe war die Mathematik. Mit den Neurowissenschaften beleuchten wir nun einen weiteren exzellenten Bereich der Berliner Wissenschaft. Wenn Sie das nächste Heft nicht verpassen oder Kommentare, Anregungen und Kritik loswerden wollen, freuen wir uns über Ihre Nachricht an albert@ einsteinfoundation.de Die Veranstaltungen Sie wollen die Wissenschaftler der Einstein Stiftung live erleben? Wir laden regelmäßig zu Vorträgen und Gesprächen mit geförderten Professoren und Fellows ein – an verschiedenen Veranstaltungsorten in der Stadt. Aktuelle Termine finden Sie auf unserer Website oder auf Twitter unter @einstein_berlin Die Website Die Einstein Stiftung Berlin bietet eine umfangreiche zweisprachige Website an, auf der Sie sich über die Aufgaben, Förderprogramme und Antragsmöglichkeiten informieren sowie geförderte Personen und Projekte kennenlernen können: einsteinfoundation.de Für die Wissenschaft. Für Berlin.
Berlin soll sich dauerhaft als eine der weltweit wichtigsten Wissenschaftsmetropolen etablieren. Die Einstein Stiftung leistet hierzu einen besonderen Beitrag. 2009 vom Land Berlin gegründet, fördert sie Wissenschaft und Forschung auf internationalem Spitzenniveau. Renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wählen in einem Wettbewerbsverfahren die besten Personen, Projekte und Strukturen aus. Das besondere Augenmerk der Stiftung liegt auf institutionenübergreifenden Forschungskooperationen. Antragsberechtigt sind die Freie Universität Berlin, die Humboldt-Universität zu Berlin, die Technische Universität Berlin, die Universität der Künste Berlin sowie die Charité-Universitätsmedizin. Es gibt weder fachbezogene noch institutionelle Quoten. Das Förderspektrum reicht von der Altertumsforschung bis zur Zoologie, von der Entwicklung neuer Musikinstrumente bis zur Bekämpfung von Krebs. Insgesamt hat die Stiftung bislang 78 Wissenschaftler und 52 Projekte gefördert. Zudem finanziert sie 6 Einstein-Zentren – seit 2016 auch eines für die Neurowissenschaften.
Einsteins fallen nicht vom Himmel – sie werden gefördert. Fördern auch Sie! Für jeden Euro, den die Stiftung an privaten Spenden erhält, gibt das Land Berlin 50 Cent dazu. Sie stärken mit Ihrem Geld exzellente Wissenschaft und Forschung am Standort Berlin – dauerhaft. Werden Sie Förderer der Einstein Stiftung Berlin! Spendenkonto: Bank für Sozialwirtschaft IBAN DE20 1002 0500 0001 4999 02, BIC BFSWDE33BER
Als ich neulich mal wieder das Berliner Bücherkaufhaus Dussmann besuchte, fiel mir auf, dass die Auslage umsortiert war. Gehirnbücher und Neuroforschung stehen jetzt gleich neben der Esoterik. Eine mutige und folgerichtige Entscheidung. Schließlich ist das Neuro-Regal schon seit Jahren die verwegenste Abteilung im ganzen Haus. Buchrücken an Buchrücken stehen dort: „Du bist mehr als dein Gehirn“ (Jeffrey Schwartz und Rebecca Gladding), „Wir sind unser Gehirn“ (Dick Swaab) und „Du bist nicht dein Gehirn“ (Alva Noë). Bislang noch nicht geschrieben: „Du bist weniger als dein Gehirn“. Aber selbst ein solcher wissenschaftsdadaistischer Titel ließe sich problemlos in die Dussmann-BuchWG einfügen, neben „Neuroyoga“, „Neuro-Tuning“ oder „Neuro Web Design – What Makes them Click?“ Im Buchjahrmarkt der Neuro-Beliebigkeit würde er kaum jemandem auffallen. Das Aufkommen der wuchernden Neurotrash-Buchindustrie diagnostizierte der britische Autor Steven Poole bereits 2012 im New Statesman. Er schlug dazu auch gleich eine Bildgebungsstudie vor: Im MRT-Scanner solle man Probanden real existierende pseudowissenschaftliche Bücher wie „Das republikanische Gehirn“ oder „Rainy Brain, Sunny Brain“ lesen lassen und dabei ihre Hirnaktivierungen aufzeichnen. Publizieren ließe sich diese Studie dann unter dem Titel „This Is Your Brain On Stupid Books About Your Brain“.
Felix Hasler über Neuro-Ehrfurcht, Wissenschaftsdadaismus und den bröckelnden Ruf der Hirnforschung Hasler ist vermutlich der einzige Liechtensteiner, der je in der Halluzinogenforschung gearbeitet hat: Zehn Jahre beschäftigten ihn an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich erweiterte Bewusstseinszustände. Seit 2011 ist er Gastwissenschaftler an der Berlin School of Mind and Brain. in seinem Buch „Neuromythologie – Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung“ (Transcript, 2013) wendet er sich gegen biologische Reduktionismen
Klar ist: Das Ausspielen der Neuro-Trumpfkarte erfreut sich größter Beliebtheit. „Neuro“ selbst ist zu einer Marke geworden, zu einem Qualitätslabel, unter dem sich so gut wie jede krude selbstgezimmerte Theorie als knallharter naturwissenschaftlicher Befund verkaufen lässt. Mit dem Verweis auf „neueste Erkenntnisse aus der Hirnforschung“ lassen sich Kalenderblatt-Banalitäten ebenso aufwerten wie altbekanntes Wissen aus Psychologie oder Erziehungswissenschaften zu modernen Einsichten über die wahre Natur des Menschen up-cyclen. Von NeuroCoaching bis Neuro-Marketing eine beliebte Strategie. Der Re-
kurs auf die Hirnforschung hat dabei immer den gleichen Zweck: Mit dem guten Ruf der Disziplin punkten und auf die Neuro-Ehrfurcht bauen. Nach dem Motto: Hey Leser, was ich hier darlege, sind unumstößliche Erkenntnisse aus den Laboren der Hirnforscher. Ende der Diskussion. Die meisten Neuro-TrittbrettBuchschreiber dürften noch gar nicht mitbekommen haben, dass das Renommee der Hirnforschung längst nicht mehr so gut ist wie noch in den Nullerjahren. Damals ließ sich per Verweis auf die Biologie einfach mal ungestraft die Willensfreiheit wegerklären. Doch Kritik kommt heute zunehmend aus den eigenen Reihen. 2012 war in einer angesehenen Fachzeitschrift nachzulesen, dass aus statistischen Gründen ein Großteil der Ergebnisse aus Bildgebung, Genetik und Tierexperimenten zweifelhaft ist. Und im Sommer 2016 hat dann noch der „Cluster Failure“-Artikel zugeschlagen. Darin haben Forscher nachgewiesen, dass bei fMRT-Studien – einer der verbreitetsten Methoden der zeitgenössischen Hirnforschung – aufgrund von Fehlern in der Auswertungssoftware bis zu 70 Prozent der gemessenen Hirnaktivierungen gar keine sind. Was man schon lange ahnte, wird zunehmend zur Gewissheit: Die bunten Hirnbilder sind mehr Astrologie als Wissenschaft. Die Dussmanschen Buchhändler können sich also entspannt zurücklehnen. Bei ihnen ist schon alles richtig einsortiert.
Text Felix Hasler
Neuro-Trash
110
Für alle Veranstaltungsplaner Sie fragen – wir unterstützen.
convention.visitBerlin.de
Sie bewerben sich um einen Kongress in Berlin? Sie planen in Berlin eine Tagung? Eine Konferenz? Morgen, bald, in einigen Jahren? Wir sind das offizielle Kongressbüro der Stadt Berlin und unterstützen Sie gerne. Wir arbeiten eng mit allen relevanten Partnern in der Stadt zusammen. Wir beraten, helfen und informieren. Schnell. Kompetent. Kostenfrei. Kontaktieren Sie uns unverbindlich: T 030 - 26 39 183 E-Mail: convention@visitBerlin.de convention.visitBerlin.de Member of
Albert Einstein
Der Fortgang der wissenschaftlichen Entwicklung ist im Endeffekt eine ständige Flucht vor dem Staunen.