ABENTEUER JOACHIM HELLINGER UND THOMAS WITT
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HIGH LIFE USA UND BRASILIEN
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In seiner Wahlheimat Utah findet der beste und wagemutigste Slackliner der Welt immer neue Wege, seinen Lebensstil mit anderen zu teilen. Die neueste Errungenschaft von Andy Lewis: das Space Net, das Menschen 150 Meter 端ber dem Boden zusammenbringt.
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100 HIGH LIFE
Unbewusst schleppt Andy Lewis diese Idee bereits
Wettbewerbe und hievte die Sportart durch seine
seit seiner Kindheit mit sich herum. »Ich liebte da
Ideen und durch seine Ausstrahlung, im wahrsten
mals schon Hängematten«, sagt er. Genauso liebte
Wortsinn, auf ein höheres Level. Er spannte sei
er es damals auch, Bäume zu
ne »Highlines« in Rio, in Bangkok oder im Yose
besteigen. Und so hingen die
mite National Park, und als ob die Szenerie nicht
Hängematten seiner Jugend
schon spektakulär genug wäre, lässt er sich stets
meist irgendwo weit oben,
etwas Zusätzliches einfallen. Im Sommer 2014 ging
nahe der Krone. Das hatte
er zum Beispiel auf einem Seil, das auf 1200 Me
ganz nebenbei den Vorteil,
tern Höhe zwischen zwei Heißluftballons gespannt
dass ihn niemand fand, wenn
war. Ansonsten geht er auch gerne mal nackt. Ei
er mal wieder nicht in die
nen Auftritt vor einem Milliardenpublikum hatte er
Schule gegangen war.
auch schon: 2012 trat er auf Einladung Madonnas
S . 9 6 / 9 7 Ob in der Wüste von Moab (Utah) oder zwischen den Häu serschluchten Rio de Janeiros ( S . 9 8 / 9 9 ) – SlacklineProfi Andy Lewis bringt der Blick in die Tiefe nicht aus dem Gleichgewicht.
Das Bild von einer Hänge
in der Halbzeitshow des Super Bowl auf – angezo
matte weit über dem Boden –
gen. In der Zwischenzeit hat sich Lewis zudem als
es beschreibt den Gemütszustand von »Sketchy«
Basejumper und gelegentlicher Bergsteiger her
Andy Lewis recht gut: das Leben aus einem an
vorgetan. Mit der Gruppe Moab Monkeys lebte er
deren Blickwinkel genießen. Und chillen inmitten
diese drei Hobbys besonders ausgiebig aus.
einer idyllischen Gefahr, die man sich selbst ge
2014 kam Andy seinen Kindheitserinnerungen
schaffen hat. »Sketchy« bedeutet unter anderem:
mit einer weiteren Idee nahe. Alles begann damit,
grenzwertig, kaum noch zulässig.
dass er zusammen mit einem Freund ein knapp 40
Andy Lewis wird auch
Quadratmeter großes Netz
Mr. Slackline genannt, er
flocht. Dieses hängten sie
ist so etwas wie der Neil
dann zwischen zwei Bäu
Armstrong dieser Sportart,
men auf – im Prinzip war es
die er selbst als Lebensein
beides, eine Slackline und
stellung, »Slacklife«, be
eine
zeichnet. Ein Pionier, der
gefiel die Idee, auf diese
mit seinen vielen kleinen
Weise Menschen wie bei
Schritten und Kunststücken
einem Lagerfeuer zusam
auf dem Seil schon weit
menzubringen.
rumgekommen ist. Obwohl
die ähnliche Werte haben:
er erst 2004, mit 18, zum
Freiheit, Freundschaft, Ver
ersten Mal auf einem Seil
trauen; die sich, wenn es
stand. Doch schnell ge
drauf
wann er alle bedeutenden
trieren können und ihren
Kleines Equipment, große Aussichten. Mit etwas Geschick lässt sich überall eine Slackline spannen.
Hängematte.
Andy
Menschen,
ankommt,
konzen
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Andy Lewis
1986 in Kalifornien geboren, hat er den SlacklineSport entscheidend weiter entwickelt. Mit seinen Tricks dominierte er jahrelang die internationale Wett kampfszene. Andy beherrscht sämtliche Spielarten vom Tricklining bis hin zum Free Solo und hält mehrere Weltrekorde. Mit dem »Slacklife« hat er seine eigene Lebensphilosophie geschaffen.
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»Regeln und Vorschriften, um Risiken komplett aus unserer Gesellschaft zu verbannen, sind lächerlich.« Sketchy Andy
zu einem Zentrum des Slack lifeUniversums. Das große Loch in der Mitte des Space Net war für die Basejumper. Das Laufen auf den Seilen ist schwieriger als auf einer nor
S . 1 0 4 / 1 0 5 Eine Woche hing das rund 50 000 Dollar teure Space Net über dem Canyon. Einige der etwa 250 Besucher übernachteten sogar im Netz.
malen Slackline. »Man spürt ja alle Bewegungen der Leu te, die auf dem Netz sitzen«, sagt Andy Lewis. Es gab nur wenige, die beide Bestimmungen dieses
Körper beherrschen; die vielleicht auch die Sucht
Netzes nutzten, Sketchy Andy war natürlich einer
nach Adrenalin teilen, nach dem letzten Kick. Men
von ihnen. Und setzte noch einen drauf: Er landete
schen, deren Wege sich aber eigentlich nie kreu
mit einem Paraglider im Netz.
zen: Basejumper und Highliner. Über 200 Menschen
»Ich hatte davor keine Ahnung, ob es funkti
halfen mit, diese Idee zu ver
onieren würde«, sagt Andy. Umso mehr freute
wirklichen. Am Ende hing ein
er sich über das Gemeinschaftsgefühl, das das
fünfeckiges, 185 Quadratme
Netz mit sich brachte. »Es war eine große Par
ter großes Space Net gut 100
ty, aber auch eine Gedenkfeier«, so Lewis. Denn
Meter über dem Boden eines
Ende 2013 hatte er seinen guten Freund Daniel
Tals namens Fruit Bowl in der
Moore, ein Mitglied der Moab Monkeys, bei einem
Wüste von Utah.
Basejump verloren.
S . 1 0 2 Andy Lewis 850 Meter über den Dächern von Rio de Janeiro. So gehen lassen kann man sich nur, wenn man weiß, wie man auch wieder auf die Slackline hochkommt.
Eine Woche lang hing es dort und wurde in dieser Zeit
Inzwischen träumt Sketchy Andy von einem neuen Netz, gespannt über einem kleinen See.
BRASILIEN Wer rund um Rio de Janeiro Highlinen oder Basejumpen will, muss erst mal gut klettern können. Der Zustieg zu einigen Spots ist auch aus anderen Gründen heikel: Der Weg führt durch Favelas, illegale Siedlungen an den Berghängen rund um die Stadt, deren Kriminalitätsrate sehr hoch ist.
USA Moab in Utah, rund 200 Kilometer südöstlich von Salt Lake City, gilt als eine der Hauptstädte für Slackliner, insbesondere Highliner. 20 Kilometer weiter westlich, am Hell Roaring Canyon, sprang im Jahr 2008 der erste Basejumper von einer Highline in die Tiefe.
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PASSION FREIHEIT
ABENTEUER ANGST
GLÜCK FLOW
GRENZEN STILLE AUSDAUER
VERTRAUEN FREUNDSCHAFT
RISIKO
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GIPFEL DER GEFÜHLE PAKISTAN
KO P FZ E I L E B L I N D 1 8 5 Als die S체dtiroler Bergsteigerin Tamara Lunger den 8611 Meter hohen K2 im Jahr 2012 zum ersten Mal aus der N채he betrachtete, konnte sie sich nicht vorstellen, diesen Berg jemals zu besteigen. Doch dann kam alles anders als gedacht.
186 GIPFEL DER GEFÜHLE
S . 1 8 4 / 1 8 5 Von der Flanke des K2 in 7700 Metern Höhe blickt man direkt auf den Broad Peak. Weiter hinten liegt der Concordiaplatz, wo der Baltoro- und der Godwin-Austen-Gletscher zusammenfließen.
»Ich denke nicht, dass ich mal auf diesen Koloss steigen werde. Ich glaube, der ist mir eine Nummer zu groß.« Das schoss Tamara Lunger durch den Kopf, als sie den K2 zum ersten Mal vor sich sah. Damals, 2012, stand sie auf dem Concordiaplatz im Karako-
rum. Sie hatte den Mustagh Ata (7509 Meter)
Tamara Lunger
bestiegen und bereitete sich auf den Broad Peak (8051 Meter) vor. Doch das 8611 Meter hohe Massiv des K2 löste ein beklemmendes Gefühl in ihr aus.
wurde 1986 in Südtirol geboren. Nachdem sie klassi-
2010 hatte sie als jüngste Frau den Lhotse (8516
sche Sportarten ausprobiert hatte, begann sie 2002
Meter) bezwungen. Doch obwohl der K2 nur knapp
mit dem Skitourengehen und nahm an vielen Wett-
95 Meter höher ist, spürte sie, dass sie mit 26 Jah-
kämpfen teil. Mittlerweile sucht sie ihre Herausforde-
ren für diesen Berg noch nicht bereit war.
rungen als Bergsteigerin im hochalpinen Gelände.
Der K2 gilt als der gefährlichste unter den Achttausendern. Über 80 Bergsteiger ließen hier bereits ihr Leben. Viele stürzten im Bottleneck, ei-
während des Trekkings begann Tamaras Achilles-
nem eisigen Engpass in 8200 Metern Höhe, oder
sehne empfindlich zu schmerzen, dann schälte
auf der Traverse.
sich ihr Gesicht tagelang nach einem starken Son-
»Zehn Tage hast du noch Zeit, um dich für den
nenbrand und von der Anstrengung bildeten sich
K2 entscheiden.« Als Tamara im Frühjahr 2014
juckende Wasserbläschen zwischen Fingern und
diese SMS von Giuseppe Pompili erhielt, war gera-
Zehen. Es verging fast ein Monat, bis sämtliche
de die Beziehung zu ihrem Freund zerbrochen und
Schmerzen nachließen.
sie an einem persönlichen Tiefpunkt angelangt.
Im Basislager am Concordiaplatz dauerte es
Der K2 kam ihr gerade recht. Sie brauchte eine
nicht lange, bis Tamara auf die sterblichen Über-
Aufgabe, die ihre volle Aufmerksamkeit erfordern
reste abgestürzter Bergsteiger stieß: Körper, die
würde, und so machte sie sich gemeinsam mit Ni-
der Gletscher an seinem Fuße wieder ausgespuckt
kolaus Gruber aus dem Ultental auf den Weg nach
hatte, zum Teil im Zustand der Verwesung, auch
Pakistan: ein Weg mit Hindernissen, vor allem be-
Knochen lagen herum. Doch dieser Anblick brach-
vor es richtig losging.
te Tamara nicht mehr an psy-
Zwar waren die beiden eine unabhängige Ex-
chische Grenzen wie noch
pedition, sie teilten sich aber das Permit für den
vor vier Jahren, als sie am
Berg mit einer internationalen Gruppe. Erst nach-
Lhotse zum ersten Mal einen
dem sie tagelang vergeblich auf die anderen
toten Bergsteiger gesehen
Bergsteiger gewartet hatten, gestattete ihnen das
und am Cho Oyu bei der Ber-
Militär, allein zum Basislager zu wandern. Doch
gung des Italieners Walter
Unterhalb von Lager 4 auf etwa 7850 Meter führt ein gut gespurter Weg in Richtung Gipfel. Esel und Maultiere bringen die Ausrüstung ins Basislager.
O b e n Tamara auf 8200 Meter beim Abstieg vom Gipfel. U n t e n Seilpartner Klaus Gruber schmilzt Wasser in Lager 1 auf 6000 Meter.
O b e n Bill’s Chimney ist wohl der anspruchsvollste Abschnitt auf der Abruzzi-Route. U n t e n Basislager bei Nacht auf 5200 Meter.
190 GIPFEL DER GEFÜHLE
Kurze Verschnaufpause auf 7650 Meter: Tamara Lunger und Klaus Gruber konnten am K2 das perfekte Wetterfenster abpassen.
Nones geholfen hatte. Sie
Rucksack, der sich erst ab
hatte sich von ihren Ängsten
Lager
befreit: »Das lass seine Le-
zwang Tamara immer wieder
bensgeschichte sein, aber du
in die Knie. Sie war erschöpft
gehst da rauf – und wieder
und ausgelaugt.
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merklich
leerte,
S . 1 9 2 / 1 9 3 Blick auf den Payu Peak und den Uli Biaho Tower. Das Bild entstand während eines TrekkingZwischenstopps auf dem Rastplatz Urdukas am Südrand des Baltoro-Gletschers.
Das Lager 4 lag 700 Meter unterhalb des Gip-
runter!« Sie würde hier nicht
fels. Er war fast greifbar. »Freude, Glück, Respekt,
sterben, nicht am K2. Klaus und Tamara errichteten ihr Lager 1 auf
Angst – ich befand mich in einem Gefühlschaos.«
6000 Meter, trotz Steinschlaggefahr, starkem
In der Nacht vor dem letzten Aufstieg tat Tamara
Wind und wenig Platz. In den nächsten Tagen stie-
kein Auge zu. 20 Minuten nach Mitternacht brach
gen sie zur Akklimatisierung immer wieder auf
sie gemeinsam mit Klaus auf. Obwohl die anderen
und ab: erst über felsige Abschnitte, senkrechte
Bergsteiger lange vor ihnen gestartet waren, hol-
Wände ins Lager 2 (6700 Meter), dann zurück ins
ten die beiden sie ein. In der großen Gruppe ging
Basislager. Wie schon bei früheren Expeditionen,
es kaum noch vorwärts. Als das Gelände es end-
wollte Tamara den K2 ohne zusätzlichen Sauer-
lich zuließ, konnte Tamara die langsameren Berg-
stoff und ohne Träger schaffen.
steiger überholen, etwa 300 Meter unterhalb des
Am Lager 3 (7300 Meter) war der Wind eisig,
Gipfels. »Nicht stehenbleiben«, sagte sie sich im-
die Temperaturen kaum auszuhalten. Schon nach
mer wieder, sie ließ Klaus weiter zurück. Das Ziel
einer Nacht entschieden sich Tamara und Klaus
war so nah, dass sie sich keine Pause gönnte –
zum Abstieg. Es hatte keinen Sinn, länger in der
auch aus Angst, im Sitzen einfach einzuschlafen.
Kälte auszuharren. Einige Tage mussten sie im Ba-
Sie erreichte den Gipfel um 15 Uhr des 26. Juli und
sislager auf das nächste Gut-Wetter-Fenster war-
genoss einen unglaublichen Moment Glücksge-
ten, doch am 23. Juli um 4 Uhr früh konnten sie
fühl. Zum ersten Mal seit Langem war sie wieder
endlich den Gipfelversuch starten. Ihr schwerer
bei sich selbst angekommen.
CHINA Gilgit
Karakorum K2 (8611 m)
A F G H A N I S TA N
Nanga Parbat (8126 m)
Broad Peak (8051 m)
Gasherbrum 2 (8035 m)
Islamabad PA K I S TA N INDIEN PA K I S TA N Der K2 liegt im Karakorum auf der Grenze zwischen Pakistan und China, im pakistanischen Sondergebiet Gilgit-Baltistan. Weil mehr als die Hälfte der Gebirgsfläche über 5000 Meter liegt, wird das Karakorum als das höchste Gebirge der Welt bezeichnet.