Anton Loos 1744-1811

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Anton Joos Eine Lebensreise



Anton Joos - Eine Lebensreise Eine Ahnen- und Sippengeschichte aus dem 18. und 19. Jahrhundert

Herausgegeben von Maria Kronister, geborene Joos, in der 8. Generation der Ahneltern Magdalena Pf채ster und Anton Joos



Ich widme dieses Buch unseren Kindern Stefan und Julia

Die Kraft der Ahnen lebt in ihnen weiter. Dieses Buch mรถge ihnen helfen, ihre tiefen Wurzeln zu erkennen

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Dank An meinen Mann Josef für die verständnisvolle Begleitung, für die wunderbaren Reisen zu den Wurzeln unserer Ahnen, für die vielen gemeinsam verbrachten Stunden in den Archiven von Sremska Mitrovica/Vojvodina, in Strasbourg und Guebwiller/Elsass. An die Frauen der Literaturgruppe, Eva Maria Pichl, Erntrudis Putz und Erika Schwetz für die liebevolle Begleitung, für die wertvollen und weiterführenden Tipps beim Schreiben. Mein besonderer Dank gilt Erntrudis Putz für das Korrekturlesen meines Skripts. Familie Schmee in Ruma danke ich, Sepp und Bruno für die Unterstützung bei der Ahnenforschung, Maria und Vesna für die Stärkung mit köstlichen Speisen. Maria Joos, Frau meines Cousins Michael, für die vielen Stunden gemeinsamer Recherche aus den Matrikelbüchern von Bodnegg und dem Elsass vor den Lesegeräten bei den Mormonen in Linz. Robert Takatsch hat mir wichtige Daten über Magdalena Jelimann und Anton Joos zur Verfügung gestellt. Herzlichen Dank dafür. Waltraud und Peter Joos, Maria und Hans Geisl danke ich für die Unterstützung bei der Suche im Archiv Sremska Mitrovica. Walter Hartl für die Unterstützung beim Layout des Buches und bei der Gestaltung. Ihm danke ich besonders auch für die Zeit, die er dafür aufgebracht hat. Mümtaz Karakurt von »migrare«, meiner ehemaligen Arbeitsstelle, danke ich für das Benützen der technischen Geräte, für die selbstverständliche Bereitschaft, mein Buchprojekt zu unterstützten. Vladimir Polak für die Übersetzungen und so manche Tipps. Ich danke den Verantwortlichen vom Archiv in Sremska Mitrovica und dem Museum in Ruma für das Bereitstellen diverser Unterlagen und Daten unserer Ahnfamilie. Und schließlich ein Dank an jene Frauen und Männer, die die beiden Bildbände »Rumaer Dokumentation I und II« geschrieben haben. Diese Bücher sind wahrlich ein »Schatz« für Rumaer-FamilienforscherInnen! Durch ihre Unterstützung war es mir möglich, die spannende, aufreibende, berührende Reise in die Vergangenheit unserer Ahnen zu unternehmen und dies zu Papier zu bringen. Danke dafür!

Maria Kronister

Wilhering, Dezember 2005

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Ist er es oder nicht? Zum Zeitpunkt des Entstehens dieses Buches im Jahr 2005 liegt über Herkunft unseres Ahnen Anton Joos noch einiges im Dunklen. Gesichert sind die Daten ab 1782 mit der Hochzeit von Maria Magdalena Jelimann, seiner zweiten Frau im Elsass/Frankreich. Anton war Witwer der Magdalena Pfäster. Drei Fragen konnten noch nicht geklärt werden: Woher kommt Anton? Was ist sein Geburts- und Heimatort? Wann ist er in das Elsass ausgewandert? Wo hat er das erste Mal geheiratet, gelebt und wo wurden die sechs Kinder mit seiner ersten Frau, Magdalena Pfäster, geboren? Wir wissen nicht mit Sicherheit, ob jener Anton Joos aus Bodnegg/ Württemberg mit jenem aus Roeschwoog/ Elsass identisch ist. Es gibt eine Eintragung im Taufregister der Pfarre Bodnegg aus dem Jahr 1744 für einen Anton Joos. Das Geburtsjahr stimmt mit dem bereits bestehenden und bekannten Stammbaum überein und auch die Herkunftsregion des heutigen Württemberg. Auf Grund der Taufregister in Roeschwoog gilt als gesichert, dass „unser« Anton in diesen Ort zugezogen ist, es gibt keine Geburtseintragung auf diesen Namen. Anton Joos ist also vermutlich in das Elsass eingewandert.

Leibeigen oder leibfrei? Fast alle ländlichen Untertanen waren Mitte des 18. Jahrhunderts Leibeigene, in den deutschen Regionen ebenso wie in Frankreich. Bei Wegzug war es erforderlich, sich vom Leibherrn frei zu kaufen, dazu musste ein Leibeigener um die Entlassung ansuchen. Im Falle von Anton aus Bodnegg aber stellte sich diese Frage vermutlich nicht. Die Habsburger hatten auch im Südwesten des heutigen Deutschlands Besitzungen. Unter der Bezeichnung »Schwäbisch-Österreich« wurden die in Schwaben gelegenen und zum österreichischen Reichskreis gehörigen Länder in Vogteien zusammengefasst, unter anderen die Landvogtei Schwaben. Die Vogteien unterstanden der Regierung »Vorderösterreich« (Sitz ab 1759 in Freiburg).

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Wege in eine ungewisse Zukunft

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Wir schreiben das Jahr 1744 Der Morgen war klirrend kalt, als die Hebamme eilig ihr Bündel schnürte. Ihre Zähne klapperten, sie fror entsetzlich. Rasch kleidete sie sich an, während der Bauer draußen wartete. Bei seiner Frau wäre es soweit, meinte der durchnässte und frierende Josef. Er musste sich durch tiefen Schnee kämpfen, um zur Hebamme zu kommen. Sie lebte allein in ihrem Zweizimmerhäuschen, weit draußen außerhalb des kleinen Ortskerns. Bodnegg war dünn besiedelt und eine Streusiedlung, einen guten Tagesmarsch nördlich des Bodensees gelegen. Die Hebamme kannte die Probleme der Dorfbewohner und hat sich oft schon mit der Obrigkeit, vor allem mit der Geistlichkeit, angelegt. Diese knurrte ob dieser aufsässigen Frau, sie nahm sich kein Blatt vor dem Mund. Vor nicht allzu langer Zeit wäre sie wohl auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. So sehr wurde sie wegen ihres losen Mundwerks und ihres unerschrockenen Wesens gehasst. Ja, sie war eine salige Frau, der alten Heilkunst und Kräuterkunde mächtig, eine Heilerin, geachtet in der ganzen Gegend, allerdings nur bei den Untertanen der Grundherren. Einen Doktor gab es weit und breit nicht, hätte sich auch niemand leisten können, arm, wie die Menschen nun mal waren. Also wurde sie gerufen und sie half, wo sie konnte. Der Winter des Jahres 1744 war hart, als sich das vierte Kind von Josef Joos und Anna Maria Frickerin anschickte das Licht der Welt zu erblicken. Nicht nur die Witterung, selbst die Zeiten waren schlimm. »Und in dieses Elend hinein wird ein Kind geboren«, murmelte Josef vor sich hin. Die Hebamme sah ihn schweigend an und nickte. Sie wusste auch so, was er meinte und wie ihm zu Mute war. Josef machte sich Sorgen. Würde alles gut gehen, gut werden? Die Bewohner des Ortes Bodnegg waren durchwegs Bauern. In ihren Weilern und Gehöften versuchten sie, die schwere Zeit zu überstehen. Geld und Essen waren immer knapp. Die Obrigkeit presste aus den Untertanen heraus, das ganze Land war zunehmend verarmt in den letzten Jahrzehnten. Sorge um das Wohl und die Zukunft der Familie prägten den Alltag von Müttern und Vätern zu dieser Zeit. Aber nun verschlimmerte sich die Lage durch den bereits jahrelang tobenden Krieg. Wie immer, bezahlte das Volk bitter dafür. Hunger und Elend stellten sich bald ein.

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Schweigend stapften die Hebamme und Josef seinem Gehöft im Ortsteil Hochstätt zu. Das kleine Anwesen war bereits einige Joos-Generationen ihr Eigentum. Schon sein Großvater Johannes und seine Großmutter Catharina hatten darin gewohnt, wie auch sein Vater Sebastian und die Mutter Anna. Alle Joos-Kinder wurden hier im Haus, in der Stube, entbunden. Drinnen war es warm. Josefa, Mechthild und Theresia standen um die Mutter, die noch am Herd die Milchsuppe wärmte und die Hereinkommenden erleichtert begrüßte. Anna war eine kleine, aber kräftige Frau. Sie hatte von Kindesbeinen an gelernt zuzupacken, ihre Eltern hatten ebenfalls ein kleines Gehöft im Ort. Seit urdenklichen Zeiten wohnten die Fricker in Bodnegg. Sie kannte Josef natürlich schon von Kindheit an. Das Dorf hatte nicht viele Einwohner, einige Duzend Familien bewohnten den weitläufigen Ort. Und sie haben geheiratet, das war schon lange ausgemacht. Sachkundig untersuchte die Hebamme Anna und meinte dann lachend: »Es ist soweit! Anna, du kannst es, du bist jung und stark, also los!« Und tatsächlich! Bald ertönte der kräftige Schrei eines gesunden Buben in den anbrechenden Wintermorgen.

Unteraich Widdum

Hochstätt Kernort

Bodnegg Fricker

Hirscher Moos

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Er wollte nicht Kanonenfutter sein Anton wuchs heran und lebte mit seinen Eltern und seinen drei älteren Schwestern, im Südwesten Deutschlands, an der Grenze Oberschwaben zum Allgäu. Der Ort Bodnegg gehörte zur Vogtei Altdorf, allerdings waren die Herrschaftsverhältnisse für die Bewohner schwer zu durchschauen. Es war ein ständiges Gezänk zwischen dem Amtmann der Vogtei und der Klosterherren über die Herrschaft der Untertanen. Die Bewohner waren es leid, sie waren zermürbt und verarmt. Auch im Leben des Kindes und des jungen Anton tobten Kriege – mit all ihren verheerenden Folgen für das Land und die Menschen. Das Elend der Landbevölkerung nahm ständig zu. Die Welt dieser Jahrzehnte, ja Jahrhunderte, war keine fest gefügte, geordnete. Es war eine Welt von Kriegen und Seuchen, Hungersnöten und zwischendurch trügerischen Friedenszeiten. Für Leibeigene war dies eine Welt der absoluten Abhängigkeit vom jeweiligen Grundherrn, des ewigen Schuftens und Sorge um die Zukunft für die Familie. Ja, dieser Welt wollte und konnte Anton entfliehen. Irgendwo muss es doch einen Ort geben, wo eine andere Ordnung herrscht, Freiheit und Brot zu haben ist. Er wollte heraus aus diesem Teufelskreis der Armut und auch nicht Kanonenfutter für die Kriegsherren sein. Weder für die eignen noch für fremde Heere. Nicht sein Leben, seine Jugend, seine Zukunft verschenken. Frankreich warb in den 60iger Jahren um Siedler, vor allem für das Elsass. Auch drang immer wieder Kunde in den deutschen Ländern ein, dass »Drüben«, jenseits des Rheins, ein besseres Auslangen zu finden sei. So mag der Entschluss in Anton gereift sein, die Heimat, seine Familie zu verlassen und einige Tagesmärsche westlich ein besseres und sicheres Leben aufzubauen. Die Grenze zur Schweiz, der Rhein als Reisestrecke, lagen nahe. Ein Tagesmarsch zum Bodensee und mit einem Boot übergesetzt war er schnell in der Schweiz. Als Ruderknecht angeheuert könnte es geklappt haben.

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Blick in die Ferne Es ist ein wunderbar klarer, frischer Maimorgen. Ruhe liegt noch über den Fluren und Äckern. Ein letztes Mal noch geht er den Kirchberg hinauf, um vom Plateau aus die Kirche zu umrunden und einen Blick in die Umgebung seines Heimatdorfes zu werfen.

Kirche St.Ulrich und Magnus mit Pfarrhof

Eingebettet zwischen Nadel- und Laubwäldern liegen die Gehöfte und Weiler der Bewohner. Aus den dunklen Nadelwäldern leuchten die Laubbäume bereits in frischem Grün und in den wenigen Feldern der Bauern sprießt die Wintersaat. Hügel um Hügel berühren sich, soweit das Auge reicht. Noch stehen sie im Morgendunst. Aber heben sich die Lichtnebel von der stärker werdenden Sonne, sind hinter den Hügeln und Wäldern die Berge zu sehen. Der Bodensee gleißt silbergrau in der Ferne, wenn sich die Sonne darin spiegelt. Dahin wird er seine Schritte lenken, der See ist heute sein Ziel.

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Anton dreht sich um und geht in das Innere der Kirche. Imposant steht das Gotteshaus auf dem Berg, ein weithin sichtbares Zeichen der Frömmigkeit der Bewohner des Ortes und der ganzen Umgebung. Er kniet in einer Bank und denkt an seine erste Kommunion, die Hochzeit seiner Schwestern, die Taufen deren Kinder und bittet um Segen für sein Vorhaben. Auch Anton ist gottgläubig erzogen worden, wie alle Menschen in jenen Tagen. Niemand konnte es sich leisten, nicht zum Kirchgang zu gehen. Kirche und Adel waren mächtig, deren Wohlwollen zu erhalten lohnt sich. Aber Anton hat seine Zweifel, die er für sich behält. Das Elend und die Hoffnungslosigkeit der Menschen drücken schwer auf seinen Glauben an einen gerechten und gütigen Gott. Er hat angemessenen Respekt vor dem Herrn und der Obrigkeit, aber keine blinde Unterwürfigkeit gegenüber deren Gebote. Die Familie fürchtet, Anton könnte sein Mundwerk nicht halten und Schwierigkeiten mit der Obrigkeit bekommen. Manchmal möchte Anton schreien, wenn er an ihr mühseliges Leben denkt, ohne Aussicht auf mehr Grund und Boden, mehr Einkommen. Armut bricht den Stolz und verletzt die Seele. Es gibt viele kranke und verzweifelte Menschen! Schon lange war der Gedanke in Anton herangereift, den Vater und die Schwestern, seine Sippe, sein Dorf, zu verlassen. Hier hat er keine Zukunft. Nun ja, jetzt will er es im Elsass probieren. Etwas ganz Neues beginnen, sein eigener Herr sein, er spürte immer ein bisschen Abenteuerlust. Er bemerkt die Alte nicht, die leise die Kirche betreten hat und ihn beobachtet. Wie gut sie ihn kennt! Von Kindesbeinen an hat er bei ihr Zuflucht gesucht. Er war ein zartes Kind gewesen, schmalbrüstig, seine dunklen Augen und schwarzen Haare, die blasse Haut ließen ihn noch zarter erscheinen. Er kränkelte viel. Und nun ist er ein ansehnlicher junger Mann. Eher klein von Statur und da muss sie schmunzeln: »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm« – die JoosSippe ist nicht gerade als hünenhaft zu bezeichnen. Anton ist zwar immer noch nicht besonders kräftig gebaut, aber gesund und voller Tatendrang. Das volle, leicht gewellte Haar fällt ihm verwegen in die Stirn. Seine Augen! Ja, seine dunkelbraunen Augen könnten seinem Gesicht Sanftmut verleihen. Wäre da nicht der trotzige und oft zornige Blick, so als wollte er sagen: »Ihr werdet es schon noch sehen! Ich schaffe es! Ich breche aus!« Er ist ihr ans Herz gewachsen und nun sorgt sie sich um ihn.

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Anton schießen die Tränen in die Augen, als er sie sieht. Sie war es, die ihm zum Leben verholfen hat! Sie war es, die ihm geduldig zugehört hat in ihrem Häuschen, wenn er Kummer hatte oder zornig war. Die Mutter starb, als er noch ein Kind war. Seine Hebamme, nun schon alt und gebeugt. Sie war die Erste, die ihn in seinem Leben sah und nun die Letzte in Bodnegg. Sie treten aus dem Dunkel der Kirche in den hellen Maimorgen. Er nimmt die kleine Frau in die Arme. Sie macht ihm ein Kreuzzeichen auf die Stirn. »Pass auf dich auf und Gott schütze dich!« Das Kerndorf hinter sich lassend, nähert er sich einem Mischwald mit hohen Tannen und Fichten und mächtigen Buchen. Bilder der Erinnerung an seine Spielkameraden tauchen auf, der Wald war ihr Lieblingsspielplatz gewesen. Die Kindheit hinter sich lassend schreitet er den alten Waldweg wehmütig, aber dankbar voran. Abschied nehmend wirft er einen letzten Blick zurück und beginnt den Weg, der ihn endgültig in die Fremde führen wird, hinunter zum See, der Mittagssonne entgegen.

Weingarten Ravensburg Überlingen

Unte rsee

Konstanz

Bodnegg

Meersburg Tettnang

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den

see

Friedrichshafen

Lindau

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Der Himmel stellt keine Fragen Kaum hat Anton sein Dorf hinter sich gelassen, schreitet er zügig voran, pfeift ein Lied, um die Traurigkeit nicht hochkommen zu lassen. »Nur nicht nachdenken, nur nicht umschauen«, sagt er immer wieder leise vor sich hin. Zu Mittag möchte er in Friedrichshafen sein, um eine Fähre nach Konstanz bekommen. Das ist sein Reiseziel für den ersten Tag. In Gedanken versunken, vorbei an kargen Feldern, stillen Weihern, Mooren und Bächen nähert er sich der Stadt am See. Im Hafen liegen Boote und Schiffe, es wimmelt von Menschen, die vom See kommen oder hinüber möchten. Aber auch genug Schaulustige und Hausierer, die den Kommenden und Fahrenden ihre Ware feilbieten. Anton klemmt sein Bündel fester unter die Arme und macht sich auf die Suche nach einem Boot für den Untersee. Nach der Mittagszeit legen zwei Boote ab. »No, wo willst du denn hin?«, fragt der Bootsführer. »Über den Rhein hinauf in das Elsass!« »No, da pass mal auf dass du nicht gerupft wirst! Am Besten heuerst du als Ruderknecht an. Da bekommst ein Salär, Kost und ein Dach über den Kopf. Geh in Basel zur Schifferzunft und melde dich. Sie brauchen immer Ruderer!« Anton ist dem Alten dankbar für den Hinweis. Dieser warnt ihn auch, dass es sehr gefährlich ist auf dem Rhein. Der Strom ist reißend und viele Boote sind schon gekentert, die Besatzung mitsamt den Fahrgästen ertrunken. Anton will dennoch den Wasserweg wählen. Zu Land, über den Schwarzwald, dauert es erstens länger und zweitens müsste er auf dem Weg so manche Grenzen einiger Kleinstaaten passieren und vor allem auch Wegzölle entrichten. Plünderer hätten ebenfalls ein leichtes Spiel. Da schien ihm der Rhein doch weniger gefahrvoll. Gegen Abend landet das Boot in Konstanz am Eingang zum Untersee, und er muss eine Bleibe für die Nacht finden. Nun ist er schon eine Tagesreise von zu Hause entfernt und mit jedem Morgen würde die Entfernung von seiner Heimat zunehmen. Noch nie in seinem Leben war Anton alleine gewesen. Etwas wie Sehnsucht und Angst meldete sich in seinem Inneren. »Was wird aus mir?« fragte er sich bang. Aber er hat keine Wahl! Er musste da durch und hoffen, etwas Neues und Gutes zu finden. Früh am Morgen sollte ein Boot über den Untersee nach Stein ablegen. Von Stein ab fahren nur Flöße auf dem Rhein bis zum großartigen Rheinfall in Schaffhausen. Anton steht staunend vor den tosenden Wassermassen und

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begreift, dass da für Schiffe kein Durchkommen ist. Ja selbst bis Laufenburg setzen die vielen gefährlichen Stromschnellen der Schifffahrt enge Grenzen. Von Konstanz bis Basel durchbraust der Rhein ein enges Tal, ein schmaler Streifen zwischen den Ausläufern des Schwarzwaldes und dem Juragebirge. Anton staunt über hunderte von Mühlen, die sich mit gewaltigen Rädern in die Wassermassen schaufeln. Floße bringen Reisende stromabwärts, denn die Schiffbarmachung ist erst ab Basel möglich. In Basel angelangt, geht er zur Zunft und sieht schon von weitem die wartende Männerschlange. Er schluckt. So viele! Würde er da überhaupt noch drankommen? Bange bemerkt er, wie sich die Zeit verlangsamt, es scheint nichts und nichts weiter zu gehen. Als er an der Reihe ist, ist es weit über Mittag. Er kann anheuern, unterschreibt einen Contract und es wird ihm beschieden, dass mehrere Boote in zwei Tagen abgehen würden. Das kostet wieder Zeit und Geld. Dieser unfreiwillige Aufenthalt würde an seinen knappen Geldreserven nagen. Er sucht ein billiges Gasthaus für die Nacht und treibt sich tagsüber in Hafennähe herum, um möglichst viel über die Fahrt auf dem Rhein und das Elsass zu erfahren. Schließlich ist der Morgen der Abreise angebrochen. Er begibt sich auf das Boot, meldet sich beim Bootsführer, zeigt seinen Contract. Der Bootsführer mustert ihn von oben bis unten und wieder hinauf. »Ein bisschen schmal bist, Bürscherl«, sagt er nicht unfreundlich. Anton versichert, er sei harte Arbeit gewöhnt. Ein Ruderplatz wird ihm zugewiesen und es geht los! Bald treten die Berge zurück und der schlammbraune, nun träge Fluss bahnt sich den Weg durch offeneres Land. Ausgedehnte Kies- und Sandbänke mit hunderten von Inseln bieten Watvögeln und Weißstörchen Platz zum Nisten und Rasten. Gesäumt von Auwäldern mit zahlreichen Eichen, Ulmen, Pappeln und Weiden, deren silberne Blätter spielerisch im Sonnenlicht blitzen. Die blaudunstigen Schwarzwaldkämme zur rechten Seite und im Gegenüber die dunklen Kammlinien der Vogesen, durchfließt der Strom im Wechsel Ebene, Hügelland und Gebirge. Und über dem Schiff, seiner Besatzung, ein sattes himmelsblau. Das träge Fließen des Stromes weckt in Anton den Fluss des Erinnerns. Wieder kommt ihm seine Kindheit in den Sinn. Das Leben war hart, manchmal auch karg. Aber schön war es für ihn doch. Die Kinder, mit denen er gespielt hatte, die

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Rh ein

Natur, tauchen vor ihm auf. An den Geruch der Wiesen und Felder, den Duft der Blätter erinnert er sich. Und über ihnen der Himmel, so wie auch jetzt auf der Fahrt auf dem Rhein. Der Himmel stellt keine Fragen nach dem Woher und Wohin. »Er umarmt uns alle«, sagt Anton laut vor sich hin und ist zuversichtlicher. Trotz seines hitzigen, leicht aufbrausenden Wesens hat Anton einen weichen, verletzlichen Kern.

Vogesen

Elsass

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Fort Louis

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Friedrichshafen Basel

Rhein

Konstanz Schweiz

Unten am Fluss Anton war nun schon einige Tage rheinabwärts unterwegs. Es war hart. Die Arme, die Hände, der Rücken, der ganze Körper schmerzte von der anstrengenden und ungewohnten Arbeit. Aber er hielt durch! Sie näherten sich, von Strasbourg kommend, der mächtigen Festung Fort Louis. Da war für Anton Endstation. Geschickt manövrierte der Steuermann das Boot an die Anlegestelle und die Schiffsleute stürmten an Land, verstreuten sich in die vielen Schänken der Stadt Fort Louis. Vom Schiffsmeister bekam Anton seinen Lohn und suchte einen Gasthof, in dem er sich ein bisschen umhören und ein Nachtquartier finden konnte. Im »Gasthaus zum Anker« kehrte er ein. Lautes Männerlachen drang ihm entgegen und dichter Qualm nahm ihm den Atem. Er suchte sich einen Platz auf einer Bank und bestellte beim dicken Wirt Wein und Käse.

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Der Neuankömmling wurde nur kurz gemustert. »Aha, wieder ein Neuling, wohl ein Schwabe« und schon war er mitten drin in diesem elsässischem Gemisch an Sprachen und Trachten. Die Menschen waren freundlich, gewöhnt, Fremde in ihrem Ort zu haben. Viele sind schon her- und durchgezogen, sogar aus der Schweiz, in der Hoffnung, in dieser Gegend ein besseres Leben aufbauen zu können. »Nun ja, sie suchen immer wieder tüchtige Leute«, meinte der Wirt. Die Stadt Fort Louis wurde im Zuge der Garnison aufgebaut, zwischen 3000 und 4000 Soldaten sind im Fort stationiert. Das braucht es schon immer wieder tüchtige Arbeitskräfte! Der Wirt schmunzelte ein wenig. Er musterte den jungen Mann von der Seite. Offensichtlich war er schon lange unterwegs und hatte doch saubere Kleidung, schaute gar nicht heruntergekommen aus. Sogar die Stiefel waren blitzblank geputzt! »Der Junge gefällt mir«, dachte der Wirt. Anton merkte die Musterung wohl und war froh, dass er sich vor dem Ort noch die saubere Hose und Joppe angezogen und die Stiefel gebürstet hatte. Einen wohlwollenden Fürsprecher konnte er da schon gut gebrauchen. Er sehnte sich danach, dass die Wanderung ein Ende hat. In einer Ecke saßen einige Männer und tranken Wein. Der Wirt trat hinzu und wechselte einige Worte mit ihnen. Lachend kam er in Antons Ecke und sagte: »Na siehst du, du sollst zu ihnen an den Tisch kommen. Sie suchen einen Gärtner!« Anton musste schlucken, Gärtner war er gerade nicht, er hatte im Weinbau gearbeitet, konnte aber immer geschickt die Reben zurechtstutzen und auch die elterlichen Obstbäume waren ihm anvertraut. Er gesellte sich also zu den Männern. Darauf hin spendierte der Wirt ein Glas Wein und Anton war ihm für seine väterliche Fürsorge dankbar. Für diese Nacht bekam er einen Strohsack in einer Kammer zugewiesen, morgen wollte er dann weiter sehen. Am nächsten Tag begibt sich Anton zu einer der Gärtnereien, die die Garnison beliefern. Er bespricht sich mit dem Gärtnermeister und sie kommen überein, dass er morgen anfangen kann. So bleibt für den heutigen Tag noch Zeit, die Gegend zu erkunden, vor allem die Bastion Fort Louis anzuschauen. Er geht eine lange Pappelallee entlang um zur Garnison zu gelangen und auf dem Weg dahin bemerkt er die riesigen Ausmaße der Anlage. Mehrere Zitadellen und Kasernen sind zu einer Bastionskette aufgebaut. Zwischen der Stadt und dem Fort liegt der Hafen. Er sieht eine Mühle, die im Strom hängt und durch die starke Strömung betrieben wird. Der Müller scheint auch Wirt zu sein, denn an der Vorderseite des Hauses steht die Aufschrift »Zum weißen Schwan«

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Anlage der Festung Fort Louis - rechts der gitterförmige Grundriss der Stadt

Über allem aber liegt ein eigenartiger, modriger Geruch. Oder ist es Verwesung? Anton weiß es nicht, er merkt nur, dass ihm schlecht wird. Seine Nase ist da sehr empfindlich. In der Stadt und in der Garnison leben und arbeiten Menschen aus den verschiedensten Regionen Europas, in Eintracht und bei erträglichem Einkommen. Anton hat schon bemerkt, dass auch die Stadt Fort Louis gut von der Garnison lebt. Viele Handwerker leben vom Ausbau und Erhalt der Festung. Unzählige Schänken und Herbergen sorgen für das leibliche Wohl. Sogar eine deutsche und eine französische Schule gibt es im Ort. Ein Kapuzinerkloster und die Stadtkirche sind für die Christenseelen zuständig.

Gasse in Fort Louis

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Anton gewöhnt sich rasch an seine Umgebung. Sein ganzes Wesen aber strahlt Rastlosigkeit aus. Er ist empfänglich für Abenteuer und will Neues wagen. Daher fällt es ihm leicht, sich nach zusätzlichen Verdienstmöglichkeiten umzusehen. Er ist dabei, sich in seiner Freizeit ein zweites Standbein zu schaffen. Er ist Fuhrwerker für Offiziere, die, wenn sie in ihrer Freizeit nach Hagenau oder gar nach Strasbourg wollen, gerne die Dienste des jungen Schwaben in Anspruch nehmen. Es ist Frühjahr und Anton ist unruhig. Er hat ein gutes Salär durch seine Arbeit in der Gärtnerei und dem Fuhrwerk. Er wird schon gehänselt, er sei schon über zwanzig Jahre alt und habe noch kein Mädchen! Außerdem muss er weg aus der Stadt. Da kann er nicht noch ein Jahr lang bleiben! Das Klima ist ungesund, so nahe am Wasser. Bei Hochwasser und Überschwemmungen reißt der Rhein einzelne Festungsteile einfach mit sich. Viele Tümpel bleiben auf der Insel zurück und sind eine Brutstätte für Mücken, die das Fieber bringen. Durch die ständige Feuchtigkeit und den Nebel bekommen viele junge Soldaten, Knechte und Mägde, aber auch die Stadtbewohner Sumpffieber und Typhus und sterben reihenweise weg. Die Schreiner in der Stadt hatten auch in Friedenszeiten in so manchen Monaten bis zu fünfzig und auch schon über hundert Särge zu zimmern. Das Schlimmste aber ist, dass bei Überschwemmungen vom Friedhof die Leichen an die Oberfläche getrieben werden. Da ist im Frühjahr der Gestank unerträglich, so wie damals, als Anton das erste Mal nach Fort Louis kam. Also, nichts wie weg hier!

Lena Anton geht auf Brautschau. Er sucht ein ehrbares Mädchen aus Fort Louis oder aus den umliegenden Dörfern. Eine ist ihm schon aufgefallen bei seinen Fahrten über das Land. Immer wieder beobachtet er das Mädchen, gibt ihr heimlich Zeichen und sie senkt errötend den Kopf. Anton wertet dies als Zustimmung. Wie aber soll es weitergehen, wie ihr nahe kommen? Was werden ihre Eltern dazu sagen? »Ich kann doch nicht einfach hingehen und sagen: gebt mir euer Mädchen!«, vertraut sich Anton seinem Gärtnermeister an. »Die werden doch sagen, so ein daher gelaufener Nichtsnutz, was will denn der bei uns!« Betrübt lässt Anton den Kopf hängen und weiß keinen Ausweg. Der junge Mann ist dem alten Gärtner ans Herz gewachsen. Er ist tüchtig. Sogar im Winter, wenn es im Garten nichts zu arbeiten gibt, sucht er sich bei den Schreinern und Bierbrauern Arbeit. Schaut auf seine Kleidung, kann zupacken, nur ein bisschen jähzornig ist er halt. Er beschließt, dem Jungen zu helfen, der ihm in diesem Jahr wie ein Sohn wurde.

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»Weißt was, du brauchst einen Brautwerber! Hast ja niemand, der das für dich machen könnt. Ich werd` zum Vater von dem Mädchen gehen und für dich um ihre Hand anhalten! Gleich am Samstag nach dem Essen geh` ich hin!« Und so kommt es auch. Der Gärtner bittet Martin Pfäster um die Hand seiner Tochter Lena für Anton, schildert diesen als braven und rechtschaffenen Burschen und wartet auf eine Antwort. Die Mutter hat natürlich schon längst mitbekommen, dass sich ihre Tochter in den jungen Mann verschaut hat. Sie staunt nicht schlecht, als sie das Anliegen des Gärtnermeisters hört. Gespannt blickt sie zu ihrem Mann und sieht schon ein Donnergrollen heraufziehen. Der sagt zuerst nichts, runzelt nur die Stirn, schüttelt den Kopf und weiß eigentlich nicht so recht, wie er sich entscheiden soll. Schließlich nickt er zustimmend und schenkt ein Glas Wein ein. Der Gärtner ist zufrieden und schmunzelt. Das Aufgebot wird bestellt. Am dritten Sonntag soll Hochzeit sein. Der Vater lässt sich nicht lumpen, im »Gasthaus zum Anker« wird die Hochzeitstafel ausgerichtet. Es wird getanzt und gezecht. Zu Mitternacht wird der Braut der Brautschleier abgenommen und ihr zum Zeichen der Frauenwürde die Haube aufgesetzt. Das Brautpaar wird hochgejubelt und dann begeben sie sich in ihre Kammer, die sie im Elternhaus der Braut zugewiesen bekommen haben.

Schicksalsschlag Anton hat sich fest vorgenommen, so schnell wie möglich ein eigenes Heim zu schaffen. Er schuftet Tag und Nacht, kann tatsächlich einiges ansparen und bald kann er eine Kate erwerben. Es ist eine gute Ehe mit Lena. Sie sind zufrieden mit ihrem Leben. Anton wird immer öfter auch in Herrschaftshäuser geholt, er hat einen guten Ruf als Gärtner. So beschließt er, seinen Dienst aufzugeben und sich als Gärtner selbständig zu machen. Dem alten Gärtner ist es leid um den jungen Mann, er weiß aber selbst, dass das hier keine Zukunft für ihn ist. Also lässt er ihn ziehen, nicht ohne ihm das Versprechen abzuknöpfen, ihn zum Wahlgroßvater zu machen. Lena ist eine tüchtige und gute Hausfrau und schon bald wird das erste Kind, geboren. Jahre vergehen, im ständigen Auf und Ab der inneren Ruhe in der Familie und der äußeren im Land. Sechs Kinder haben sie nun schon miteinander. Anton wird immer angesehener in der Gegend. Mit seinem Gartenbetrieb, seinem Fuhrwerk kommt er viel in der Gegend herum. Und er bemerkt Veränderungen. Zunächst unscheinbar, aber innerhalb einiger Jahre ist es

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offensichtlich: das Volk verarmt. Auch in Fort Louis, der blühenden, durch die Garnison einst reich gewordenen Stadt, geben Handwerker auf, Wirte machen ihre Schänken zu, Schneider ihre Werkstätten. Die Adeligen, die Grundherren, pressen immer mehr heraus, die Steuerbelastungen werden von Jahr zu Jahr höher. Unfreie Bauern müssen fast den ganzen Ertrag der Ernte an ihre Grundherren abliefern. Plünderungen nehmen zu. Der Hass des Volkes richtet sich gegen den König im fernen Paris, der, wie man hört, ein Prasserleben führt, während das Volk darbt. Die in Fort Louis spüren das nicht so arg wie die anderen draußen in den Dörfern, die nicht von einer Garnison leben können. Das Leben ist unsicher geworden. Anton und Lena machen sich Sorgen, wie es wohl weiter gehen wird. Viele sind schon weggegangen. Anwerber sind in die Stadt gekommen und haben den Himmel auf Erden versprochen, da unten in Hungarn. Aber die beiden haben das nie in Erwägung gezogen. Solange sie ihr Auslangen haben, wollen sie ihre Existenz nicht aufgeben. Wieder hat die Schneeschmelze eingesetzt. Das Frühjahr ist warm und sonnig, in und um die Garnison steht das brackige Wasser des Rheins – eine Brutstätte für allerlei Mücken. »Das wird heuer wieder eine Plage!« sagen alle in der Stadt. Und tatsächlich, wieder bricht eine Epidemie aus, viele bekommen das Sumpffieber oder Typhus. Auch Lena wird krank, bekommt Fieber. Sie nimmt es nicht so ernst. Das hat sie immer wieder mal gehabt und es war nie schlimm gewesen. Aber das Fieber steigt und steigt. Der Arzt wird geholt und sagt zu Anton: »Es steht schlimm um Lena, die wird nimmer!« Anton setzt sich auf den Stuhl neben die Sterbende und betrachtet die kleine Gestalt. Das dunkle Haar hat sich aus dem Knoten gelöst, vorwitzige Locken umrahmen ihr blasses, eingefallenes Gesicht. Die Augen sind vor Erschöpfung geschlossen. Ja, ihre Augen! Sie hatte dem leicht aufbrausenden Wesen von Anton nichts anderes entgegenzusetzen gehabt als einen ruhigen Blick aus ihren sanften braunen Augen, die ganz ihrem Wesen entsprachen. Sie wusste, Widerspruch würde ihn nur noch mehr reizen und sie wollte ganz einfach ihre Ruhe haben. Sie hatte genug am Hals, die Sorge um das tägliche Brot, die Kinder, die harte Arbeit. Ihre Sanftheit war unversehrt geblieben in ihrem harten Leben. Es ist ja nicht üblich, dass sich Eheleute Zuneigung zeigen. Es ziemt sich nicht.

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Heiraten und Kinder bekommen, das ist der Zweck der Ehe! Er nimmt fast scheu ihre Hand in seine, streichelt sie. Das schwere Leben hat Spuren auf ihren Händen hinterlassen. Anton bemerkt, wie ihre Hand seiner entgleitet, langsam das Leben aus ihrem Körper weicht, die Haut aschfahl, der Blick starr wird. Lena ist tot! Wie lange sitzt er da, ohne sich zu rühren, zu begreifen? Er steht auf, geht zur Wand, legt die Handflächen auf das raue Holz und stößt mit dem Kopf immer wieder verzweifelt daran. Tränen und Zorn springen ihm aus den Augen. »Kann denn nichts bleiben, wie es ist?« fragt er grimmig. Anton ist nun Witwer, kaum 40 Jahre alt. Er scheint keinen Halt mehr zu haben, verfällt in eine Starre. Vergisst seine Arbeit, kümmert sich um keine Aufträge. Und er hat Angst. Angst, wie das Leben ohne Lena weiter gehen soll. Die Größeren, Toni und Margarethe, kümmern sich um die Kleinen. Margarethe geht zur Pfäster Oma und sie hilft ihnen über die erste Zeit hinweg. Sollte es so weiter gehen, verliert Anton noch seine Geschäfte. Dem alten Gärtner wird es zu bunt. Er beschließt, Anton gehörig den Kopf zu Recht zu rücken. Das wär` doch gelacht, dass er zuschauen müsste, wie er vor die Hunde geht! Der Alte liest Anton die Leviten und erinnert ihn an das Versprechen, das er Lena auf dem Sterbebett gegeben hat, sich gut um die Kinder zu kümmern. Der Gärtner erinnert Anton noch an etwas: »Lena hat auch gesagt, du sollst dir wieder eine Frau nehmen. Wart nicht die Trauerzeit ab, das kannst du dir nicht leisten! Es muss wieder eine Frau ins Haus!« Hat Anton einen einsichtigen Tag erwischt? Oder hat sein alter Lehrmeister ganz einfach die richtigen Worte gefunden? Er steigt in den Zuber, wäscht sich gründlich, versammelt die Kinder um sich und sagt zu ihnen: »So, euer Vater ist aufgewacht. Ab heute weht ein neuer Wind!« Erleichtert schauen sich die Kinder an, Franzi verdrückt ein paar Tränen, die Kleinen drängen sich auf den Schoß des Vaters. Toni richtet als Erster die Frage an den Vater: »Was heißt das, was hast du vor?« »Ich will eine neue Mutter für euch finden, außerdem muss wieder eine Frau ins Haus! Sonst geht hier noch alles drunter und drüber.« Besorgt oder verängstigt schauen sich die Kinder an. Was haben sie nicht schon alles über Stiefmütter gehört, wagen aber nicht, dies vor dem Vater zu äußern.

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Das Mädchen von einst Anton grübelt, welche Frau wohl für ihn und als Mutter der Kinder in Frage käme. Hier in der Stadt fällt ihm keine ein. In den Ortschaften rund um Fort Louis, wie sieht`s da aus? Er kommt ja viel herum, kommt ihm keine in den Sinn?

Lauterbourg

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Betschdorf

DE UT SC HL AN D

Wissembourg

Rastsatt

Roeschwoog Hagenau

Fort Louis

Da begegnet ihm Georg Jelimann mit seiner Tochter. Er betreibt die Poststation in Roeschwoog. Das Dorf liegt nur einige Meilen von Fort Louis entfernt, zu Fuß in einer Stunde leicht zu schaffen. Mit dem Pferdegespann ist es eine Kleinigkeit. Ja, das Mädchen gefällt ihm. Wie alt mochte sie nun sein? Mitte zwanzig vielleicht? Er erinnert sich, als er noch neu in der Gegend war und er in seiner Freizeit in umliegende Dörfer wanderte, um Land und Leute kennen zu lernen. Des Öfteren war er an der Poststation vorbeigekommen. Hier war immer etwas los, ein Treffpunkt und Umschlagplatz für Neuigkeiten. Da gab es ein kleines Mädchen, fröhlich und naseweis. Er steckte ihr manchmal Lakritze zu und sie begleitete ihn hüpfend ein Stück des Weges. Das musste sie sein! Anton beschließt, nicht mehr locker zu lassen. Wenn sie zu haben ist, muss es diese sein! Er weiß, sie hat eine gute Schulbildung, er kann auch lesen und schreiben, zusammen müssten sie es schaffen etwas aufzubauen. Außerdem gefällt sie ihm.

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Magdalena kennt ihn. Sie erinnert sich an die Neckereien, wenn er bei ihnen auftauchte. Sie mochte den fröhlichen jungen Mann, der immer ein lustiges Geplänkel mit ihr anfing. »Den will ich mal heiraten!«, sagt sie zu ihrem Vater im ernsten Ton. Die Mutter war gestorben, als sie noch ganz klein war. Inzwischen ist Magdalena zu einer Frau herangereift. Sie wurde gelehrt, sittsam zu sein und demütig, wie es einer Frau geziemt. Aber in ihren braunen Augen blitzen Trotz und Hunger nach Leben. Sie ist stolz und geht hoch erhobenen Hauptes, hat eine gute Schulbildung. Sie spricht nicht nur den alemannischen Dialekt der Gegend, nein, sie kann auch leidlich französisch, das ja sonst den Adeligen vorbehalten ist. In ihrem Stolz aber ist sie nie überheblich. Sie hilft allen, die in die Poststation kommen Schriftstücke zu verfassen, Eingaben zu machen oder einfach Briefe an die Lieben daheim zu schreiben. Immer wieder hat sie Anton gesehen, auch als Heranwachsende, war verlegen und errötete, wenn er beim Vater herein schaute. Sie hat gehört, dass er geheiratet hat. Kurzfristig hatte sie sogar Liebeskummer. Es ist Sonntag. Und da bemerkt sie ihn. Er kommt gerade mit seinem Gespann die Straße zur Kirche herauf.

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Anton steigt ab, begrüßt einige Nachbarn, auch den Vater, der bei der Gruppe der Männer steht. Beim Mittagessen sieht der Vater Magdalena lange und prüfend an – wie ihr scheint - und der Bissen bleibt ihr im Hals stecken, als er sagt: «Die Frau von Joos Anton ist gestorben. Ganz plötzlich. Innerhalb einiger Tage hat sie das Fieber weggerafft. Er will uns besuchen!« Sie ist durcheinander. Was hat das zu bedeuten? Am nächsten Sonntag ist Anton in der Messe in Roeschwoog. Er setzt sich in die Männerreihe. Immer wieder schaut er zu ihr hinüber. Sie bemerkt es wohl und ihr Herz klopft. Unruhig rutscht sie hin und her und kann das Ende der Messe kaum erwarten. Draußen, auf dem Kirchplatz, stehen der Vater und Anton beisammen. Er nickt ihr lächelnd zu. Heimlich betrachtet sie ihn. Er ist schlank, hat noch immer dunkles, leicht gewelltes Haar und einen fein säuberlich gestutzten Schnurrbart. Der breitkrempige Hut der Tracht verleiht ihm etwas Verwegenes, Draufgängerisches. Allerdings stehen seine langsamen und bedächtigen Bewegungen dazu im Gegensatz. Anton ist einfach nur müde. Müde und will wieder zur Ruhe kommen, ein geordnetes Leben führen, als Mann und Familienvater. Ungeduldig erwartet Magdalena die Rückkehr des Vaters. »Na, was habt denn ihr beide so Ernstes zu besprechen gehabt?« Dieser gibt nur eine kurze Antwort. »Er will uns am Samstag Nachmittag besuchen!« Ihn erschreckt der Altersunterschied nicht. Aber was wird wohl seine Tochter von der Verbindung halten? Schließlich weiß er nicht, ob sie ihn überhaupt mag und außerdem wird sie auf einen Schlag gleich Mutter von sechs Kindern! Wird sie das schaffen? Konnte er ihr das zumuten? »Sie wird es schaffen«, sagt der Vater laut vor sich hin, um sich selbst zu beruhigen. Anton ist zuversichtlich. »Ich werde um ihre Hand anhalten«, entschließt er sich. Er zieht seine beste Tracht an, sagt zu den Kindern: »Kinder, ihr bekommt eine neue Mutter!« und geht. Verdattert und ängstlich starren ihm die Kinder nach. Margarethe löst sich als Erste aus der Starre und eilt ihrem Vater nach: »Sag, wer soll`s werden?« Anton schaut seine Tochter an, streicht ihr über die Haare und sagt: »So Gott will und sie auch, die Jelimann Magdalena aus Roeschwoog!«

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Das Mädchen ist platt. Wieso so plötzlich und woher kennt Vater sie? Sie eilt ins Haus und winkt Toni, ihr nach draußen zu folgen. Die Kleinen brauchen das nicht hören. »Stell dir vor, die Jelimann Magdalena soll unsere neue Mutter werden. Na, ob das gut geht. Die wird sich wundern, die vielen Kinder. Ich bin schon froh, da habe ich …« Toni hört ihr gar nicht richtig zu. Er kennt sie, er war mit dem Vater manchmal Wein liefern in Roeschwoog, auch bei den Jelimanns. Sie gefällt ihm ausnehmend gut. Er hat einen Blick für Mädchen und Frauen und ihren Proportionen, auch wenn sie mehrere Röcke übereinander und dicke Strümpfe tragen. Toni muss schlucken. Sie soll also zu ihnen ins Haus kommen. Er fängt zu schwitzen an. Nicht, dass er sich auf sie Hoffnungen macht, er ist viel zu jung für sie. Aber seine Fantasie hat sie schon angestachelt. Ungeduldig warten die Kinder auf die Rückkehr des Vaters.

Eine neue Zeit beginnt Anton betritt das Posthaus von der Rückseite. Da begegnet ihm Magdalena, die gerade in den Garten will. »Magdalena, hast ein bisserl Zeit. Ich wollt` gern mit dir reden!« Diese nickt stumm und führt ihn zur Bank unter dem Apfelbaum. »Du weißt, meine Lena ist gestorben und ich brauch wieder eine Frau. Du würdest mir schon gefallen. Was meinst? Kann ich heut` mit deinem Vater reden und um deine Hand anhalten?« Magdalena starrt ihn an. Sein bubenhaftes Lachen, das aus seinen braunen Augen blitzt, raubt ihr den Atem. Ihre Nasenflügel zittern, der Mund wird trocken und sie muss sich räuspern. Das kleine spitze Kinn reckt sich empor, ihre Gestalt richtet sich auf. »Der geht es aber direkt an. Kein Wort, dass er mich mag«, sagt ihr innere Stimme ungehalten. Allerdings weiß sie auch, dass das nicht üblich ist, bei einem Mann schon gar nicht. Anton sitzt ebenfalls kerzengerade und erwartet eine Absage. »Was ist mit deinen Kindern? Die kennen mich doch gar nicht!« versucht sie Zeit zu gewinnen. Anton lacht: »Heißt das, du sagst ja?« Jetzt wird Magdalena zornig, weil er sie ertappt hat. «Ich hab` noch gar nichts gesagt! Nur nach den Kindern gefragt!« Anton schaut sie direkt an. Die braunen Haare haben sich gelöst, ihr starken Wangenknochen stehen im Gegensatz zur zarten Nase, ihr Dialekt, gefärbt von der französischen Sprachmelodie, verleiht ihr etwas Reizvolles. »Du gefällst mir und ich weiß, wir können uns eines Tages mögen! Eigentlich

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tun wir das schon, seit du noch klein warst, weißt du noch? Um die Kinder mach` dir keine Sorgen! Toni, Margarethe und Mathias sind schon groß und die Kleinen werden sich schnell an dich gewöhnen.« Stille. »Na, was sagst Magdalena?« Anton wurde zunehmend unbehaglich zu Mute. Sollte er sich getäuscht haben und sie mag ihn doch nicht? »In Gottes Namen, gehen wir zum Vater!« Anton schaut sie mit einem befreiten und herzhaften Lachen an, drückt ihr ganz kurz die Hand und geht mit ihr in das Innere des Hauses. Der Vater hat vom Stubenfenster alles beobachtet. Seine Tochter wird es schaffen! Sie ist stark und gesund. Wie ihre Mutter resolut und dickköpfig. So wird die Hochzeit beschlossen, das Aufgebot in der Kirche von Röeschwoog bestellt.

Da Anton in Fort Louis lebt und arbeitet, findet am 4. Februar 1782 die Trauung in der kleinen Kirche statt.

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Es ist eine stille Hochzeit, noch gilt das Trauerjahr. Wohnen werden sie in Roeschwoog, in einem alten Hof, im Volksmund »Dinarahof« genannt. Ein wenig bange ist Magdalena vor den Kindern. Sie schart sie um sich und sagt: »Kinder, ich bin nicht eure Mutter, die kann euch niemand ersetzen. Sie war eine gute und starke Frau. Aber, ich will für euch da sein, wenn ihr mich braucht. Und ich bitte euch mir zu zeigen, wie ihr alles bisher gemacht habt. Zeigt ihr mir auch den Grabhügel eurer Mutter? Wir können frische Blumen hinbringen, wenn ihr wollt.« Franzi starrt schon wieder, das macht sie immer, wenn sie erstaunt ist. »Na, das fängt gut an. Wenigstens will sie nicht unsere Mama ersetzen. Also gut, ich probier`s mit ihr!« Die Großen haben sich ohnehin vorgenommen, die Stiefmutter zu unterstützen. Schließlich sind sie keine Kinder mehr. Der Vater kann sich auf sie verlassen! Und sie ist ja wirklich lieb zu den Kindern.

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Ja, die Kleinen sind anfangs noch ein wenig scheu. Aber bald klettern sie auf den Schoß der neuen Mutter und eines löst ihren Haarknoten. »Wau, so schöne Haare – Franzi, mach den Mund zu«, meint frech der kleine Georg. Franzi zeigt ihm die Zunge und fragt Magdalena, ob sie ihr die Haare kämmen darf. Toni ist ganz verwirrt. Bemerkt nur er, als er die aufgelösten Haare sieht, dass die neue Frau seiner Mutter sehr ähnlich sieht? Nur jünger halt und etwas größer. Also haben sie nicht nur die gleichen Namen, auch im Aussehen ähneln sie sich. Magdalena übernimmt schnell und resolut den Haushalt. Alles blitzt vor Sauberkeit. Sie kümmert sich auch um die Schule der Kinder und unterstützt Anton in der Gärtnerei. Es stellt sich heraus, dass ihre französischen Kenntnisse sehr vorteilhaft für das Geschäft sind. Sie wird schwanger. Schonung kennt sie nicht, sie ist ja gesund und stark. Außerdem, keine Frau in dieser Zeit kann sich schonen. Es sei denn, sie ist Grundherrin und womöglich Adelige. Aber die Frauen aus dem Volk schuften bis zum Schluss. Josef, ihr Erstgeborener, kommt am 7. April 1783 im Dinarahof zur Welt. Margarethe ist eine geschickte große Schwester, sie ist eine Entlastung für Magdalena. Toni ist bei seinem Vater in das Geschäft eingestiegen und sogar einen jungen Knecht haben sie eingestellt. Den Lorenz Werner, einen Roeschwooger. Lorenz sollte in ihrem Leben noch eine wichtige Rolle spielen.

Sorge um die Zukunft Die Zeiten werden immer unruhiger, es gärt im französischen Volk. Die wirtschaftliche Lage ist katastrophal, auch Anton spürt es. Er macht sich große Sorgen, bekommt immer weniger Aufträge, das Geld wird knapp. Aus Fort Louis, der einst reichen Stadt, sind schon viele weg gezogen, die Stadt ist kleiner geworden. In Roeschwoog gibt es fast nur Bauern und auch sie wurden von Jahr zu Jahr ärmer. Es ist September, im Jahr 1785. Immer mehr gehen weg aus dem Elsass. Der Hunger treibt viele fort, Not und Elend regieren. Es gibt zu viele Menschen und zu wenig Brot. So kann es nicht weiter gehen. Sie müssen sich etwas überlegen! Anton trifft sich in der Schänke »Zum Goldenen Löwen« mit Schäffer Johann, Heyd Hans und Anton Böcker, Roeschwooger Nachbarn und Freunde. Sie stimmen überein, sie müssen etwas unternehmen. Warum nicht das Wagnis eingehen und über Wien nach Hungarn ziehen?

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Zweifel plagen die Männer, aber es ist ihnen auch bange vor der Zukunft hier im Elsass. Es liegt etwas in der Luft. Mit wem immer man spricht, jeder hat Angst vor etwas, das sie nicht benennen können. Aber es ist da, sie ahnen, was immer es auch sein möge, es würde nichts Gutes bedeuten. Die Alten sagen: «Es riecht nach Krieg!« Anton mochte gar nicht daran denken, mit seiner Familie für immer weg zu gehen. »Ist es nicht besser jetzt, wo wir noch stark und gesund sind? Was wird Magdalena dazu sagen?« Es ist wie damals, als er noch jung war und von zu Hause fort ging. Nur, diesmal hat er eine große Familie und als Oberhaupt ist er für ihr Schicksal verantwortlich. Das macht die Entscheidung, das Weggehen schwieriger. Diesmal hat er auch etwas zu verlieren. Er hat eine - wenn auch bescheidene - Existenz aufgebaut. Aber durch die wirtschaftliche Lage im Land droht ihm ohnehin früher oder später ihr Verlust. Das ließe sein Stolz nicht zu! Lieber rechtzeitig das Schicksal selbst in die Hand nehmen und nicht abwarten, dass alles zu Grunde geht.

Anton ringt tagelang mit sich, was wohl das Beste wäre. Schließlich beschließt er, mit Magdalena zu sprechen. Diese hat natürlich schon tagelang bemerkt, dass ihn etwas beschäftigt, ja quält. Aber sie hat gelernt zu warten. Zunächst ist sie sprachlos, als Anton von den Plänen der Männer erzählt. Sie macht sich Sorgen, hat Angst. Angst, dass sie falsch entscheiden, ihr Leben und das der Kinder aufs Spiel setzen könnten. Sie spricht mit den Frauen der Männer und bemerkt, dass das Mut macht. Gemeinsam würden sie es gewiss schaffen und alles wird gut werden.

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Abenteuerlust oder Mut der Verzweiflung? Magdalena sitzt auf der Hausbank, in ihr schwarzes Schultertuch gehüllt und friert trotz der schon recht warmen Mittagssonne. »Der Winter neigt sich dem Ende zu«, seufzt sie. Es ist März des Jahres 1786. Sie macht sich Sorgen. Worauf haben sie sich da nur eingelassen! Als Anton vor Monaten mit der Nachricht nach Hause kam, war er aufgeregt und wie im Fieber. Sie beschlossen noch im Herbst, trotz der Mühsal und der Sorgen um die Kinder, im darauf folgenden Frühling das Wagnis einzugehen. Sie wollen weg! Inzwischen aber war Magdalena wieder schwanger geworden. Kurz verwarfen sie den Gedanken der Auswanderung. Aber sie fühlte sich stark und gesund. Außerdem wollten ja auch andere Roeschwooger Familien weg und wenn sie schon gingen, dann mit ihren Freundinnen. Sie würden sie unterstützen, falls es für sie schwierig würde. Mit dem Ersparten und dem Verkauf ihres bescheidenen Eigentums können sie das Weggehen wagen und auch die Abreisetaxe bezahlen. Sie haben sich beim Pfarramt noch die Taufpapiere und den Heiratsschein besorgt. Sogar für ihren Knecht, den Lorenz Werner, wurde eine Gebühr entrichtet. Wie oft waren sie mit den anderen Familien in den langen Winterabenden beisammen gesessen, haben hin und her überlegt, Pläne geschmiedet, sich gegenseitig ihre Hoffnungen, Sorgen und Ängste mitgeteilt. Bald ist es soweit: sie würden für immer weggehen, die große Reise beginnen. Als Magdalena am Türpfosten angelehnt da sitzt, geht ihr dies alles noch einmal durch den Kopf. Gerührt denkt sie daran, wie Lorenz zu ihnen kam und schüchtern fragte, ob sie ihn mitnehmen würden. Sie hätte vor Erleichterung weinen mögen. Anton stand auf, klopfte seinem Knecht auf die Schulter und sagte: »Lorenz, du gehörst zu uns! Wenn du willst, gehst mit! So einen Kerl wie dich können wir gut gebrauchen in der neuen Heimat!« Und so war es beschlossene Sache. Da die Donauschiffe nur vom April bis September nach Wien abgehen, mussten sie bis zum Frühjahr des Jahres 1786 warten. In den ersten Apriltagen wollten sie Roeschwoog für immer verlassen. »Das ist auch besser so«, meinte Anton, »eine Entbindung unterwegs könnte den Tod für dich und das Kind bedeuten. Außerdem kommen wir im Frühjahr unten an, haben den ganzen Sommer vor uns und im Winter in der neuen Heimat bereits ein Dach über dem Kopf«. Magdalena fühlt sich gesund und stark und traut sich das Wagnis zu. Sorgen macht sie sich um den Kleinsten, den Josef. Er ist so zart und klein.

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Wovon sie allerdings keine Ahnung hatten, waren die Verlautbarungen der Wiener Ansiedlungskommission in den Zeitungen vom Februar 1786. Die Kommission warnte vor einer Auswanderung, da die Ansiedlungen auf staatliche Kameralgüter gestoppt seien. Diese Unkenntnis sollte ihr weiteres Schicksal bestimmen und sie hart treffen.

Der Tag der Abreise Viel dürfen sie nicht mitnehmen auf den Weg in die neue Heimat. Auf den bereitgestellten Planwagen muss ein bisschen Hausrat, die notwendigste Kleidung und etwas zum Essen Platz haben. Die kleineren Kinder und Magdalena sollten – zumindest streckenweise – ebenfalls unterkommen. Noch in der Finsternis treffen sich die vier Familien am Kirchplatz: Johann Schäfer mit seiner Frau und den sechs Kindern Johann Heyd, seine Frau und ihre sechs Kinder, Anton Böcker mit seiner Frau, der Magd Elisabeth und vier Kinder und Anton mit Magdalena, ihre sieben Kinder nebst Knecht Lorenz Werner. Insgesamt sind sie zehn Erwachsene und 23 Kinder! Eine große Menschenmenge hat sich vor der Roeschwooger Kirche eingefunden. Sie wollen von den Abreisenden Abschied nehmen und sie bis zur Dorfgrenze begleiten. Für die Kinder ist es aufregend und lustig. Magdalena und Margarethe schluchzen, die Männer machen ernste Gesichter. Sie ahnen, was die Kleinen natürlich nicht wissen konnten: es gilt große Gefahren zu überwinden und sie können den Tod bringen! Am Ortsende wird Abschied genommen. »Viel Glück und Gottes Segen, die Mutter Gottes breite den Mantel über uns alle aus und beschütze euch!« Vor diesem Moment hatte sich Magdalena am meisten gefürchtet, Abschied vom Vater, vom Vertrauten, nehmen zu müssen. Ihre Kindheit und Jugend, die Hochzeiten, die Geburten und Taufen, all das verbindet sie doch mit dem kleinen Ort Roeschwoog. Fest entschlossen zieht sie die Bänder ihrer Haube fest, nickt Anton zu und los geht es. Das Dorf bleibt hinter ihnen. Von den Erwachsenen blickt niemand zurück, nur schnell fort, damit das Herz nicht brechen konnte. »Hoffentlich hält das Wetter und wir kommen halbwegs gut nach Ulm«, flüstert Magdalena Anton zu. Dieser verfällt beim Gehen ins Grübeln. «War es richtig wegzugehen? Das alles auf sich zu nehmen? Was wird aus den Kindern?« Er hatte schon gehört, wie gefahrvoll die Reise war und dass schon viele dabei umgekommen sind.

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Von Zweifeln geplagt, schreitet Anton kräftig aus. Er legt ein enormes Tempo vor, um die innere Stimme nicht hören zu müssen. »Anton, renn nicht so«, keucht Magdalena, die schon ein Stück hinter dem Wagen geht. »Du vergisst wohl, in welchem Zustand ich bin!«. Kurzerhand bleibt Anton stehen, setzt die Kinder um und schafft so auf dem Planwagen Platz für sie. Magdalena blickt ihren Mann an. Sie kennt den Ton, den Gesichtsausdruck. »Er leidet«, denkt sie, »da wird er schnell grantig.« Sie liebt ihren Mann. »Er ist schon ein stattliches Mannsbild«. Sie betrachtet ihn stolz. »Er hat einen guten Charakter und ist gut zu mir! Und wie er sich immer herausputzt!« Sie muss lachen. Selbst heute früh am Morgen bürstete er seine Schuhe noch sorgfältig, bespuckte sie, damit sie ja schön glänzten. Anton schwitzt, als er so neben dem Wagen geht und an seine Frau denkt. »Was hat sie mit mir nicht schon alles durchgestanden, hat nie gejammert, ist gottesfürchtig, hat gut gewirtschaftet und das Haus im Griff. Sie ist eine gute Frau!« Er schmunzelt, als er an ihr loses Mundwerk denkt. Wie oft hatte sie sich mit den Steuereintreibern angelegt, sodass er schon manchmal befürchtete, sie würden ernsthafte Schwierigkeiten bekommen. Sie ist resolut und lässt sich nicht so leicht einschüchtern. Er ist ihr dankbar, dass sie nach kurzem Überlegen bereit war, auf seinen Plan einzugehen, die Heimat zu verlassen. Die Kinder schlafen auf dem Wagen bald ein und so hängt jeder seinen Gedanken nach. Sie wenden sich nach Morgen, der aufgehenden Sonne entgegen.

Auf dem Weg nach Ulm Nach dem Rheinübergang bei Raststatt, auf dem Weg nach Baden Baden, treffen sie auf einen weiteren kleineren Treck aus dem Elsässischen. Drei Familien mit insgesamt 21 Personen. Die beiden Wandergruppen beschließen, beisammen zu bleiben und sich gegenseitig zu unterstützen. Außerdem wählen sie Johann Schäffer zum Anführer der Gruppe. Er wird bis zur Ankunft in ihrer neuen Heimat ihr Sprecher und Leiter bei amtlichen Angelegenheiten sein. Sie überqueren den Höhenzug des Schwarzwaldes, ziehen die uralte Bergstraße hinauf, die schon in der Vorzeit angelegt wurde. Den Pferden presst es vor Anstrengung den Schweiß aus den dunklen Leibern. Alle, die halbwegs können, müssen aus den Planwagen aussteigen, um die Pferde zu entlasten. Nur die Kleinsten und Magdalena bleiben sitzen. Sie ziehen Meile um Meile

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durch das Land, vorbei an Gehöften, verlassenen und verfallenen Weilern, vorbei an Kindern, die einige Ziegen hüten. Auch hier bemerken sie Armut und Not. Von Roeschwoog bis nach Ulm zur Einschiffung müssen sie in vierzehn Tagen sein. Eingerechnet sind eventuelle Deichselbrüche, schlechte Straßen wegen der Frühlingsstürme und Unwetter. Da sie doch eine große Gruppe sind, werden es sich Wegelagerer hoffentlich überlegen, sie anzugreifen. Für die Rast hatten sie Brot und Käse mitgenommen und natürlich den Dreibeinkessel für warme Mahlzeiten.

Übernachten müssen sie in Herbergen, die kalte Aprilwitterung lässt dies im Freien nicht zu. Sie haben Glück. Auf ihrem Weg treffen sie auf keine Wegelagerer, das solide Schuhwerk hält und vor allem auch, das Wetter bleibt trocken und für diese Jahreszeit tagsüber schon relativ warm. Sie sind zufrieden mit dem Verlauf der Reise. Sie würden ein langsameres Tempo einlegen können. Magdalena hält sich tapfer, alles in allem geht es auch mit der großen Kinderschar gut voran. Als sie so durch das Württembergische kommen, ist Anton seltsam zu Mute. Sein Dorf ist von der Reisestrecke zwar weit weg, aber doch ist es seine Heimatgegend. Wie es wohl seiner Familie gehen mag? Es wird ihm schmerzlich bewusst, dass das ein Abschied für immer ist. Magdalena beobachtet ihren Mann und ahnt, was in ihm vorgeht. Unterwegs, wenn die Nachtlager verteilt sind, alle auf ihren Strohsäcken liegen, die Kleinen bei den Eltern kuscheln, erzählen sie den Kindern Geschichten. Sie fordert Anton auf, von seinem Dorf, seinen Eltern und Geschwistern zu erzählen. Für sie ist es wichtig, dass die Kinder ein Bild von ihren Großeltern bekommen, die Familiengeschichten erzählt werden und für Anton bringt es Erleichterung, darüber zu reden.

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Magdalena ist besorgt. Werden sie auf den Schiffen jedem Wind und Wetter ausgesetzt sein? Sie ist ja in der Nähe des Rheines aufgewachsen, kennt also die Gefahren und Tücken, besonders bei Hochwasser. Nun aber selbst viele Tage auf einem Schiff zu sein, kommt ihr doch manchmal unwirklich vor.

Rhe in

Oft spürt sie das Kind in ihrem Bauch, ihr zweites mit Anton. Sie bittet jeden Abend die Mutter Gottes um ihren Segen für dieses Kind, für das ganze Unternehmen. Noch nie hat sich Magdalena mit dieser Frau so verbunden gefühlt, wie in diesen Tagen der Reise. Hat sie doch dasselbe Schicksal wie sie zu tragen gehabt: hochschwanger auf Wanderschaft und ohne Herberge zu sein.

Raststatt

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Roeschwoog

Karlsruhe

Baiersbronn

Freudenstatt

Rottenburg

Bad Urach

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Blaubeuren

Wanderroute der Elsässer von Roeschwoog nach Ulm im April 1786

Gefangen zwischen Hoffen und Bangen Als die Reisenden durch die Stadttore von Ulm kommen, wie staunen sie da. So groß und voller Leben haben sie sich die Stadt nicht vorgestellt. Die Männer straffen die Schultern, gehen erhobenen Hauptes neben den Fuhrwerken. Die Frauen weisen die kleinen Kinder an, nur ja im Wagen zu bleiben und die größeren sich nicht von der Seite ihrer Väter zu rühren. Zu groß ist die Gefahr, dass sie in diesem unwahrscheinlichen Trubel verloren gehen.

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Johann Schäffer hat sie angewiesen, auf alles gut zu achten, allerlei Gesindel und Tagediebe triebe sich in der Stadt herum. Die Familienväter machen sich auf in die Stadt, um für die Nacht ein Quartier zu finden. Anton und die Männer finden eine Herberge und holen die Frauen und Kinder. Männer werden ausgewählt, das wenige Hab und Gut auf den Planwagen zu bewachen. Morgen müssen sie trachten, die Pferde und den Wagen verkaufen zu können. Magdalena ist todmüde, die fortgeschrittene Schwangerschaft macht ihr doch zu schaffen. Trotzdem sorgt sie dafür, dass für alle frisches Wasser gebracht wird. Die Kleinen teilen sich zu viert ein Bett, Margarethe schläft mit ihrer Schwester im anderen. Wie gut, dass sie warme Decken von zu Hause haben, auf diese müssen sie gut acht geben! Die Elsässer waren für eine Schiffpassage nicht angemeldet, da sie nicht über einen Anwerber nach Ulm gekommen waren. Sie waren auf eigene Faust weg gegangen! Müssen sie nun tagelang warten, bis genügend Plätze auf einem Schiff frei sind? Das würde ihr Reisebudget schwer belasten. Es stellt sich heraus, dass am kommenden Montag mehre Schiffe ablegen und sie doch mitfahren können. Am Abreisetag wird schnell das karge Frühstück eingenommen und auf geht es! Im Morgengrauen liegt Nebel über der Donau, sie setzen nach Neu-Ulm über.

Ulm ist seit Jahrzehnten Tummelplatz für Menschen, die über die Donau nach Osten oder in den Südosten des Kontinents wollen. Sie kommen zur Anlegestelle der Schiffe, dort, wo die kleine in die große Donau fließt. Es herrscht bereits reges Treiben unten am Fluss. Hunderte von Auswanderern warten auf die Einschiffung und viele Ulmer Bürger sind gekommen, dem Schauspiel der Abfahrt der Boote zuzusehen Wie staunen die Ankommenden aus dem Elsass, als sie die ulkigen Schiffe sehen, die »Ulmer Schachteln«, wie Nichtulmer spöttisch deren Boote nennen.

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Toni geht dicht an die Anlegestelle und betrachtet die Boote. Viel Platz würden sie nicht haben, wenn er sich dieses Gedränge anschaut. Er macht sich Sorgen um Magdalena und die Kleinen. »Auch auf Franziska muss ich aufpassen«, denkt er. Mit ihren dicken, braunen Zöpfen, ihren dunklen Augen und dem ständigen Lachen im Gesicht, ist sie ein willkommener Anblick für die vielen jungen Burschen ringsum. Alle sind aufgeregt, Magdalena klopft das Herz bis zum Hals. »Nun ist es soweit, heute heißt es Abschied nehmen«, sagt sie zu den Kindern und ihre Kehle ist wie zugeschnürt. Die Elsässer werden von den Menschenmassen sofort aufgesogen und landen schließlich vor den bereit stehenden Booten.

Ein erfahrener Schiffer Er kennt alle tückischen Stellen von Ulm bis Wien. Es fahren immer mehrere Boote im Konvoi, jeden Montag von April bis zu den ersten Herbststürmen. Jetzt, Anfang April, führt die Donau zwar schon die Schmelzwasser der Zubringerflüsse aus den Bergen mit sich, der Wasserstand ist erhöht, aber noch kein gefährliches Hochwasser. Kommen keine schweren Regengüsse dazu, kann die Fahrt ohne zusätzliche Gefahr unternommen werden. Es gab wohl einige Schiffer, die mit ihren Booten gekentert und alle ertrunken sind. Nicht nur sein Können und seine Erfahrung haben ihn bisher davor bewahrt, er hatte einfach auch unwahrscheinliches Glück gehabt. Er seufzt und meint zu einem neben ihm stehenden Zimmermann: «Kann nicht mal jemand etwas erfinden, dass wir mit den Booten auch stromaufwärts fahren können? So viel Zeit brauchen wir, zu Fuß oder mit Pferden wieder zurück!« Dem Zimmermann war es egal, es berührte ihn nicht, er blieb ja in Ulm, um die nächsten Boote zu bauen. Im April des Jahres 1786, nach einem halben Jahr Winterpause, in der nicht etwa geruht wurde, nein, es mussten viele Boote gebaut werden für die kommende Saison, jetzt geht die Fahrt wieder ostwärts. Der Schiffsmeister steht auf seinem Boot, das noch auf den Baumstämmen am Ufer liegt und betrachtet die bunte und laute Menschenmasse an der Anlegestelle. Immer wieder ist er fasziniert vom Gewirr der Sprachen und der verschiedenen Trachten. Er erkennt sofort die Elsässer, die Schwarzwälder, oder jene vom Neckar oder der Mosel, aus dem Würzburgischen und Ulmischen. Auch beherrscht er mittlerweile eine Anzahl verschiedener Dialekte. Das war schon oft hilfreich beim Schlichten von Streitigkeiten unterwegs.

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Natürlich stehen alle aus der jeweiligen Region beisammen, aber auch da wieder in verschiedenen Gruppen. Schmunzelnd beobachtet der Schiffsmeister eine Anzahl von Buben, die flache Steine über das Wasser schleudern. Wer die meisten »Uhren« geworfen hat, ist Sieger. Bewundert von den Kleineren treten sie ein in den Wettkampf um die »Wasseruhren«. Sie plappern in den verschiedensten Dialekten, verständigen sich mit Händen und Füßen, tragen die unterschiedlichsten Trachten und verstehen sich doch. Die Mädchen wiederum sitzen gesittet neben ihren Müttern oder beaufsichtigen kleinere Geschwister. In der Gruppe der Elsässerinnen bemerkt er eine junge, etwa dreißigjährige, schwangere Frau, neben ihr ein bildhübsches Mädchen. Es hat die dicken braunen Zöpfe zu einem Kranz festgebunden und in der Morgensonne leuchten die Haare wie eine Goldkrone. Das Mädchen scheint verlegen zu sein, sieht immer wieder in eine bestimmte Richtung und senkt dann den Kopf. Errötend, wie er meint feststellen zu können. Er folgt ihrer Blickrichtung und macht einen jungen Schwarzwälder aus, der mit einem Lachen im Gesicht das Mädchen betrachtet. Das ist es also! Die Roeschwooger Frauen sitzen beisammen und harren wie die anderen der Einschiffung. Magdalena sucht mit ihren Augen Anton und sieht ihn neben Toni stehen. Stattlich sehen sie aus mit ihren roten Joppen, Toni hält den breitkrempigen Hut an die Brust gedrückt, als ob er sich daran festhalten wollte. Anton schaut grimmig drein. »Aha«, denkt sie, »wieder dieser Blick, es arbeitet in ihm!« »Die Männer sind aber fesch in ihren Trachten«, meint Schäffer Maria. Mit ihren flachen oder Dreispitzhüten, mit ihren breitkrempigen an der Stirnseite aufgebogenen Schlapphüten, sind sie ein buntes Bild. Auch sie stehen in ihren jeweiligen Gruppen beisammen. Sie haben ernste oder finstere Minen, keiner will sich Aufregung oder Traurigkeit anmerken lassen. Da sitzt ein Mann nachdenklich am Ufer und scheint wie verloren in das schlammige Licht des Stroms zu starren. »Wahrscheinlich macht er sich Sorgen um seine Familie, hegt Zweifel, ob es richtig war, sie den Gefahren auszusetzen«, meint Magdalena zu Heyd Sophie. Die Jünglinge wiederum treiben sich in der Nähe der Zimmerer- und Schiffsleute herum in der Hoffnung, ihre Hilfe würde gebraucht werden. So hat jede Gruppe ihre Art, mit dem Neuen und Unbekannten umzugehen. Erst im Laufe der Reise würden sich die Sprachen und Trachten zu einem bunten Bild mischen. Und das verbindet sie letztlich auch und lässt sie in der Not zusammenstehen, denn sie haben gemeinsam ein Schicksal zu bewältigen.

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Das Abenteuer beginnt Der Schiffsmeister reißt sich aus seinen Betrachtungen los, es wird Zeit zur Verladung. Er gibt den Zimmerleuten Anweisungen und es kommt Bewegung in die Menge. Sein Schiff, das Leitboot, wird auf Baumstämmen ins Wasser gerollt und schon schwankt es auf dem Wasser. Die Zimmerleute stoßen ein lautes «Ho« von sich und die Menschen am Ufer applaudieren. »Jetzt beginnt wieder das Chaos«, sagt der Schiffsmeister. Aber er hat schon Vorsorge getroffen. Er gibt einigen umstehenden Männern und den Schiffsleuten Anweisung, gleichzeitig mit ihm lautstark einen Pfiff loszulassen. Die Menge zuckt zusammen und es wird langsam still. Nun hat er sich auf die schwierige Aufgabe des Verladens zu konzentrieren. Die Passagierliste für das erste Boot wird verlesen Die Familiennamen werden aufgerufen und die Familienoberhäupter müssen vortreten. Zuerst werden der mitgebrachte Hausrat, die Nahrungsmittel und die Gerätschaften im Bootshaus verstaut. Anton nimmt Lorenz, den Knecht mit und weist Toni an, bei der Familie zu bleiben. Gemeinsam schleppen sie die bunte kleine Truhe und Bündel mit Hausrat an Bord. Die Wäschebündel würden sie dann bei Betreten des Schiffes mitnehmen. Nachdem alles verstaut ist, werden die Auswanderer auf das Boot gelassen. Ein unwahrscheinliches Gedränge entsteht, jeder will für die eigene Familie den besten Platz auf dem Boot ergattern. Dies alles wird begleitet vom Geschrei der Kinder, dem Weinen mancher Frauen, dem Rufen aufgeregter Männer. Da, ein alter Vater weigert sich, auf das Boot zu steigen. »Auf das Brettschiff` geh` ich net! Fahrt allein, ich geh wieder heim!« Dreht sich um und weint bitterlich. Der Sohn geht ihm nach, legt den Arm um seine Schultern und redet auf ihn ein. »Schaut Vater, so viele sind schon damit gefahren, es wird alles gut!« Er führt ihn langsam und vorsichtig wieder den Steg hinauf und setzt den Vater neben seine Familie. Magdalena fragt sich, wie es wohl ihrem Vater angesichts der Schiffe ergehen würde. Er hat es abgelehnt, mit ihnen nach Hungarn zu wandern. Als sie den Alten betrachtet, bekommt sie Heimweh und Sehnsucht nach ihrem Dorf. Lorenz erweist sich wieder einmal als Segen. In weiser Voraussicht, da er nicht für eine Familie zu sorgen hat, ist er ganz vorne beim Bootssteg geblieben um sofort für die Frau und die Kinder einen guten Platz zu ergattern. Angenehm würde es nicht werden. Schiffsleute und Passagiere auf engstem Raum zusammen gepfercht.

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Sie nehmen auf der roh gezimmerten Bank im Bootshaus Platz. So kann sich Magdalena anlehnen und während der Fahrt ausruhen. Bequem würden sie es auf der Reise nicht haben. Der Hüttenaufbau ist für die Schiffsleute wie für Passagiere bestimmt. Die Kinder werden zu Füßen der Erwachsenen auf die Wäschebündel gesetzt und die Mütter befehlen ihnen, sich nicht von der Stelle zu rühren. So mancher junge Mann muss auf dem schiefen Dach der Hütte liegen oder zusammen gepfercht mit anderen irgendwo im Freien, es gib ja kein Deck.

Der kleine Josef ist auf den Armen seiner Mutter bereits eingeschlafen, dem Trubel und Lärm zum Trotz. Magdalena ist so müde und durcheinander, bestrebt, alle und alles im Auge zu behalten, dass sie den Abschiedsschmerz verdrängen kann. Nur nicht hoch kommen lassen, die Wehmut, die Angst, die Sorge, die Endgültigkeit des Abschieds. Für die größeren Kinder ist es ein Riesenabenteuer, sie hüpfen aufgeregt von einem Bein auf das andere und können die Abfahrt kaum noch erwarten. Diese Ungeduld trägt so manchem einen strafenden Blick seiner Mutter ein. Gefahren wird nur tagsüber, nachts ist es wegen der vielen Stromschnellen zu gefährlich. Übernachtet wird um diese Jahreszeit in Herbergen entlang der Donau. Für jene, die es sich nicht leisten können, muss das Schiff genügen. Nachts bleiben einige Männer zur Bewachung auf dem Boot zurück. Bevor es losgeht, kommt ein Priester auf das Schiff, segnet es und die Passagiere und liest das Stück aus der Bibel vor, wo Jesus die Fischer aus dem Sturm am See gerettet hat. Der Schiffsmeister besteigt den Steuerstuhl, schwingt die Ulmer Flagge. »Los!«, gibt er den Befehl.

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Die Steuerruder werden gepackt, greifen in das Wasser, die Schiffshupe ertönt, die Menschen am Ufer winken und schon befindet sich das Boot in der Mitte des Stromes. Da rührt sich etwas in Anton. »Leb wohl, meine Heimat. Hoffentlich bekommst du bald einen Herrn, der das Land und die Menschen in Frieden leben lässt!« Er hebt seinen Hut und grüßt die Stadt Ulm. Die Frauen weinen, die Kleinen schmiegen sich an ihre Mütter, die Männer bekommen versteinerte Gesichter. Doch da, dem alten Mann laufen die Tränen über das zerfurchte Gesicht. Er schämt sich ihrer nicht. Nach und nach rollen auch die anderen Schiffe in das Wasser, Zug um Zug werden sie beladen und bald bildet sich ein Konvoi der Boote. Die Türme des Ulmer Doms, die Altstadt ziehen an ihnen vorbei und schon bald erreichen sie offenes Land. Die Mittagsstunde naht. Essensgerüche durchziehen das Schiff, viele Familien haben die Dreibeinkessel mitgebracht. Zum Mittagsgebet erschallt die Stimme jenes Alten, der sich seiner Tränen nicht schämte. Die Ehre des Vorbetens kommt immer der oder dem Ältesten zu. Bald kehrt Ruhe auf dem Boot ein.

Das Leben auf dem Schiff Sie nähern sich der ersten Anlegestelle Lauingen, die erste Nacht für Passagiere und die Besatzung. Bei kühlem Wind geht es am nächsten Morgen weiter bis Donauwörth, dann über Ingolstadt bis Regensburg.

Vorbei an Regensburg

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Am vierten Tag ihrer Reise verlassen sie Regensburg, die alte Handelsstadt. Vorbei an den alten Speichern, der Steinernen Brücke, den wunderschönen Häusern der Altstadt und fahren weiter bis Deggendorf und nähern sich Passau. Vor Passau wird es kritisch. Da packt der Schiffsmeister selbst die Steuerschaufel und versucht mit konzentrierter Aufmerksamkeit zwischen den Felsen und Klippen, die im Donaubett liegen, sicher durch zu kommen. Ein Stück weiter die Sandbänke, die beinahe jeden Tag durch die starke Strömung woanders liegen. In Passau kontrollieren die deutschen Zöllner die Papiere der Auswanderer: Taufschein, Entlassungspapiere der heimatlichen Herrschaft und die Pässe. Knapp vor dem österreichischen Grenzmautamt Engelhartszell lässt der Schiffsführer die Totenglocke läuten, um so den Bedarf eines Arztes und Priesters anzukündigen.

Engelhartszell

Sie haben zwei Tote an Bord. Einer davon ist jener Alte, der bei der Abfahrt das Mittagsgebet sprach. Er war nicht sichtlich krank, ist einfach nicht mehr aufgewacht. Arzt und Priester kommen an Bord, zusammen mit den österreichischen Zöllnern. Der Priester und der Arzt erledigen ihre Aufgaben. Die Namen der Toten werden aus der Passagierliste gestrichen und vom Arzt bestätigt. Schließlich müssen die Schiffsführer in Wien in der Hofkanzlei Rechenschaft über die Anzahl der Auswanderer ablegen. Bevor die Passagiere an Land dürfen, werden wie vorher in Passau die Papiere kontrolliert, die Reisenden und die mitgeführten Habseligkeiten genauest durchsucht. Für so manches muss Maut entrichtet werden. Magdalena geht es nicht gut. Das viele Sitzen macht ihre Beine geschwollen, sie trägt schon schwer an der fortgeschrittenen Schwangerschaft. Das Untätigsein sind alle nicht gewöhnt und so entsteht viel Streit durch Gereiztheit auf dem Schiff. Es ist eine Mischung aus Wehmut, Angst vor dem Kommenden und Neuen, fiebriger Erwartung und Hoffnung, einem besseren Leben entgegenzufahren. Dazu kommen die zunehmend quengeligen Kinder, die Halbwüchsigen, die

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sich in die Haare kriegen, streitsüchtige Alte, unerträglicher Gestank und der alles beherrschende Lärm. So viele Menschen auf engstem Raum, Neugeborene während der Fahrt und Schwangere, Gesunde und Kranke, manchmal auch Tote, zusammengepfercht auf dem voll gestopften Schiff. Im Morgengrauen legen die Schiffe vom Steg in Engelhartszell ab. Dicker Nebel liegt über dem Fluss und dem Land. Es ist still auf dem Schiff, so, als ob der Nebel jede und jeden Einzelnen einhüllte und von den anderen trennte. Jetzt rücken die Berge rechts und links wieder zusammen, die Wassermassen schwellen an und es geht im brodelnden Strom weiter nach Linz.

Im Konvoi Richtung LInz

Anton ist wehmütig zu Mute. Die Landschaft erinnert ihn an seine alte Heimat, sein Dorf Bodnegg Es ist auch eingebettet in eine hügelige Waldlandschaft. Eine Kirche oben am Berg grüßt die Reisenden schon von weitem. Auch sie erinnert ihn an die Bergkirche daheim. Für die Nacht müssen sie eine Herberge finden. Einige Männer werden in der Altstadt fündig. Eng und voller Gestank finden sie ein Quartier, aber es immer noch besser als auf dem kalten und zugigen Schiff zu übernachten. Am nächsten Morgen müssen sie windfeiern, denn ein Sturm ist aufgezogen. Den Steuermännern ist es unmöglich, die Plätte in diesem aufgewühlten Strom zu steuern. Anton macht sich Sorgen wegen des Geldes. Noch eine zusätzliche Nacht bezahlen! Wenn das so weiter geht, werden sie ohne Ersparnisse in ihrer neuen Heimat ankommen. Wovon sollen sie dann leben?

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Die Donaulände in Linz

Endlich geht es weiter. Sie lassen die Kaiserburg der Stadt hinter sich. Breit und mächtig dehnt sich die Donau aus und umfließt die Stadt im weiten Bogen. Das linke Ufer ist hügelig und bewaldet, das rechte flach und voller Auwälder.

Linz mit der Kaiserburg

Die Spielplätze der Kindheit, die Freuden der Jugend tauchen in seinen Erinnerungen auf. Wie weit dies alles zurück liegt. Was hat er nicht seither schon alles erlebt! »Ich bin unterwegs in meine dritte und hoffentlich letzte Heimat«, denkt Anton in einer Mischung von Zuversicht und Sorge.

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Er schaut zu seiner Familie hinüber. Wie tapfer bisher alle waren! Er weiß nicht, was er von Magdalena halten soll. Sie ist trotz ihres Zustandes im Gesicht schmal geworden, das Mundwerk ist nicht mehr so lose wie früher, ihr Lachen seltener und doch hält sie alles und alle zusammen. Hoffentlich halten sie und das Baby durch!

In gefährlichen Wassern Wie immer spürt der Schiffsmeister ein Kribbeln in der Magengegend, wenn sie sich dem schwierigsten Teil, dem Strudengau bei Grein, näheren. Als die Passagiere schon von weitem das Schloss oben auf dem Berg sehen, wird es zunehmend ruhig auf den Schiffen.

Grein mit dem Schloss

Sie wissen, was das bedeutet. Der Älteste stimmt ein Gebet an und alle falten die Hände. Der Schiffsmeister übernimmt nun das Steuerruder. Der Strom schwillt an und die Fahrt wird gefährlich. Bei den bis in die Mitte des Stromes reichenden Felsen findet das Wasser einen gewaltigen Widerstand. Die Wellen prallen daran ab und es entsteht der gefürchtete Wirbel. Tosend und schäumend brausen die Wassermassen über die Felsen hinweg und nur das erfahrene Auge des Schiffers kann sehen, wohin das Boot gesteuert werden muss, um nicht zwischen den Felsen zu zerschellen. Er steuert unter Aufgebot aller Kräfte, eine gurgelnde Hochflut kommt auf das Schiff zu, ein gewaltiger Stoß ist zu spüren und sie befinden sich wieder in ruhigeren Wassern.

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»Vorbei!«, ruft der Schiffer und alle seufzen beruhigt auf. Sie schauen zurück und sehen die gefährlichen Stromschnellen, den alles verzehrenden Strudel. So manches stille Dankgebet wird zum Himmel geschickt und es wird lebhaft auf den Schiffen. Die schwierigste Passage haben sie überstanden. Vergessen sind Angst und Streit. Es wird gelacht und gesungen, fröhliche Weisen angestimmt. Alle, die mitsingen, bringen ihre Tradition, ihre Texte, ihre Melodien ein. Die Lieder der Elsässer begegnen denen der Schwarzwälder, derer aus Mainfranken oder aus dem Würzburgischen. Die Musik vereinigt sich zu einem Strom aus einer gemeinsamen, uralten Quelle mit dem Ziel, die Erinnerungen zu bewahren und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu nähren. Georg hat beim Passieren des Strudels an der linken Uferseite an der Felswand eine Hütte gesehen. Auf Anfrage erzählt ihm der Schiffsmeister, dass hier die »Rettungs-Anstalt« untergebracht sei. Stromkundige Schiffleute versehen hier ihren Dienst, halten Wache und versuchen, verunglückte Menschen und Schiffe in Not zu retten. Die Umstehenden schaudern und können sich gar nicht vorstellen, dass sich jemand freiwillig in diese Todesgischt begeben kann, um Menschenleben zu retten. Es ist kalt. Die Tage sind trüb. Magdalena hüllt die Kinder in ihre warmen Decken, auch sie sucht sich vor der Kälte zu schützen. Sie fühlt sich eingeklemmt zwischen Wasser und Himmel und dem vorbeiziehenden Land. Ausgesetzt, fremd in fremden Ländern. Und die immer sie begleitende Sehnsucht nach ihrem Heimatdorf, ihrem Vater. Nur gut, dass sie ihre Freundinnen dabei hat. Ein Stück lebendige Heimat reist mit. Die Frauen unterstützen sich gegenseitig, machen einander Mut und kümmern sich vor allem um Magdalena. Sie nimmt das lachend und dankbar an. In drei Tagen würden sie in Wien sein.

Entscheidung in der Kaiserstadt Als sich die Schiffe Wien nähern, kommt Bewegung in die Passagiere. Heute wird sich ihr Schicksal entscheiden! Die Bündel geschnürt, die Kinder draufgesetzt, alle sind bereit zur Landung. Aufregung und Geschrei machen sich breit. Schon taucht auf der rechten Donauseite der Kahlenberg auf, der Abhang des Nußberges mit seinen Weinhängen, der kleine Ort Nußdorf zwischen Donau und den Rebhängen. Am »Nußdorfer Sporn« biegt der Konvoi der Ulmer Schiffe in den Donaukanal ein und fährt langsam den Landungssteg am Schanzel an. Magdalena bemerkt, dass sie aufgeregt, hungrig und völlig erschöpft ist. Sie sehnt sich nach einem Zuber mit frischem Wasser und will nur noch schlafen, schlafen, schlafen … Sie weiß nur zu gut, dass sie damit noch

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lange warten muss. Sie seufzt, sammelt die Kinder um sich. Die Männer müssen auf ihre Habseligkeiten achten, damit sie in diesem Trubel nicht verloren gehen. Am Schanzel herrscht reges Treiben, unbeschreiblicher Lärm umfängt die Ankommenden.

Reges Treiben am Schanzel

Schon rufen Ortskundige ihre Preise aus, um die Führer der Reisegruppen mit den Familienvätern zu Registrierung in die Kanzlei der Hofkammer zu bringen. Andere wiederum bieten lauthals Quartiere an. Es ist ratsam, eine günstige Herberge zu finden, denn die Siedler wissen nicht, wann sie ein Schiff nach Ofen hinunter und weiter in ihre Zielgebiete bekommen. Händler bieten ihr Waren feil. Am farbenprächtigsten aber sind die Obst- und Gemüsestände, Dienstmädchen aus Herrenhäusern feilschen um den Preis. Einfaches Volk ist unter den Käufern kaum auszumachen. Die Elsässer beschließen, unter allen Umständen beisammen zu bleiben. Durch die Leopoldvorstadt, das Rothenturmtor passierend, erreichen die Sprecher der Reisegruppen mit den Familienoberhäuptern das hohe Gebäude der Hofkanzlei, in dem sich ihr weiteres Schicksal entscheiden wird. Sie sprechen vor und werden vom Kanzleidirektor empfangen. Da sie nicht mit Pässen der vom Reich bevollmächtigten Kommissare in Wien ankamen, werden sie für Privatansiedlungen bestimmt. Der Zielort und die Bedingungen werden genannt. Sie sollen nach Syrmien kommen, in die Stadt Ruma. Es werden zehn Freijahre versprochen. Dazu ein Haus, fünf Joch Ackerfeld, keine Robotleistungen. Arbeiten, im Dienste der Herrschaft entrichtet , werden entlohnt, eine Kuh, zwei Zugpferde und landwirtschaftliche Geräte als Zugabe. Es gibt einen Gemeinderat in Ruma, von den Ansiedlern selbst gewählt. Das

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Bau- und Brennholz steht zu Lebzeiten zur Verfügung. Sie wären freie Bürger mit einer ordentlichen Gerichtsbarkeit. Die Männer staunen nicht schlecht, als sie dies alles hören und nehmen die Bedingungen an. Aus Abrechnungsgründen werden seit jeher die Siedler in ein Verzeichnis eingetragen, den »Wiener Abfertigungslisten«.

»

Ausschnitt einer Kopie der Wiener Abfertigungsliste vom 20. April 1786 mit drei Roeschwooger Familienoberhäuptern

Sie kommen in einen Nebenraum, in dem bereits einige Studenten Siedler eintragen. Die Elsässer landen bei einem Studenten aus Prag, der ihren Dialekt nicht zu verstehen scheint. Immer wieder fragt dieser nach, vor allem den Namen von Magdalena kennt oder versteht er nicht. Anton bemerkt, dass ihr Name falsch geschrieben wird, sagt aber nichts, um keine Scherereien zu bekommen und nicht noch länger warten zu müssen. »Ist doch egal«, meint er zum Schäffer Hans, »die sehen mich nicht wieder!« Die Papiere zur Weiterreise werden ausgehändigt: ein Ansiedlungspass für Syrmien und die benötigten Reisegelder bis zum Ansiedlungsort. Nun müssen sie trachten, für die Übernachtung ihrer Familien eine günstige Bleibe zu finden. Im Gasthof »Zur Stadt Ulm« werden sie fündig und holen ihre Familien vom Ufer der Donau in die Stadt. Die Schiffsmeister können inzwischen das Holz ihrer Schiffe in Wien zu einem guten Preis verkaufen und begeben sich zu Fuß oder mit Pferdefuhrwerken auf die Heimreise stromaufwärts. Die Weiterreise für die Kolonisten mit einer Kehlheimer Plätte geht über Pressburg, und Ofen-Pest, ihr Zielort wird Karlovic, östlich von Novi Sad/Neusatz, sein.

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Pressburg

Nach Wien passiert der Strom bei Pressburg auf der linken Seite die Ausläufer der Kleinen Karpaten, fließt in einem großen Bogen in ein Sumpf- und Moorgebiet, um dann das Mittelgebirge vor Pest zu durchschneiden.

Die Weite des Himmels ist überall Gefahrvoll wird die Fahrt auf der Donau durch Ungarn auch sein. Der Strom reißt hier so stark, als wollten die Wellen schon am Ziel ihrer Reise sein. Stürme und ein sich immer veränderndes Flussbett erschweren den Steuermännern das Durchkommen. Auch gibt es Berichte, dass in Ofen Auswanderer von Werbern an der Weiterreise stromabwärts gewaltsam gehindert und einfach in andere Gebiete Hungarns angesiedelt wurden. Flusspiraten sind ebenfalls gefürchtet. Sie näheren sich dem großen Ungarischen Tiefland. Die Menschen auf den Schiffen staunen über die Weite der Ebene, nichts als Land und das Wasser der Donau sind zu sehen. Tagsüber ist das Licht, der Himmel grell, das strahlende Blau schmerzt in den Augen. Viele Vögel nisten auf den Sandbänken oder halten Rast. Steppenfalke, Uhu, Störche, Gänse und Enten, Reiher und Fischadler in Eintracht – eine Vielfalt, wie die Menschen auf der Plätte. Gebüsche und Auwälder säumen das breite Flussbett. Das also würde ihre neue Heimat werden! Nicht mehr lange, dann haben sie es geschafft! Magdalena ist müde, vollkommen erschöpft, fühlt sich wie aufgezogen. Sie will nur ihre Ruhe haben, hat Angst, das Kind würde frühzeitig kommen. Die Strapazen sind einfach zu viel! Als das Schiff abends angelegt hat, die Quartiere für die Nacht bezogen sind, gehen Magdalena und Anton noch hinaus, »um die Füße zu vertreten«, wie sie meint. Ein Sternenhimmel wölbt sich über dem weiten, ebenen Land und

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spannt sich schier endlos in alle Himmelsrichtungen. Ein Himmel, so wie sie noch keinen gesehen haben. Die Sterne zum Greifen nahe! Der Mond steigt rund und glühend am Horizont auf und taucht das Land in ein sanftes Licht.

Abendstimmung an der Donau

Magdalena denkt über ihr Leben nach. Sie ist tiefgläubig erzogen worden, herrschaftshörig wie wohl alle in dieser Gemeinschaft auf diesem Schicksalsstrom. Sie haben sich aber nicht dem Schicksalhaften, der drohenden Armut in ihrer Heimat ergeben, sondern wollen ihr Leben tatkräftig meistern, zum Wohle ihrer Kinder und ihres eigenen Lebens. Sie betrachtet den Himmel über sich. »Anton, noch sind wir heimatlos. Eine Weile werden wir in einem Zwischenland leben. Aber, wir werden eine neue Heimat finden! Heimat ist doch dort, wo Kinderfüße Spuren hinterlassen, das Lachen zu den Wolken emporsteigt. Auch die Spuren unserer Kinder werden sichtbar sein und dort wird ihre und unsere neue Heimat werden! Schau, die Weite des Himmels ist überall. Er ist unser Dach und unser Schutz!« Anton sieht sie lange an und drückt sie an sich. Einander festhaltend atmen sie die Stille der Nacht ein. Nach der Nacht in Mohac näheren sie sich der Batschka, Sumpf- und Moorauen prägen weiterhin das Landschaftsbild. Bald werden sie am Ziel ihrer Reise sein. Zur rechten Seite taucht ein Höhenzug auf, die Fruska Gora, das Frankengebirge, wie es die Deutschen nennen. Dicht bewaldet grüßt das satte Grün die Neusiedler auf den Schiffen. Von weitem schon sehen sie es. Ist es ein Schloss? Oder eine Festung? Auf steilen Felsen, am rechten Donauufer gelegen, ragt eine imposante Anlage in den tiefblauen Himmel.

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Die Schiffer klären die Staunenden auf: »Es ist die Festung Peterwardein!« Endlich sind sie am Ziel ihrer wochenlangen Schiffsreise. Am 27. April 1786, spätnachmittags legen die Schiffe am Steg von Karlovic an. Sie haben es geschafft!

Festung Petrovaradin

Ulm

Karlovic

Wasserweg der Auswanderer von Ulm nach Karlovic

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Betrogene Hoffnung Freudig gestimmt, dass die Strapazen und die Entbehrungen nun ein Ende haben, entladen sie die Schiffe und die Sprecher der einzelnen Reisegruppen schicken einen Kurier nach Ruma, um ihre Ankunft zu melden. Eine Nacht werden sie auf dem Schiff oder in Unterkünften der Ortschaft verbringen müssen. Der Fußmarsch nach Ruma muss an einem Tag zu bewältigen sein.

Die Ankommenden werden in Karlovic begrüßt

Sie brechen auf. Die Schwangeren und kleine Kinder sitzen auf gemieteten Fuhrwerken und der angeheuerte Führer schreitet zügig voran.

Beim orthodoxen Kloster Krusedol machen sie Rast und werden für einige Kreuzer gelabt.

Sie verlassen das Kloster, kommen zum kleinen Ort Irig und nähern sich jenem Ort, der künftig ihre Heimat werden sollte.

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In den späten Nachmittagsstunden des nächsten Tages kommen sie schließlich hungrig und erschöpft in Ruma an.

Ankunft in Ruma

Der Führer bringt die Sprecher der Siedler zum Gutsverwalter des Majoratsherrn Graf Pejacsevich. Sie melden die Ankunft der Familien. Gutsverwalter Kiss ist außer sich, entsetzt über das, was sich da abzuspielen beginnt. Er hatte keine Ahnung, dass Neukolonisten in Ruma ankommen werden. Der Graf hatte davon kein Wort verlauten lassen! Es ist nichts vorbereitet. Keine Notquartiere, keine zusätzlichen Essensrationen. Wo sollte er das nun alles hernehmen? Das wird eine Katastrophe unbekannten Ausmaßes! Er schickte schon nach Ankunft des Boten eine Nachricht an den Grafen mit der Bitte um Anweisungen. Doch der schweigt beharrlich, gibt keine Antwort und lässt sich in Ruma auch nicht blicken. Die Ankommenden lagern inzwischen vor der Stadt und sind ratlos.

Ratlos und erschöpft

Was ist los? Niemand von der Stadt oder vom Gutshof zu sehen! »Da stimmt doch etwas nicht!«, meint Anton zu seinen Freunden. »Ja haben sie uns denn nicht erwartet?«

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»Wir haben doch alle in Wien die Papiere bekommen, sogar das Reisegeld bis Ruma!« Sie haben gehofft, provisorische Häuser vorzufinden, Gerätschaften. Nicht einmal das nötige Bauholz liegt bereit. Angst und Sorge machen sich unter den Angekommenen breit. Magdalena ist entsetzt. Wo sollten sie heute Nacht schlafen? Unter freiem Himmel etwa? Sie ist verzweifelt. Sorgt sich um die Kinder, das Ungeborene, weint um ihre verlorene Heimat, um die betrogene Hoffnung. Das wird ihr Ende sein! Sie hat keine Energie mehr, kein Lachen, ist am Ende ihrer Kräfte. Anton macht sich Sogen. Er blickt zu ihr hinüber, bemerkt ihre Tränen. Auch sie scheint zu begreifen, dass etwas total schief gelaufen war. Liebevoll nimmt er sie in die Arme. »Du wirst sehen, alles wird gut!« »Gott sei uns gnädig«, meint sie nur.

Novi Sad

Donau

Karlovic

Krusedol Irig

u na Do

Fruska Gora

Indija Kusmin

Ruma Mitrovica

Putinci Dobrinci

Save

Hrtkovci

Budanovci Nikinci Belgrad Grabovci e Sav

Wanderweg der Neusiedler von Karlovic nach Ruma

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Zwischen Stolz, Matsch und Mist Der Bürgermeister und der Gutsverwalter nahmen die Sache nun selbst in die Hand. Der Bürgermeister ersuchte eingessene Rumaer Bürger Platz für Neusiedler zu schaffen, sie vorübergehend aufzunehmen. So wurden rasch Kammern ausgeräumt, Stroh ausgebreitet und die Familien des ersten Trecks fanden zumindest ein Dach über dem Kopf. Der eine oder andere Mann und ältere Söhne mussten schon mal mit dem Stall vorlieb nehmen. Anton und Magdalena kamen mit den Kindern in einem Haus von Bauern unter. Gemeinsam schafften sie mit den Bauersleuten im Paradezimmer Platz. Da stand plötzlich Lorenz, der Gute, mit einer Fuhre Stroh da. Er wehrte die Fragen nach dem Woher mit einem Lachen ab. Egal, Hauptsache, sie haben es heute Nacht warm. Die Ballen wurden ausgebreitet, ihre Decken darüber, ein gemeinsames Dankgebet gesprochen und die Kinder schliefen bald ein. Die Eltern lagen trotz der Müdigkeit noch lange wach. Wussten sie doch, dass die Sorgen und das Elend noch nicht vorbei sein würden. »Die Schutzengel haben vor Ruma kehrt gemacht. Sind sie nach Hause geflogen?« gab Magdalena ihrer Verzweiflung Ausdruck. In den folgenden Tagen kamen immer mehr Menschen in die Stadt. Da in den staatlichen Domänen die Vorbereitungen für die Ansiedlung neuer Kolonisten in der Batschka noch nicht abgeschlossen waren, schickten die Behörden kurzer Hand alle Ankommenden nach Ruma – eingedenk des Ansuchens des Grafen aus dem Jahr 1784, aber ohne diesen davon zu verständigen. Es war kalt in diesen ersten Maitagen des Jahres 1786. Eine Wetterfront kündigte sich an. Dunkle, schwere Wolken hingen über der weiten Ebene Syrmiens. Bereit, ihre Last über dem Land, der Stadt Ruma, loszuwerden. Die Naturgewalten tobten sich aus über der Tiefebene zwischen Donau und Save, dem Zweistromland. Immer noch lagerten Menschen vor der Stadt, dem Wind und dem schier unbändigen Regen ausgesetzt. Verzweifelt, mit dem Sturm um die Wette heulend, wankten Väter zwischen Stolz, Matsch und Mist durch die Gassen, um eine Bleibe für ihre Familien zu finden. Während des Regens war der Himmel tagelang nicht zusehen. Zu hören war immer nur das Prasseln und ein gleichmäßiges Rauschen, wenn er etwas nachließ. Der Himmel weinte um die Wette mit den Verzweiflungstränen so mancher Neusiedler.

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Magdalena richtete es sich und den Ihren ein, so gut es eben ging. Sie einigte sich mit der Hausfrau, für alle zu kochen, Brot zu backen und ihr bei allen Haus- und Gartenarbeiten zu helfen. Für Kost und Quartier mussten alle mithelfen. Anton war unterwegs um Arbeit zu finden. Mit den anderen zu schauen, was mit dem Bauholz für ihre Häuser war. Da kam er daher gestiefelt. Durchnässt, von oben bis unten mit Dreck bespritzt, mit Tränen und Wut in den Augen. »Magdalena, es ist furchtbar. Die Menschen da draußen, du kannst dir die Not nicht vorstellen. Es gibt Mütter und Väter, die sind so verzweifelt, dass sie sich und den Ihren am Liebsten etwas antun würden!« Immer noch wurden sämtliche in Wien ankommenden Einwanderer von den Behörden nach Ruma weiter geleitet. Sie hatten allerdings zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung vom Drama unten in Syrmien. Wöchentlich kamen mehrere Transporte in Ruma an. Zunehmend weigerten sich die Rumaer Zuwanderer aufnehmen. So lagerten immer mehr Menschen in den Gassen und Plätzen, in und vor der Stadt. Unter freiem Himmel, ohne Obdach, krank und ohne Brot, in Kälte, Sturm und Regen. Um wenigstens ein wenig Schutz zu haben, wurden lange Weidestöcke in die Erde gerammt, oben zugebunden und mit Grasbüscheln bedeckt. Der Bürgermeister gab Anweisung, Erdhügel am Rande der Stadt aufzugraben und so Erdwohnungen zu schaffen. Hunderte Höhlenhausungen entstanden, die mit Stroh ausgelegt wurden, um nicht auf nacktem Erdboden schlafen zu müssen. Viele gingen betteln, da ihr Geld längst aufgebraucht war. Sie waren mittellos, wie viele »Altrumaer« arm waren, waren sie doch selbst erst im Aufbau ihrer Existenz begriffen. So mancher, der zu Hause Vagabunden, herumziehenden Müttern mit Kindern, die Türe gewiesen hatte, begriff nun, wie schnell es gehen konnte, auf der Straße zu landen. Mit gebrochenem Stolz, ausgesetzt der Schmach und Schande. Viele Neusiedler fassten den Beschluss, in die Batschka weiter zu wandern. Hier in diesem Elend wollten sie sich und ihren Stolz nicht begraben müssen. Sie begehrten, aus Ruma entlassen zu werden und verlangten die Ausfolgung ihrer Pässe. Die Aussichten waren trostlos. Aber Anton weigerte sich, aus Ruma fort zugehen. Wer weiß schon, wie es drüben in der Batschka ist? Die in Ruma Verbliebenen verfassten Bittschriften an den Kaiser, sich doch ihrer Not anzunehmen. Aber es sollte lange dauern, bis die Behörden in Wien und Ofen reagierten. Magdalena merkte, dass die Zeit der Entbindung gekommen war. Die Bäuerin

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half ihr bei der Entbindung. Magdalena brachte am 30. Mai des Jahres 1786, ein Monat nach der Ankunft in Ruma, einen Jungen zur Welt. Der Pfarrer taufte ihn auf den Namen »Martin«. Trotz der tristen Lage sang Magdalena ihrem Kind die vertrauten Wiegenlieder der Heimat. Die Lieder und die Stimme seiner Mutter sollten die Traurigkeit und das Leid von ihm fernhalten. Die Familie konnte sich mehr schlecht als recht über Wasser halten. Die Großen waren ständig unterwegs um Arbeit zu finden. Die Feldarbeit hatte ja schon eingesetzt. Aber es war schwer, zu viele Menschen waren in der Stadt und sie hatten noch kein Land zugeteilt bekommen, noch immer keinen Hausgrund und Ackerland. Wenn nicht bald etwas passierte, würde der Hunger im Winter alle wegraffen. Magdalenas Wesen hatte sich verändert. Ruhig und in sich gekehrt verrichtete sie zwar die Arbeit mit ihrer Hausfrau, aber ihr Schwung und ihre Freude waren weg.

»Nenne es Hölle …« Es war Juni geworden. Die Stürme hatten aufgehört und nun lag jenes überirdische Licht über der Weite, das auf Regen folgt. Flirrende Hitze brütete über dem Land. Es gab große Sumpfflächen um den Ort. In der Hitze gingen die flachen und stehenden Gewässer in Fäulnis über und verbreiteten einen abscheulichen Gestank. Die Tümpel der vorangegangen Regenperiode wurden so zur Brutstätte von Mücken und Insekten. Tiraden dieser todbringenden Tiere überfielen Mensch und Vieh und verbreiteten die »ungarische Krankheit«, wie die Siedler das Sumpffieber nannten. Die Menschen litten an Kopf- und Magenschmerzen, Durchfall, Durst und Hautausschlägen, kamen ins Delirium. Heilung gab es für diese Krankheit nicht. Die gefährliche Reise, die ungewöhnliche und unregelmäßige Kost, die völlige Erschöpfung, der Mangel an Kleidung und ausreichender Hygiene – all das begünstigte das Ausbrechen von Krankheiten. Der Tod hielt Einzug in Ruma. Es gab zu wenig Medikamente, aber auch kein Geld, diese zu kaufen, kein Pflegepersonal, zu wenig Räume, die Kranken entsprechend zu behandeln. Kleine Kinder mit schrundigen Köpfen und vor Hunger brennenden Augen irrten durch die Gassen auf der Suche nach Vater, Mutter und Geschwister. Alte Gesichter, versteinert am Übermaß der Entbehrungen und des Kummers. Die alte Frau dort war bereits alleine und stumm. Sie lehnte an der Stallwand und weinte nur noch stille Tränen. Sie war ohne Familie und Heimat. Dem Tod preisgegeben.

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Als Anton eines Tages erschöpft »nach Hause« kam, meinte er zu Magdalena bitter: »Nenne es Hölle, was da in Ruma passiert!« Erschreckende Ereignisse stellten sich gleichsam als Alltag heraus. Jeden Tag derselbe Hunger, dasselbe Leid, derselbe Tod. Bald versiegten die Tränen der Menschen, Hoffnungslosigkeit lag in ihren Augen. Vor allem die Höhlenmenschen lebten nur noch von abgekochten Wurzeln. Was nur war aus den einst stolzen, hoffnungsfrohen Menschen geworden! Gedemütigt und hungrig sahen sie ihr Ende kommen. Gegen Ende Juni wurde die Lage immer trostloser. Die Hitze steigerte sich in unerträglicher Weise. Zum Sumpffieber haben sich Ruhr und Typhus gesellt, immer mehr Kranke und Tote. Aus Mangel an Arbeitskräften und Holz für Särge konnten keine Einzelbegräbnisse durchgeführt werden. Massengräber wurden ausgehoben und die Toten darin begraben. Magdalena wusste von dem Elend da draußen und kam schier um vor Sorge um ihre Familie. »Wenn sie nur gesund bleiben!« Streng achtete sie auf Sauberkeit, setzte das Bisschen was an Geld hereinkam, sofort in Lebensmittel um. Hunger durfte auf keinen Fall Einkehr halten im Hause Joos. Das würde Krankheit und Tod bedeuten. Sie war ihrer Hausfrau unendlich dankbar für die Unterkunft und die Arbeit, die sie verrichten konnte. Eng war es halt und alle hofften auf eine baldige Besserung der Lage. Auch der kleine Martin wurde krank. Er bekam Fieber, war zu klein und zu schwach, der Krankheit trotzen zu können. Die Mutter wich nicht von seiner Seite. Die Angst um das Baby überstieg schier ihre Kräfte. Verbissen kämpfte sie um das Leben ihres Kindes. Vergebens. Drei Wochen nach seiner Geburt verstarb Martin in den Armen seiner Mutter. Lange saß Magdalena da, mit dem toten Kind auf ihrem Schoß. Unfähig zu weinen, die Tränen waren versiegt. Der Schmerz stieg auf aus der Tiefe ihres Innersten, hämmerte in der Brust, im Kopf, in jeder Faser ihres Körpers. Stumm sah sie ihr totes Kind an und übergab es Anton, damit es begraben werden konnte. Anton hatte Angst um Magdalena. Sie war mager, apathisch und ihr Blick trostlos. Das Leben ging nicht weiter für sie. Sie hatte in den schwarzen Tagen der Ankunft ihre Seele nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Noch im August hausten zu viele Menschen in den Erdlöchern, in Scheunen und Ställen ohne Boden, ausgezehrt, dem Tod preisgegeben.

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Ganze Familien waren betroffen, daher war auch niemand für die Pflege da. Ohne sauberes Wasser, Kleidung und ausreichende Ernährung und krank vor Heimweh starben viele. Es starben aber nicht nur Neuzuwanderer, sondern auch ganze Familien bereits eingessener Rumaer wurden hinweggerafft. Das Land wurde niedergedrückt vom Elend und Sterben. Kein Lachen drang zum Himmel empor, keine Feste wurden gefeiert.

Die Wiegenlieder verstummten,die Totenglocke der kleinen Holzkirche übernahm es, die Stille zu durchbrechen.

Erste Holzkirche in Ruma

Ruma war eine dem Tod geweihte Stadt. Nach der Hitze stellte sich wieder lang anhaltendes Regenwetter ein. Die Ernte konnte nicht eingebracht werden. Anton erinnerte sich an die Worte von Magdalena, als sie nach Ruma kamen: «Die Schutzengel haben vor Ruma Halt gemacht und sind nach Hause geflogen«. Bitter lachte er auf. »Nach Hause, wo ist das? Wann war es, als ich Abschied nahm, vom Vater, den Schwestern, den Verwandten. Wie viele Leben ist das her? Bin ich schon ein alter Mann, dass ich mich gar nicht mehr daran erinnern kann?« Was war nur aus ihnen geworden? Nur der Umstand, dass sie im ersten Treck waren, hatte sie vor dem Schlimmsten bewahrt: vor Obdachlosigkeit und Bettelei. Er hatte es so satt, das Sterben, das Leid, die Ohnmacht, nichts tun zu können. »Gnade uns Gott«, murmelte Anton vor sich hin. »Wenn nicht bald aus Wien Hilfe kommt, überleben wir ohne Ernte den Winter nicht! Haben uns denn alle vergessen, sind wir ganz von Gott und der Welt verlassen?«

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Ein Sonnenstreifen am Horizont Das Land südlich der Fruska Gora, die weite grüne Ebene mit seiner gesunden Erde, erholte sich langsam. Das Wetter wurde Ende August erträglicher. Die Hitze ließ nach und die Menschen in Ruma schöpften langsam Hoffnung. Moralisch und körperlich gebrochen, waren die Rumaer froh, dass nun langsam die Zeit der Ruhe einsetzte. Von den rund 550 seit Ende April eingewanderten Familien waren ungefähr 80 in Ruma geblieben. Die anderen zogen entweder in die Batschka oder verstarben in den letzten Monaten. Ihre Namen und ihre Leben werden verloren sein in der schwarzen Erde Syrmiens. Durch die Epidemien, die ganze Familien weggerafft hatten, wurden Häuser frei und Neusiedlern zugeteilt. Auch wurden neue Hausplätze zugewiesen, die Menschen konnten nun daran gehen, ihre Häuser aufzubauen.

Hausplatzverteilung

Magdalena und Anton wurde ein bereits bestehendes Haus zugewiesen, dessen Besitzer während der Epidemie verstarben. Magdalena schauderte, als sie über die Schwelle traten. Weil andere sterben mussten, hatten sie ein Dach über dem Kopf. Und doch waren sie dankbar, endlich ein eigenes Haus zu haben, Äcker und Gerätschaften, um für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Das Häuschen hatte ein Zimmer, eine Kammer, eine kleine Küche und einen Stall. Die Böden der Zimmer waren aus Lehm gestampft. Die Betten, der Tisch, die Bänke roh gezimmert, die Öfen aus ungebrannten Ziegeln gemauert. Einfach war es und es gehörte ihnen! Langsam schöpften sie Hoffnung. Magdalena wurde lebendiger, ging freudig ans Werk. Sie nahm sich vor, sobald sie ein wenig Geld sparen konnte, eine Kerze für die ehemaligen Besitzer anzuzünden.

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Die Familie ging daran, alles zu reinigen. Die alten Strohsäcke wurden im Hof verbrannt. Wer weiß wie viel Ungeziefer darin noch hauste! Sie hatten so schon ihre Plage mit Wanzen und Läusen. Endlich hatten die Behörden in Wien und Ofen reagiert. Langsam wurde das benötigte Bauholz für die Familien bereitgestellt. Nahrungsmittel verteilt, Kühe und Zugpferde, Küchengeräte und allerlei Gerätschaften für die Bauern. Damit konnten sie die ihnen zugewiesenen Felder im Umland bearbeiten und die Wintersaat ausbringen. Die Menschen in Ruma atmeten auf. Fröhliches Kinderlachen scholl wieder durch die Gassen. Die Buben spielten Fetzenball, die Mädchen hatten um Holzstäbchen Stoffreste oder Stroh gewickelt und mit diesen Puppen spielten sie »Vater – Mutter – Kind«. Frauen und Männer setzten sich nach Feierabend mit ihren Schemeln und Hockern vor den Häusern zusammen. Es gab viel Lustiges und Schauriges, Komisches und Lachhaftes zu hören. Sie erzählten einander von ihrer Heimat, sangen wieder ihre Lieder. Wie einst auf den Donauschiffen verschmolzen die Melodien zu einem Strom, der zum Himmel hinauf stieg. Wenn sie den Liedern der alten Heimat lauschten, sahen sie sich zu Hause als Kinder. Wie sie in den Wiesen und Wäldern tobten, auf Bäume kletterten, Wolkengebilde deuteten oder in Wasserlachen eines vorüber gezogenen Gewitters planschten. Die Erinnerung war erhellt vom Schönen, das Schlimme versteckt in ihren Seelen. Das, was sie zusammen brachte, war die abgebrochene Vergangenheit in der Heimat und die Hoffnung, der Glaube an eine bessere und sichere Zukunft. Magdalena nahm sich vor, die Geschichte der Familie den Kindern lebendig zu erhalten, sie ihren Enkelkindern weiter zu erzählen, damit diese sie wieder ihren Kindern erzählten. Die Erinnerung, der Mut und der Überlebensgeist der Familie sollten lebendig bleiben. Es ging aufwärts mit der Entwicklung der neuen Heimatstadt von Anton und Magdalena. Sie schufteten viel, die großen Kinder halfen überall mit. Die Mädchen im Haus, die Buben im Stall und auf den Feldern. Magdalena hielt die Familie zusammen, so gut es ging. Für Heimweh und Wehmut hatte sie keine Zeit. Anton wurde Bauer, so, wie er es bei der Registrierung in Wien angegeben hatte. Und er machte das, was er schon im Elsass begonnen hatte: er baute neben der Landwirtschaft ein kleines Fuhrunternehmen auf. Er lernte Gegend und Menschen kennen, das konnte immer nützlich sein. Es ergab sich, dass er auch

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die Steuereintreiber aus Belgrad durch das Komitat führte. Er sah, dass es nicht viel anders als daheim zuging: es wurde herausgepresst, was nur ging. Konnte ein Bauer oder Handwerker die Steuern nicht begleichen, wurde ihm Vieh oder Gerätschaften weggenommen. Das verschärfte natürlich die Armut. Anton hatte Mitleid mit diesen Menschen, sah aber keine Möglichkeit, wie er helfen könnte. Anton träumte schon als junger Mann von einem besseren Leben. Dafür hat er sein Lebtag lang geschuftet. Wann immer sein Rücken schmerzte, alles weh tat, richtete er sich auf, dachte an seinen Traum und dann huschte ein Lächeln über das von der Feldsonne gebräunte Gesicht.

Anton wuchs langsam in die für ihn ungewohnte Arbeit eines Bauern hinein. Im Jahr 1788 wurde als Teilerebnis der Ernte verzeichnet:

Nr. 105 Anton Joos: 25 Kreuz Roggen Nr. 31 Lorenz Werner: 12 Kreuz Roggen, 10 Garben

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Der Tag, an dem es Nacht wurde Der Winter brach früh herein im Jahr 1788. Zu Martini kam strenger Frost, zu Maria Empfängnis lag das Land unter einer dicken Schneedecke. Es war bitterkalt. Peitschende Winde fegten über das Land. Der modrige Erdgeruch der Ebene wich erst, als die Winterstarre das Land überfiel. Nun trafen sich Freunde und Nachbarn in den Stuben. Es wurde genäht und gehäkelt, Wolle gesponnen, von zu Hause erzählt, Lieder gesungen. Für diese Treffen wurde langsam ein Begriff geprägt: die Prela. Magdalena genoss diese Treffen. Sie war ein geselliger Mensch und sang gerne. Langsam wurde ein feines, aber dichtes Netz gesponnen, das die Menschen in Ruma nach dieser so schweren Zeit verband. War jemand in Not, wurde geholfen. Wurde ein Kind geboren, wurde gefeiert. Hochzeiten fanden fast nur im Winter statt, da hatten die Bauern Zeit. Das waren Feste! Noch gab es Unterschiede in den Traditionen, aber ein Höhepunkt war so eine Hochzeit allemal in Ruma. Nach Weihnachten bekam Magdalena eine Erkältung. Sie fieberte, erholte sich ein wenig, fühlte sich aber schwach und ständig müde. In den folgenden Wochen musste sie immer wieder das Bett hüten. Ihre Kräfte schwanden zusehens. Ihre Lebensenergie schien im Frühjahr und Sommer vor drei Jahren mit den Toten der Stadt, mit ihrem Kind, gezogen zu sein. Begraben in der dunklen Erde Symiens. Magdalena spürte, sie würde sterben. Sie sprach mit Anton. Er tobte und schrie, weinte und flehte. Nicht schon wieder! Sollte er nun die zweite Frau verlieren? Er setzte sich an das Krankenbett und betrachtete die Schlafende. Sie war zu einer schönen Frau herangereift. Selbst jetzt, nach wochenlanger Krankheit, abgemagert, mit fiebrig roten Wangen, mit ihren dunklen Haaren, der Knoten aufgelöst, war sie schön. Er wollte sie nicht verlieren! Sie hatten so vieles durchgemacht, waren einander in den Jahren so nahe gekommen. Sie verstand es, den etwas jähzornigen Anton zu besänftigen, wusste ihn zu nehmen. Sie war selbstbewusst genug, ihn in die Schranken zu weisen. O ja, sie war eine stolze Frau, jung und die Zukunft schien vor ihnen zu liegen. Magdalena schlief nicht. Sie hatte nur die Augen geschlossen, war zu müde zum Reden. Verstohlen betrachtete sie Anton. Er saß auf dem Stuhl vor ihrem Bett, die Arme auf den Knien aufgestützt, der Kopf in den Händen. Sie wusste um seine Verzweiflung, war sie doch selbst unruhig, wie es mit der Familie weitergehen sollte. Josef war noch so klein, sechs Jahre alt. Gut, die Großen waren noch im Haus. Margarethe war tüchtig, schon eine richtige Hausfrau und im heiratsfähigen Alter. Was würde dann aus Anton und den Kleinen?

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Sie streckte die Hand aus und fuhr ihm über den Kopf. Das braune Haar war in der Mitte schon sehr gelichtet, bald würde er eine Glatze haben. In seinen dunklen Augen, die manchmal sehr zornig blicken konnten, waren Trauer und Schmerz zu sehen. »Anton, rufe den Pfarrer, ich glaube, es ist bald soweit!« Anton starrte sie an, weigerte sich, den Wunsch zu erfüllen, denn sie würde leben, also brauchte sie auch keinen Pfarrer! Erschöpft sagte Magdalena: »Geh!« Er schickte Mathias um den Pfarrer und Franzi befahl er, die Kinder zu rufen, die Mutter wolle sie alle sehen. Franzi ahnte, was das bedeutete. Davor hatte sie sich gefürchtet, als sie begriff, wie krank Magdalena war, dass sie gar nicht mehr auf die Füße kam. Magdalena war ihr nicht nur eine zweite Mutter geworden, sie war ihre Vertraute und Unterstützerin. Magdalena nahm Anton in die Arme. Diese letzten Minuten sollten nur ihnen gehören. Er war immer gut zu ihr gewesen, hatte sie nie geschlagen oder betrogen. Er hatte ihre Meinung respektiert, in vielem auf sie gehört. Sie war seiner Mutter immer dankbar gewesen für diesen Mann. Anton meinte einmal lachend: «Weißt du, wir waren zu Hause ein Frauenhaushalt. Die Mutter und drei Schwestern, da kannst du nicht grob werden oder dreinhauen!« Das prägte wohl Anton. Er war gut, anständig und fleißig und – da musste Magdalena lächeln – immer sauber. Seine Stiefel putzen und polieren, das war und blieb seine Aufgabe. Die Kinder kamen leise in das Zimmer, die Mädchen weinten, die Großen hatten starre Gesichter und Josef, der Kleinste, blickte erschrocken drein. Er verstand nur, dass etwas Schlimmes passiert sein musste, weil alle so ernst waren, die Mutter im Bett lag, der Vater bei ihr saß und ganz traurig drein schaute. Magdalena streckte die Hand nach ihm aus und meinte: »Die Mami geht jetzt in den Himmel und wird dort auf dich aufpassen!« Der Pfarrer kam und gab die letzte Ölung, einige Nachbarinnen waren schon in der Stube draußen und beteten. Anton neigte den Kopf zu Magdalena. Ihr Mund bewegte sich, er meinte, sie wolle ihm noch etwas sagen. Aber nur ein leiser, zuckender Atem brach daraus hervor. Die Pupillen weiteten sich und sie sackte in sich zusammen. Am 27. März 1789 starb Magdalena, knapp 33 Jahre alt, umringt von ihren Kindern und Anton, einen stillen Tod. Josef verstand nicht, was da vor sich ging. »Ist die Mami jetzt im Himmel zu Besuch? Wann kommt sie wieder?« Franziska nahm ihn in die Arme. Josef würde am meisten unter dem Verlust der Mutter leiden. Sie nahm sich vor, eine gute große Schwester für ihn zu sein und ihm alle Liebe zu geben, derer sie fähig war.

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Der Vater, 45 Jahre alt, hatte zum zweiten Mal die Frau verloren. Wie würde er damit fertig werden? Sie hatte große Angst vor der Zukunft. Pater Raimund Vogel hielt – wie schon vor drei Jahren auch bei Martin – die Totenmesse und nahm die Einsegnung vor. So hat Syrmiens Erde und der Friedhof von Ruma bereits das zweite Mitglied der Familie Joos in sich aufgenommen.

Ein langer Weg Das harte Leben zwang Anton den Schmerz über den Verlust von Magdalena in den hintersten Winkel seiner Seele zu verbannen. Es blieb keine Zeit für Trauer, zu schwer mussten dem Boden die Erträge abgerungen werden. Die zugewiesenen Felder lagen weit verstreut im Umland von Ruma. Noch vor Tagesanbruch hieß es Pferde einspannen und den ganzen Tag schufteten sie in der glühenden Sonne der Ebene. Peitschten Regenwinde über das Land, fürchteten die Bauern um ihre Ernte. Noch stand ihre Existenz nicht auf gesicherten Beinen. Margarethe übernahm die Hausfrauenrolle, Franzi war für den Stall zusammen mit Andreas verantwortlich. Die älteren Kinder fuhren mit auf die Felder oder verdienten zwischendurch auch einige Kreuzer als Tagelöhner. Georg ging zu einem Riemer (Sattler) als Gehilfe. Die Großen waren tüchtig und würden wohl bald das Haus verlassen, heiraten und eine Familie gründen. Josef, der Kleinste, wich nicht von Franziskas Seite. Er trottete ihr überall nach, half ihr bei der Stallarbeit und durchlöcherte sie mit allerlei Fragen, war wissbegierig und ein flinkes Kerlchen. In einem Jahr würde er zur Schule gehen. Anton war klar, er musste wieder eine Frau in das Haus nehmen, doch noch war das Trauerjahr einzuhalten. An wohlmeinenden Ratschlägen mangelte es ihm nicht, lebten doch einige Witwen in der Stadt, die vom Alter gut zu ihm passen würden. Schließlich entschied er sich für die Witwe Anna Maria Schneider. Es war eine stille Hochzeit am 26. April 1790, ein Jahr nach Magdalenas Tod. Ruhig, an harte Arbeit gewöhnt, verrichtete Anna ihre Tagesarbeit. Sie war zufrieden. Für sie war es wichtig, versorgt zu sein und Anton hatte wieder eine Frau. Ein Jahr darauf zog Toni als Ehemann von Sybilla Kaufmann in deren Elternhaus ein. Die Hochzeit wurde am 8. Februar 1791 gefeiert. Und wieder schlug das Schicksal erbarmungslos zu. Nur drei Monate nach der Hochzeit seines Bruders Toni starb Andreas 16 jährig am 18. Mai 1791. Er war ein stilles und sensibles Bursche, zart von Statur, wie es sein Vater in diesem Alter auch noch gewesen war. Es kam, wie es der Lauf der Zeit bestimmte.

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Margarethe heiratete am 23. April 1792 Martin Mosser, ihre Schwester Fanziska am 10. Februar 1795 Wenzel Käfer. Im Jahr 1797 legte sich wieder der Tod auf die Dörfer und Städte in Syrmien. Ruma war bedroht! Die Pest brach in Irig aus und raffte im Laufe der Monate 80% der Bevölkerung des Ortes hinweg. In panischer Angst vor dem schwarzen Tod stellten die Rumaer Wachen auf, um niemand in die Stadt zu lassen und so die Krankheit fern zu halten, wie sie hofften. Und siehe da! Die Menschen blieben verschont und zum Dank wurde an der Ausfahrtsstraße nach Irig eine Pestsäule errichtet. Seit dem Tod Magdalenas waren viele Jahreszeiten ins Land gezogen. Anton war müde und fühlte die Schwere in seinen Knochen, in jeder Faser seiner Muskeln. Wieder färbten sich die Mischwälder und trugen bald ein buntes Blätterkleid. Die Luft war klar, das Blau des Himmels leuchtender als in der Hitze des Sommers. Zwischen den Feldern und Laubwäldern bedeckten goldbraune Herbstwiesen die Ebene. Nebeldunst warf graue Schleierfetzen über das Land. Anton beobachtete das langsame Sterbenwollen der Natur. Wie die Bäume kahl wurden, die Nebel sich über das Land senkten und die Natur in den Schlaf sank. Sein Körper, sein Geist und seine Seele stellten sich auf den Rhythmus der Natur ein, schalteten gleich mit ihrem Sterben. Am 6. Februar 1811 starb Anton im 68igsten Lebensjahr im Kreis seiner Familie und wurde neben den verstorbenen Familienmitgliedern von Pater Hattich auf dem Friedhof von Ruma begraben.

Matrikeleintragung Pfarre Ruma über den Tod von Anton Joos

Ein Jahr nach dem Tod des Vaters heirate Josef, der Jüngste, aus der zweiten Ehe mit Magdalena Jelimann. Josef war bereits ein stattlicher Mann von 29 Jahren, als er Rosina Dorn 28. Jänner 1812 in der kleinen Holzkirche von Ruma ehelichte. Georg war Handwerker und erhielt das Privileg der Zunft eines Riemers am 9. September 1818.

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Nach und nach haben die Töchter und Söhne von Anton geheiratet und bekamen Kinder. Einige starben zu früh, zu klein, wie so viele in jenen Zeiten. Jene, die überlebten, sorgten für die Verzweigung der Familie und begründeten die »Joos- Sippe« in der Stadt Ruma.

Fort Louis

Bodnegg

Ruma

Der lange Weg des Anton Joos

Das Erbe Magdalena Jelimann aus Roeschwoog war das Geschichten erzählen über die Familie wichtig. Die Geschichte des Wagemutes, der Entbehrungen, der Hoffnung und des Glaubens an jene Familie, die aus dem fernen Elsass nach Ungarn gekommen war und trotz Schicksalsschläge die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht aufgab. Die Geschichte, erzählt über Generationen, sollte weiter gegeben werden, damit die Sippenseele lebendig bleibt und Folgegenerationen Mut macht, die eigene Gegenwart und Zukunft kraftvoll zu gestalten.

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Ahnenforschung Eine spannende Zeitreise

Andreas+Katharina

Anton

Anton

Sibilla

Lena

Magdalena

Anna

Wissenswertes 端ber unsere Ahnen

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Auf der Suche nach den Wurzeln Immer wieder wurde und werde ich gefragt: »Warum machst du Ahnenforschung?« Nun, ist es nicht die Frage der Menschheit schlechthin nach dem »woher kommen wir und wohin gehen wir«? Und bei meinem eigenen »Sein« ist diese Frage doch von tiefer Bedeutung für mein Leben! Was sind meine Wurzeln, welches Erbe trage ich in mir, was davon gebe es meinen Kindern weiter? Ahnenforschung ist detektivische Kleinarbeit in eigener Sache – in den Wirren der Geschichte den weit zurück reichenden eigenen Faden finden. Das, was wir sind, sind wir auch durch die Vergangenheit. Und ich will mich berühren lassen von dem, was unsere Ahnen berührt hat. Mir geht es nicht nur um Daten von Geburten, Hochzeiten und Todeseintragungen in Matrikelbüchern. Ich will die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen erfahren und verstehen, unter denen unsere Ahnen gelebt haben. Durch das Sammeln von Fakten und Daten, von Geschichten und Ereignissen der letzten 300 Jahre wurde das Suchen nach den Wurzeln schließlich eine spannende Zeitreise. Ich lernte die Geschichte Europas bis in das 17. Jahrhundert besser kennen und begriff, wie sehr unsere Sippe mit all den Kriegen und Friedensschlüssen, mit den Hungersnöten und Naturkatastrophen dieses Kontinentes seit drei Jahrhunderten schicksalhaft verbunden ist. Ich ging auf den Spuren unserer Ahnen in Oberschwaben/D, im Elsass/F, in Srem (Syrmien)/Serbien, lernte interessante und liebe Menschen kennen und bereiste diese Regionen mit wachen Sinnen - dadurch wurde mein Leben enorm bereichert. Die Lebensleistung unserer Ahnen wirkt in uns weiter und soll in der Geschichte nicht verschollen sein.

Das Bewusstsein der Verbundenheit mit früheren Generationen kann eine Rettungsleine durch eine schwierige Gegenwart sein. Jon Dos Passos

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Erfahrungen beim Sammeln von Daten und Fakten Alte Schriften und Bücher berühren, besonders dann, wenn deine Ahnen darin aufscheinen, du ein Stück deiner Wurzeln in den Händen hältst. Forschen in diversen Archiven und Ämtern bedeutet immer, unter enormen Zeitdruck zu arbeiten. Einerseits geben diese Stellen meist bestimmte Zeiten vor und wir haben im Urlaub auch nur ein begrenztes Zeitbudget zur Verfügung. Manchmal ist es zudem sehr mühsam, wenn die Matrikeleintragungen in Kurrentschrift und Lateinischer Sprache durch die Priester auch noch unleserlich verfasst wurden.

Matrikelbuch der Pfarre Ruma im Archiv Sremska Mitrovica

Wir waren 2003 und 2005 im Archiv in Sremska Mitrovica und sind bei den Erhebungen erst bei 1830 angelangt. Es hat sich gezeigt, dass der bestehende Stammbaum der Familie Joos – gezeichnet von Martin Linzner-Seppasch – ergänzt werden kann, aber auch korrigiert werden muss. Wir werden wohl noch weitere Reisen und Forschungen unternehmen. Ahnenforschung erfordert viel Zeit und Geduld, bringt Enttäuschungen und Ärger, schafft Freude, wieder ein Stück weiter gekommen zu sein, Genugtuung, gerissene Fäden geknüpft zu haben, damit das Band künftigen Generationen weiter geben werden kann.

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Woher kommt der Name »Joos«? Entstehung der Familiennamen: Die Nach- oder Zunamen entstanden zwischen 1200 und 1400, als die Grundherren daran gingen, ihre Untertanen zu registrieren. Das heißt, die Pfarreien wurden angewiesen, in Matrikelbüchern die Daten der Taufe, Hochzeit oder des Todes zu registrieren. Die Menschen nannten sich nach ihren Berufen (z.B. Fischer), nach ihren Wohnorten (Berger), oder nach anderen Merkmalen wie zum Beispiel dem Aussehen (Schwarz), oder aber nach Heiligennamen. So kann es sein, dass an verschiedenen Orten die gleichen Namen entstanden sind, ohne dass die Namensträger verwandt waren.

Der Name Joos leitet sich vom heiligen Jodokus ab. Er gründete im Jahre 665 n.Ch. bei Montreuil (südlich von Bologne) in Frankreich eine Einsiedelei, aus der sich später die Benediktinerabtei St.-Josse-sur-Mer, ein wichtiges Wallfahrtsziel im Spätmittelalter, entwickelte. Jodocy ist der lateinische Genitiv zu Jodok, einem Heiligennamen keltischen (bretonischen) Ursprungs (zu kelt. jud >Kampf<), altfranzösische Namensform Josse, aus Jodokus leiten sich die Familiennamen Joos, Jooß, Johst, Joost, Jost, Jöst ab. Quelle: »Duden Familiennamen – Herkunft und Bedeutung«, Dudenverlag 2000

Verbreitung des Namens Joos Jodokus war einst ein beliebter Taufname. Im Jahr 977 wurden die Gebeine des Volksheiligen gefunden und ein Teil davon nach Deutschland verschleppt. Von da an verbreitete sich der Kult auch im deutschsprachigen Raum. St. Jodok wurde zum Bauernheiligen, der für das Gedeihen der Feldfrüchte angerufen wurde, gegen Gewitter, Hagel und Getreidebrand. St. Jodok wurde in vielen Orten Kirchenpatron, Altäre und Kapellen wurden ihm gewidmet. Die Verbreitung des Namens Jodok erfolgte schließlich durch den Taufnamen, z.B. Jous. Im 14. und 15. Jahrhundert erfolgte die starke Verbreitung als Sippenname auch in der Schweiz, in Holland (Jost) und am stärksten im Südwesten Deutschlands. Neben Joas, Jost, Jos, Joß u.a.m. ist Joos die gebräuchlichste Form.

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Auszug aus dem Joos – Stammbaum Zeit: ca. 1650 bis 2005 Erforscht von ca. 1650 – 1830 aus den Matrikelbüchern der Pfarren Bodnegg, Roeschwoog und Ruma. Weitere Daten stammen aus dem Joos-Stammbaum von Martin LinznerSeppasch, aktuelle Daten wurden von Joos-Nachkommen zur Verfügung gestellt. Direkte Linie (ohne Geschwisterfolge) 1. Generation - unsere Stammeltern (?) Johann Conrad Joos, geboren in Bodnegg/Oberschwaben Ehe: Catarina Fügin 2. Generation Sebastian Joos, geboren 9. Jänner 1680 in Bodnegg Ehe: Anna Stärkin 3. Generation Josef Joos, geboren 17. März 1710 in Bodnegg gestorben 25. April 1769 in Bodnegg Ehe: 28. November 1737 mit Anna Maria Fricker, gestorben 1753 in Bodnegg Bei den oben angeführten Daten ist es nicht sicher, ob es sich tatsächlich um unsere Ahnen handelt

4. Generation - unsere Einwanderahnen Anton Joos, geboren 27. Jänner 1744 (?) in Bodnegg/Oberschwaben gestorben 6. Februar 1811 in Ruma/Österr. Ungarn 1. Ehe: Magdalena Pfäster, Herkunft von Magdalena Pfäster, Wohnort der Familie, Geburtsort und -Datum der Kinder unbekannt Gemeinsame Kinder: Anton, Margarethe, Franziska, Georg, Andreas, Mathias 2. Ehe: Maria Magdalena Jelimann am 4. Februar 1782 in Fort Louis, Elsass, Frankreich Gemeinsame Kinder: Josef, geboren 7. April 1783 in Roeschwoog, Elsass, gestorben 1843 in Ruma, Österr. Ungarn Martin, geboren 30. Mai 1786 in Ruma, gestorben 16. Juni 1786 in Ruma 3. Ehe: Anna Maria Schneider am 26. April 1790 in Ruma

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5. Generation Anton Joos Ehe: Sybilla Kaufmann am 8. Februar 1791 in Ruma Gemeinsame Kinder: Anna, Andreas, Johann Georg, Theresia, Adam, Anton 6. Generation Andreas Joos, geboren am 2. November 1801, gestorben 1861 Ehe: Catharina Wagner Gemeinsame Kinder: Josef, Anna, Elisabeth 7. Generation Josef Joos, geboren 13. Oktober 1824, gestorben 5. Jänner 1871 1. Ehe: Maria Bonigut 1843 in Ruma Gemeinsame Kinder: Georg, geboren 4. Jänner 1847 Michael, geboren 1859 Josef, geboren 1859 Mathias, geboren 13. Juni 1866 Franz, geboren 12. Jänner 1869 2. Ehe: Krewedl (Vorname unbekannt) 3. Ehe: Katharina Polli Gemeinsames Kind: Eva, geboren 1871, gestorben 1942 8. Generation Durch die Brüder Georg, Michael, Mathias und Franz verzweigte sich die Familie in die uns bekannte Sippe in Ruma. Ihr Bruder Josef blieb kinderlos.

Wo sind die Nachkommen von Josef, dem Sohn von Anton Joos aus der zweiten Ehe mit Maria Magdalena Jelimann? Leben sie noch? Wo leben die Nachkommen der anderen Kinder von Anton, dem Einwanderahn? Es gab ja mehrere Söhne. Wer sind sie? Das zu erforschen steht ebenfalls noch an.

Im Folgenden sind die Nachkommen der oben angeführten Joos - Brüder aufgelistet.

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Matrikeleintragungen über die Familie Joos aus dem Elsass Trauung von Maria Magdalena Jelimann und Anton Joos Das Aufgebot wurde sowohl in Roeschwoog als auch in Fort Louis bestellt. Der Pfarrer und Rektor des Klosters von Fort Louis nahm am 4. Februar 1782 die Trauung von Maria Magdalena Jelimann und Anton Joos in Fort Louis vor.

Heute am 4. Februar 1782 nachdem drei Aufgebote veröffentlicht wurden in unserer Pfarrkirche in Fort Louis und in der Pfarrkirche von Roeschwoog und nach den Zeugenschriften von H. Ignatius Walter Pfarrer von dieser Kirche am dritten Tag des Monates und da kein kanonisches weder bürgerliches Hindernis gefunden wurde von mir unterzeichneter Pfarrer und Rektor in Fort Louis ... wurden durch das Band der Heiligen Ehe durch gegenseitiges Einverständnis vereint einerseits Antoniuis Jos, Gärtner, Witwer der verstorbenen Magdalena Pfäster und Magdalena Jelimann, einzige Tochter von Phillipus Jelimann und der verstorbenen Maria Hibstenberger verheiratet und Bürger von Roeschwoog anderseits. Die Zeugen waren Johannes Michael Braun, Gemeinderatsmitglied, Michael Deharbs Bürger und .... Josef ... und Josef Richard die alle miteinander, mit den Eheleuten und mit mir selbst unterschrieben und unterzeichneten.

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Die Taufe von Josef des ersten Sohnes von Magdalena Jelimann und Anton Joos am 7. April 1783 in der Pfarrkirche von Roeschwoog:

... Josef

JoĂ&#x;s wurde als Sohn von Antonius JoĂ&#x;s und Magdalena Jelemann zusammenlebend im Dorf im Volksmund genannt Dinarahof in der Pfarre Roeschwoog getauft. Pate war Josef Wolf, Sohn des verstorbenen Sebastian Wolf und in Ehe lebend mit Anna Maria Gutterin und Patin Susanna Jelemann, Tochter des Phillipus Jelemann und der Margarethe Eckstein ....

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Vorfahren von Josef Joos Sohn des Anton Joos und Maria Magdalena Jelimann

Georg Philipp Jelimann b: in Roeschwoog/Elsaß m: 06 April 1739 d: in Roeschwoog/Elsaß

Maria Magdalena Jelimann b: 08 April 1756 in Roeschwoog/Elsaß d: 27 März 1789 in Ruma

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Nachkommen von Josef Joos Josef Joos, geboren am 07. April 1783 in Roeschwoog/ Elsass Vater: Anton Joos 27. Jänner 1744 in Bodnegg/Oberschwaben Mutter: Maria Magdalena Jelimann 08. April 1756 in Roeschwoog/Elsass

Ehe mit Rosina Dorn 28. Jänner 1812 in Ruma/Österr.Ungarn

Kinder: Theresia Tomas Joos Paul Joos Elisabeth Joos Martin Joos Thomas Joos Josef Joos Anna Joos

09. Februar 1813 22. Jänner 1815 (vermutlich verstorben) 06. Juni 1816 5. November 1818 01. November 1822 12. Oktober 1826 unbekannt (als Erbe eingesetzt) 23. Oktober 1829

Hans und Maria Geisl, Maria und Josef Kronister bei der Recherche im Archiv von Sremska Mitrovica Juni 2005

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Testament Josef Joos, geboren 7. April 1783 in Roeschwoog/ Elsass, wohnhaft in Ruma, lässt ein Testament verfassen: (Quelle: Abschrift durch das Museum in Ruma, per Mail im Juni 2005 übermittelt)

Testament In Namen der Allheiligsten Dreifaltigkeit Gott des Vaters des Sohnes, u. des H. Geistes Amen. Nachdem ich die Gewissheit des Todes, u. die Vergänglichkeit des irdischer Wohl zu Gemuthe geführet zugleich wisse, dass derselbe gewiss, die Stunde aber ungewiss sey, so habe ich mich bei reifer Vernunft, um aller nach meinen Tode sich ereigenen könnenden Streitigkeiten vorzubeigen, mitschlossen folgendes zu verfügen: Erstens: Mein Körper soll nach unsere h. Kirchengebrauche beerdiget werden. Zweitens: Mein Weib Rosina soll nach meinen Tode die Eigenthümerin, u. Frau des ganzes Vermögen seyn mit dem Zusaze, dass mein Sohn Joseph nach ihren Tode Nachfolger unseren Vermögen seyn wird mit den Verbindlichkeit, dass er seiner alteren Schwester Elisabetha verheurathet an Joseph Bornbaum ausser ihrer Hochzeitskosten noch 100 fl. V.V. seiner jüngeren Schwester hingegen Anna, welche noch ledig ist, die Hochzeit auszuhalten, eine Kuh, ein aufgerichtetes Bett, wie es die ältere Schwester erhielt, und auch 100 fl. W.W. im Gelde zu verabfolgen schuldig seyn wird: und endlich seine Mutter mit allen kindlicher Ergebenheit, Liebe, und Achtung behandeln werde. Urkund dessen gegenwärtiges Testament mit dem zu meinen Namensfertigung beigedrükten Kreuzzeichen ausfolge.

Sig. Ruma, den 30ten Janer 1846. Coram Nobis Joseph Habenshuss Richter Martin Volf als Zeuge Ant. Lobmayer m. p. Not.

+ Joseph Joosz Testirer

Anno 1847. die 20. Maii in Oppido Ruma I Cottiu Syrmiensi adjacente praevium Testamentum paesentib. uxore denati Rosina, filio Josepho, filia item Elisabetha Bornbaum reseratum et publicatum est cum eo quod nemo catenus protestatione interposuent. Sig. Ruma, ut supra p. Ant. Lobmayer m. p. Not.

Übersetzung: Im Jahre 1847 wurde am 20. Mai in der Stadt Ruma, die in Syrmien liegt, das vorangehende Testament in Anwesenheit der Gattin des Verstorbenen, Rosina, seines Sohnes Josef und ebenso der Tochter Elisabeth Bornbaum eröffnet und dahingehend veröffentlicht, dass niemand Einspruch erhob.

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Matrikeleintragungen der Pfarre Ruma Todeseintragung von Magdalena Jelimann, sie wurde in Wien Ruma zu Margarethe Josin. Magdalena starb am 27. März 1789

... versehen mit den heiligen Sterbesakramenten durch mich P. Raimund Vogl und begraben im Friedhof in Ruma Ein Jahr später heiratet Anton Joos als Witwer in dritter Ehe am 26. April 1790 die Witwe Anna Maria Schneiderin. Die Trauung erfolgt durch Pater Raimund Vogl, der schon zur Zeit der Tragödie im Frühjahr 1786 in Ruma war.

Hochzeit des Sohnes von Anton Joos und Magdalena Pfäster am 8. Februar 1791 Anton junior führte mit seiner Frau Sibilla die Joos-Linie weiter, war wahrscheinlich ebenso wie sein Vater Bauer. Wir wissen von sieben Kindern aus dieser Ehe. Die Trauung nahm ebenfalls der bereits erwähnte Pater Raimund Vogl vor.

... der Junggeselle Antonuis Jos und die Jungfrau Sibilla Kaufmannin ...

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Erfassung der Zuwanderer in Ruma im August 1786 Ausgestellt am 4. August 1786 von Mathäus Cambesy, Vizestuhlrichter des Syrmischen Komitats. (Ung. Staatsarchiv, Impopulationalia 1786 E 125, 35 Ans. No. 279 - Quelle: Rumaer Dokumentation I)

Ausschnitt aus der »Specifikationsliste« (Einzelauflistung) jener rund 550 Familien mit 2431 Personen, die im Frühjahr 1786 nach Ruma kamen.

Hausplatzverteilung Im November 1786 bis Oktober 1787 Familienoberhäuptern Hausplätze zugewiesen. Auszug:

wurden

insgesamt

146

Consiganio Welche von lte Novembris 1786. bis letzten Octobris 1787. in Markt Ruma sich neu angesiedlet, und die contractmesige Grund Stüker empfangen haben. No 66 Lorenz Werner No 97 Anton Jos Die anderen Röeschwooger Familien scheinen in dieser Liste nicht mehr auf. Es ist anzunehmen, dass sie während der Tragödie im Frühjahr und Sommer 1786 in die Batschka weiterzogen. Oder sind sie doch verstorben?

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Aus der Rumaer Gemeindestube Gemeindevertreter: Im Jahr 1854 scheint unter anderen ein »Jos« als Gemeindevertreter in einer Liste auf. Um welchen es sich handelt ist unklar, da alle Mandatare nur mit dem Familiennamen angeführt wurden. Schulfond und andere: Da gibt es eine Liste aus dem Jahr 1859, wer wie viel in den Schulfond einbezahlt hat, oder wer Händler war und welche Handwerker zwischen 1849 und 1861 in Ruma tätig waren, Besitzer von Lasttieren, die eine Entschädigung bekamen (vermutlich für Kriegszwecke), auch eine Liste von 175 Weingartenbesitzern aus dem Jahr 1860. Eine Familie Joos ist in diesen Listen nicht zu finden. Gemeindesteuer Weiters aber, wer 1858 Gemeindesteuer entrichtet hat. Unter 858 steuerpflichtigen Rumaer Bürgern finden wir: Anton Joos, Stefanigasse 232 Josef Joos, Michaeligasse 307 Andreas Joos, Sebastinigasse 435

Haus aus der Ansiedlungszeit

Schornsteine Ebenso eine Schornsteinliste, pro Jahr mussten je Rauchfang 25 Kreuzer entrichtet werden. Von 1240 Schornsteinbesitzern aus dem Jahr 1859 hatten je einen Anton Joos und Nachfolger Josef Joos, Stefanigasse 232 Josef Joos, Michaeligasse 307 Andreas Joos, Sebastiangasse 435 Georg Joos, später Witwe Magdalena Joos, Sebastiangasse 477 Josef Joos, Große Jarakergasse 905

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Weitere Joos - Hausplätze zwischen 1858 – 1863 (Ergänzung) Josef Joos, Kroatischer Berg, Raitschitschgasse 1551 Josef Joos, Kroatischer Berg, Kulitschgasse 1283 Josef Joos, Kroatischer Berg, Kulitschgasse 1285 Maria Joos, Michaeligasse 34 Anton Joos, Sebastiangasse 442 Magdalena Joos, Witwe, Sebastiangasse 438 Andreas Joos, Sebastiangasse 438 Theresia Joos, Witwe, Sebastiangasse 435 Sebastian Joos, Lorenzigasse 684 Leider war es bisher nicht möglich, den zugewiesenen Hausplatz für Anton Joos und seiner Familie im Jahr 1786 zu eruieren.

Anton Joos und die Armut Eine Bemerkung noch zu den Wiener Abfertigungslisten:

Es sind dies die Protokollen über das Hungarische Ansiedlungsgeschäft vom ersten November 1785 bis letzten Oktober 1786. In diesem Protokoll wurden Familien und Einzelpersonen eingetragen, die sich in Wien zur Ansiedlung nach Ungarn meldeten. Es waren dies im o.a. Zeitraum 2112 Familien mit 10 060 Personen und einem Barvermögen von 81 232 Gulden. Aus diesen Aufzeichnungen geht hervor, dass Anton Joos kein Vermögen hatte, also arm war, wie übrigens die anderen Roeschwooger Familien auch. Name

Herkunft

Alter Religion

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Beruf

mit wem Söhne

Töchter Vermögen Gesamt


Gemeinsame Ausreise von Roeschwooger Familien Wie schon in der Erzählung erwähnt, gingen vier Familien gemeinsam aus Roeschwoog weg. Auflistung vom 20. April 1786 in Wien: (Kopie aus »Banaterbuch« vom Archiv Guebwiller, Haut Rhin, Elsass)

Elsässische Landschaft

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Die Frömmigkeit und das Alltagsleben Adel und Kirche als Grundherren waren bestimmend für das Leben der Untertanen. Die Kanzel war der Ort um Botschaften zu verbreiten, zu drohen, einzuschüchtern, aufzurufen, die »Frohbotschaft» vom gottgefälligen Untertanensein zu verkünden. Die Kirche war ja auch weithin weltliche Macht oder stand in deren Diensten und wachte über die Gottes- und Herrschaftsgäubigkeit. Die Menschen jener Zeit waren fromm, Glaube und Anrufungen spielten im Alltagsleben eine große Rolle. Dies drückte sich vor allem auch bei Verschriftlichungen nieder, wie z.B. zu Beginn des Testaments von Josef Joos zugunsten seiner Frau Rosina Dorn. Oder aber in Briefen nach Hause:

Hier müssen wir euch, liebe Freunde und getreue Brüder und Schwestern in Christo Jesu unserem Herrn ... unsere ganze Reise beschreiben ... und sind durch Gottes gnädiger Führung glücklich in Wien angekommen ... Und weiter heißt es, dass sie bei einer Gelsenplage

... den nähmlichen Rheinschnaken ... treulich an die ägyptische Plage dachten

...dass Gott hat sein Werk in allem ... und unser Zug sei den Kindern Israels gleich ... (Quelle: »Die Auswanderung aus Deutschland nach Rußland in den Jahren 1763 bis 1862«, Karl Stumpp, Landsmannschaft der Deutschen in Rußland, 1995, Brief des Joh. Chr. Bidlingmaier, Anführer über der Fahrt von Ulm bis an das Schwarze Meer)

Der rechte und wahrhafte Tobias-Seegen Vor allem aber kommt die Gläubigkeit im »Tobias-Seegen« zum Ausdruck. Den »Tobias-Seegen« trugen die Kolonisten mit sich, um vor allen Gefahren auf der langen Reise behütet und beschützt zu sein. Das Blatt hatten die Einwanderer immer bei sich und es wurde wahrscheinlich auch noch von den nächsten Angehörigen getragen. Die Kopie des nachstehend angeführten »Tobias-Seegen« war zuletzt im Besitz einer Familie Torreiter, bei der Flucht im Oktober 1944 wurde er nach Österreich mitgenommen. Das Orginal kam 1953 in den Besitz des Heimatforschers Martin Linzner und seiner Frau Eva, geb. Torreiter. (Erläuterung und Kopie »Tobias-Seegen« von Martin Linzner-Seppasch)

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Ernstes und Kurioses Viel Ernstes und wahrscheinlich Kurioses gäbe es noch in privaten Sammlungen, in Archiven und Museen über die Epoche und unsere Ahnen zu entdecken. Das aber kostet Zeit, die wir uns sicher noch nehmen werden!

Schafschere

Ahnen sind für den nur Nullen Der als Null zu ihnen tritt. Steh als Zahl an ihrer Spitze Und die Nullen zählen mit. Wilhelm Müller, Epigramme

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Strohgabel

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Unsere Ahnen in den Wirren der Geschichte Ich erwähnte eingangs, wie sehr unsere Ahnengeschichte mit der Entwicklung der Habsburgmonarchie vom Westen bis weit in den Südosten Europas verbunden ist. Um den Hintergrund der tausende Kilometer Wanderung unserer Ahnen und unserer Familien zu verstehen, ist zur jeweiligen Herkunftsregion eine kurze Abhandlung über die wirtschaftliche, soziale, politische und militärische Situation der Regionen unserer Vorfahren angeführt. Dieser Teil umfasst nicht nur den Zeitraum von der Mitte des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts, sondern geht auch kurz bis zum 2. Weltkrieg und die Folgen für unsere Familien ein. Verweisen möchte ich in diesem Zusammenhang auf beide Bände der »Rumaer Dokumentation I und II«, die ausführlich über die Geschichte der deutschen Einwanderer in die Donaumonarchie berichten, die Entstehung und Entwicklung Rumas, die Stadt unserer Ahnen in Srem/Syrmien.

Das historische Blitzlicht erfolgt auf: Oberschwaben - die wahrscheinliche Heimat von Anton Joos Frankreich und das Elsass Wirtschaftsflüchtlinge und Anwerbung im 18. Jahrhundert Ungarn - das Vielvölkerland Raitzen kommen in das Land Die Besiedelung mit Deutschen Syrmien – unserer Vorfahren im Zweistromland Das Königreich der Serben-Kroaten-Slowenen (S-H-S) Weiters: Lehren aus der Geschichte? Eine Zeittafel beendet dieses Kapitel.

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Oberschwaben – die wahrscheinliche Heimat von Anton Joos Das deutsche Reich war im 18. Jahrhundert kein einheitlicher Staat mit festgefügten Grenzen. Deutschland war in jener Zeit in rund 350 Klein- und Kleinststaaten zersplittert, in Ritter- und Fürstentümer, Grafschaften, Herzogtümer, geistliche und kaiserliche Besitzungen.

Ausschnitt - Deutschland Ende 18. Jh. mit seinen zahlreichen Kleinstaaten

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Die deutschen Länder gehörten zum »Heiligen Römischen Reich deutscher Nation«, der Kaiser in Wien war oberster Herrscher. Diese Kleinstaaten mit ihren zerrissenen Grenzen hatten gegenüber den Großmächten der Habsburger, Preußen und Russlands oder einheitlichen Staatsgebilden wie Frankreich und Schweden, keine Chance. Alle wollten ihre Macht durch Landeignung vergrößern und führten grausame Eroberungskriege. Vor allem Frankreich unter Ludwig XIV. strebte die Vorherrschaft in Europa an. Ohne Kriegserklärung fielen französische Heere über den Schwarzwald ein. Die Wirtschaft beruhte fast ausschließlich auf Ackerbau, der Weinbau war noch schwach entwickelt. Jede Missernte hatte verheerende Folgen für die Bauern, jeden Ort, jede Familie. Auf lange, nasse und kalte Winter oder regenreichen Sommer folgten Saatgutmangel, Teuerungen und Hungersnot, Kriege verschlimmerten die Situation enorm. Die wirtschaftliche und soziale Not der Leibfreien in den kaiserlichen Vogteien unterschied sich nicht zu der der Leibeigenen in fürstlichen Herrschaften. Eine weitere Ursache der Not war die Verknappung der landwirtschaftlichen Flächen. Einerseits durch anhaltenden Bevölkerungszuwachs und anderseits durch das im Südwesten herrschende Realerbrecht. Im Falle der Familie Joos bedeutete dies, dass Anton mit seinen drei Schwestern zu gleichen Teilen Haus und Grund erbte. War es ein kleines Anwesen, was sollte da durch vier Erben geteilt werden? Es bliebe für jeden »zu wenig zum Leben, zuviel zum Sterben«! Unsere Familienüberlieferung erzählt, dass Anton Weinbauer war. Möglicherweise waren seine Eltern Kleinbauern mit einem kleinen Weingarten. Anton könnte aber auch als Tagelöhner (und somit als Leibeigener) im Weinbau des Klosters Weingarten oder in der Bodenseeregion gearbeitet haben. Winzer hatten einen ungewissen Verdienst. Durch die ständigen Kriege waren Flurschäden oder witterungsbedingte Missernten zu verzeichnen. Immer mehr Menschen konnten sich vom Ertrag des Hofes nicht oder nur ungenügend ernähren. Das führte dazu, dass Knechte und Mägde, Handwerker, Tagelöhner und Hausierer brotlos wurden. Die Landarmen und Landlosen nahmen zu. Das Heer der Vagabunden und Vaganten, der Bettler und Kriegsinvaliden vergrößerte sich zunehmend. Am Ende des 18. Jahrhunderts konnten sich etwa zwei Drittel der ländlichen Bevölkerung nicht mehr ausreichend vom Ertrag ihres Bodens ernähren. Es kam zur Massenverelendung, zur Verfolgung und Ausweisung »fremder Armer« aus der jeweiligen Grundherrschaft.

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Dazu kam noch die Leibeigenschaft, die Leibabhängigkeit vom jeweiligen Grundherrn. Ohne dessen Zustimmung konnte man nichts unternehmen: Wegzug, Heirat bedurfte der Einwilligung, ebenso die Niederlassung oder Einheiratung in eine Grundherrschaft. Und alles kostete Geld, für jedes Ansuchen, für jeden Akt mussten Gebühren entrichtet werden. Die Bewilligung zur Heirat wurde auch nur dann erteilt, wenn ein ausreichendes Einkommen zur Ernährung einer Familie vorhanden war. Fast alle ländlichen Untertanen waren Leibeigene. Leibfreie Untertanen waren meist nur die Bürger einer Stadt und unter Josef II. auch die bäuerliche Bevölkerung in den kaiserlichen Vogteien.

»…das Laufen aus dem Land…« Es sind die jeweiligen Erfahrungen, der Wunsch nach wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit, die zur Migration führ(t)en. Der Hauptgrund jener Zeit war die materielle Not, also Armut und Hunger. Kam zu all den Sorgen ein Funken Hoffnung dazu, ein Gerücht, tauchte ein Werbezettel mit allerlei wundersamen Versprechungen auf, woanders ein besseres Leben aufbauen zu können, trieb es viele in die Fremde. Wirkten mehrer Faktoren zusammen, dann konkretisierte sich zur ohnehin vorhandenen Auswanderungsbereitschaft der Auswanderungswunsch und es kam zu Massenauswanderungen. Diese Faktoren waren: * Realerbrecht, die daraus resultierende Zerstückelung des Bodens und in der Folge Landmangel * Ehebeschränkungen (Eheconsens) * Heeres- und Frondienste, Zwangsrekrutierungen für eigene und fremde Heere * Plünderungen, Beschlagnahmungen, Sondersteuern zur Finanzierung der Kriege * Kriegsbedingte Ernteausfälle oder witterungsbedingte Missernten * Hungerjahre, Teuerung der Lebensmittel, allgemeine Steuerlast * Epidemien wie Ruhr, Pest, Typhus * strenge und ungerechte Verwaltung * zu alldem musste die Bevölkerung für den prunkvollen Hofstaat der jeweiligen Grundherren aufkommen * Leibeigenschaft Gerade junge und kräftige Leute verließen die Heimat, weil sie zur Eheschließung oder zu einer Einheirat für die Niederlassung oft nicht die nötigen Mittel aufbringen konnten.

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Für das 18. Jahrhundert wird eine hohe Dunkelziffer an heimlichen Auswanderungen oder »Ledigenauswanderung« angenommen. »… das Laufen aus dem Land …« konnten die Grundherren nicht stoppen. Die Bedingungen der Anwerbeländer waren zu verlockend. Ein Heer an Wirtschaftsflüchtlingen begab sich innerhalb eines Jahrhunderts in den Osten, Südosten oder nach Übersee.

Nachgebaute Ulmer Schachtel mit dem Münster

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Frankreich und das Elsass Das Elsass ist ein lang gestreckter Streifen Land zwischen den Vogesen und dem Rhein als Ostgrenze.

Elsass

Frankreich mit seinen Departements

Schon in der Zeit der erste Siedlungen 1500 v.Ch. gab es genügend Nahrung aus Flüssen und den Wäldern. Das günstige Klima und der fruchtbare Boden waren bereits für die Römer verlockend. Julius Cäsar eroberte 58 n.Ch. diese Region und Gallien. Die Römer benützten die alten keltischen Befestigungen und bauten Grenzstützpunkte. Einer davon war Argentorate, das heutige Strasbourg. Im dritten nachchristlichen Jahrhundert brachen Alemannenstämme ein, im 5. Jahrhundert gelangte das Gebiet unter germanischen Einfluss. Gegen Ende dieses Jahrhunderts wurde das Elsass von den Franken erobert und christianisiert. Der Begriff »Elsass« tauchte erstmals 610 als »Alesaciones«, französisch »Alsace« auf. Nach dem Zerfall des Römischen Reiches wurde die Region Schauplatz zahlreicher Kämpfe und gelangte immer wieder unter verschiedenen Herrschaftseinfluss, bis es im 10. Jahrhundert dem »Heiligen römischen Reich deutscher Nation« zufiel. Das Elsass war in zahlreiche geistliche, königliche, kaiserliche Herrschaften aufgeteilt. In Friedenszeiten wurden Grundherrschaften gekauft und verkauft, in Kriegen erobert und wieder verloren. 1262 erlangten die Bürger von Strasbourg nach langer Auseinandersetzung mit dem regierenden Bischof den Status der freien Reichsstadt.

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1354 wurde der »Zehnstädtebund« gegründet, ein Zusammenschluss von zehn nur mehr direkt dem Kaiser in Wien unterstehenden Städte (»Freistädte«). Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) war einer der schlimmsten Zeitabschnitte in der Geschichte des Elsass. Er führte zum Tod und zur Flucht einer großen Bevölkerungszahl insbesondere auf dem Land, da es mehrfach von französischen, schwedischen oder kaiserlichen (habsburgischen) Truppen besetzt und verwüstet wurde. Die Habsburger, im Westen bedrängt von den Franzosen, im Osten von den Osmanen, mussten 1639 Teile des Oberelsass an Frankreich abgeben. Im Westfälischen Frieden 1648 kam mit Ausnahme einiger Freistädte das ganze Elsass zu Frankreich. Die Bedeutung des Deutschen Reiches nahm ständig ab, die Vormachtstellung ging an Frankreich über, das eine aggressive Eroberungspolitik bis zum Rhein betrieb. Frankreich annektierte 1681 ohne Kriegserklärung Strasbourg, die freie Reichs- und Handelsstadt. Das Elsass wurde somit zur Gänze französisch. In jener Zeit, Mitte der 60iger Jahre des 18. Jahrhunderts, als Anton Joos sich anschickte, jenseits des Rheins ein neues Leben zu wagen, gehörte das Elsass zu Frankreich. Das Land wurde vom Sonnenkönig Ludwig XIV. regiert. Am Vorabend der französischen Revolution waren von den 25 Millionen Franzosen 20 Millionen Bauern. »Freie Bauern« waren nur die Tagelöhner und Handlanger und sie gehörten zur Schicht des Landproletariats. Der Landbesitz der Bauern war bescheiden, sodass viele als Lohnarbeiter einem Nebenverdienst nachgehen mussten. Die Bodenbewirtschaftung war wie in Deutschland die Dreifeldwirtschaft. Durch Ähren- und Strohnachleserechte, durch das Nutzungsrecht der Gemeindeweide und des Gemeindewaldes konnten viele Bauern einen zusätzlichen kleinen Ertrag erwirtschaften. Die Grundherrschaftlichen Belastungen unterschieden sich kaum von denen der deutschen Bauern. Das Leben für die Untertanen war wie überall in Europa menschenunwürdig: Kriege, ständige Kriegsgefahr, Naturkatastrophen, Hungersnöte und ebenso Überbevölkerung. Auch die Leibeigenschaft war ein probates Mittel, die Untertanen unfrei und abhängig zu halten. Die Region war Auswanderungs- und auch Einwanderungsland. Zwischen 1648 und Anfang des 18. Jahrhunderts kamen viele Einwanderer aus der Schweiz, Lothringen, Deutschland und Österreich in das Elsass. In der Folge gab es Mitte des 18. Jahrhunderts eine große Auswanderungswelle . Die wirtschaftliche und politische Lage im Land veranlasste Elsässer zu zehntausenden über den Rhein in den Osten der Habsburgmonarchie auszuwandern, nach Ungarn, vorwiegend in das Banat, die Batschka oder Srem/Syrmien. Auch die USA waren ein wichtiges Einwanderungsland für Elsässer.

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Von 1738 – 1760 war die Bevölkerung um ein Drittel zurückgegangen! Frankreich war somit gezwungen, mittels Anwerbung Auswanderungswillige aus anderen Ländern in das Land zu bringen. Es brauchte zum Wirtschaftsaufschwung vor allem Landbevölkerung. Vermutlich gab es viel versprechende Werbezettel für niederlassungswillige Bauern, von denen auch die Bevölkerung im kleinen Bodnegg gehört haben könnte. Zudem gab es Kunde von großen Bastionen, vor allem den Rhein entlang, zum Schutz des Landes gegen angreifende Fremdheere. Die Städte um die Garnisonen lebten gut von diesen, da viele Arbeitskräfte gebraucht wurden. Nach der französischen Revolution (1789) kam es bis 1793 zur »Bauernbefreiung«. Die grundherrlichen Rechte wurden entschädigungslos aufgehoben. Königliche Domänen, der Adelsbesitz, die geistlichen Besitzungen gingen in die Hände der Bauern über. Der französische Bauernstand wurde gestärkt, Frankreich wurde zur »bäuerlichen Demokratie«. Nach dem Sieg der Revolutionsarmee am Rhein flohen zehntausende Elsässer über den Rhein nach Osten – sie hatten mit den eindringenden österreichischen und preußischen Heeren gegen die Jakobiner sympathisiert. Als die Rückkehr wieder erlaubt wurde, war ihr Eigentum konfisziert und sie standen vor dem Nichts. Wieder kam es zu Massenauswanderungen, diesmal eher nach Russland und den USA. Am 21. September 1792 wurde in Frankreich die Monarchie abgeschafft. Napoleon Bonaparte trat seinen Siegeszug durch Europa an. Er führte Feldzüge gegen Italien, Ägypten, Österreich, England, Preußen und Russland. Er übernahm die Macht und krönte sich 1804 selbst zum Kaiser der Franzosen. Errungenschaften der Revolution blieben formal aufrecht: Gleichheit vor dem Gesetz aller, es blieb bei der Aufhebung der Standesunterschiede. Unter Napoleon wurde das bürgerliche Gesetzbuch geschaffen, in dem die Bürgerrechte festgeschrieben wurden. Nach verlorenen Schlachten musste Napoleon abdanken und ging 1814 nach Elba. 1815 kehrte er zurück und übernahm für 100 Tage die Macht. Napoleons Heer wurde bei Waterloo von den Engländern und Preußen besiegt, ein englisches Schiff brachte ihn endgültig zur Verbannung auf die Atlantikinsel St. Helena. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870-71 musste Frankreich das Elsass an Deutschland abgeben. Nach dem 1. Weltkrieg wurde es wieder Frankreich einverleibt, im 2. Weltkrieg 1941 von Deutschland annektiert. Mit Ende des Krieges kam das Elsass endgültig zu Frankreich.

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Wirtschaftsflüchtlinge und Anwerbung Um den wirtschaftlichen Fortschritt zu sichern, somit die Macht über die Herrschaftsgebiete zu gewährleisten, wurde die Anwerbung und Besiedelung von verschiedenen Staaten in großem Umfang betrieben: Die Habsburger im Südosten, die Russen vor allem unter Zarin Katharina II. entlang der Wolga und Weißrussland, Spanien für Andalusien, Frankreich vor allem für das Elsass, Preußen für die Ostgebiete des Königreiches. Die USA waren Zielland in Übersee.

Donauschwäbische Siedlungsgebiete

Die Forschung gibt unterschiedliche Größenordnungen für die Wanderungsbewegungen an: etwa 100 000 für Atlantikauswanderer, 400 000 bis 500 000 (manche sprechen bis zu 700.000) für die Gebiete im Süden und Osten Europas für das 18. und 19. Jahrhundert. Die Wiener Hofkammer setzte bereits Ende des 17. Jahrhunderts eine »Ansiedlungskommission« ein, die für die Besiedelung der befreiten Gebiete in Ungarn verantwortlich war. Ziel der Besiedelungspolitik von Kaiser und regionalem Adel war, das Land zu »kultivieren«, das heißt, Ackerbau, Handel und Gewerbe zu fördern, durch eine erhöhte Konsumentenzahl eine Produktionssteigerung und einen Modernisierungsschub zu erreichen. Damit einher ging das Bestreben, die Grenze zum osmanischen Reich zu sichern.

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Werbeagenten Für die Besiedelungspolitik im 18. Jahrhundert spielten Werber eine wesentliche Rolle. Die Agenten standen zunächst für die staatliche Besiedlung im Staatsdienst, ab Maria Theresia wurden sie mit einem Kontrakt angestellt. Sie waren die so genannten »Populationskommisare«, die für den Staat Werbungen durchführten und Auswanderertransporte organisierten. Nur mit Papieren, die von staatlich bevollmächtigten Agenten ausgestellt waren, wurden die Siedler bei der Registrierung in Wien für staatliche Domänen vorgesehen. Auch für private Ansiedlungen waren Werber tätig. Oftmals achteten Auswanderungswillige nicht auf den Unterschied zwischen staatlichen und privaten Werbern und das konnte verheerende Folgen vor Ort bedeuten (siehe Ruma 1786). Eine große Anzahl der Auswanderer verließ nur auf ein Gerücht hin die Heimat und organisierte die Auswanderung selbst. Der Erfolg der Werber hing davon ab, wie scharfsinnig sie die Lage in der Herkunftsregion erkannten und die Vorteile im Zielland beschreiben konnten.

Anwerbemethoden Als Kommunikationsmittel zur Information gab es Zeitungen und Werbezettel. Wer nicht lesen und schreiben konnte, dem priesen die Werber in höchsten Tönen die Vorteile einer Niederlassung in fernen Gebieten an. In bestimmten Orten in Deutschland wurden Werbebüros errichtet. Diese Agenturen gehörten oftmals einem Transportunternehmen, das praktischerweise die Kolonisten auch die Donau hinunter bis Wien und weiter in die Gebiete der Donau entlang brachte. Es handelte sich um Wirtschaftsflüchtlinge, die aus Unzufriedenheit, Hunger und Sorge die Heimat verließen. Dieser Umstand einerseits und die verlockenden Versprechungen anderseits machten sich die Werber zu nutze. Um nicht in das Hintertreffen für ihre Güter gegenüber den staatlichen Domänen zu kommen, mussten die privaten Grundherren ähnliche Zusagen machen. Auch wenn diese nicht immer eingehalten wurden. Als Beispiel für Versprechungen sei eine Kopie des Ansiedlungspatents von Josef II. angeführt.

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Auswanderungsbedingungen und Kosten Voraussetzung für eine ordentliche Auswanderung war die Entlassung aus der Leibeigenschaft, die »Manumission« (Leibloslassung). Manchen Landesherrn war »das Laufen aus dem Land« ganz recht, wenn es sich um Arme und wenig Begüterte handelte, denn an ihnen ist nichts verloren. Die Entlassung war oft kostenlos. Für Begüterte war die Entlassung teuer. Für Mann, Frau und die Anzahl der Kinder wurden gestaffelte Entlassungsgebühren verhängt. War der Auswanderer Handwerker, musste er zusätzlich eine bestimmte Anzahl von Gulden für seine für den Grundherren verlorene Fertigkeit entrichten. Dazu kam noch die Abzugsgebühr für jenes Vermögen, das in das Ausland mitgenommen wurde. Schließlich gab es Schreib- und Ausfertigungsgebühren für die Ausfertigung des Manumissionsscheins.

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Die Donau als Schicksalsstrom »Wasseradern verbinden oder trennen seit je her Menschen und Kulturen, stellen Grenze oder Übergang dar…« (unbekannt). Nun, die Donau war »Übergang« zu einem neuen und hoffentlich besseren Leben, wie Hunderttausende hofften. War die Auswanderung beschlossene Sache, hatte man alle erforderlichen Papiere der Entlassung und für die Ansiedelung beisammen, galt es bis zu 2000 km lange Wege zu Land und zu Wasser vor allem auf der Donau zu überstehen. Das Reisen war beschwerlich und gefährlich. Das Räuberunwesen barg zusätzliche Gefahren. Der Mangel an Reisegeld und ausreichender Hygiene, Entbehrungen und Erschöpfung führte oft zu Hunger und Tod. Zahlreiche Reiseberichte erzählen vom lebensgefährlichen, »kochenden« Strudel bei Grein in Oberösterreich. Der Friedhof nahm so manche mit Schiffen Gekenterte auf. Zu Fuß, mit Ochsen- oder Pferdewagen kamen die Auswanderer zur Einschiffung nach Ulm, Regensburg oder Donauwörth und andere Orte entlang der Donau. Schiffe fuhren an bestimmten Tagen aus diesen Donauhäfen ab, das Ziel war immer Wien. Weil diese Schiffe zu ganz bestimmten festgelegten Zeiten nach Fahrplan (lateinisch »ordinari«) abfuhren, wurden sie auch »Ordinarischiffe« genannt. Der Andrang war oft so groß, dass wöchentlich mehrer Schiffe abgehen mussten. Neben Menschen beförderten die Schiffe natürlich auch Waren. Gefahren wurde meist in der ersten Woche nach dem Eisgang bis zum Kathreintag im November. Im Sommer, bei mittlerem Wasser und gutem Wind benötigten die Schiffe acht bis neun Tage nach Wien. Im Frühjahr und Herbst oftmals wegen der Stürme und Nebel bis zu zwei oder auch drei Wochen. Die wohl bekanntesten Schiffe sind das Ulmer Ordinarischiff und die »Kehlheimer Plätte«. Die Kehlheimer war das größte Schiff auf der Donau, ein Ruderschiff und fuhr von Regensburg ab. Sie konnte im Gegensatz zu den Ulmer Schiffen Donau aufwärts gebracht werden. Auch konnte sie über Wien hinaus die Kolonisten bis in ihre Zielgebiete bringen. Die Ulmer Ordinarischiffe waren das Beförderungsmittel für Auswanderer im 18. und 19. Jahrhundert schlechthin. Diese nur zur einmaligen Fahrt bestimmten Steuerschiffe wurden von den Nicht-Ulmern spöttisch »Ulmer Schachteln« genannt. Die Ulmer nannten sie »Wiener Zillen« oder einfach »Zillen«, von den Österreichern wurden sie »Schwabenplätten« genannt.

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Das Schiff wurde von der Strömung angetrieben, es musste nur gesteuert werden. In Wien wurden die Schiffe zerlegt, das Holz verkauft und die Besatzung begab sich zu Fuß oder mit Pferdegespann zurück nach Ulm, um die nächste Fahrt anzutreten. Die »Ulmer Schachtel« wurde in unterschiedlichen Größen gebaut. Sie konnte stromabwärts eine Nutzlast bis zu 2 000 Zentner befördern, war zwischen fünf und acht Meter breit, 15 bis 30 Meter lang, die Höhe der Bordwand 150 – 160 Zentimeter hoch. Je nach Größe konnte sie 20 bis 150 Passagiere aufnehmen. Sie waren verhältnismäßig eben gebaute Schiffe, deren Heck breit und flach war. In die Mitte wurde ein hüttenartiger Aufbau gesetzt, in dem Waren, Lebensmittel und Hausrat der Auswanderer, oder auch Passagiere Platz fanden. Typisch für die »Ulmer Schachtel« war das Bemalen der Außenbretter mit schwarz-weißer Farbe. In Wien mussten sich die Auswanderer bei der Hofkanzlei melden, wurden registriert, sie bekamen die Reisepapiere und Geld bis zu den Zielorten. Die Weiterreise nach Ungarn erfolgte wieder per Schiff. Die Auswanderfamilien waren wochenlang unterwegs, unwahrscheinlichen Strapazen und Gefahren ausgesetzt, fanden oftmals im Zielort miserable Bedingungen vor und das Elend setzte sich fort. Die Kolonisten aber trotzten ihrem Schicksal zwischen Donau, Drau, Save, Theiß und Marosch. In den Orten und Städten verschmolz im Laufe der Zeit die Vielfalt und wuchs zur Einheit im Gemeinschaftsleben, in Sitte und Brauchtum, im Liedgut, Tanz und Arbeitsweise, ja auch in der Sprache.

Donauschwäbische Bäuerin beim Brotbacken

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Ungarn - das Vielvölkerland Im Jahr 1526 fiel der ungarische König Ludwig II. bei Mohacs in der Schlacht gegen die Osmanen. Der Hauptteil des Landes mit Ofen und Pest geriet unter die Herrschaft der Türken. Erst im großen Türkenkrieg von 1683–1699 kam durch die vernichtende Niederlage der Osmanen in Folge des Friedensvertrages von Karlovic 1699 Ungarn zur Habsburgmonarchie. Der ungarische Adel behauptete aber weiterhin seine ständischen Sonderrechte. Das Siedlungssystem im Südosten wurde in den Jahren der Türkenherrschaft verändert. Eine Vielzahl der Kleindörfer wurde vernichtet. Menschen waren auf der Flucht oder wurden planmäßig umgesiedelt. Das Land war nicht entvölkert. Raitzen (Südslawen), Wallachen (Rumänen) und Ungarn hatten sich bereits niedergelassen. Ackerbau wurde nur für den Eigenbedarf betrieben, griechische und jüdische Minderheiten betrieben Warenhandel. Roma und Sinti spezialisierten sich auf Gold- und Silberhandwerk. Es dauerte nach dem Friedenschluss von Karlovic bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts, bis Flucht oder freiwillige Wanderung langsam durch Sesshaftigkeit abgelöst wurden.

Die Süd – Nord – Migration der Südslawen Diese setzte mit der verlorenen Schlacht der Serben auf dem Amselfeld (in der Gegend der heutigen Stadt Pristina) 1389 gegen die Osmanen ein. Während der folgenden 300 Jahre kam es immer wieder zu gewaltigen Flüchtlingsströmen aus dem südlichen Balkan. 1499 eroberten die Osmanen das letzte serbische Fürstentum Montenegro. Ihren Höhepunkt fand die Wanderung in den Norden im Jahr 1690. Kaiser Leopold erließ einen Aufruf an die Raitzen, sich den kaiserlichen Truppen im Kampf gegen die Türken anzuschließen. Die kaiserlichen Truppen drangen bis Skopje vor. Die Schlacht ging für die Habsburger verloren. Eine Massenflucht setzte ein. Um der Rache der Türken zu entgehen, flohen die Raitzen unter Anführung ihres Patriarchen in den Norden bis zur Donau und Save. Kaiser Leopold gewährte ihnen Übertritt in kaiserliches Gebiet, Glaubensfreiheit und Schutz auf Erhaltung ihres Volkstums, sie unterstanden nur dem Kaiser, und waren von Steuerabgaben befreit. Unter dem Schutz des Kaisers besiedelten sie die von den Türken befreiten Gebiete und gründeten Siedlungen in Srem (Syrmien) und Slavonija (Slawonien), im Banat, der Backa (Batschka), bis zu den Kleinen Karpaten und im Siebenbürgischen Erzgebirge. Damit wurden aber auch Kulturtraditionen, Lebensformen und ein bestimmtes Wirtschaftssystem verpflanzt: Die Raitzen waren Halbnomaden und betrieben Weidewirtschaft, also Viehzucht und Jagd, Ackerbau nur für den Eigenbedarf.

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Die menschliche und räumliche Dimension macht deutlich, welches Gewicht die Wanderungsbewegung der südslawischen Völker hatte. Angaben sprechen von einer halben Million Menschen, die im Laufe mehrer Jahrhunderte über 800 km vom Süden in den Norden des Balkans gezogen sind.

Landverteilung Nach den Türkenkriegen wurde - wenn der rechtmäßige Besitz nachgewiesen werden konnte - das Land den ursprünglichen Grundherren zurückgegeben, verdienten Offizieren zur Schenkung oder käuflich übergeben, es blieb noch viel Land übrig, das dem Kaiser zufiel. Mit der Landverteilung war es mit der Freiheit der Raitzen vorbei, sie kamen in eine ausweglose Lage. Vom Kaiser gegen die Osmanen benützt, verloren sie mit der Neuordnung von Grund und Boden ihre wirtschaftliche Grundlage, damit die Gefährdung ihrer Existenz. Sie büßten zunehmend ihre bislang unbegrenzten Weideflächen ein. Sie unterstanden nicht mehr direkt dem Kaiser. Die neuen Grundherren waren nun ihre Herren und diese wollten ihre Erträge durch die Dreifeldwirtschaft und den Weinbau steigern. Die Zielsetzung war die Umwandlung der Weideflächen in Ackerland. Dies ließ sich mit den Südslawen nur ungenügend bewerkstelligen. Sie kannten die Feldwirtschaft kaum und pochten zudem auf ihre vom Kaiser gewährten Privilegien. Die Getreidepreise stiegen in den 40iger Jahren des 18. Jahrhunderts in Europa. Das erhöhte natürlich den Wunsch der Grundherren, Feldwirtschaft zu betreiben.

Verdrängung der Raitzen Die Raitzen wurden vor die Alternative gestellt, entweder ihre alten Lebensund Wirtschaftsformen aufzugeben, sich den neuen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen oder weiter zu wandern. Nach dem es nur einem kleinen Teil der Bevölkerung gelang, sich an das neue System einzugliedern, gingen die Grundherren und die Wiener Hofkammer daran, deutsche Siedler anzuwerben. Ankommende Siedler wurden in bestehende Dörfer eingewiesen, die schnell überbelegt waren. Zusätzlich wurden neue Dörfer auf den Pußtaweiden errichtet. Es setzte ein Verdrängungsprozess ein. Es war dies eine gesetzesmäßige Verdrängungspolitik seitens der Grundherren und des Kaisers. Das bedeutet, dass jene Südslawen, die sich nicht den neuen Grundherren fügten, ihre Dörfer verlassen und weiter ziehen mussten und deutsche Kolonisten in deren Dörfer einzogen. Die Raitzen wanderten weiter bis in die Ukraine oder

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in ihre traditionellen Gebiete südlich der Donau. Es ist festzustellen, dass nach den Türkenkriegen Ungarn nicht entvölkert war! Es gibt Untersuchungen, die besagen, dass die deutsche Besiedelung in mindestens dreiviertel und regional bis 80% aller Fälle dort erfolgte, wo vorher Raitzen siedelten. Es stimmt also nicht immer, wie in vielen Donauschwäbischen Schriften zu lesen ist, unsere Ahnen hätten völlig menschenleere Gebiete vorgefunden. Dies trifft auch für Ruma nicht zu. Alt-Ruma wurde bereits von Raitzen und Minderheiten besiedelt.

Die West-Ost-Wanderung Die Süd-Nord-Wanderung der Raitzen war eine wichtige Voraussetzung für die folgende West-Süd-/Ostwanderung von Deutschen. Die vorausgehende Anwesenheit der Raitzen brachte für die Grundherren wie für die deutschen Ansiedler Vorteile: * Die Raitzen sicherten eine ununterbrochene Siedlungstätigkeit * Die Deutschen konnten vielfach bereits vorhandene Dörfer mit Feld- und Hofeinteilung übernehmen. (Sie ersuchten ihre Grundherren, die Häuser nach ihren heimatlichen Vorstellungen umbauen zu dürfen) * Straßen und Wege, Verwaltungen des Komitats, der Grundherren und der Kirche waren vorhanden * Von den in den Dörfern verbliebenen Raitzen konnten die Deutschen vom Tierbestand mittels Kauf profitieren, vor allem Zugvieh für den Ackerbau Der Konflikt zwischen den »Raitzen« und den »Schwaben« bis in das 21. Jahrhundert ist wahrscheinlich auch aus dem Kontext des oben erwähnten Verdrängungsprozesses zu sehen: Zunächst als menschliches Bollwerk vom Kaiser gegen die Osmanen benützt, die schmerzliche Erfahrung der Südslawen auf dem »Amselfeld«, die anschließende gewaltige Migration über mehrer Jahrhunderte, die erneute Verdrängung in den neu erworbenen Siedlungsgebieten nördlich der Donau. Die Erfahrungen, im tiefsten kollektiven Wesen der Südslawen gespeichert, von Geschlecht zu Geschlecht weiter gegeben, das birgt Konfliktstoff!

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Besiedelung mit Kolonisten aus dem Westen des Reiches Die Besiedelung mit deutschen Soldaten begann bereits 1686. Entlang der Militärgrenze in Syrmien wurden Siedlungen gegründet, deren Bewohner frei, jedoch zum Militärdienst verpflichtet waren. Nach Ende der Türkenherrschaft wurde im größeren Umfang besiedelt, im Wesentlichen in drei großen Etappen. Die karolinische Ansiedlung von 1723-1726 unter Karl VI. (1711-1740). Die theresianische von 1740-1752 und von 1766-1774 unter Maria Theresia (1740 – 1780) und die josefinische von 1782-1787 unter Josef II. (1780 – 1790). Rechtliche Grundlage waren die kaiserlichen Ansiedlungspatente. Die ersten Siedler kamen als Bauern und Handwerker mittels Anwerbung in das Banat, in die Batschka, zwischen Donau und Save nach Syrmien, nach Slawonien zwischen Save und Drau. Dem Boden musste der Ertrag hart abgerungen werden. Es galt zu roden, Weideland in Ackerland umzuwandeln, zu bebauen und vorerst wenig zu ernten. Die Bedingungen waren ungewohnt und hart. Durch Hunger, ungenügend hygienische und medizinische Versorgung starben viele. Ungünstige klimatische Bedingungen wie Hitzeperioden, Überschwemmungen, auch durch erhöhten Grundwasserspiegel, brachten viele zusätzlich in die triste Lage, ihre Steuern nicht entrichten zu können, als die Zeit der Steuerfreiheit abgelaufen war. Aus dieser Zeit stammt wohl das Kolonistensprichwort:

Den Ersten der Tod, den Zweiten die Not, den Dritten das Brot Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts stabilisierte sich die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung. Der Bauernstand entwickelte sich zunehmend, auch Handel und Gewerbe setzten sich durch und die deutschen Kolonisten waren fest verankert im Vielvölkerland Ungarn. 1867 erfolgte die Zweiteilung der Monarchie, es entstand die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn in einen westlichen, österreichischen und einen östlichen ungarischen Teil, zu dem Syrmien gehörte. Nach dem ersten Weltkrieg kam es zur Aufteilung der deutschen Siedlungsgebiete auf die selbständigen Staaten Ungarn, Rumänien und dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen.

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Syrmien – unsere Vorfahren im Zweistromland Syrmien (deutsch), Sirmium (lateinisch), Srem (serbisch) ist das Land zwischen Donau und Save. Ungefähr 2/3 gehören heute zur serbischen Vojvodina, 1/3 zu Slawonien, das nun zu Kroatien gehört. Im Norden begrenzt von der Fruska Gora und im Süden der Save, liegt Syrmien am Rande des pannonischen Beckens mit einem trockenen Halbsteppenklima. Die Sommer sind heiß, die Winter können sehr kalt sein. Die Südhänge der Fruska Gora sind bestens für den Weinbau geeignet, die schwarze, fruchtbare Erde Syrmiens für Ackerbau und Gartenfrüchte.

Syrmien zwischen Donau und Save

Syrmien wird schon seit Jahrtausenden besiedelt: von Illyrern, Kelten (Belgrad wurde von den Kelten gegründet, auch im Heimatmuseum von Ruma gibt es heute noch Funde aus dieser Zeit), Germanen und Römern, den Goten, Langobarden, Avaren, den Franken (daher Frankengebirge). Zu Beginn des 7. Jahrhunderts besiedelten die Slawen den Balkan, gegen Ende des 9. Jahrhunderts drangen die Ungarn ein. In Syrmien wurde in den folgenden Jahrhunderten ständig um die Vorherrschaft gekämpft, vor allem zwischen den Byzantinern und Ungarn. Das Zweistromland kam 1180 zu Ungarn und blieb mit Unterbrechungen bis Anfang des 16. Jahrhunderts in dessen Besitz. Unter den Kriegen zwischen den Habsburgern und Osmanen hatte Syrmien besonders zu leiden, das Land verödete und war über weite Strecken unbewohnt, bis sich Türken und Raitzen ansiedelten. Im Jahr 1718 fiel u.a. ganz Syrmien an die Habsburger.

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1745 wurde die Gespanschaft Syrmien gegründet, die Hauptstadt war Vukovar. Zum ersten Obergespan wurde Baron Pejacsevich eingesetzt. Er gründete neben Alt-Ruma, das von den Serben bewohnt wurde, Neu-Ruma mit deutschen Siedlern und macht es zu seinem Herrschaftssitz. Die Serben aus AltRuma wurden in die neue Stadt umgesiedelt, neue und zusätzlich Ungarn angeworben. Der Wiener Hofkammer unterstand die Militärgrenze, ein 10 bis 30 Kilometer breiter Landsteifen entlang der Save im südlichen Teil Syrmiens. Der Rest des Landes gehörte adeligen Grundherren. Mit der Beendigung der Kriege zwischen den Habsburgern und Osmanen, durch die politische Neuordnung zwischen Österreich, Ungarn und Kroatien verlor die Militärgrenze ihre Bedeutung. 1871 wurde ein Manifest erlassen, mit dem die Militärgrenze offiziell der Vergangenheit angehörte.

Altruma

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Der Zerfall der Donaumonarchie und die Entstehung des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen Noch während des 1.Weltkrieges kam es in der »Deklaration von Korfu« von 1917 zu einem föderativen Staat, dem »Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen« (S-H-S). Die deutsche Bevölkerung legte das Versprechen ab, treue Bürger des neu errichteten zu Staates sein. Teile des Banats, der Batschka und Syrmiens kamen nach dem ersten Weltkrieg zum »Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen« unter dem Namen Vojvodina.

1921 betrug der Anteil der deutschen Bevölkerung im S-H-S Staat 4,3 % der Gesamtbevölkerung. Ab 1929 wurde das Königreich »Jugoslawien« genannt. 1938 verkündete Hitler das Schutzrecht Deutschlands über deutsche Minderheiten im Ausland, 1939 wird Syrmien »Gau«. Jugoslawien berief deutsche Reservisten in die serbische Armee, ihr Einsatz war an der albanischen Grenze. Im April 1941 besetzte die deutsche Wehrmacht Jugoslawien. Nach weinigen Tagen erfolgt die bedingungslose Kapitulation Jugoslawiens. Kroatien rief den »Unabhängigen Staat Kroatien« aus (faschistische Ustascha) und annektiert u.a. Teile Syrmiens (Ruma gehörte dazu).

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Ab Herbst bildeten sich Partisanenverbände, die bis Kriegsende gegen die deutsche Besatzung Widerstand leisteten. Im Ausmaß, in dem die deutschen Militärs Gräueltaten an der nichtdeutschen Bevölkerung verübte, rächten sich die Partisanen unter Feldmarschall Josip Bros Tito an der deutschen Bevölkerung. Diese musste im Oktober 1944 die Heimat verlassen, sie wurden zu Flüchtlingen, wollten sie einem grausamen Schicksal entgehen. Jene, die blieben, kamen in Vernichtungslager der Partisanen, waren dem Hungertod preisgegeben oder wurden ermordet. Wenige überlebten. Die Partisanen übernahmen unter Tito die Macht im Land, der König von Jugoslawien ging in das Exil. 250 Jahre nach der Besiedelung waren die deutschen Einsprengsel im bunten Völkergemisch Jugoslawiens verschwunden. Die Vojvodina bekam in der Volksrepublik Jugoslawien den Status einer autonomen Provinz in Serbien, der ihr unter Milosevic wieder aberkannt wurde. Heute wie einst ist die Vojvodina die Kornkammer Serbiens, ein fruchtbares Land, die wirtschaftliche Lage aber ist durch die jüngsten Kriegsereignisse und politischen Verhältnisse triste.

Lehren aus der Geschichte? Wenn wir die Jahrhunderte lange Geschichte der (Süd-)Slawen betrachten, die gemeinsame Geschichte mit dem Kaiserstaat Österreich und seinen deutschen Siedlern, so war sie stets geprägt von Wanderung und Flucht, gegenseitiger Verdrängung und Verfolgung. Die Slawen wurden vom österreichischen Kaiser gegen die Türken benützt. Sie begaben sich unter seinen Schutz und besiedelten nördlichere Gebiete (s. SüdNordwanderung). Die Raitzen waren weiterhin »Bollwerk« gegen die Osmanen. Die Privilegien wurden ihnen durch die Landaufteilung wieder weggenommen und durch die Ansiedlung von Deutschen wurden viele vertrieben. Die Deutschen waren seit der Ansiedlung eine Minderheit in Ungarn und später in Jugoslawien. Sie hatten stets um ihre Minderheitenrechte zu kämpfen, um die politische Vertretung, in Bildungsfragen. Wirtschaftlich waren sie erfolgreich und kulturell rege. Die Deutschen haben sich in Sprache, Kleidung und Kultur nicht »angepasst« sie pflegten ihre Traditionen weiter. 1914, nach dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajevo, erklärt Österreich Serbien den Krieg. Österreich hatte für Serbien unannehmbare Bedingungen gestellt. Das musste zum Krieg führen. 1941 besetze die deutsche Wehrmacht Jugoslawien. Viele Deutsche bejubelten die Soldaten und die Kriegserfolge Hitlerdeutschlands. Nicht alle waren Nazis.

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Viele jubelten, weil sie sich eine Stärkung ihrer Minderheitenrechte erhofften. Aber sie verbündeten sich mit den Besatzern, »wir waren ja schließlich Deutsche!« Und: die Männer wurden von der deutschen Wehrmacht als Soldaten eingezogen, viele zur SS. Sie konnten nicht »treue Bürger des Staates Jugoslawien sein« und gleichzeitig den Deutschen zujubeln. Diesen Widerspruch konnten sie nicht aufheben und das musste zwangsläufig zum Fiasko führen. Die deutsche Wehrmacht verübte Gräueltaten an der Nichtdeutschen Bevölkerung, die Partisanen rächten sich an der deutschen Bevölkerung. Die Partisanen gingen als Sieger hervor, die Deutschen mussten fliehen oder kamen in Partisanenlager, wo viele umkamen. Arbeiterinnen und Arbeiter aus Jugoslawien kommen ab 1964 durch österreichische Anwerbung (!) in unser Land und wir verlangen von ihnen, »sie sollen sich gefälligst anpassen!« Vereinzelt kommen bereits »Schwaben« nach Serbien und versuchen Grundbuchauszüge zu bekommen. »Vielleicht bekommen wir unsere Häuser wieder zurück, oder zumindest Entschädigung?« Wie mag sich das auf die gemeinsame Beziehung auswirken? Die gemeinsame Geschichte lässt uns nicht los! Und sie wiederholt sich so lange, bis es zur Aussöhnung mit der eigenen und der der Völker kommt. Minderheiten haben Anspruch auf Schutz des Staates gegen Diskriminierung und Verfolgung, auf Unterstützung zur Pflege ihre Kultur, auf politische Vertretung aus den eigenen Reihen. Das ist Menschenrecht! In einem vereinten Europa - mit dem Balkan – kann es zum gegenseitigen Respekt der Traditionen und Kulturen kommen.

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Blitzlicht in das Zeitgeschehen soweit es für die politische, wirtschaftliche, soziale und witterungsbedingte Lage, die Entwicklung und Heimatfindung unserer Ahnfamilie von Bedeutung ist:

1618 - 1648

Der Dreißigjährige Krieg – die Mächte Europas kämpften gegeneinander: Böhmischer Aufstand gegen die Habsburger, der böhmisch-pfälzische und der dänisch-niedersächsische Krieg, der schwedische Krieg, der schwedisch-französische Krieg Das Elsass kam zu Frankreich

1672 - 1725

Peter der Große regierte in Russland

1680

1683 - 1699

wurde Sebastian Joos, der Großvater (?)unseres Urahn Anton , geboren Großer Türkenkrieg Im Frieden von Karlovic musste die Türkei auf Ungarn und Siebenbürgen verzichten, Österreich bekam große Teile von Kroatien und Slowenien

1686

Sieg über das türkische Heer unter Kaiser Leopold Wiederbevölkerung der ungarischen Festungen mit deutschen Soldaten, Militärhandwerkern und Veteranen Zur Verteidigungsgrenze wurde die so genannte »Militärgrenze« in Syrmien

1689

Eroberungskrieg Frankreichs – die Franzosen fielen über den Schwarzwald ohne Kriegserklärung in Deutschland ein Der Kaiser ernannte die »Ansiedlungskommission« zur Wiederbesiedelung des seit 1526 von den Osmanen besetzten und verwüsteten Landes im Südosten des Reiches

1701 - 1714

trugen Österreich und Frankreich ihre Erbansprüche auf die Spanischen Niederlande im »Spanischen Erbfolgekrieg« aus

1708 - 1710

herrschten in den deutschen Landen strenge Winter, in der Folge kam es

1711 - 1712

zu einer großen Hungersnot

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1710 1711 - 1740

1712

wurde Josef Joos, der Vater von Anton, geboren regierte Karl V., er führte zwei Türkenkriege, Erlass der »Pragmatischen Sanktion« die besagt, dass die Erbfolge auf die weibliche Linie übergehen kann (Tochter Maria Theresia) wurde das Elsass Einwanderungsziel – es blieb vom Spanischen Erbfolgekrieg am meisten verschont

1716 - 1717

Türkenkrieg – das Banat und Belgrad kamen zu Österreich

1723 - 1726

Karolinische Ansiedlungswelle – Beginn des 1. Schwabenzuges 1722

1736 - 1739

verlor Österreich Belgrad wieder an die Türken

1739 - 1740

war ein strenger Winter , der die von 1708 – 1711 bei weitem übertraf, allgemeine Hungersnot

1740 - 1748

Österreichischer Erbfolgekrieg: Maria Theresia kämpfte um die Anerkennung der Erbfolge. Die »Pragmatische Sanktion« wurde von den Sachsen, Preußen, Bayern ignoriert – unterstützt von Frankreich und Spanien – sie alle machten Ansprüche auf Ländereien und Macht der Habsburger geltend. Durch Krieg und Missernten große Not, besonders viele Auswanderer aus dem Südwesten Deutschlands

1740 - 1780

Regierungszeit Maria Theresias

1740 - 1786

regierte Friedrich II. in Preußen

1741 - 1761

Zarin Elisabeth Petrovna regierte in Rußland

1744

1756 - 1763

1756

Anton Joos wurde in Bodnegg (?) Württemberg geboren Gründung der Stadt Ruma durch Markus A. Pejacsevich Siebenjähriger Krieg: Österreich verbündete sich mit Russland, Frankreich und Sachsen-Polen, Spanien und Schweden gegen Preußen, das nur im Bunde mit Großbritannien-Hannover war Maria Magdalena Jelimann wurde in Roeschwoog/ Elsass geboren

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1762 - 1772

Theresianische Ansiedlung - 2. Schwabenzug

1762 - 1796

Zarin Katharina II. siedelte in Russland die Wolgadeutschen an

1763 - 1764

Frankreich warb Siedler für das Elsass

1764 - 1769

(?) Auswanderung von Anton Joos aus Württemberg in das Elsass/Frankreich

1765 - 1766

Großer Auswanderungsstrom aus dem Südwesten nach Preußen, Ungarn und Russland

1768

Russland siedelte Deutsche am Don und an der Wolga an, Spanien in Andalusien, Frankreich und die Eidgenossenschaft gestatteten den Durchzug von Siedlern nicht mehr. Ein Reichsgesetz verbot den Wegzug nach Spanien, Frankreich oder Russland – also in jene Länder, die nicht mit dem österreichischen Reich in Verbindung staanden.

1765 - 1781

wahrscheinlich 1. Ehe von Anton Joos mit Magdalena Pfäster, Geburt von zwei Töchtern und vier Söhnen, Tod von Magdalena Pfäster

1774 - 1792

Regierungszeit Ludwig XVI., König von Frankreich

1776 1780 - 1790

Unabhängigkeitserklärung der USA Josef II., Sohn Maria Theresias, wird Alleinregent

1781

Edikt vom Kaiser an die Österreichischen Länder zur Aufhebung der Leibeigenschaft, der Kaiser verkündete die religiöse Toleranz (»Toleranzpatent«)

1782

2. Ehe des Anton Joos mit Maria Magdalena Jelimann in Fort Louis/Elsass

1782 - 1787

Josefinische Ansiedlung – 3. Schwabenzug

1784

Graf Josef Sigismund Pejacsevich, Majoratsherr von Ruma, forderte in der Reichskanzlei deutsche Kolonisten an

1783

Geburt von Josef, des ersten Sohnes von Anton Joos und Magdalena Jelimann in Roeschwoog/Elsass

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ab

1785

1785 – 1786 1786

musste jeder Aussiedler vor seiner Abreise mit einem Werbeagenten oder den österreichischen Beamten einen Vertrag über die Ansiedlung abschließen war ein ausnehmend kalter Winter

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Anfang April 1786 Auswanderung der Familie Joos nach Ungarn 20. April Registrierung in der Hofkanzlei in Wien 29. April Registrierung in Ruma April – Juni: 550 deutsche Siedler kamen in Ruma an, Pejacsevich traf keine Vorkehrungen zur Versorgung und Unterbringung Sumpffieber und Ruhr rafften viele hinweg, die größere Anzahl der Neusiedler wanderte in die Batschka und in das Banat weiter

1787 – 1791

Letzter Krieg zwischen den Habsburgern und Osmanen

1788 – 1789

Langer kalter Winter

1789

Maria Magdalena Joos (Jelimann) starb im März Regierungszeit König von Frankreich Louis XVI. und Maria Antoinette Französische Revolution

1790

Anton Joos heiratete in 3. Ehe Anna Maria Schneider

Ende 18. Jh.

haben sich 205.000 deutschsprachige Siedler im östlichen Teil der Habsburgmonarchie angesiedelt

Um

1800

begannen Magyarisierungsbestrebungen

1806

legte der österreichische Kaiser Franz II die deutsche Kaiserkrone nieder und bestätigte damit das formelle Ende des Alten Deutschen Reiches

1811

starb Anton Joos in Ruma

1814 – 1815

1838

Wiener Kongress Bildung des Deutschen Bundes: »Heilige Allianz« der europäischen Monarchen zur Erhaltung der Monarchien von Gottes Gnaden und der Solidarität unter ihnen befuhr der erste Dampfer die Donau

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1847 - 1848

Kommunistisches Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels

ab

Franz Josef I. Kaiser von Österreich

1848

1848 – 1849

1849

Die Völker in Europa revoltierten gegen ihre absolut regierenden Herrscher, vor allem in Österreich, Ungarn, Italien, Deutschland, Frankreich. Ruma war eines der Zentren der Revolution in der Vojvodina: Die Bauern strebten nach Eroberung des herrschaftlichen Grundbesitzes, das Bürgertum hatte die politischen Rechte zum Ziel wurden die »Serbische Wojwodschaft« und das »Temescher Banat« von Wien zu einem einheitlichen kaiserlichen Verwaltungsgebiet zusammengeschlossen. Es umfasste den Hauptraum donauschwäbischer Siedlungen. starben rund 700 Rumaer an der Cholera

1867

1847 - 1871

Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, der österreichische Herrscher wurde Kaiser von Österreich, König von Ungarn wurden die Geschwister Georg, Josef, Michael, Mathias, Franz und Eva Joos geboren

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Die Spuren der Ahnen und unsere dazu …

Hat dich das Fieber der Ahnenforschung gepackt ist die Reise in die Vergangenheit unerlässlich, du musst dorthin zurück, wo alles begann.

Die Reise in die Vergangenheit führte uns nach Bodnegg /Oberschwaben, Baden-Württemberg, im Sommer 2004 Fort Louis und Roeschwoog, Bas Rhin (Niederrhein), Elsass, im Sommer 2003 und 2004 Ruma, Srem, Serbien, im Frühjahr 2002, 2004 und 2005 Wie sieht es heute in den Orten unserer Ahnen aus? Was prägt die Landschaft, wie riecht die Luft? Wie sind die Menschen? Was wissen sie von früher zu erzählen? Die Spuren der Ahnen durchziehen wie »Songlines« den halben Kontinent und auf diesen Spuren zu reisen lohnt sich allemal!

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Bodnegg – der wahrscheinliche Heimatort von Anton Joos Das Dorf liegt zwischen dem Bodensee und den Allgäuer Bergen. Die Landschaft ist gekennzeichnet durch Wiesen, Felder, Mischwälder, feuchten Niederungen mit zahlreichen Weihern. Es ist eine Streusiedlung mit 96 Weilern und Einödhöfen. Weithin sichtbar ist der »Kirchberg« (646 m) mit seiner einst spätromanischen Basilika, heute Barockkirche. Der Kirchenbau geht auf das 15. Jahrhundert zurück. Durch Umbauten und neuerlicher Wiedererrichtung nach Zerstörungen durch die Schweden und Franzosen wurde die Kirche nach zwei Kirchenpatronen benannt: St. Ulrich und Magnus.

Kirche und Pfarrhof heute

Bodnegg hatte 1836 49 Einwohner, 1864: 63. Heute leben rund 3.100 Menschen im Ort. Die Grundherren von Bodnegg waren einst teilweise die Äbte von Weingarten, zur Zeit Antons die Tuchessen von Waldburg-Wolfegg und die Habsburger. Heute gehört Bodnegg zum Landkreis Ravensburg, im Bundesland BadenWürttemberg.

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Berührende alte Bücher Die Matrikelbücher der Pfarre Bodnegg liegen heute noch im alten Pfarrhaus zur Einsicht auf. Nach telefonischer Anmeldung bereits von zu Hause aus konnten wir in die Bücher an einem Vormittag Einsicht nehmen. Große, dicke, in Leder gebundene alte Niederschriften legen Zeugnis über Geburten, Hochzeiten und Tode aus fernen Tagen ab. Uns fiel dabei einiges auf: Die Joos-Sippe vermehrte sich in Bodnegg. Einerseits durch Geburt von Söhnen, die heirateten und Kinder bekamen. Anderseits bekamen interessanterweise auch »Joos« aus anderen Orten durch Verehelichung mit einer Bodneggerin das Bürgerrecht im Ort. In den Taufeintragungen im 18. Jahrhundert finden wir oft neben dem Namen des Kindes den der Mutter und anschließend »Vagabundin«. Diese hatte kein Bürgerrecht in der Grundherrschaft, sie musste mit den Kindern weiter ziehen. Im Geburtsjahr von Anton, im Frühjahr 1744, scheint es eine verheerende Epidemie gegeben zu haben. Zahlreiche Eintragungen zeugen vom großen Sterben in Bodnegg. Dasselbe findet sich noch mal 1769, aber da war Anton schon weggezogen. Dieses Sterben wird den ohnehin dünn besiedelten Ort ziemlich dezimiert haben. Heute lebt noch eine Joos-Familie in Bodnegg. Aber da Anton der einzige Sohn war, stammt diese Familie wahrscheinlich – wenn überhaupt - aus einer entfernten Linie.

Bodnegg heute

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Fort Louis - die einstige Bastionsstadt am Rhein Die Bastion und die Stadt Fort Louis könnte das Ziel von Anton Joos bei der Auswanderung gewesen sein. Das Elsass war stets heiß umkämpft. Frankreich ließ zum Schutz seines Territoriums im Osten an der Rheingrenze einen Wall an Bastionen errichten. 1687 wurde vom königlichen Festungsbaumeister Marquise der Vauban die Grundsteinlegung von Fort Louis vorgenommen. Auf der Rheininsel von zwei Kilometer Länge und 600 Meter Breite wurde eine Zitadelle von 380 x 450 m als Kernfestung gebaut. Die Insel Fort Louis wurde durch eine ganze Bastionskette mit etwa zehn Kasernen abgesichert. Die Festung war eine der mächtigsten in Europa. 4.000 bis 5.000 Soldaten lebten in Glanzzeiten in der Bastion. Im Süden auf der damaligen Rheininsel wurde die Stadt Fort Louis angelegt. Zahlreiche Zuwanderer trugen zum Aufbau der Stadt bei. Sie hatte 1688 das Marktrecht erhalten und viele königliche Privilegien. 1689 erreichte die Stadt ihren wirtschaftlichen Höhepunkt mit einer Einwohnerzahl von 1.800. Die Stadt hatte ein Spital, ein Kloster, 30 Wirte (!), eine königliche Poststation, eine deutsche und eine französische Schule, einen Arzt, einen Apotheker, zahlreiche Handwerksbetriebe und einige Gärtner. Einer davon könnte Anton gewesen sein. Ab 1750 begann der langsame Niedergang. Im Jahr 1781, zur Zeit Antons, lebten 1.376 Menschen in der Stadt. Durch die Zerstörung der Bastion 1794 durch österreichische Truppen mussten auch die Bewohner der Stadt über den Rhein fliehen. Nach und nach kamen sie wieder zurück. 1800 lebten 232, 1800 noch 600 Einwohner im Ort.

Reste der Festung Fort Louis - ehemaliger Haupteingang

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Beziehung von Anton Joos zu Fort Louis Uns ist die Verehelichung von Maria Magdalena Jelimann aus Roeschwoog mit Anton Joos in der Kirche von Fort Louis bekannt und dass Anton in der Stadt lebte und arbeitete (s. Hochzeitseintragung). Es gibt eine Ortschronik, in der sämtliche Bewohner von Fort Louis aufgelistet sind. Die Namen unserer Ahnen finden sich allerdings nicht darin. Es ist anzunehmen, dass Anton als Gärtner in der Stadt gearbeitet hat, da in der Heiratseintragung als Beruf »Gärtner« angegeben ist. Die Beziehung zu Fort Louis scheint eine berufliche gewesen zu sein oder aber auch möglicherweise eine zum Kloster, denn der Präfekt traute Anton und Magdalena.

Fort Louis heute Heute leben in dem kleinen Ort rund 500 Menschen. Die Allee, die Anton am ersten Tag seiner Ankunft aus der Stadt Richtung Bastion gewandert ist, existiert noch. Riesige Platanen säumen heute die Straße. Am Ende der Allee, an der Biegung auf der Straße nach Roeschwoog, sind noch die Überreste der Festung zu sehen. Die Natur hat sich das Gebiet im Laufe der 200 Jahre seit der Zerstörung wieder zurückgeholt. Die Gemeinde ist bemüht, Reste der Festungsmauer freizulegen und touristisch zu nutzen.

Ein Spaziergang rund um die Reste der Außenmauern ist möglich

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Ein Besuch im Gemeindeamt des Ortes lohnte sich. Die Gemeindesekretärin und auch der zufällig anwesende Bürgermeister gaben bereitwillig Auskunft über den Ort, ließen uns in der Ortschronik schmökern und zeigten uns alte Dokumente und Lithographien. Auf einer Brücke beim ehemaligen Fort überquert man den Fluss Moder und erreicht eine offene baumlose Strecke, die Straße nach Roeschwoog, das 4,5 km landeinwärts liegt.

Allee mit den riesigen Platanen, die die ehemalige Festung und der Stadt verbindet. Diese Allee spazierte Anton bei seiner Besichtigung entlang

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Roeschwoog im Elsass - Wohnort von Anton Joos Der heute 1.900 Einwohner zählende Ort liegt zwischen dem Rhein und dem großen Hagenauer Forst.

Einfahrt von Norden

Sehenswert ist die Kirche mit ihren schönen Altären.

Kirche in der Straße der Flammkuchenlokale - Rue der Fort Louis

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Ältestes Haus in Roeschwoog - möglicherweise Ende 18. Jahrhundert

Einige alte Fachwerkbauten sind noch im Ort zu finden. Berühmt ist Roeschwoog wegen seiner Flammkuchenlokale auf der Straße »Rue der Fort Louis«. Viele Deutsche kommen vor allem im Sommer abends nur wegen der köstlichen Spezialität über den Rhein herüber.

Ein Campingplatz, an einem Baggersee am Ortsrand gelegen, lädt zur Erholung ein.

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Das Hotel »Lion d`or« (»Goldener Löwe«) ist das einzige im Ort. Es existierte schon in jener Zeit als Anton in das Elsass kam. Wahrscheinlich hat er sich in der Gaststube mit seinen Roeschwooger Nachbarn getroffen, um die Auswanderung zu besprechen. Wir haben in einem Nebengebäude übernachtet, das Restaurant ist empfehlenswert! Eine Familie Jelimann oder Gillimann gibt es nicht mehr im Ort, von den Auswanderfamilien im 18. Jahrhundert lediglich die Familien Heyd und Werner. Lorenz Werner war der Knecht, der mit unseren Ahnen nach Ruma auswanderte. Wir sind auch im Besitz einer Kopie der Geburtseintragung von Lorenz Werner. Das war ist letzte Beweis, dass Anton Joos aus Roeschwoog tatsächlich unser Ahnvater ist. Es ist schwierig, Näheres, vor allem Geschichtliches, über den Ort zu erfahren. Es gibt keine Ortschronik und auch keine Homepage der Gemeinde. Diese scheint auch im Gegensatz zu Fort Louis kein Interesse daran zu haben, einer Ahnenforscherin behilflich zu sein.

»Napoleon-Bank« in Roeschwoog. Der Legende nach ließ Napoeleon nach der vernichtenden Niederlage im Rußlandfeldzug für die heimkehrenden Soldaten entlang der Wanderrouten Bänke zur Rast anlegen

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Die letzte Etappe der Zuwanderer nach Ruma im 18. Jh. Der Weg von Karlovic nach Ruma Es ist Juni 2005 - wir machen einen Ausflug von Ruma über die Fruska Gora nach Peterwardein.

Obstplantagen und großartige Villen mit eigenen Tennisplätzen säumen die Straße. Fürwahr eine Gegend der Reichen! Laub- und Nadelhölzer überziehen das Frankengebirge, einst idealer Sammel- und Zufluchtsort der Partisanen unter Tito. Den Höhenzug überquerend nähern wir uns der Stadt Petrovardin mit seiner Festung. Die ersten Weinhänge tauchen auf, am Westhang einige Getreidefelder. Alles ist üppig und voller Saft in diesen ersten Juni - Tagen. In Petrovaradin stehen wie in alten Tagen beinahe vor jedem Haus Nussbäume, geschäftig ist es am Nachmittag in der Stadt.

Die Festung Petrovaradin, das Wahrzeichen Novi Sads

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Vom Aussichtplateau der Festung haben wir einen guten Überblick über die riesigen Ausmaße der Wehranlage, die größte und besterhaltene in Europa. Zu unseren Füßen liegt Novi Sad, die Hauptstadt der Batschka. Weiter geht es nach Maria Schnee, einem Wallfahrtsort für Katholiken, schon seit den Tagen unserer Familien in Ruma. Die Donauauen sind da noch im Urzustand mit dichten Auwäldern und Tümpeln. Bis nach Karlovic sind es nur wenige Kilometer. Wir gehen zum Donaustrand, wo unsere Ahnen an Land gingen. Möglicherweise war der Hafen auch schon im 18. Jahrhundert an diesem Platz angelegt. Damals wie heute ist es hauptsächlich ein Fischerhafen.

Donauhafen in Karlovic

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Kloster Krusedol - Weltkulturerbe

Die Fahrt führt uns weiter über die Osthänge der Fruska Gora. Hügel um Hügel reiht sich aneinander, mit Tälern dazwischen, nur Wald, Wald, Wald ... ist zu sehen. Mühsam muss der Weg für die Neusiedler gewesen sein mit seinem Auf und Ab der Hügel, bis sie zu einem Hochplateau kamen, so dass sich Mensch und Tier leichteren Schrittes ihrem Ziel Ruma nähern konnten. Oben, auf dem Grat des Plateaus, weitet sich der Blick in die sonnenüberflutete Ebene südlich der Fruska Gora in jenes Land, das sie künftig ernähren sollte, die Tiefebene Syrmiens. Das serbisch-orthodoxe Kloster Krusedol kommt in Sichtweite.

Der Schriftsteller Peter Handke hat erreicht, dass es Weltkulturerbe und demnach aus Mittel der UNESCO renoviert wird. Hier also haben unsere Ahnen gelagert, wurden vielleicht auch gestärkt, bis sie sich wieder im Auf und Ab durch enge Berggassen dem Ort Irig näherten. Müde und voll Hoffnung haben sie sich Ruma genähert, dem letzten Ziel ihrer Reise.

Die Ende des 18. Jh. am Stadtrand von Ruma errichtete Pestsäule säumt noch heute die Straße nach Irig

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Ruma die Stadt unserer Ahnen und Familien Alt-Ruma wurde bereits von den Türken gegründet. Die serbischen Familien mussten für die Soldaten und deren Familien sorgen. Vor allem Fleisch aus ihren riesigen Weidebeständen, aber auch Felle, waren gefragt. Durch die Erneuerung der Militärgrenze 1745 waren die Ländereien des Freiherrn Markus Alexander Pejacsevich betroffen. Es musste ein neues Herrschaftszentrum geschaffen werden. So entstand die Marktgemeinde Ruma. Alt- und Neu-Ruma bestanden bis 1749 nebeneinander, die Serben wurden in die neue Gemeinde umgesiedelt. Pejacsevich war eine Durchmischung der Ethnien wichtig: Deutschen, Serben, Kroaten und Ungarn wurden Hausplätze und Ackerland zugewiesen. Der Siedlungsplan war eine gitterförmige Anlage.

Ruma und angrenzende Orte - Siedlungsplan

Die Häuser mussten eine bestimmte Größe und Bauweise haben. Sie hatten meist ein Gassenzimmer, das als Schlafraum diente. Eine Küche mit Backofen mit offenem Rauchfang, ein zweites Zimmer und eine Kammer. Diese war tief unterkellert, darin wurde u.a. der Wein gelagert. Die Ställe waren hinter dem Haus, daran schloss sich der Garten. Später kam die »Tschardaka«», der Kukuruzspeicher dazu. Ein Zaun trennte den Hausplatz von der Gasse. Parallel zu jeder Gasse verlief ein tiefer Abzugsgraben für sich ansammelnde Gewässer. Die Gassen wurden

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nach Heiligen benannt, z.B. Michaeli- oder Stefanigasse. Die Felder und Weingärten lagen außerhalb der Stadt, meist in einem Umkreis von 20 km.

Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang mussten die Bauern im weiten Umkreis auf ihren Feldern arbeiten

1744 waren bereits 40 Siedlungshäuser bewohnt, 1748 kamen wieder 180 Kolonisten dazu. 1748 fiel rund ein Viertel der Bevölkerung dem Sumpffieber zum Opfer. Im selben Jahr wurde eine kleine Holzkirche gebaut. 1749 erhielt Ruma das Gemeindestatut mit zwei Privilegien: das Bürgerrecht und das Marktprivileg. 1765 wurde bereits in einer Normalklasse Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtet. Im »Kleinen Gymnasium« Mathematik, deutsche und lateinische Sprachlehre, Religions- und Sittenlehre. 1780 standen in Ruma 300 Häuser, darunter Handwerksbetriebe und Gasthäuser. 1786 (Drama in Ruma!) war die letzte große Ansiedlungswelle und damit der vorläufige Schlusspunkt der Zusiedelungspunkt mit Deutschen gesetzt. Verstärkt wurde Slawen zur Ansiedelung verholfen.

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Der Anteil der Deutschen an der Gesamtbevölkerung war weniger als 40 %. 1831 ordinierten bereits drei Ärzte in Ruma. 1848 war Ruma eines der Zentren der Revolution. Die Bauern strebten nach der Eroberung des herrschaftlichen Grundbesitzes, das Bürgertum hatte die politischen Rechte zum Ziel. 1849 starben 700 Rumaer BürgerInnen an der Cholera. 1856 war Ruma Hauptort eines Großbezirkes, der 38 Ortschaften umfasste. Die Marktgemeinde Ruma wurde zu einer der wichtigsten Zentren in Syrmien. Der tägliche Gemüse- und Obstmarkt wurde zum größten im Land. Über 30 Ortschaften beteiligten sich daran. Etwa 1/3 der Handelsbetriebe war im Besitz von Deutschen. Ende des 18. Jahrhunderts war Ruma bereits eine blühende und aufstrebende Stadt. Handel und Gewerbe verdrängten die Bauern aus dem Zentrum der Stadt, Ruma wurde ständig erweitert. Ende des 19. Jahrhunderts war die Zahl der Deutschen drei Mal so hoch wie die der Serben. Serben, Kroaten und Ungarn siedelten sich in Ruma an. Im Norden der Stadt entstand der »Kroatische Berg«, gegenüber der ungarischen Gasse. Auch griechische Marktfahrer wurden an Straßenecken sesshaft. Ende des 19. Jh. hatten die Deutschen in Ruma das Dreifache der Zahl der Serben überschritten. Im 1. Weltkrieg kämpften Rumaer in der k.k. Armee. 1942 wurde der Ortsschutz in Ruma errichtet zur Bewachung vor Partisanenangriffen. Die deutsche Wehrmacht beging an der Zivilbevölkerung der Serben Gräueltaten, die Partisanen und Marschall Josip B. Tito wurden immer stärker und rächten sich an der deutschen Zivilbevölkerung. Auch in Ruma waren auf beiden Seiten Opfer zu beklagen. Im Oktober 1944 flohen die meisten Deutschen aus Ruma Ende 1944 hat das deutsche Ruma hat aufgehört zu bestehen.

Altes Wappen von Ruma

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Ruma heute »Dieser verdammte Krieg hat uns um Jahrzehnte zurück geworfen!«, klagt ein alter Rumaer. Gemeint ist der »Jugoslawienkrieg«, begonnen 1991 gegen Slowenien, dann Kroatien und schließlich in Bosnien und im Kosovo mit all seinen Gräueltaten. Das Land scheint destabilisiert, die Wirtschaft liegt danieder. »Die Mafia kontrolliert auch die Landwirtschaft«, meint resigniert ein Bauer, »wir haben keine Perspektive, weder für uns und unsere Kinder, noch für das Land!« Ruma, in Mitten der fruchtbaren Vojvodina, bleibt von dieser negativen Entwicklung in Serbien nicht verschont. In der Stadt haben Fabriken geschlossen, die Arbeitslosigkeit steigt, die Armut nimmt zu. Die Bevölkerung ist seit dem letzten Krieg in Ruma angewachsen, auf rund 36 000 Einwohner. Serbische Flüchtlinge aus Kroatien und Bosnien haben in der Stadt Zuflucht gefunden. Serben stellen den Großteil der Einwohner, neben Kroaten und Ungarn leben andere Minderheiten in der Stadt, nur wenige Deutsche leben noch in Ruma. Wenn man über die Grenze von Kroatien nach Serbien kommt, beeindruckt die Weite der Vojvodina. Das satte Grün der Felder leuchtet in der Frühsommersonne, wie gesund muss diese Erde sein! Die Abfahrt »Ruma« auf der Autobahn ist erreicht, schon von weitem grüssen die Türme der beiden serbisch-orthodoxen und der katholischen Kirche.

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Egal, welche Einfahrt nach Ruma genommen wird, überall sind sie zu sehen, die typisch deutschen Häuser der ehemaligen Bewohner. Manche renoviert, einige notdürftig ausgebessert, so manches dem Verfall preisgegeben. Die Straßen sind breit, zwischen den Häusern und der Fahrbahn die alten Wassergräben, die bei starkem Regen die Wasser ableiten. Auch heute noch sitzen nach Feierabend Nachbarn mit Schemeln und Hockern vor ihren Häusern, hie und da Frauen mit Kopftüchern, Kinder toben auf der Gasse, Jugendliche trippeln Fußball. Fährt zudem ein Pferdefuhrwerk vorbei, blitzt für Sekunden das »alte« Ruma auf.

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Eine der Diskotheken in Ruma

Ruma ist schmutzig und schön, reich und arm, modern und alt, pulsierendes Leben in der Hauptstraße, beschaulich in so mancher Gasse. Schlendern wir durch die Gassen, erregen wir natürlich Aufsehen. Da wird ein Vorhang zur Seite geschoben, hier erscheint ein Gesicht am Tor, dort winkt uns ein alter Mann und bietet uns Raki an. Wir erleben die Menschen als freundlich und fühlen uns wohl. Der Besuch im einstigen Wohnhaus meiner Familie in der ehemaligen Michaeligasse ist ein besonderes Erlebnis. Die Hausfrau zeigt uns bereitwillig die Stuben, wir dürfen auch in den Garten (2003).

Wohnhaus mit Fensterläden der Familie Peter Joos in der ehem. Michaeligasse

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So still zwischen den Gemüsebeeten stehend, breitet sich ein Gefühl der Wehmut und Traurigkeit aus. Ich begreife, es ist die Sehnsucht meiner Mutter nach dem Land ihrer Kindheit und Jugend. Es ist der Schmerz über das Zerreißen des engen sozialen Netzes seit der Flucht im Oktober 1944. In ihren Erzählungen und Liedern wurde mir diese Sehnsucht vertraut. Ich greife in die schwarze Gartenerde und kann so ihre Wehmut dort hin zurücklegen, von wo sie sie mitgenommen hat. Regen peitscht über die Ebene, starke Winde treiben tiefschwarze Wolken über das Land. Es ist kalt, zu kalt für diese Jahreszeit, Anfang Juni 2005 in Ruma. Ich gehe in ein Geschäft und kaufe einen warmen Pulli. Schön kuschelig warm habe ich es unter meiner Regenjacke, Sturm und Regen können mir nichts anhaben. Plötzlich bleibe ich stehen. Wie war das damals, im Mai 1786? Ohne Schutz vor Kälte und Regen, hungrig, gezeichnet von der wochenlangen Reise … mich schaudert! Und doch – ich als Nachgeborene jener Einwanderfamilie, die überlebt und den Grundstein für unsere Sippe gelegt hat – gehe in denselben Gassen und Straßen und spüre der Geschichte nach. Ruma ist für mich nicht nur die Stadt unserer Familie und der Ahnen. Ruma ist für mich auch der Ort mit lieben Menschen, von Freunden, die uns jedes Mal willkommen heißen und für mich Bindeglied zwischen Vergangenheit Gegenwart und der Zukunft sind. Unser besonderes Andenken und unser Dank gilt Seppi Schmee, der im Dezember 2004 so unerwartet verstorben ist. Er hat mir die Stadt unserer Familien nahe gebracht.

Familie Schmee, unsere Gastfamilie in Ruma

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Begriffserläuterungen

Amselfeld

Kos = Amsel, Kosovo Polje = Amselfeld im Kosovo

Auswanderung

Darunter verstand man im 18. Jh. das dauerhafte Verlassen einer Grundherrschaft, den Aufenthalt in einem fremden Territorium, der länger als eine Generation dauerte. Ist abzugrenzen von Vertreibung, Flucht, Zwangsumsiedlung usw.

Banat

war in Ungarn im Mittelalter eine Grenzmark, das einem "Ban" unterstand, einem Stadthalter des ungarischen Königs. Im Norden begrenzt durch die Marosch, im Westen von der Theiß, im Süden von der Donau, im Osten von den Karpaten. Nach dem 1. Weltkrieg kam der größte Teil zu Rumänien, der kleinere Teil zu Jugoslawien.

Batschka

(deutsch), ungarisch: Bacska, serbisch: Backa Um 1000 n.Ch. wurde Ungarn in Komitate eingeteilt. Es entstand auch das Komitat »Bacska«, mit dem Zentrum »Bacs« – ursprünglich eine Burg, das der Region den Namen gab. Die Batschka gehört heute mit dem nördlichen Teil zu Ungarn, der wesentlich größere Teil zur Vojvodina (Serbien)

Domänen

(s. auch Kameralgüter) waren land- und forstwirtschaftliche Staatsgüter

Dreifeldwirtschaft

Bewirtschaftung der Böden im dreijährigen Wechsel: Wintergetreide – Sommergetreide – Brache

Eheconsens

Zur Eheschließung brauchten die Leibeigenen den grundherrschaftlichen Consens (Einwilligung, Erlaubnis), er war verbunden mit einem erforderlichen Mindestvermögen

Frondienst

kommt vom althochdeutschen »fro« = Herr (»Herrendienst«) Die Bauern waren neben Abgaben und Steuern zu verschiedenen Diensten verpflichtet

Fruska Gora

wird der »Schatz der Vojvodina« oder auch »Das Serbische Athos« wegen der 17 orthodoxe Klöster aus dem 16. Jahrhundert genannt. Die Fruska Gora hat 25.395 ha Land mit 80 km Länge. Der höchste Gipfel ist der Crveni Cot mit 539 m. Seit altersher gibt es an den Hängen Wein- und Obstbau. Es gibt über 30 verschiedene Orchideen, 200 verschiedene Vogelarten und auch Wildkatzen. Wälder, gutes Klima laden nicht nur zum Wandern ein, sondern auch für einen Erholungsurlaub.

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Grundherrschaft

Bauern bewirtschafteten adeligen, kirchlichen oder königlich/kaiserlichen Grundbesitz. Die Bauern hatten die Pflicht, landwirtschaftliche Güter abzuliefern oder Frondienste zu leisten. Die Grundherrschaft war auch Gerichtsbarkeit

Hungarn

kommt aus dem lateinischen Hungaria, im 18. Jh. gebräuchlich für Ungarn

Kameralgüter

waren Ländereien im Besitz des Kaisers, auch unter dem Namen Prädien oder Pussten, mit der Verwaltung wurde die Wiener Hofkammer betraut

Kameralisten

Mitglieder, die für den fürstlichen Haushalt zuständige Behörde, u.a. verantwortlich für Neuansiedlungen

Komitat

(lateinisch), war früher eine Grafschaft, meist deckungsgleich mit einem ungarischen Verwaltungsbezirk

Kosovo

(s. Amselfeld) war Zentrum des mittelalterlichen Serbien

Leibeigenschaft

Umfassende Form einer rechtlichen und persönlichen Abhängigkeit des Bauern von seinem Grundherrn. Die Leibeigenschaft ging von den Eltern auf die Kinder über, war also »vererbbar«. Sie beinhaltete Frondienst, Untertänigkeit, Abgabenpflicht und Unterordnung unter die Gerichtsbarkeit des Grundherrn.

Malaria

ital. mal aria = schlechte Luft, Sumpffieber

Manumission

»aus der Hand geben«, manu = Hand, mitto = schicken, loslassen (lateinisch), Leibloslassung – der Grundherr entließ den Leibeigenen gegen Gebühr aus seiner Herrschaft

Migration

bedeutet Wanderung, internationale Bezeichnung z.B. für ArbeitsmigrantInnen, das sind Menschen, die zum Zweck der Erwerbstätigkeit in ein anderes Land auswandern mit dem Ziel, für sich und ihren Familien ein besseres Leben zu sichern

Ofen - Pest

Hauptstadt Ungarns, Sitz der ungarischen Hofkanzlei, wurde später zu Budapest

Peterwardein

(deutsch), ungarisch: Petervarad, serbisch: Petrovaradin, das »Gibraltar der Donau«. Der Name geht wahrscheinlich auf »Peter den Einsiedler« zurück. Im Mittelalter errichteten die Zisterzienser ein Kloster, das später von den Ungarn in eine Festung umgebaut wurde. Zwischen 1692 und 1780 wurde die wichtigste Festung des österreichischen Reiches nach Plänen des französischen Architekten Vauban (s. Fort Louis!) umgebaut. Die Festung ist seit 1945 Ortsteil von Novi Sad (Neusatz) und seitdem auch Wahrzeichen der Stadt

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Prädien

sind Weidegründe

Raitzen

ist der Begriff für die südslawische Bevölkerung, unabhängig ihrer Religionszugehörigkeit, meist gebräuchlich für Serben. Die Burg und die Stadt Ras gaben dem Staat und dem Volk den Namen; lat. Rascia bzw. Rascian

Realerbrecht

war vorherrschend im Südwesten Deutschlands. Das Erbe wurde auf die Anzahl der Kinder aufgeteilt – die Anbauflächen wurden dadurch immer kleiner, die Folge war Leben in Armut

Schanzel

war eine Befestigungsanlage am rechten Donauufer in Wien mit dem alten Hafen im Donaukanal. Einer kleinen Schanze verdankte dieser Abschnitt den Namen. Das Schanzel war Umschlagplatz für Menschen, die weiter Donau abwärts in den Osten wollten oder für Waren aller Art. Besonders der Gemüsemarkt war berühmt.

Serbisches Reich

umfasste das heutige Albanien, Bulgarien, Bosnien, Dalmatien, Herzegowina, Makedonien und Montenegro

Schwaben

Da die Oberschwaben (aus der Bodenseeregion und dem Schwarzwald) einen großen Teil der Einwanderer im Südosten des Habsburgerreiches stellten, wurden bereits im 18. Jahrhundert alle Siedler und deren Nachkommen als »Schwaben« bezeichnet

Sippe

Blutsverwandtschaft, Verwandtschaftsgruppe

Songlines

der Ureinwohner Australiens, der Aborigines, sind Pfade, auf denen ihre Vorfahren kreuz und quer durch den Kontinent gewandert sind, um, einen Fuß vor dem anderen, Lieder mit der Landschaft zu verbinden

Srem/Syrmien

serbisch/deutsche Bezeichnung für den schmalen Gebietsstreifen zwischen Save und Donau – dieser Streifen war auch Militärgrenze (Pufferzone) zu den Osmanen

Süd- Nordwanderung

Wanderung der südslawischen Bevölkerung zwischen dem 14. und 19. Jahrhundert vom südlichen Balkan (Kosovo, Bosnien) in Folge der Türkenkriege in das Banat, die Batschka und Ukraine, in die pannonische Tiefebene und bis in das Erzgebirge. Im o.a. Zeitraum besiedelten rund eine halbe Million Menschen (Raitzen) den nördlichen Balkan

Türkenkriege

Nach dem Untergang von Byzanz breitete sich das Osmanische Reich nach Norden und Westen aus und kämpfte gegen seine wichtigsten Gegner: die Habsburger (sie hatten die Hauptlast zu tragen), Russland, Venedig, Polen und Spanien. Von 1389 (1. Türkenkrieg, vernichtende Niederlage der Habsburger auf dem

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Amselfeld) bis 1792 führten alleine in diesen vier Jahrhunderten die Habsburger gegen die Türken neun Kriege mit einer Gesamtkriegsdauer von rund 100 Jahren. Den letzten Österreich-türkischen von 1787 bis 1792 spürten auch schon unsere Einwanderahnen in Srem/Syrmien Vaganten

waren umherziehende Spielmänner

Vagabunden

wurden Landstreicher genannt

Vogtei/Vogt

Amtsbezirk/Amtmann einer Grundherrschaft

Vojvodina

Herzogtum , Vojvode (kroatisch) = Herzog

WestSüd/Ostwanderung

Hauptsächlich zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert, teils große Auswanderungsbewegungen aus den deutschen Landen, Elsass, Lothringen und dem Kernland Österreich nach Russland, Preußen und Ungarn oder USA. Über 700 000 Menschen haben im o.a. Zeitraum ihre Heimat verlassen

Wojwodschaft

(slaw.) heißt Provinz

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Hinweise zu diversen Auswanderungslisten und Matrikeleintragungen Schreibweise der Namen In diversen Kopien in diesem Buch gibt es Abweichungen, die einer Erläuterung bedürfen. Es kam immer wieder zu Veränderungen der Schreibweise, vor allem von Familiennamen, aber auch der Vornamen. Das könnte folgende Gründe gehabt haben: Viele Menschen im 18. Jahrhundert konnten nicht lesen und schreiben und waren daher nicht fähig, die Richtigkeit der Schreibweise ihres Namens zu überprüfen. Sprachen die Auswanderer einen anderen Dialekt oder gar eine andere Sprache, wurde vom Eintragenden der Name so geschrieben, wie er verstanden oder gehört wurde. Dazu kam, dass es noch keine allgemein gültige Schreibweise oder Regel gab. So steht im Matrikelbuch der Pfarre Roeschwoog Georg Philipp Gillimann, seine Tochter Magdalena wird zu Jelimann und Magdalena wird in Wien und Ruma zu Margarethe. Auch der Name Joos wird in verschiedenen Dokumenten unterschiedlich geschrieben: Joos, Jos, Josß usw. Anton Joos konnte vermutlich schreiben, da er bei der Taufeintragung seines Sohnes Josef 1783 unterschrieben hat. Jene, die es nicht konnten, unterzeichneten meist mit drei XXX. Die Ehefrau behielt im alemannischen Raum bis in das 19. Jahrhundert ihren Geburtsnamen auch nach der Verehelichung bei. Auch war es üblich, dem Zunamen die weibliche Form »-in« anzuhängen (Beispiel: die Mutter von Anton Anna Maria Frickerin).

Personenstandsdaten in Pfarrmatrikeln Auch diese können aus den o.a. Gründen unterschiedlich sein. Maria Magdalena Jelimann aus Roeschwoog ist nachweislich 1756 geboren und 1789 gestorben. Trotzdem wird ihr Sterbealter mit 47 Jahren angegeben. Der Grund ist nicht bekannt. Wusste Anton ihr Alter nicht oder hatte der Pfarrer falsch verstanden?

Erfassungslisten Bei Erfassungslisten, zum Beispiel bei der Registrierung in Wien, wurde oft als Profession »Bauer« angegeben. Die meistgebrauchte Bezeichnung »Bauer« besagt nicht, dass die Auswanderer einen Hof oder ein Bauerngut hatten, sondern dass sie des Ackerbaues kundig waren. Oft aber nicht einmal das. Sie wussten, so wie vermutlich auch Anton Joos, um die bessere Chance für die Bewilligung zur Ansiedelung und somit auch auf Hof und ein Stück Land. Anton war vielleicht Weinbauer in Württemberg und sicher Gärtner im Elsass, nichts deutet darauf hin, dass er Bauer war. Die Unkenntnis des Ackerbaues brachte Neusiedler oft in arge Bedrängnis. In den ersten Jahren führte dies zu Missernten und wirtschaftlicher Not.

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Besuchte Forschungsstellen und Orte:

Bodnegg, Kreis Ravensburg, Oberschwaben, Württemberg Gemeindeamt und Pfarre, Matrikelbücher der Pfarre Bodnegg Juli 2004 Roeschwoog, Elsaß, Frankreich Gemeindeamt, Juli 2003 und 2004 Fort Louis, Elsaß, Frankreich Gemeindeamt, Juli 2004 Gespräch mit Bürgermeister und Einsicht in Chronikbücher Strasbourg, Frankreich Archiv der Bas-Rhin, Juli 2003 und 2004 Filme von Matrikelbüchern aus 9 Pfarreien in Bas-Rhin Guebwiller, Elsass, Frankreich Familiengeschichtliches Zentrum, Juli 2003 Filme von Matrikelbüchern aus 6 Pfarreien in Haut-Rhin

Ruma, Srem, Serbien Museum in Ruma, Mai 2002, Juni 2005 Sremska Mitrovica, Srem, Serbien Distriktsarchiv, Matrikelbücher der Pfarre Ruma, Mai 2003, Juni 2005 Linz, OÖ Landesarchiv OÖ, Juni 2004 Auswanderungslisten Linz, OÖ Landesbibliothek, Juli 2004 Diverse Bücher über Auswanderung Linz, OÖ Genealogie-Forschungsstelle GFS Austria der Mormonen Filme von Matrikelbüchern aus Bodnegg, Dezember 2004 und Jänner 2005 Filme aus dem Elsass, März 2005 Reuttlingen, Deutschland Besuch bei Erika Linzner, Juli 2004, Durchsicht der Unterlagen ihres Vaters, des Ahnen- und Sippenforschers, Martin Linzner - Seppasch

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Literaturliste Die Geschichte der Marktgemeinde Ruma Carl Bischof, 1958, Pannonia-Verlag Freilassing Rumaer Dokumentation 1745 – 1945, Band I und II Franz Wilhelm, Donauschwäbische Kulturstiftung, Stuttgart 1990 Die Donauschwaben. Schicksal zwischen Donau, Drau, Save, Theiß und Marosch Ingrid Kaiser-Kaplaner, Verlag Hermagoros/Mohorjewo, 1998 Der große Schwabenzug Adam Müller-Guttenbrunn 1917 Auswanderung aus Südwestdeutschland, Studien zur württemberg. Auswanderung und Auswanderungspolitik im 18. und 19. Jh. Wolfgang v. Hippel, OÖ Landesbibliothek Auswanderung aus dem nördlichen Bodenseeraum im 17. und 18. Jahrhundert, Werner Hacker, 1975, Verlag: Hegau-Geschichtsverein 7700 Singen Universitäts-Bibliothek Wien Auswanderung aus dem nördlichen Bodenseeraum im 17. und 18. Jahrhundert, Werner Hacker, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart und Aalen Die Auswanderung der Schwaben nach Russland 1816-1823 Ein schwäbisches Zeit- und Charakterbild, Stuttgart 1928 Migration nach Ost- und Südeuropa vom 18. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Mathias Beer, Dittmar Dahlmann (Hg), Schriftenreihe des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde Jahn Thorbecke Verlag Stuttgart 1999 Geschichte – Basiswissenschaft für Schule, Antike – Mittelalter – Neuzeit Genehmigte Sonderausgabe Weltgeschichte – Aufklärung und Revolution, Europa im 17. und 18. Jahrhundert, Band 8, Autorenteam, Verlagsgruppe Bertelsmann, Gütersloh 1996 Der Brockhaus – in einem Band von A – Z Wiesbaden: Brockhaus,1983 Österreichische Geschichte Karl Vocelka, Verlag C.H.Beck o.H.G., München 2005 und Das große weite Feld des world wide web durchforscht im Zeitraum 2002 - 2005

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Bildquellen Titelbild Seite 9 13 20 26 29 31 35 37 41 42 43 44 45 46 48 50 52

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www.kriechenwil.ch/images/schuhe donau brasil http://entreriosonline.hgn-ig.com Prospekt der Pfarre Bodnegg, 2004 Ansichtskarten Gemeinde Fort Louis, 2004 Ansichtskarte Elsass 2004 Ansichtskarte Gemeinde Fort Louis, 2004 Fotografie Maria Kronister, Museum Hagenau, Elsass 2004 www.familiengeschichte.de www.stadtbibliothek.wien.at www.russlanddeutschegeschichte.de www.stadtbibliothek.wien.at www.stadtbibliothek.wien.at www.donauschwaben-bayern.de www.stadtbibliothek.wien.at www.stadtbibliothek.wien.at www.museum.at www.stadtbibliothek.wien.at www.stadtbibliothek.wien.at Peter Wolff, Der Führer und Ratgeber auf der Reise nach Ungarn... Reutlingen 1847 www.siebenbuerger.de Stefan Jäger, www.family-stories.de Rumaer Dokumentation II Stefan Jäger, www.family-stories.de www.family-stories.de Die Geschichte der Marktgemeinde Ruma, Carl Bischof, 1958 Kopie Archiv Sremska Mitrovica 2003 Die Donauschwaben - Deutsche Siedlung, Hg.Haus der Heimat Land Baden-Württemberg www.suxes.de Fotografie Johann Geisl, 2005 Fotografie Maria Kronister, Museum Hagenau, Elsass 2004 Ansichtskarte aus Sremska Mitrovica 2005 Kopie Archiv Sremska Mitrovica 2003 Kopie Archiv Sremska Mitrovica 2003 Ansichtskarte Elsass 2004 Fotografie Bruno Schmee 2005 Kopien Archiv Sremska Mitrovica 2003 Rumaer Dokumentation II Die Donauschwaben, Deutsche Siedlungen in Südeuropa Ansichtskarte aus dem Elsass 2004 Bildband »Durch die Gassen von Ruma«, Heimatverein Ruma Bildband »Durch die Gassen von Ruma«, Heimatverein Ruma Historischer Weltatlas, F.W.Putzger, Österr. Bundesverlag Die Donauschwaben, Ingrid Kaiser-Kaplaner www.frankreich-experte.de

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Die Donauschwaben - Deutsche Siedlung, Hg.Haus der Heimat Land Baden-Württemberg 107 Auswanderung aus dem nördlichen Bodenseeraum, Werner Hacker, Verlag Hegau 108 Rumaer Dokumentation I 110 Bildband »Durch die Gassen von Ruma«, Heimatverein Ruma 115 Rumaer Dokumentation I 116 Rumaer Dokumentation I 124 Österreichische Geschichte, Karl Vocelka, Verlag Beck 2005 126 Kirchenbroschüre der Pfarre Bodnegg 2004 127 Prospekt der Gemeinde Bodnegg 2004 128ff Fotografien Maria Kronister 2004 134 www.multiweb.cz 135 Fotografie Maria Kronister 2005 136 www.geocities.com Fotografie Maria Kronister 2002 137 Rumaer Dokumentation I 138 Rumaer Dokumentation II 139 Rumaer Dokumentation I 140ff Fotografien Maria Kronister 2002

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