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Alternativer Zukünfte erfinden. Die munizipalistische Bewegung in Barcelona

Alternative Zukünfte erfinden

Die munizipalistische Bewegung in Barcelona

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// by Andreea Zelinka

Mit den Platzbesetzungen durch 15M artikulierte sich 2011 eine harsche Kritik an der spanischen Regierung. Die Unzufriedenheit der Protestierenden richtete sich gegen die soziale Ungerechtigkeit und die prekären Lebensverhältnisse. Ab 2008 war immer deutlicher geworden, dass das Leben vieler unter dem Diktat der Finanzsysteme stand und viele Hypothekenbesitzer*innen einer Existenz lebenslanger Schulden überlassen wurden. 1 Die Protestierenden wehrten sich gegen ihre Ohnmacht, die sie aufeinen Mangel an Demokratie und politischer Repräsentation zurückführten. Sie wehrten sich gegen die ‚alte Politik‘ bestehenderpolitischerundfinanziellerEliten und begannen, ‚neue Formen von Politik‘ zu praktizieren. Damit regten sie Innovationen politischen Handelns und Denkens an. Die hegemoniale (oder normative 2 ) liberale Demokratie und ihr liebstes demokratisches Werkzeug, die Wahl, wurden in Frage gestellt. Die Stimme des Menschen schien den Protestierenden in der Massendemokratie Spaniens zu einem Stimmzettel verkümmert, den es alle paar Jahre auszufüllen galt, der jedoch keinen wirklichen politischen Einfluss bedeutete, sondern allenfalls zur Erhaltung des Status Quo beitrug.

Die Protestcamps von 15M etablierten einen Ort, an dem neue politische Visionen geschaffen wurden. Nach ihrem Ende wurde jedoch deutlich, dass die Forderungen der Proteste in den Institutionen verteidigt werden mussten. Es kam zur Gründung neuer Parteien, wovon Podemos sicherlich die bekannteste ist. Die anfängliche Begeisterung ebbte allerdings schnell ab, da es den Parteien aufnationaler Ebene nicht gelang, auch parteiintern demokratische Strukturen durchzusetzen und eine ständige Verbindung zur Basis aufrecht zu erhalten. Vielversprechender schienen hingegen die Entwicklungen in den Kommunen. Im ganzen spanischen Territorium kam es zur Gründung von Bürger*innenplattformen und Initiativen, denen der ‚Sprung in die Institutionen‘ gelang. So

1 Der Fall von Lehman Brothers im September 2008 hatte starke Auswirkungen auf die spanische Ökonomie. Ähnlich abhängig vom Immobilienmarkt wie die U.S.A., vergrößerte sich nach dem Platzen der Immobilienblase das Prekariat und der

Wohlfahrtsstaat erwies sich als unfähig, die eigenen Bürger*innen vom verursachten

Schaden zu schützen. Als Teil der EU entschied sich Spanien dazu, Austeritätsmaßnahmen einzuführen, um internationale Verpflichtungen erfüllen zu können.

Folglich wurden Löhne von Beamten gekürzt, das Pensionsalter angehoben und die Wichtigkeit herausgestrichen, Investoren zu schützen, wohingegen öffentliche

Schulden erhöht wurden. Reformen des Arbeitsrechts umfassten die Schmälerung historischer Siege der Arbeiter*innenbewegung, wie z.B. Tarifabkommen, Mindestlohn und Abfindungsvereinbarungen. Außerdem kam es zu Kürzungen im Bereich der Bildungund des Gesundheitssystems. Siehe zur weiteren Information: Rocafort,

Victor Alonso/ Medialdea, Bibiana (2013): Presentación, in: Colectivo Novecento (ed.), Lo llamaban democracia. De la crisis económica al cuestionamiento de un régimen político, Barcelona: Icaria, p. 5-8; Montanyà, Miguel (2013): La respuesta de las élites: del “giro keynesiano” al volantazo neoliberal, in: Colectivo Novecento (ed.), Lo llamaban democracia. De la crisis económica al cuestionamiento de un régimen político, Barcelona: Icaria, p. 16-22. 2 Nugent, David (2008): “Democracy Otherwise. Struggles of Popular Rule in the

Northern Peruvian Andes”, in: Paley, Julia (ed.) (2008): Democracy. Anthropological Approaches. School for Advanced Research, S. 21-62, S. 56. entstand seit 15M ein konstituierender Prozess 3 , der dazu führte, dass die neuen politischen Akteure der munizipalistischen Bewegung in die öffentlichen Institutionen gewählt wurden, um diese zu demokratisieren. Die Demokratisierung umfasste die Herstellung einer neuen Institutionalität, das heißt öffentlicher Institutionen, die ein offenes, partizipatives Verhältnis der politischen Koproduktion zwischen Bürger*innen und Regierung schafften.

ZurNotwendigkeitneuerInstitutionen

15M forderte Mitspracherecht, das Recht auf Stadt und das Recht aufZukunft. Die Aktivist*innen bedienten sich existierender politischer Protestformen und aktivierten die Bürger*innen, Interaktionsformen zu kreieren, die die Realisierung dieser Rechte ermöglichten. Um neue politische Visionen zu entwerfen, wurden Versammlungen abgehalten, in denen jede*r zur Teilnahme ermuntert wurde und in denen es nur erlaubt war, für sich selbst und nicht repräsentativ für eine Organisation zu sprechen. 4 Mit Tarrowund Tillylassen sich die Protestformen während 15M auch als contentious politics verstehen, da die politischen Akteure auf bestehende Protestrepertoires zurückgriffen unddieseweiterentwickelten, umdadurchForderungenan die Regierung zu stellen. Abseits der Institutionen stritten ihre innovativen kollektiven politischen Handlungen die Legitimation der spanischen Regierung an. 5 Anstatt das bestehende politische System zu zerstören und auf den Trümmern dessen ein Neues zu errichten, wurde der Beschluss gefasst, dass es mit friedlichen Mitteln möglich sein müsste, Veränderung herbeizuführen. Diese Motivation liegt den neu entstandenen Bürger*innenplattformen zu Grunde, die nun Prinzipien partizipatorischer und radikaler Demokratie in den Institutionen implementieren möchten. Indem neue Formen politischer Repräsentation erarbeitetwerden, die die Mitsprache derBürger*innen als Ressource für politische Entscheidungen nutzen, um die unmittelbaren Lebensumstände in den Nachbarschaften zu verbessern, wird versucht, die Legitimation demokratischer Regierungen auflokaler Ebene wiederherzustellen. In Barcelona gründete sich zu diesem Zweck 2013 die Initiative Guanyem Barcelona (Wir gewinnen Barcelona) und später die Bürger*innenplattform Barcelona

3 Lorey, Isabell (2012): „Demokratie statt Repräsentation. Zur konstituierenden

Macht der Besetzungsbewegungen“, in: Lorey, Isabell (ed. et. al) (2012): Occupy!

Die aktuellen Kämpfe um die Besetzung des Politischen, Wien/Berlin: Turia+Kant,

S. 7-49, S. 11.

4

Corsín, Alberto/Estalella, Adolfo (2011): #spanishrevolution, AnthropologyToday, 27/4, p. 19-23, S. 19. 5 Tilly, Charles / Tarrow, Sidney (2015): Contentious Politics, Oxford University

Press, S. 7.

en Comú (im folgenden Text Bcomú), die 2015 kandidierte und wider Erwarten die Wahl gewann. Seither regiert sie mit einer Minderheitsregierung im Stadtrat und stellt mit Ada Colau, einer ehemaligen Aktivistin der PAH, 6 die Bürgermeisterin. Die meisten Mitglieder* und Aktivist*innen von Bcomú kommen aus sozialen Bewegungen und Nachbarschaftsvereinen. Einzige Ausnahme sind die Politiker*innen der Iniciativa per Catalunya Verds (katalanischen Grünen), die bereits Erfahrungen mit institutioneller Politik (katalanisches Parlament, Cortes Generales) gemacht haben. Diese machen aber nur einen geringen Teil von Bcomú aus. Bei dem Großteil der neuen politischen Akteure handelt es sich weder um professionelle Politiker*innen noch um Personen, die eine professionelle politische Karriere anstreben. Im Gegenteil, letzteres wird dezidiert ausgeschlossen. Die Aktivist*innen fühlen sich in den Institutionen als hätten sie ‚die Seite gewechselt‘. Sie, die nun die Regierung stellen, sind von der demokratischen Revolution in den Alltag öffentlicher Institutionen geschlittert und erleben dort nun nicht nur Erfolge, sondern auch die alltäglichen Enttäuschungen ihrer politischen Ideale und Erwartungen und jene ihrer Mitstreiter*innen. Es ist deutlich geworden, dass ein Großteil der politischen Arbeit auch den Umgang mit diesen Enttäuschungen umfasst und der tatsächliche Austragungsort demokratischerPraxis die Gegenwart ist. Ihre Politik der Allmende gründet nicht aufInteressen einzelner Gruppierungen, sondern aufder gemeinsamen Sorge um das Allgemeinwohl und kann auch als eine „anti-utopische, pragmatische Politik der Gegenwart“ verstanden werden. 7

ZurInnovationpolitischerOrganisation

Die ständige Frage innerhalb von Bcomú ist: Wie lassen sich politische Partizipation und Konsensbildung in die Entscheidungsprozesse integrieren? Wie muss das Verhältnis zwischen Bürger*innen und Institutionen, ob Rathaus oder Partei, organisiert sein, um dies zu bewerkstelligen? Wie ist es möglich eine neue Institutionalität zu entwickeln? Schon 2002 prognostizierten Rucht und Neidhardt das Entstehen einer ‚movement society‘, in der soziale Bewegungen eine zunehmend wichtige Rolle in (westlichen) Gesellschaften einnehmen würden. Dadurch würden klassische Strukturen nicht verdrängt, sondern vielmehr zusätzliche Formen politischer Organisation eingeführt. Das heißt, dass Bewegungen zunehmend Teil

6

Die PAH (Plataforma de Afectados por la Hipoteca) ist eine Initiative, die sich 2009 formierte, um sich für die Rechte von Hypothekenopfer einzusetzen und diese rechtlich, aktivistisch und psychologisch zu unterstützen. 7 Greenberg, Jessica(2014): Afterthe Revolution. Youth, Democracy, andthe Politics ofDisappointment in Serbia, Stanford University Press, S. 26ff. des institutionellen Apparats werden. 8. Ein Beispiel dafür ist die ‚movement-party‘ –eine politische Organisation, die versucht, traditionelle, hierarchische Parteistrukturen aufzulösen und diese mit den horizontalen Organisationsformen sozialer Bewegungen zu verbinden.9 Das heißt, es handelt sich um das Bestreben, gleichzeitig Bewegung und Partei zu sein. Eine Unternehmung, die auch unter den Aktivist*innen von Barcelona en Comú nicht immer als umsetzbar gilt. Jedoch lassen sich die von ihnen instituierten partizipatorischen Räume und Aktivitäten in Barcelona als Orte zur experimentellen Erarbeitung neuer Formen politischer Handlungsfähigkeit verstehen, die eine neue Institutionalität ermöglichen, politische Imagination und Auseinandersetzung fördern und damit als „Laboratorien alternativer Zukünfte“ 10 fungieren.

Der politische Innovationsdrang ist in der spanischen Linken eng mit dem Begriffder Feminisierung des Politischen verknüpft. Zentral ist die Umsetzung feministischer Politiken und somit die Forderung nach Diversität, gemeinsamer Verantwortung und Sorgeaktivität. 11 Die radikale Verwundbarkeit, Interdependenz und Mit-Verantwortung der Einzelnen wird als notwendiges und universelles Risiko in den humanen und post-humanen Relationen betrachtet –und dies in scharfer Abgrenzung von neoliberalen Ideen. Gefordert wird eine Ethik der Verantwortung, die nicht davon ausgeht, dass die Menschen autonom und selbsterhaltend sind, sondern voneinander abhängig, um zu überleben. Damit stellt die Sorgeaktivität dezidiert keine feminine, sondern eine zivile Tugend und eine öffentliche Pflicht dar. Zentral ist ein Begriffvon Mitbürger*innenschaft, der die Verantwortung gegenüber den gelebten Verhältnissen des Werdens übernimmt. 12 “Responsibility, then, is a matter of the ability to respond. Listening for the response ofthe other and an obligation to be responsive to the other, who is not entirely separate from what we call the self.“ Dieses Verhältnis des Relationalen soll lokal gelebt und institutionell umgesetzt werden. Wie also können traditionelle, hierarchische Parteistrukturen vermieden und stattdessen eine neue Ins

8 Rucht, Dieter/Neidhardt, Friedhelm (2002): „Toward a‘Movement Society’? On the possibilities ofinstitutionalizing social movements“, Social Movement Studies, 1:1, S. 7-30, S. 24.

9 Kate Shea Baird (2016): „How to build a movement-party: lessons from Rosario’s

Future City“, open democracy, 15.11.2016, https://www.opendemocracy.net/democraciaabierta/kate-shea-baird/how-to-build-movement-party-lessons-from-rosario-s-future-city, 15.11.2016. 10 Rose, Nikolas (1999): Powers ofFreedom. Reframing Political Thought, Cambridge

University Press., S. 279. 11 Galcerán, Montserrat/Carmona, Pablo (2017): „Die Zukünfte des Munizipalismus.

Feminisierung der Politik und demokratische Radikalisierung“, in: Die neuen Munizipalismen. Soziale Bewegungen und die Regierung der Städte, Hg. v. Christoph

Brunner, Niki Kubaczek, KellyMulvaneyund Gerald Raunig, Wien (u.a.): transversal texts, S. 105-112: 108.

12 Dolphijn, Rick/van der Tuin, Iris (2013): NewMaterialism: Interviews & Cartographies, University ofMichigan: Open Humanities, S. 52.

Radical Cities

titutionalität entwickelt werden? Mit dieser Frage rückt die Organisation politischer Repräsentation selbst in den Fokus und damit das Verhältnis zwischen jenen, die an entscheidungstragender Stelle sitzen und jenen, die das nicht tun.

Die Versammlung als Motor der Demokratisierung

Die Platzbesetzungen von 15M wurden auch als „sich entfaltende Landschaft von Versammlungen“ beschrieben. 13 Die Versammlung, asamblea, ist fester Bestandteil der politischen Organisation von Bcomú. Es gibt sie in jedem Bezirk und sie wird von vielen Aktivist*innen als wichtigste Innovation verstanden. Sie nimmt eine vermittelnde Rolle zwischen Bürger*innen und Aktivist*innen und jene, die in den Institutionen arbeiten, ein. Während meiner Feldforschungen in Barcelona 2016 besuchte ich regelmäßigdieVersammlungvonCiutatVella,derAltstadt Barcelonas, die alle 15 Tage stattfanden. Die Versammlung von Ciutat Vella findet in einem Nachbarschaftszentrum in El Gòtic statt, das Räume für verschiedene Initiativen, Vereine und politische Gruppen bereitstellt (z.B. CUP, 15M). Durchschnittlich nehmen zwischen 12 und 20 Menschen an den Versammlungen teil. Der Verlauf der Debatten ist durch eine Agenda festgelegt, die vorher online gemeinsam bestimmt wird. Ein paar Tagesordnungspunkte sind dabei feste Bestandteile, wie z.B. die sogenannte Rückkehr der Munizipalgruppe (retorn del grup municipal), bei der die gewählten Repräsentant*innen, zu der Versammlung ‚zurückkehren‘, um darüber zu berichten, was sich die letzten zwei Wochen ereignet hat.

Nach einerBeschreibungeines Mitglieds 14 versucht die Versammlung Augen, Ohren und Stimme der Organisation zu sein. Sie wird als eine Verlängerung des Rathauses gesehen. Jedochdientsie nichtals OrtfürPolitiker*innen, um Reden zu halten, sondern um Begegnung zwischen Bürger*innen, Aktivist*innen und Repräsentant*innen zu schaffen. Dabei ist es nicht notwendig Parteimitglied* zu sein, um teilnehmen zu können, und „du musst die Partei nicht einmal gut finden. Du kannst kommen und

13 Corsín Jiménez, Alberto/EstalellaAdolfo (2014): „AssemblingNeighbors: The City as Hardware, Method and “a Very Messy Kind ofArchive”, Common Knowledge, 20/1, S. 150-171, S. 151.

14 Zum Schutz der Informant*innen wurden alle anonymisiert. nörgeln und du wirst immer noch deinen Platz haben.“ 15 Jedoch gehen hier die Meinungen auseinander und andere sehen die Versammlung in erster Linie als Ort für konkrete Verbesserungsvorschläge und effektive politische Arbeit. Auch bezüglich des Zugangs zur Versammlung gibt es verschiedene Ansichten. So äußerte ein Mitglied der Versammlung, der auch Repräsentant im Rathaus ist, Bedenken, dain derVersammlungauch viele interne Themen der Organisation besprochen werden und die Teilnehmenden absolute Freiheit haben sich auszudrücken. Auch wenn es relativ einfach ist, Teil der Versammlung zu werden, ist es wichtig aufmerksam zu bleiben, um die interne politische Organisation nicht zu behindern. 16

Nichtsdestotrotz, durch die Rückkehr der Munizipalgruppe, ist die Partizipation und Präsenz der gewählten Repräsentant*innen ein permanenter Bestandteil der Versammlung. EinMitgliederzählte mir, dasserfrüher, wenn er ein*e Politiker*in des Rathauses treffen wollte, ein Formular ausfüllen und abgeben musste und die Politiker*in entschied, ob und für wann ein Treffen vereinbart wurde. Nun gibt es ein institutionalisiertes, regelmäßig stattfindendes Treffen innerhalb der regierenden politischen Partei, das es ermöglicht, problemlos persönlich mit der Repräsentant*in in Kontakt zu treten. „Das ist etwas, das kultiviert, erhalten und genährt werden muss“ 17 –damit verwendete er Wörter, die Wachstum bezeichnen, das Zeit braucht, um sich zu vollziehen und um das sich gekümmert werden muss. Die institutionalisierten Begegnungen von Bürger*innen und Politiker*innen ermöglichen so das Wachstum einer demokratischen Kultur über die öffentlichen Institutionen hinaus. Ein Wachstum, das sich nicht linear, sondern rhizomartig, entfaltet.

Die Versammlung ist eine Möglichkeit zwischen Bürger*innen und Regierung einen ständigen Austausch herzustellen und Entscheidungsprozesse zu öffnen. Allerdings ist die Umsetzung schwierig, da temporale Dissonanzen Unterschiede in den Zugängen zu Informationen bestehen. Das heißt nicht jede*r hat den gleichen Zugang zu Informationen, abhängig davon, ob die Person sich innerhalb oder außerhalb der Institution befindet. Außerdem verhalten sich die Geschwindigkeiten der Entscheidungsprozesse in der Institution und in der Bewegung konträr

15 Interview mit Mitglied der Versammlung von Ciutat Vella (Barcelona, 9.6.16). 16 Interview mit Mitglied der Versammlung von Ciutat Vella (Barcelona, 17.3.16). 17 Interview mit Mitglied der Versammlung von Ciutat Vella (Barcelona, 9.6.16).

zueinander: Während Entscheidungen in der Institution oft schnell fallen müssen, die Umsetzung sich dann aber über einen langen Zeitraum erstreckt, dauern Deliberation und Entscheidungen in der Bewegung relativ lang, wobei die Umsetzung dann recht schnell erfolgt. So beschrieben viele politische Akteure von Bcomú ihre Erfahrungen der rigiden institutionellen Strukturen des Rathauses als verhärtet, unbeweglich und dies in einem unvorhersehbaren Ausmaß. Ihrer Erwartung nach sollte die Bewegung die Institution erfassen und für sich einnehmen, anstatt dessen scheint die Institution die Bewegung zu schlucken.

AufgrunddieserKonfliktpotenziale wirdauchin Ciutat Vella eine konstante Debatte über die Rolle der Versammlung und das Verhältnis zwischen Bewegung und Institution geführt. Dabei werden Mängel an interner Demokratie und Kommunikation streng kritisiert und in Frage gestellt, inwiefern die Versammlung zum Rathaus gehört oder als unabhängige politische Einheit existiert. Letztlich sind die formalen Prozesse der Einflussnahme der Versammlung auf Entscheidungen in den Institutionen erst im Entstehen. Daher kommt es vor, dass sich Versammlungen übergangen oder nicht gehört fühlen, was zu internen Protesten führen kann. Auch wenn bestimmten Forderungen nachgekommen wird, zur Zufriedenheit unter den Mitglieder*n trägt dies nicht bei, solange nicht alltagstaugliche Kommunikationskanäle implementiert sind. Doch derständige Austausch zwischen den verschiedenen organisatorischen Ebenen verlangt einen erhöhten Energieaufwand gerade derjenigen, die sich im Rathaus befinden und bereits über Überforderung und Zeitmangel klagen. Außerdem ist es problematisch, dass die anderen Parteien der Stadtregierung eben keine Versammlungseinheit in ihren Parteistrukturen haben. Daher sind für andere Parteien die Versammlungen und was dort passiert bedeutungslos. Aktivist*innen von Bcomú hoffen daher langfristig strukturellen Wandel zu provozieren, indem sie die Rolle der Versammlung stärken und durch diesen partizipatorischen Organismus für Prozesse der accountability sorgen –um Repräsentant*innen in Rechenschaft ziehen zu können, aber auch selbst berücksichtigt zu werden (to take into account and to be taken into account 18 ).

Folglich existiert zwischen der Institution und den Bürger*innen eine zeitliche und räumliche Trennung, mit der durch Begegnung und Dialog zwischen

18 Paley, Julia (2004): „Accountable democracy: Citizens’ impact on public decision making in postdictatorship Chile“, American Ethnologist, 31/4, p. 497-513. Repräsentant*innen und Bürger*innen umgegangen wird. Demokratie ist daher nicht nur politisches System, sondern ebenfalls ein sozio-kulturelles Gefüge interaktiver Praktiken. Dabei will die munizipalistische Bewegung über bloße Formalia und quantitative Informationen hinaus, politisches Handeln wieder im Alltag etablieren. Langfristiges Ziel ist die Demokratisierung der Zivilgesellschaft und damit die Entwicklung einer demokratischen Kultur. Diese muss aus der Bürger*innenschaft selbst entstehen, um in der Tat demokratisch sein zu können, jedoch können öffentliche Institutionen ihr Entstehen unterstützen. Denn die Art des Regierens und der politischen Organisation der Regierung steht in Wechselwirkung mit der Gestaltung von Lebensstilen, Typen von Bürger*innen und des guten Lebens –kurz einem Modus der Existenz. 19

Daher sind eine Aktivierung von Bürger*innen, aufgeschlossene, lokalverankerte politische Repräsentant*innen und ein Management von Inkohärenz notwendig. Letzteres insbesondere deswegen, da die munizipalistische Bewegung keinem einheitlichen ideologischem Dogma folgt, sondern vielmehr Menschen aller politischer Façon umfasst. Die Politik der Allmende kümmert sich nicht um die Umsetzung einer fixen Ideologie, sondern um die Ermittlung des Gemeinwohls. Daher gibt es zum Erreichen des guten Lebens nicht einen vorgefertigten Lösungsvorschlag, sondern die gewagte Behauptung, Lösungen könnten in Gemeinschaft durch Dialog und Konsens fortwährend gefunden werden. Unabhängig von der politischen Ideologie, sozialer Herkunft und individueller Disposition, wollen die Aktivist*innen von Bcomú durch Versammlungen die Politikder Interessen, die unsere derzeitige Welt dominiert, fragmentiert und in die existenziellen Abgründe treibt, durch eine Politik der Allmende, des Gemeinwohls und der Gegenwart ablösen und damit die Art und Weise, wie über Politik und politisch gedacht wird, revolutionieren.

Kollektive Horizonte –Kollektive Zukünfte

Es ist ein Fehler von einer universellen Zukunft zu träumen. Es gibt viele Träume. Es gibt viele Zukünfte. Für viele Menschen, die von Leid, Vertreibung, Desas

19 Rose, Nikolas (1999): Powers ofFreedom. Reframing Political Thought, Cambridge

University Press, S. 283.

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ter und Krankheit betroffen sind, ist die größte affektive Realität jedoch eine Zukunft, die sich durch die Beschreibungen ständiger Krisen traumatisch auf die Gegenwart auswirkt. 20 Daher sind Vorstellungen von Zukunft oft mit Ängsten, Unsicherheiten und Ohnmachtsgefühlen verbunden. Um diese katastrophale Zukunft und damit auch die Gegenwart zu ändern, müssen Hoffnung und Zuversicht gestärkt und materielle Umstände umgestaltet werden. Um dies zu erreichen, müssen wir uns neue Vorstellungen davon machen, wie das Leben aufder Erde sein kann und ebenso beginnen wieder daran zu glauben, dass Veränderung möglich ist. Imagination ist eine vitale Ressource in allen sozialen Prozessen und Projekten, 21 die politisches Handeln als eine aktive Kunst des Lebens ermöglicht. 22

Die Versammlung kann ein Ort dafür sein, um Mut zu politischerInnovation, zu Pragmatismus und zum Ausprobieren neuer Formen des Zusammenlebens zu sammeln. Dadurch treten die Teilnehmenden dem gezielten Ausmerzen ihrer Hoffnungen durch die derzeitige Politik der Deregulierungund Prekarisierungentgegen, gestalten Zukunftsvorstellungen und kollektive Horizonte, die wiederum die Basis für kollektive Erwartungen und Handlungen bilden. 23 Menschen sind future-maker, die sich durch die Fähigkeit auszeichnen, nach etwas zu Streben und sich Wege zur Erfüllungihrer angestrebten Ziele auszudenken. Hierdurch wird auch der Status Quo in einer Gemeinschaft stetig ausgehandelt. 24 Auch wenn derzeit die Regierenden den Status Quo mit allen Mitteln aufrechterhalten wollen und ihn als einzige Alternative darstellen, ist dieser keinesfalls ‚natürlich‘ und ‚immer schon‘ gegeben. Ganzim Gegenteil: Es gibt sie noch, die Utopien einer besseren Welt. Jedoch sind sie nur der erste Schritt

20 Appadurai, Arjun (2013): The Future as Cultural Fact. Essays on the Global Condition, London/New York: Verso, S. 299.

21 Ebda., S. 287.

22 Rose, Nikolas (1999): Powers ofFreedom. Reframing Political Thought, Cambridge

University Press, S. 283. 23 Appadurai, Arjun (2013): The Future as Cultural Fact. Essays on the Global Condition, London/New York: Verso, S. 180.

24 Ebda., S. 286. in Zukünfte eines besseren Lebens, denn sie dienen allein zur Anregung und Reaktivierung unserer Vorstellungskraft. Notwendiger ist es, neue, pragmatische Dispositive für die Gegenwart zu erdenken, Praktiken, die unser gegenwärtiges Zusammenleben als gutes Leben gestalten. Dadurch werden historisch geformte Grenzen politischer Imagination überwunden 25 und neue Formen politischen und sozialen Handelns lokal ermöglicht.

DasRechtaufZukunftrealisiertsichinderGegenwart. Future-maker sollten eine Politik machen, die pragmatisch und von der Sorge um die gegenseitigen Bedürfnisse angetrieben ist. Indem wir uns Zukünfte vorstellen, die für möglichst viele Menschen ein gutes Leben bedeuten, gelingt es auch, sich Wege auszumalen, um diese erreichen zu können. Diese Politik konstituiert eine demokratische Praxis, die die Erwartungen und Herausforderungen der Gegenwart sowie deren implizite Widersprüche handhabt. Daher handelt es sich um eine anti-utopische Politik, die nicht aufgrund einer bestimmten Ideologie verspricht in einer absehbaren Zukunft die perfekte Gesellschaftzukreieren. Viel eherbegründetsie sichaufdem alltäglichen Miteinander und ist daher immer schon antithetisch. Unsere politischen Institutionen müssen diese pluralen Lebensrealitäten in ihre administrativen Logiken inkorporieren und ein Verständnis von Demokratie reflektieren und praktizieren, das von ethischen Prämissen und einem Sinn für das Gemeinsame ausgeht. Vor allem aber braucht es Hoffnung, Engagement und die Fähigkeit, sich andere Zukünfte vorstellen zu können, um diese auch zu erreichen.

25 Ebda., S. 279.

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