Eine Wahrheit am Karlsplatz (Karlsplatz'da Bir Hakikat)

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Das Zeichen Sollte die Leere in ihrem Inneren noch weiter anwachsen, würde es B’s Ende sein, das wusste sie. Sie wollte, dass etwas geschah. Würde doch nur hier und jetzt diese Frau da im langen Kleid an der Haltestelle sich zu ihr umwenden und sie daran erinnern, dass alles vorübergeht; oder dieser hochgewachsene Junge im gelben T-Shirt, der in die letzte Straßenbahn eingestiegen war, an der nächsten Haltestelle wieder aussteigen und zu ihr zurückgelaufen kommen, um sie zu küssen. Sie wartete auf ein Zeichen. Ja oder Nein. „Ja, halt noch ein wenig durch.“; „Nein, es ist soweit, tu es.“ Dieser Zustand des Wartens auf ein Zeichen misshagte ihr. Es konnte passieren, dass sie auf das Spiel, das ihr Gehirn mit ihr trieb, hereinfiel und sie banalen Alltäglichkeiten Bedeutung zuschrieb, und das konnte sie daran hindern, zu dem in der Unendlichkeit liegenden Sinn dessen vorzudringen, was sie eigentlich tun sollte. Dieses Zeichen konnte alles Mögliche sein. Dass sie eines sah, würde ohnehin bloß eine Folge davon sein, dass sie es sehen wollte; sollte das Zeichen aber tatsächlich kommen, konnte es sich beispielsweise auch verspäteten. Ihr fehlte die Kraft, darauf zu warten. Sie fasste einen Entschluss: Anstatt zu warten, würde sie ihr eigenes Zeichen selber finden. Ein neues Gefühl regte sich in ihr. Sie verließ die Haltestelle. Ihr Weg führte sie auf einen von Ost-Berlin hinterlassenen Boulevard. Sie blieb stehen und blickte in die öde Straßenflucht. Auf einmal spürte sie, wie sich eine Hitze über ihren Kopf breitete. Im selben Augenblick hob sie die Hand an den Kopf. Weiter vorne, an der östlichen Seite des Boulevards, sah sie eine Fassade glänzen. Mit schnellen Schritten marschierte sie auf sie

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Emrah Altinok Eine Wahrheit am Karlsplatz



Das Strömen „Ich bin nie wieder in dieses Haus zurückgekehrt.“ „Ich verstehe. Es ist mir unangenehm zu fragen, aber woran ist deine Mutter gestorben?“ „An Krebs.“ Das Schweigen schuf die nötige gefühlvolle Pause. S bereitete eine neue Frage vor. „Wollen wir uns eine Serie anschauen?“ fragte er und hielt ihr die DVD hin. „Ich weiß natürlich nicht, ob du sie nicht schon gesehen hast.“ „Ja, die kenne ich, ich bin sogar bereits bei der dritten Staffel. Welchen Teil hast du zuletzt gesehen?“ „Den zehnten.“ „Ich den elften, aber ich schaue ihn mir mit dir noch mal an.“ Anstatt sich die Serie anzuschauen, betrachtete das Mädchen während der achtundfünfzig Minuten den Jungen. S war entweder hochgradig gebannt vom Geschehen oder es gefiel ihm, betrachtet zu werden. Er wandte seinen Kopf nicht, blickte sie kein einziges Mal an. Erst die Musik, die bei der letzten Szene ertönte, brachte sie wieder zusammen. In den Augen des Jungen war etwas, das zu B hinströmte. (Da war wirklich etwas. Als die Person, die diesen

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los. Was geglänzt hatte, waren bunte Plastik-Paravents, die eine Terrasse von höchstens einem halben Meter Tiefe in Balkone aufteilte. Sie blieb stehen. Beobachtet die Lichtspiegelungen auf der Straße. Das rosa Glimmern einer der Paravents, der die im Westen stehende Sonne reflektierte, formte sich vor ihren Füßen zu einem Dreieck. Sie folgte der Richtung, die der spitze Winkel des Dreiecks wies, und drehte sich um. Sie sah ein Paar Füße. Dann lange Beine, ein gelbes T-Shirt mit einer schemenhaften Menschenfigur darauf, die an Höhlenmalerei erinnerte. Darüber ein leicht bärtiges Gesicht mit riesigen Augen. Riesengroße, funkelnde Augen. Dann wieder Augen, riesige Augen. B legte sich die rechte Hand auf den Kopf. Die Hitze war noch immer da. Mit der linken Hand zog sie ihren Fotoapparat aus der Tasche. Sie fasste den Apparat mit beiden Händen. Während S versuchte, B’s Blicke und Tun zu deuten, zeichnete sich ein Lächeln auf seinen Lippen ab. Klick!


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Text schreibt, kann ich versichern, dass da etwas war.) Das musste Liebe sein. (Ja ja, das war Liebe. Ich muss es nicht wiederholen.) „Vivaldi“, sagte der Junge. „Eine Arie aus Vivaldis ‚Bajazet‘, gesungen von Cecilia Bartoli.“ B legte sich die Hand auf den Kopf, die Hitze war noch da. Auf diese so selbstsicher vorgetragene enzyklopädische Information hin versiegte das Strömen. B schlief, wie sie saß, an S’ Schulter ein. Die Trennung Im Café wandte jeder den Kopf zum Eingang, gegen den etwas krachte. Das war B. Die Türe schlagend stürzte sie herein. „Wo ist er?“ „Ich weiß nicht, was bist du so entnervt?“ „Ich muss ihn finden, wo könnte er sein? Zuletzt war er mit euch zusammen. Sag es mir.“ „Ich habe keine Ahnung, wirklich. Er ist weggegangen, ohne etwas zu sagen.“ B stürmte zurück auf die Straße. Ihr fiel ein, dass er in diesem Bücherladen unter der Brücke sein könnte. Kurz darauf sie auch schon dort. Sie würde ihn zur Rede stellen. Er hatte kein Recht, sie so abwertend zu behandeln. Hatte sie sich nicht für ihn aufgeopfert? Ihm die Liebe gegeben, die er brauchte? Und dafür erntete sie eine derartige Gleichgültigkeit? So nicht! Außer Atem stand sie an der Tür und versuchte sich gerade zu erinnern, wo der Bereich für Lyrik war, als plötzlich sämtliche Regale im Buchladen ins Kippen gerieten. Während sie alle gleichzeitig in verschiedene Richtungen stürzten, erhob sich eine sagenhafte Wolke aus Rhythmus und Staub. Sie suchte zwischen den umgefallenen Regalen und den kreuz und quer liegenden Büchern nach S. Er war nicht da. Er war nirgendwo. Er war so dermaßen nicht da, als könne er, wenn er nicht hier war, auch nirgendwo anders sein. Durch die zum Flussufer weisende Front des Bücherladens, der dazu diente, die Brückenunterseite, die von zwei Seiten Licht erhielt, auszufüllen, schimmerte die im Westen stehende Sonne. Ihr Blick folgte dem Schatten, den eines der an der Scheibe klebenden Poster warf. Sie wandte sich nach der Richtung, die der spitze Winkel des Schattens


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Wien S hatte eigenhändig eine graue Decke über die Stadt gebreitet. B sah persönlich mit an, wie diese am Himmel schwebende Decke sich an ihren Rändern beständig weiter ausdehnte. Bevor die Decke B’s Haus erreichte, floh sie in ihre Wohnung. Kurz darauf war Berlin vollständig von einem dunkelgrauen Himmel überzogen. Die Tage vergingen, S rief nicht an. Die Farblosigkeit, die Berlin durchdrungen hatte, raffte nach und nach seine Bewohner dahin; sie selbst eingeschlossen, wie sich B bewusst war. Sie setzte sich vor ihren Computer. Machte alle Seiten, die sie immer öffnete, der Reihe nach auf. Einer jeden schenkte sie ein paar Sekunden Aufmerksamkeit. Sie war bedrückt. Sie lehnte sich zurück. Mit dem linken Arm fasst sie nach ihrer rechten Schulter und umarmte sich. Sie drehte den Kopf und küsste ihre Schulter. Sie tat dies wie eine, die es mochte, sich selbst zu berühren, eine, die ständig nach Beweisen für die eigene Existenz sucht. Doch war nicht gerade der grausamste Aspekt der Existenz, sich ihrer immer bewusst zu sein? Oder genau umgekehrt. Niemand kann, solange er existiert, sich vorstellen, eines Tages nicht mehr zu existieren; wenn dies aber notwendig wäre, zog man es vor, den Tod entweder abzutun oder ihn schnellstens zu verdrängen. Deshalb war Existieren nie genug, um wirklich zu existieren. Das war es auch, was B gerade spürte. Sich zu berühren war noch am ehesten ein Weg,

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zu ihren Füßen wies, und drehte sich nach links. Sie sah ein Paar. Es lehnte an der Wand des Gebäudes südöstlich der Brücke. B stob auf und landete vor ihnen. „Wer ist dieses Mädchen?“ fragte sie S. „He, was ist denn mit dir los?“ „Wer ist dieses Mädchen?“ „Beruhig dich. Lass uns später reden.“ S’ reflexartiges Weckducken, das Geräusch von reißendem Stoff, als das rotblonde Mädchen, das ein T-Shirt mit an Höhlenmalerei erinnernden Figuren darauf trug, zwischen sie ging, und B’s Abflug vom Ort des Geschehens; all das spielte sich innerhalb von wenigen Sekunden ab.



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um sich dieser bitteren Wahrheit zu stellen. Und sie tat es. Ihre Finger suchten und fanden ihre Finger, manchmal ihre Hände die Arme, ihr Kopf die Schultern, sie hielt sich fest, schmiegte sich an sich, küsste sich. Täte das jemand anderer (S beispielweise), hätte es nicht denselben Effekt. Diese zwei Berührungen unterschieden sich völlig. Während sich selbst zu berühren eine Art Trost war, führte die Berührung durch jemand anderen zu einer Art Kapitulation, und leider linderte keine der beiden den Existenzschmerz. Weder man selbst noch jemand anderer brachte einem Erleichterung. Deshalb waren Geliebte zu nichts nutze. B dachte trotz alledem­, dass sie S vermisste. Sie hatte das mit ihrer inneren Stimme nie ausgesprochen, aber dieses Gefühl hatte­sie auch nie losgelassen. Sie saß stundenlang so vor ihrem Computer, ohne etwas zu tun. Plötzlich packte sie das Bedürfnis, S anzurufen. Nichts durfte einfach so zu Ende gehen. Die Dinge durften einfach beginnen, aber sie durften nicht einfach so enden. Sie überdachte diesen Entschluss bis ihr Finger auf der Anruftaste taub wurde. Sie tat es nicht. Sie lehnte sich wieder zurück. Auf einmal blieb ihr Blick an einem Werbebanner am rechten Bildschirmrand des Computers hängen. Da war ein weißes T-Shirt zu sehen, bedruckt mit menschlichen Figuren, die an Höhlenmalerei erinnerten. Hastig beugte sie sich vor und klickte auf den Link. Es war die Homepage einer T-Shirt Designerin. Sie traute ihren Augen nicht. Im Lebenslauf der Designerin gab es ein Foto des rotblonden Mädchens. Kaum hatte sie es gesehen, begannen sich alle Gegenstände im Zimmer rasend schnell aufzulösen. Ihr Sessel verflüssigte sich und sie fand sie am Boden wieder. Das Auflösen der Gegenstände setzte sich in den anderen Räumen fort, dann in den anderen Wohnungen, Wohnhäusern und Straßen. Ja, sie musste die Stadt verlassen. Sie packte den Koffer, wobei sie immer wieder die Temperatur ihres Kopfes kontrollierte. Zwischendurch schweifte ihr Blick zum großen Spiegel vor ihr. Wurde ihr Kopf größer? „Nein, nein, er wird nicht größer, pack deinen Kof-


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fer.“ Als sie die Wohnung verließ, knallte sie die Tür zu, und dieser Laut hallte fort und fort. Von ihm begleitet trat sie auf die Straße. Von ihm begleitet erreichte sie den Schalter und den Bahnsteig. Sie stieg von ihm begleitet in den Zug und wiederum von ihm begleitet verließ sie die Stadt. Am stehenden Zug zogen Gebäude, Straßen, Menschen vorbei; Felder verschmolzen mit Feldern; bis endlich der graue Himmel von einem weißen und hellen Himmel abgelöst wurde. Der forthallende „ti“ – Laut verklang langsam. B sank in einen tiefen Schlaf. Die Krankheit Als B erwachte, brannte ihr ganzer Körper wie Feuer. Ihre Kleidung war schweißgetränkt. Es musste spät in der Nacht sein, Kälte war hereingedrungen. Es waren noch einige Stunden bis zur Ankunft in Wien. Sie dachte an ihre Mutter, Erinnerungen an das Haus kamen hoch. Sie sank wieder in den Schlaf. Als die Krankenschwester vom anderen Ende des Ganges her ihren Namen aufrief, war sie vor Erschöpfung knapp am Zusammenbrechen. Sie würde nun die Ergebnisse der endlosen Untersuchungen erhalten. Als der Arzt sagte, sie solle eine nahestehende Person verständigen, schloss sie die Augen. „Er ruft mich nicht an, nicht ein einziges Mal hat er angerufen.“ „Verzeihen Sie, wer hat nicht angerufen?“ „…“ „Würden Sie bitte Ihren Mund öffnen? Blutet etwa Ihr Zahnfleisch? Schwester!“ B’s Lider wurden bleischwer. Die letzten Worte, die sie von einer der Krankenschwestern an der Tür hörte, bevor sie ihr Bewusstsein verlor, waren: „Schrecklich, sie ist erst 25.“ Es war genau ein Tag seit B’s Einlieferung ins Krankenhaus vergangen. Schließlich war ihre Schwester von weit her für sie in die Stadt gekommen. Es war Ende Juni. Wien glänzte wie eine frische Weintraube. B’s Schwester hatte ihren Urlaub abgebrochen. Erst vor ein paar Tagen hatte sie sich auf der Insel Büyükada vor Istanbul gesonnt. Jetzt fütterte sie ihre kranke ältere Schwester. Im kleinen, weißen


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Spitalszimmer fanden die beiden Mädchen nach langem Schweigen mit dem Ritual des Fütterns wieder zusammen. „Mach deinen Mund auf. Wenn du das wieder verweigerst, gehe ich.“ „Ich will nicht.“ „Ich habe gesagt, ich gehe.“ B dachte nicht über Genesen oder Nicht-Genesen nach. Dabei waren alle bemüht, ihr einzureden, sie würde wieder gesund werden. Aber B’s Gedanken kreisten nur um eine einzige Frage. Warum rief er nicht an? Die Tage vergingen. B ging es zunehmend schlechter. Und das Zimmer, in dem sie sich befanden, wurde zunehmend kleiner. Zu B’s Pech wurde ihr Kopf in der Geschwindigkeit größer, in der das Zimmer kleiner wurde. Ja, ja, sie war sich sicher, er wurde größer. Als sie keine Haare mehr hatte, war das noch leichter zu erkennen. Das erste Mal war es ihr aufgefallen, als der Arzt, sich an seinem Bart kratzend, zu ihr sagte, dass sie im Spital nicht mehr viel für sie tun konnten. Währenddessen inspizierte B über seine Schulter hinweg ihren Kopf im Spiegel direkt hinter ihm. Unter Mühen stand sie auf. Schwerfällig trat sie vor den Spiegel über dem Waschbecken. Während sie sich mit der Zunge über ihre trockenen, violetten Lippen fuhr, betrachtete sie ihr Spiegelbild. Sie würde sterben. Das würde tatsächlich geschehen. Die linke obere Ecke des Computerbildschirms, der in der rechten unteren Ecke des Spiegels zu sehen war, berührte ihre ausgetrockneten Lippen. Sie wandte den Kopf und blickte zum Computer. Ja, sie wollte S an ihrer Seite haben. Sie bewegte sich, sehr langsam, zu ihrem Bett zurück, um zu tun, was sie sich soeben gedacht hatte, und fragte ihre vor sich hin dösende Schwester: „Haben­sie die Fotos, wie ich es wollte, auf die CD gebrannt?“ „Ja, ich habe sie dabei.“ „Gib sie mir.“ Sie schob die CD in den Computer und öffnete die Homepage des rotblonden Mädchens. Dann klickte sie auf den Link Entwirf dein eigenes T-Shirt. Füllte das Formular aus. Sie lud das Motiv für das T-Shirt auf die Seite. Der Bestellung fügte sie die Notiz „Sehr dringend“ bei. Wien schimmerte noch immer wie eine frische Weintraube. Es war Mitte Juli.


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Zwei Reisen Am nächsten Tag verließen B und ihre Schwester das Krankenhaus. Als sie das Haus betraten, empfing sie die Kühle des Steinflurs. B lächelte und schaute aus dem Gangfenster gegenüber der Wohnungstür, der Hof lag so still da wie in ihrer Kindheit. Die Bäume drehten sich Arm in Arm über dem Boden, durch die Passage strömten Menschen. Plötzlich kam ein 2-3 Jahre altes Mädchen mit safrangelben Haar und einem knallroten Haarband, das B an ihre eigene Kindheit erinnerte, in den Hof. Der ihr kurz darauf folgenden Mutter war deutlich anzusehen, dass sie es leid war, dem Mädchen nachzulaufen. Kinder zu machen war schlichtweg ein Irrsinn. Kinder bedeuteten für ihre Familien nichts anderes als Probleme und Sorgen, genauso wie Familien für ihre Kinder. Zwei Generationen, die einander niemals verstehen würden. Das Gangfenster, von dem aus B sie beobachtete, lag direkt oberhalb der Passage, die vom Hof auf die Straße führte. Anders gesagt war der Boden unter B’s Füßen zugleich die Decke der Passage. Von da aus, wo B stand, konnte sie den anderen Durchgang gegenüber sehen, er führte in einen weiteren Hof, der fast so groß war, wie der von B, und dieser schloss wiederum an noch einen, viel größeren Hof an. In den Gebäuden rund um diesen großen Hof befanden sich Galerien, Theater und Museen, zu denen die Werbetafeln gehörten, die die Wände der Passage unterhalb des Gangs zierten, in dem B stand. Die verdrossene Mutter setzte sich auf eine Bank unter einem der Bäume, die den Hof umgaben. B verfolgte jede ihrer Bewegungen. Sie war regelrecht gebannt von ihnen. Die Mutter hob ihren linken Arm und blickte auf die Uhr. Dabei drehte die Frau, die so dasaß, dass sie B ihre Seite zuwandte, den Arm nach Osten, wodurch sich zwischen dem Glas ihrer Uhr und der Sonne ein Winkel von genau fünfundvierzig Grad bildete. Das Licht, das sich im Glas spiegelte, wurde auf eine der Werbetafeln an der Wand der Passage geworfen, von dort auf die Verpackung von Bühnendekor, das gerade zu


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dem Theater transportiert wurde, für das eben jene Tafel warb, von dort auf das Stockwerk, in dem B sich befand, und erreichte schließlich über B’s linke Schulter, die sie immer küsste, den im Gang angebrachten Stadtplan von Wien. B, die diesem kurzen Moment gefolgt war, drehte sich um und drückte ihren Finger auf die Stelle, die die Mutter markiert hatte. Den Ort schrieb sie sich ins Gedächtnis. Schon der kurze Weg vom Krankenhaus zu ihrer Wohnung hatte B völlig erschöpft. Sie ging früh schlafen. S öffnete seine Augen. Er war mit einem schlechten Gefühl erwacht. B öffnete ihre Augen. Sie war mit einem herrlichen Gefühl erwacht. S fragte sich, warum das Leben so sinnlos war. B hingegen war das Leben egal, sie wollte etwas unternehmen, was ihren Tag wertvoll machte. S machte schon seit einer ganzen Weile nichts mehr Freude, dieses Gefühl der Sinnlosigkeit zermürbte ihn völlig. B nahm ihr Telefon zur Hand. S ging ans läutende Telefon. „Ich möchte reservieren“, sagte B. Das Mädchen am Telefon sagte zu S, dass etwas Seltsames geschehen sei und er sofort kommen müsse. B erledigte die Reservierung und sagte zu ihrer Schwester, dass sie zum Karlsplatz gehen wolle. (Es ist wohl unnötig zu erwähnen, dass der Karlsplatz jener Ort war, den die verdrossene Mutter auf dem Stadtplan markiert hatte.) Kurz darauf war S bei A, seiner Kindheitsfreundin, der er einige Monate zuvor in dem Buchladen begegnet war. In einem Rollstuhl und in Begleitung ihrer Schwester machte sich B auf den Weg. Als er ankam, sah S vor sich auf dem Bildschirm B’s Bestellung. Die zwei Freunde blickten sich an. Und genau in dem Moment merkte S, wie sehr er B vermisste; mit einem Mal war er überzeugt davon, dass das die Ursache für das Gefühl der Sinnlosigkeit war. Er würde zu ihr fahren, beschloss er. Auf seinen Lippen zeichnete sich ein Lächeln ab. Es war dasselbe Lächeln wie auf dem Foto, dass B als Motiv für das T-Shirt auf die Seite geladen hatte. Mit dem T-Shirt im Gepäck, das er zusammen mit seiner rotblonden Freundin fertiggestellt hatte, machte sich S auf den Weg zu der Ad-


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resse, die in der Bestellung angegeben war. B aber lauschte unterdessen, ohne zu wissen, dass es der letzte Tag vor ihrem Tod war, in der Karlskirche Mozart. Als S am folgenden Tag bei der Adresse ankam, traf er an der Tür auf B’s Schwester, die einen großen Rucksack geschultert hatte. S stellte sich aufgeregt vor und sagte, dass er unbedingt B sehen müsse. Nachdem das Mädchen erfahren hatte, wer S war, setzte sie ihren Rucksack langsam am Boden ab, wobei sie ihm kein einziges Mal ins Gesicht sah, zog einen Umschlag aus dem vorderen Fach, reichte ihn S und verließ das Haus. Der Brief Hübscher Junge S, wenn du diesen Brief in Händen hältst, bedeutet das, dass ich nicht mehr bin. Falls du eine genauere Erklärung willst, es bedeutet, dass die Behandlung, die ich eine Zeit lang gemacht habe, nicht geholfen hat. Naja, ich wusste, dass sie nicht helfen würde, egal. Seit dem einen Tag haben wir einander nicht mehr angerufen. Eigentlich hast du mich nicht angerufen. Du hast mich eine ganze Weile kein einziges Mal angerufen. Mir ist bewusst, dass ich in unserer Beziehung sehr fordernd war. Das hast du mich auch immer spüren lassen. Ich denke, eine Seite liebt immer mehr als die andere. Meine Liebe hat aus dir jemand Schlechteren gemacht, als du bist. Du hast dich mir gegenüber wirklich mies verhalten. Du hast mir das Gefühl gegeben, nicht „die Frau“ für dich zu sein. Dabei, wenn in dieser Beziehung eine Seite zur Gewissheit gekommen ist, dass der andere nicht die Person ist, nach der man gesucht hat, dann war das vor allem ich; ich habe nämlich bereits am Abend des Tages, an dem wir uns kennenlernten, begriffen, dass du nicht „der Mann“ bist. Trotzdem habe ich beschlossen, dich so wie das Leben mit all seinen Makeln zu lieben. Glaub mir, mir ist sogar dieses rotblonde Mädchen egal. Du brauchst keine Schuldgefühle zu haben. Ich schreibe diesen Brief nicht, um dir welche zu machen. Auch habe


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ich nicht vor, dir zu sagen, wie sehr ich in dich verliebt war, oder dergleichen. Liebe ist bloß eine schöne Illusion. Was ich eigentlich will, ist, dir von dem Moment berichten, in dem ich die „Wahrheit‘“ kennengelernt habe. Weißt du noch, du hast mir erzählt, dass du manchmal nicht glauben kannst, wirklich zu existieren oder dass du dir, wenn du irgendwo bist, einbildest, eigentlich gar nicht dort zu sein? Und ich hatte dir gesagt, dass mich in ähnlicher Weise nichts, was ich tue, kein Gedanke, den ich denke, kein Gefühl, keine Berührung wirklich berührt, dass nichts etwas anderes wirklich ausfüllt und, schlussendlich, nichts mich zur Wahrheit führt. Nach der Zeit mit dir habe ich weiter nach der Wahrheit gesucht. Bis zu diesem Tag. Unter diesem Baum, unter dem ich dir gerade diesen Brief schreibe, habe ich sie vor mir. Sie ist so etwas Kugelförmiges. Zwischendurch rollt sie weg, aber ich hole sie wieder zurück und versuche, sie vor mir am Boden zum Stillstehen zu bringen. Es ist ungewiss, wie lange ich sie noch bändigen kann. Aber ich habe beschlossen, dir, während ich ein Auge auf sie habe, zu schreiben, wie ich sie zu fassen bekommen habe. Eigentlich wollte ich dich anrufen, aber dein Telefon war ausgeschaltet. Alles, was ich von dir will, ist Folgendes: Geh auch zu dem Ort, an der ich heute die Wahrheit gefunden habe. Tu dort das, was ich getan habe. Falls du sie auch zu fassen bekommst, kannst von dort ab, wo ich war, zusammen mit der Wahrheit weiterleben. Dafür wirst du nach Wien kommen müssen. Vielleicht bist du ja schon in Wien, ich kann nicht voraussehen, wo dich der Brief erreicht. Geh in Wien zu der Adresse auf dem Umschlag. Ich weiß, dass du das erste Mal in Wien sein wirst. Mach dir keine Sorgen, Wien ist eine einfache Stadt. Du wirst keine Schwierigkeiten haben, die Adresse zu finden. Es ist das Haus, in dem meine Mutter gestorben ist, ich habe dir schon von ihm erzählt. Verbringe eine Nacht dort. Im Belüftungsloch zwischen den beiden Wohnungstüren wirst du einen Ersatzschlüssel finden. Benutze ihn. Lies den Rest des Briefes morgen. Tu genau das, was dort steht.


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Beim Lesen dieser Zeilen sackte S in sich zusammen. Wie erstarrt blieb er dort an der Wand des Ganges gelehnt sitzen. Er las auch tatsächlich nicht weiter. Bis zum Morgen kauerte er reglos am Gang. Das Gefühl der Sinnlosigkeit, das in erfüllt hatte, bevor er nach Wien gekommen war, hatte seinen Höhepunkt erreicht. Er hätte sterben mögen, so wie er dort saß. Er beobachtet, wie der Brief langsam aus seiner linken Hand glitt, die taub geworden war. Lange betrachtete er diese losen, sich von selbst bewegenden Seiten. Eigentlich wartete er auf ein Zeichen. Ja oder Nein, „Ja, nimm diesen Brief und lies weiter“, „Nein, beende es, bring dich um.“ Er wählte das Einfachere, umbringen konnte er sich später auch noch. S’ Karlsplatz oder die Wahrheit Verlasse das Gebäude. Bleib kurz am Ende der Passage stehen, wo dich das Licht im Gesicht treffen wird wie eine Ohrfeige, lausche dem Lärm der Straße. Der Stadt bist du egal, ja. Das ist schön, dir kann sie auch egal sein. Links vom Ausgang, ein Stück weiter, wirst du eine Fahrradstation sehen. Geh hin und miete dir ein Fahrrad mit Gängen. Da ich im Rollstuhl sitze, konnte ich das heute nicht machen, aber als Kind bin ich mit meinem eigenen Rad immer von einem Ende Wiens bis zum anderen gefahren. Auch dir wird es gefallen, mit dem Rad in Wien unterwegs zu sein. Dein erstes Ziel ist die Ringstraße. Die Straße vor dir wird dich direkt zu ihr führen. Wenn du den Ring erreicht hast, kann ich dir dein eigentliches Ziel verraten: Du fährst zum Karlsplatz. Der Karlsplatz ist so etwas wie der linke Arm des Palais Schwarzenberg und des Schlosses Belvedere, die an der südöstlichen Ecke des sechseckigen Rings liegen; nach ihnen greift er, indem er durch die Passage des Wien Museum schlüpft und sich um die französische Botschaft legt. Wenn du dir in Wien alle Freiflächen an den Ränder und Ecken des Rings einprägst, dann ist die Stadt so gut wie dein. Eine davon ist eben der Karlsplatz; wobei er aber weder den Ring wirklich berührt, noch das Palais und das Schloss. Als hätte er sich seinen Platz in der Stadt mit


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der Absicht gewählt, auf Distanz zu den feinen Damen und Herren zu bleiben. Dass es in naher Vergangenheit ein Ort war, an dem die Junkies, in ferner Vergangen die Geister des Armenfriedhofs ihre Runden zogen, rührt wohl daher. Tritt ordentlich in die Pedale. Lass dann das Fahrrad an der Fahrradstation vor dem Grand Hotel Wien stehen. Überquere die Kreuzung; die Akademiestraße wird dich direkt zum Karlsplatz führen. Am anderen Ende dieser beschatteten Straße wirst du die apfelgrünen Otto-Wagner-Pavillons sehen. Diese beiden kleinen, einander zugewandten Gebäude bilden fast so etwas wie ein Eingangstor. Du wirst das Gefühl haben, ein neues Wien zu betreten. Wenn du so empfindest, kann ich dir sagen, dass du dich nicht täuscht. Gleich wirst du den Wien-Fluss überschreiten, der die Stadt zu Wagners Zeiten in nordwestlicher Richtung teilte. Aber spazier zuerst zu den Verkehrsampeln vor dem Musikverein. Das wird dir Gelegenheit geben, den Park und den Platz von weiter weg zu betrachten. Wenn du die Straße gequert hast, folge dem Parkweg vor dir. Unvermeidlich werden sich deine Blicke auf die gewaltigen Bäume rund um dich richten. Ist dir aufgefallen, dass man nirgendwo die Karlskirche sieht? Sie versteckt sich hinter den Bäumen. Wenn du langsam genug gehst, wird die Karlskirche ein optisches Täuschungsspiel mit dir treiben. Zuerst wirst du nur das Portal und die Kuppeln der Kirche sehen. Wenn näher du kommst, wird die Kuppel verschwinden und dafür der Gebäuderumpf erscheinen. Dann wieder die Kuppel und zum Schluss die Minarette … S befolgte Schritt für Schritt die genauen Anweisungen in der Fortsetzung des Briefes. Rundherum waren Vorbereitungen für ein Konzert im Gange. Umgeben von diesem ganzen Treiben verbrachte er an einsamen, versteckten Winkeln des Karlsplatzes und Resselparks einen ewig langen Tag. Alles, was er tun, jeder neue Ort, den er aufsuchen sollte, war in feinsten und seltsamsten Details beschrieben. Eine der Stellen, an denen er einen Großteil der Zeit verbrachte, war der Baum Nr. 98. Finde das Siegfried-Marcus-Denkmal vor der Technischen


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Universität. Wenn du von dort aus in Richtung der WagnerPavillons gehst, wirst bald auf der rechten Seite den Baum Nr. 91 sehen. Er gehört wie der Baum Nr. 65 gegenüber des Ressel-Denkmals zu den Bäume, unter denen ich während meiner Schulzeit immer saß und Salinger las. Am liebsten aber habe ich die Nr. 98. Geh an der Nr. 91 vorbei. Ein Stückchen weiter wirst du rechts eine kleine grüne Insel bemerken. Diese kleine Insel liegt zwischen dem Denkmal Joseph Ressels, nach dem der Park benannt ist, und den Wagner-Pavillons. Dort also, in der Mittel der kleinen Insel, steht meine Nr. 98. Ich scheue mich nicht zu sagen, dass es der älteste Baum des Parks ist. Oder zumindest der imposanteste … Den Brief, den du in der Hand hältst, schreibe ich am Fuß dieses Baums, mit dem Rücken zur Evangelischen Schule. Und vor mir habe ich die Wahrheit; du aber wirst sie hier nicht finden. Setz dich trotzdem hin, geh nicht gleich. Ich werde dir vom Armenfriedhof erzählen. Lies diese Zeilen unter dem Baum. Während auf der Bühne, die am Rande des Wasserbeckens vor der Kirche aufgebaut worden war, eine Frau das Mikrofon testete, las S im Brief interessante Einzelheiten über den Friedhof und den dort begrabenen Vivaldi. Der Brief enthüllte eine Tatsache, von der S nichts gewusst hatte. B hatte, bevor sie beschloss, Architektin zu werden, zwei Jahre lang das Konservatorium besucht. Kaum hatte S das gelesen, revidierte er seine Vorstellung von B. Mozart sei überbewertet, erklärte die Musikerin B im Brief, Vivaldi hingegen werde nicht genug gewürdigt. Am Ende dieser Ausführungen lenkte sie S zur letzten Station. Steh jetzt auf. Geh zu der Ecke des Universitätsgebäudes, die zum Becken und zur Kirche hin weist. An der Fassade, die der Kirche zugewandt ist, zwischen den beiden Fenstern, die der Ecke am nächsten liegen, gibt es eine kleine Steintafel, die von den tausenden Menschen, die täglich hier vorübergehen, meist übersehen wird. Geh näher heran, dann kannst du lesen, dass, wie ich dir erzählte, unter diesem Gebäude der Armenfriedhof gewesen war. Die Wahrheit habe ich dort gefunden, als ich beim linken Fenster Veilchen hinstellte. Bald


Als der junge Mann den Topf mit den Veilchen beim Fenster sah, gaben seine Knie nach. Nur mit Not konnte er sich am Fenstersims festhalten. Im Topf befand sich ein kleiner Umschlag, „Für S“ stand darauf. S öffnet ihn mit zitternden Händen. Was auf dem Zettel stand, konnte er wegen der Tränen, die seine Augen füllten, kaum lesen. Es war folgendes: Lieber S, Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, nach idiotischen Zeichen zu suchen. Ich klammerte mich an banale Zufälle, als wären es Wunder, die mich zur Wahrheit führten. Wenn du fragst, was die Wahrheit ist - ich weiß es nicht. Aber soviel kann ich sagen: Wenn du ein Zeichen suchst, dann wirst du es sicherlich finden, und dieses Zeichen wird dich auch bestimmt irgendwohin führen. Mich hat es zuerst zu dir, dann in den Tod geführt. Wer weiß, vielleicht ist die eigentliche Wahrheit der Tod. Bevor ich es vergesse: „Sposa son disprezzato“ ist nicht von Vivaldi, sondern ursprünglich von Geminiano Giacomelli.

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werde ich von meinem Platz hier unter der Nr. 98 aufstehen und sie wieder dorthin zurückbringen, wo ich sie gefunden habe. Und da wirst auch du sie finden. Ich küsse deine großen Augen. In Liebe, B.

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Noch während S diese Zeilen las, hörte er die erste Note am Klavier. Darauf begann der Sopran auf der Bühne die wohlbekannte Arie zu singen:


Sposa son disprezzata. fida son oltraggata, cieli che feci mai? e pur egl’è il mio cor il mio sposo, il mio amor, la mia speranza. l’amo ma egl’è infedel spero ma egl’è crudel, morir mi lascierai? o dio manca il valor valor e la costanza.

Eine verschmähte Frau bin ich, treu, gleichwohl verhöhnt. Himmel, was hab ich getan? Und dennoch ist er mein Herz, mein Mann, meine Liebe, meine Hoffnung. Ich liebe ihn, doch er ist treulos, ich hoffe, doch er ist grausam, wird er mich sterben lassen? Mein Gott, es fehlt der Mut, der Mut und die Beständigkeit.

Aus dem Türkischen übersetzt von Sara Heigl


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