ESfebruar/april

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TOT EN T ANZ NR.5/TOTENTANZR FÜNF TOTENTANZ


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IN HA LT


VORWORT S.05_ DER TOTENTANZ S.11_ „EVERYBODY :TANZ MIT DEM TOTENTANZ” S.33_ ZYKLUS S.45_ SCHRIFTREIHEN S.54_ MIT: ECKEHARDT KLEINE / ANTONIA SPOHR / CSH / ELVIRA LAUSCHER / PETER ZWEY / SUNNY ERIKSON DEAD POEMS S.77_ MIT: GÜNTER HESS/ MARCO KERLER /ANDREAS GRYPHIUS_ KOLUMNE S.87_ ULMORBID S.89 IMPRESSUM S.93_ BILDBEITRÄGE VON MARK KLAWIKOWSKI UND TUXURAN


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BASLER TOTENTANZ JOHANN RUDOLF FEYERABEND


»EIN VORWAND, DAS WELTENGESCHEHEN UNTER DER HIMMELSKUPPEL. WAS BLEIBT AUF EWIG BESTIMMT ALLEIN NUR, DAS SCHÖNE WORT.«

[FREI NACH EINER WEISHEIT

AUS DER TÜRKISCHEN DIVAN-LITERATUR]

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VOR WORT

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nein wirklich; dies ist und soll nicht die erste ausgabe dieses jahres sein. ansatzpunkte sind die reinste anmaßung. gibt es überhaupt „die stunde null“? vielleicht sollte man tatsächlich anfangen, die gegenwart einem weit gespannterem zeitkontinuum entgegenzustellen und die dinge in dessen angesicht zu betrachten. schließlich ist es letztendlich die weitsicht und das bewusstsein der vorangeganenen jahrtausende und das darin enthaltene wissensgeflecht, das uns zu besseren menschen machen kann. jedoch: schreiten wir mit den jahren wirklich etwa voran oder stagnieren wir immer mehr in einer zeitschleife und begehen dieselben fehler wie andere kulturen vor ihrem zerfall? die dinge werden nicht wahrer, wenn sie es vorher nicht schon waren. man vernimmt dieselben klagen: die gleichen imperien, die gleichen rebellen. was sich ändert, sind lediglich die namen, die in stein gemeißelten oder auf papyrus geschriebenen hieroglyphen oder eben heutige schlagzeilen. bedarf es etwa einer neuen grundidee ...? wohl kaum, weil alles wissen schon „ist“. was jedoch zu sagen

bleibt, ist die tatsache, dass die großen geister, wenn überhaupt, leider nur zitiert werden. man versteckt sich doch tatsächlich allzu gern hinter namen, fern davon, sie gewissenhaft in unsere zeit zu retten und zu übersetzen. es scheint manchmal sogar, je weiter wir uns voran bewegen, umso vergangenheitsorientierter werden wir. also bleibt die frage offen: entwickeln wir uns weiter? oder verstehen wir es nur, uns besser von der misere abzulenken? wir ignorieren sogar unsere ignoranz gegenüber der restlichen welt. wir führen zum beispiel krieg. wir, das gezeichnete kind. die tatsache verneinend, dass es keinen feind gibt. und wer in gottes, kants oder lessings namen hinterfragt? ablenkung scheint das große stichwort zu sein. ablenkung, indem wir uns vorgekaute, multimediale identitäten aneignen, um damit unsere existenzberechtigung zu nähren. schiller sagte es, und doch verfangen wir uns. sind nicht kind, sondern sklave unserer zeit. eine mondäne gesellschaft ist lediglich zu einem begriff abwegiger schmuddel-literatur verkommen. „das wort als die manifestation der geistesgröße“, wie


es hesse zu sagen pflegte, scheint wie eine virulente krankheit mit anglizismen zerfressen zu werden. da niemand position und zum „wort“ stellung bezieht, besteht somit auch keine freiheit, lediglich ein unterschied in der unfreiheit. die menschheit im kollektiv kann frei sein, nicht aber der einzelne mensch. man wägt sich dennoch frei und in sicherheit, weil die stadtwerke ulm salz und kies auf den glatten asphalt streuen. dabei sollte man als anständiger bürger darauf bestehen, auszurutschen, zu stürzen. dem nullpunkt entgegen zu lechzen. den kontrabass imitierend, jenes instrument, durch dessen gegenwart jede symphonie erst an fallhöhe und tiefe gewinnt. den raum öffnend. wie kann man also die zügellose ambivalenz verstehen, ohne auf raucherzimmer in anstalten angewiesen zu sein? vielleicht sollte man alles verneinen. sich den umständen und sich selbst gegenüber entfremden, bis hin zur selbstverleumdung - sich zumindest nicht allzu ernst nehmen. man nimmt sich doch zu sehr wichtig in anbetracht der tatsachen. schlichtweg: sich hinsichtlich der egozentrik abtöten, um

erst dadurch den dingen klarer in die augen sehen zu können. ein verweis auf die zen-philosophie ist unumgänglich: „leere und schweigen gehören zum tun des erwachten". im schatten dieser erkenntnis liegt der altruismus nahe. verzicht auszuüben. fern von jeglichem anspruchsmandat. loszulassen, um sich somit wahrhaftig für immer einzufangen. ES’sche grüße, wir freuen uns.

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ALBRECHT DÜRER-DIE APOKALYPTISCHEN REITER


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1. Überblick

s wird angenommen, dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, das sich seiner Sterblichkeit bewusst ist. So hat er sich zu allen Zeiten und in allen Kulturen mit dem Tod beschäftigt und dabei rationale Einsichten gesucht, aber auch zahlreiche Phantasiebilder hervorgebracht. Im Mithraskult wurde der Tod als Schwelle in eine bessere Welt angesehen. Das frühe Judentum bis zum Propheten Daniel (um 160 v. Chr.) sah in dem Tod das absolute Ende: »Ob ich gleich lang harre, so ist die Unterwelt mein Haus. Die Verwesung heiße ich meinen Vater und die Würmer meine 1 Platon (427–347 v. Chr.): Mutter und Schwestern.« (Hiob 17, 13f). Kernstück seiner Philosophie ist die Im Buddhismus ist der Tod der Eingang Ideenlehre, nach der die sinnlich in das leidensfreie Nirwana. wahrnehmbare Welt einer unsichtbaren Platon 1 betrachtete den Tod als Trennung Welt der Ideen nachgeordnet ist. zwischen Leib und Seele. Dieser Zustand war für ihn ein Ideal, nach dem die 2 Epikur (341–270 v. Chr.): Ausgehend Philosophen im Diesseits streben, von der Annahme, dass sich die Seele wie wenn sie die reine Erkenntnis suchen, der Körper mit dem Tode auf löst, entdie losgelöst von den Körpern ist. wickelte er eine auf das Diesseits bezogene Epikur 2 soll von einem vollständigen Gehedonistische Lehre, die eine Seelenruhe gensatz zwischen Leben und Tod ge(Atarxie) zu Lebzeiten als Ziel formuliert. sprochen haben: »Mit dem Tod habe ich nichts zu schaffen. Bin ich, ist er nicht. Ist 3 Søren Kierkegaard er, bin ich nicht.« Seiner Lehre zur Folge (1813–1855): dänischer Philosoph zerstreuen sich die Seelenatome wie die und Theologe, der vielfach als ersAtome des Leibes, wenn der Mensch ter Existenzphilosoph gilt. stirbt. Die Seele als solche lebe nicht weiter. In der Existenzphilosophie hat Søren 4 Karl Jaspers (1883–1969): Kierkegaards 3 den Tod als Endpunkt in: »Philosophie II«, S. 203. der Krankheit angesehen. Karl Jaspers sah den Tod als »Grenzsituation des Lebens 5 Ernst Bloch (1885–1975), schlechthin« 4 und Ernst Bloch rätselte: in: »Geist der Utopie«, »Zwar wir leben, aber wissen nicht wozu. (München, 1918), S.143 Wir sterben und wissen nicht wohin.« 5


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6 Jean-Paul Sartre (1905–1980) in: »Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie« (Hamburg 1993), S.920/928

7 Sigmund Freud (1856–1939): in: »Das Unbehagen der Kultur« , (Frankfurt, 1994), S. 82

8 Carl Gustav Jung (1875–1961) in: »01.02.45, Briefe I«, S. 56

Er verstand diesen Trieb nicht im bioloFür Jean-Paul Sartre 6 bricht der Tod gischen Sinne, sondern beschrieb ihn von außen in das sich Entwerfende und gerade als für gewöhnlich stumm und in seine Möglichkeiten realisierende Sein unsichtbar. Für Freud ist das Ziel des Menschen ein. Der Mensch erfährt nie, allen Lebens der Tod. Das Unbewussob sich das Universum um ihn herum so te hielte sich für unsterblich, muss sich verändert hat, dass der Tod näher gerückt aber im Bewusstsein seiner Selbsterhalist oder sich entfernt hat. Tod ist für ihn tung Destruktivität und Aggressivität Schicksal, die »Enthüllung der Absurdität als Folgen des Todestriebes erwehren, jedes Wartens«. »Wenn wir sterben müssen, hat sie verleugnen oder vermeiden. Er stellunser Leben keinen Sinn, weil seine Probleme te die Hypothese auf, dass daher nur die ungelöst bleiben und weil sogar die Bedeutung Aggressionen des anderen, aber nicht der Probleme unbestimmt bleiben.« 7 Da der des Selbst erkannt werden könnten. Tod außerhalb der Möglichkeiten des Subjektes liegt, ist er die äußere faktische Carl Gustav Jung betrachtete das Leben als Grenze der Subjektivität, er liefert den Prozess zur Individuation, den BewußtMenschen einer objektiven Bedeutung aus. werdungsprozess, nicht nur als eine Schule Auch Albert Camus (1913–1960) betrachdes Lebens, sondern eine Vorbereitung auf tete die Gewissheit des Todes als auch den Tod. Diese Vorbereitung ist bei ihm die Existenz als eine Erfahrung der Abkeine ohnmächtige Fügung, sondern ein surdität. Er beschreibt den Menschen als sich-hingeben. »Nur das ist schwierig, sich zu ohnmächtig und versucht in der Erfahlösen, nackt zu werden und leer von Welt und rung des Absurden einen Sinn zu sehen, Ich-Willen. Wenn man den rasenden Lebenswillen der letztlich vom Tod zerstört wird. aufgeben kann, und wenn es einen vorkommt, als Sigmund Freud 7 spekulierte über einen fiele man in bodenlosen Nebel, dann beginnt das wahre Leben mit allem, wozu man gemeint war, Todestrieb, der das Leben zurück in einen und was man nie erreichte. Das ist etwas unausunbelebten, starren Zustand führen wolle. sprechlich Großes.« 8. Den Sinn des Lebens Es müsse »[…]außer dem Trieb, die lebende Substanz zu erhalten und zu immer größeren sah Jung in der stetigen Erneuerung aus Einheiten zusammenzufassen, einen anderen, ihm dem Alten, dem Wechselspiel aus Werden gegensätzlichen geben, der diese Einheiten aufund Vergehen. Jeder Mensch geht dabei zulösen und in den uranfänglichen, anorganischen seinen eigenen Weg: »[…]der Tod ist ein treuer Zustand zurückzuführen strebe.« Freud nahm Begleiter des Menschen und folgt ihm als seinen an, dass dieser Trieb »[…]stumm im Inneren Schatten. Man hat noch einzusehen, wie sehr des Lebewesens an dessen Auflösung arbeite.«7 . Lebenwollen = Sterbenwollen ist.« Im Jenseits des Lebens sah Jung eine Fortsetzung in Dieser Thanatos genannte Trieb arbeite dem einer Art Totenland, denn »[…]das Leben der Eros entgegen. Freud sah den Todestriebes Psyche bedarf keines Raumes und keiner Zeit.« in Formen des Sadomasochismus und in extremen Zuständen der Selbstzerstörung, Psychosen und Autismus sichtbar werden.


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9 Ernest Becker (1925–1974) in: »Die Überwindung der Todesfurcht«, (»The Denial of Death«, Olten, 1985), S. 49

Der Ethnologe Ernest Becker führte Gedanken von Kierkegaard, Freud und anderen über den Umgang mit dem Tod in »Die Überwindung der Todesfurcht« fort. Er beschreibt darin die Verdrängung des Todes über das Konzept des Heldentums. Zunächst beschreibt er einen Narzissmus als »Überbleibsel« der animalischen Natur des Menschen, der ihn dazu bringe, sich selbst für unentbehrlich zu halten. Die Gesellschaft stelle dabei ein symbolisches Handlungssystem mit Rollen, Sitten und Verhaltensregeln bereit, die dem Menschen dazu diene, sich zu »verwirklichen«. In diese kleine Heldenrollen eingebettet, die dem Dasein einen vermeintlichen Sinn geben, lernt der Mensch»[…]sich nicht zu exponieren, nicht aufzufallen, sich einzubetten in äußere Mächte sowohl konkreter Personen als auch kultureller Anforderungen[…]« 9 . Auf der Grundlage von »Die Überwindung der Todesfurcht« und Sigmund Freud entwickelten Solomon, Greenberg und Pyszczynski 1980 die »Terror Management Theory«. In dieser ist die Erinnerung an den Tod eine psychische Form des Terrors, den ein Individuum zu vermindern suche. Dabei hilft die Kultur, indem sie Sinn und Kontinuität stifte. Werden Menschen unmittelbar an ihre Sterblichkeit erinnert, so hielten sie sich enger an ihre kulturellen Werte und politischen Führer. Die Theorie erhielt erhöhte Aufmerksamkeit durch die Anschläge vom 11. September und der Wiederwahl von George W. Bush und Tony Blair.


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2. Zeichen des Todes

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eben der religiösen, Der Mensch hat sich demnach einen Begriff literarischen und von etwas gemacht und um diesen Begriff wissenschaftlichen zu kommunizieren, eine Bezeichnung Beschäftigung mit dem vereinbart; hier in Form von Wörtern, Tod gab es schon in der Phonetik der Sprache oder durch gemalte Antike Versuche einer Darstellungen z.B. auf einer Wand, wie bei Darstellung. Der Tod den frühen Totentänzen des Mittelalters. an sich ist nicht darstellbar, nicht erfahrDer Referent als dritter Teil des Zeichens ist bar und nicht nachvollziehbar. Er entzieht das Objekt oder der Sachverhalt in der Resich jeder näheren Betrachtung. Das alität, worauf über Signifikant und Signifikat Phänomen Tod wird ausschließlich über Bezug genommen wird. Es ist der Teil des Begleiterscheinungen sichtbar, wie einer Zeichens der die Bildung eines Begriffs geraden, durchgezogenen Linie auf einem erst motiviert, der über eine Bezeichnung 10 Semiotik [griech. techne semeiotike, ekg-Monitor, Totenflecken, Leichenstarre, kommuniziert wird. Der Referent enthält »Lehre von den Kennzeichen«] Verwesungsprozesse, also über Anzeichen als reales Objekt keine mitschwingenden der Erlöschung der Lebensfunktionen. (sprachlichen) Neben-bedeutungen, 11 Semiotisches Dreieck: Vorläufer sondern ist nur das »Ding« als solches. Semiotisch 10 betrachtet sind diese Zeichen des Dreierschemas in der Semiotik f inden Denotation 12 und Konnotation 13 als BeIndizes und der Tod tritt nur über diese in sich in der Sprachphilosophie der standteile eines Zeichens erfüllen entspreErscheinung. Ein Index ist ein direkter auf Scholastik, in res, intellectus und vox. chend wichtige Funktionen im Zeichen. Erfahrung beruhender, physikalischer In der Literatur des 19. und 20. Jhd. Verweis auf etwas anderes. Beispielsweise Beispielsweise ist das Wort »Abendstern« tauchen verschiedene Dinge unter zunächst eine Folge von Zeichen. Das Wort ist eine Rauchfahne am Himmel ein Index der Bezeichnung S. D. auf. Die Ecken selbst ist der Signifikant. Es bezeichnet das, für einen Brand oder ein grünes Fluchtdes Dreiecks sind dabei jeweils anders was wir uns unter Abendstern vorstellen, wegschild ein Index für einen Notausgang. bezeichnet. In Gebrauch sind u. a. Begriffe in diesem Fall einen Himmelskörper. Die Im folgenden wird die Zusammensetzung wie Extension [Signifikant] und Intension Vorstellung von Abendstern ist das Signifikat. eines Zeichens beleuchtet, die Besonderheit [Signifikat], oder nach Gottlob Frege: Herausgehoben wird neben der Denotation des Todes auf der Darstellungsebene Begriff [Signifikant]und Sinn [Signifikat]. »Venus« eine Eigenschaft der Venus, kurz weiter herausgestellt und schließlich ein nach Sonnenuntergang am Firmament zu Versuch einer Anwendung dieser Überle12 Denotat, Denotation erscheinen (Konnotation). Hinter dieser gungen auf die Totentänze unternommen. [lat. denotatum »das Genannte«]: ist ein Vorstellung steht der Referent »Venus«, der Kernstücke eines Zeichens in der Semiotik, Gegenstand oder Sachverhalt, der sich Planet als solcher ohne jegliche Konnoausgehend von Ferdinand de Saussure im Gegensatz zum Konnotat in der außertation. Die Venus als »Morgenstern« hebt (1857–1913) sind Signifikant, Signifikat und sprachlichen Wirklichkeit unabhängig von eine andere Eigenschaft heraus, verweist Referent, die an den Ecken des so genannten jeder Emotion mit einem Bild verbindet. jedoch auf den selben Referenten Venus. Semiotischen Dreickes 11 angeordnet werden. Der Referent ist selbst eine Form des Signifikats, Der Signifikant [»le signifiant«] ist nach 13 Konnotat, Konnotation: das selbst nicht mehr weiter abgeleitet Sassure der materielle Zeichenträger, Nach John Mill: »wenn es außer einem werden kann. Es ist das »letzte« Signifikat, das Bezeichnende, die Zeichenfolge t-o-d Gegenstand auch eine seiner Eigenschaften entsprechend ein »reines« Denotat . Vorsteloder auch die Figur Gevatter Tod in ihrer bezeichnet«.K. [lat. connotare »mit lungen sind jedoch nicht an »Vorhandenes« konkreten Darstellung. Diese Zeichen verbezeichnen«] ist der Wortinhalt neben dem gebunden, auch das Nicht-Vorhandene kann weisen auf eine bestimmte Vorstellung oder rein begriff lichen Inhalt (Denotat), der als »Lücke« zu einem imaginären Objekt Sache, auf die Inhaltsseite des Zeichens, emotionale Begleitvorstellungen trägt. die Signifikat [»le Signifé«] genannt wird.


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Die Idee des Nichts als Tod wird auch in einigen der Realität werden: Es sind Zeichen ohne Bildern der Popkultur aufgegriffen. Sie Referent. Sie verweisen auf die Leere, das zeigen eine Gestalt, die in der KostümieAbwesende, das Paradoxe, das Hypotherung und mit Sense ausgestattet an den tische. Sie finden sich in Bereichen der Mamittelalterlichen Sensenmann angelehnt thematik, Physik, Philosophie und Religion. ist. Unter der Kapuze klafft eine schwarze Beispiele sind das Nichts, Null, Vakuum oder Leere, an deren Stelle in den traditionellen die Leere. Der Tod lässt sich in diese Reihe Darstellungen der Totenschädel ist. In stellen. Sein Charakteristikum ist gerade dieser Form wird das Unsichtbare, Nichtdie Abwesenheit der Lebensfunktionen, vorhandene durch die übergeworfene die bei einem Lebewesen erwartet werden. Kapuze zu etwas Sichtbaren, Vorhandenen Dieses spannt den Bogen zu den genanngewandelt. In gewisser Weise ist darin ten Indizes des Todes: Sie verweisen auf das der Vorgang des Be-zeichnens enthalten, der nicht (mehr) Vorhandene. Es sind Indizes die durch die Erfindung eines Zeichens für ins Leere, ins Nichts führen, an die Stelle »Nichts« das Nichts in etwas scheinbar verweisen, an der sich vormals das Leben Vorhandenes umwandelt, es damit bannt geäußert hat. Es wird damit anschaulich, und kontrollierbar macht. Diese Bannung wie sich Vorstellungen um den Dualismus des Todes durch Bezeichnung in Form aus Körper und Seele herausgebildet von Darstellungen erfüllte für die Menhaben könnten: Das Leben verschwindet schen im 14. Jahrhuntert im Angesicht aus dem Körper und hinterlässt genauder Pest eine wichtige Funktion. Der Tod genommen eine leere Stelle und wirft die als konkretes Wesen, das in das Leben Frage auf, wohin das Leben gegangen ist. der Menschen eingreift, ist ein Hauptmerkmal der klassischen Totentänze.


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14 Konzil [aus lat. concilium »Versammlung«]: Versammlung von Bischöfen und anderen hohen Vertretern der katholischen Kirche zur Erledigung wichtiger kirchlicher Angelegenheiten.

2.1 Geschichte des personifizierten Todes

Unter dem Einfluss der Epikuräer fand das ugleich besteht zwiSkelett als Todessymbol bereits Eingang in schen dem Tod an sich die Darstellung. Anders als in der mittelalauf der einen Seite terlichen Symbolik stand es für die Erinneund seinen verschierung an die Verstorbenen und mahnte dardenen Zeichen, die auf an, den Tag zu nutzen (gemäß »Carpe diem«). »ihn« verweisen, wie Das aufkommende Christentum verdrängte z.B. den Buchstaben zunächst die Darstellung des Todes. Eine t-o-d, der personifizierten Gestalt in den explizite Todessymbolik war im frühen Darstellungen oder als Laut der Sprache Christentum noch nahezu unbekannt. auf der anderen Seite kein zwingendes Erst um etwa 1000 n. Chr. Initiierte die Verhältnis. Es handelt sich bei allen Zeichen klösterliche Erneuerungsbewegung eine des Todes immer um Symbole. Ein Symbol ist Veränderung des Verhältnisses zum Tod, ein Zeichen, bei dem zwischen Signifikant das sich in gesteigerter Frömmigkeit und und Signifikat ein arbiträres, auf KonvenHeilsangst und in der intensiveren Auseintionen beruhendes Verhältnis besteht. andersetzung mit dem jüngsten Gericht Das bedeutet, dass das Bezeichnete durch und der Macht des Teufels niederschlug. ein beliebiges Zeichen bezeichnet wird, Die Darstellungen des Todes im Christentum auf das sich die Kommunzierenden geeierhielten möglicherweise mit der Forderung nigt haben. Grundsätzlich kann der Tod des Konzils 14 von Konstantinopel im als Symbol also jede Gestalt annehmen. Entsprechend verwenden andere Sprachen 10. Jahrhundert, das Göttliche vermenschandere Zeichen oder Zeichenfolgen, die licht dazustellen, einen entscheidenden dasselbe bezeichnen. Der Tod begegnet Vorschub. Im Kontext des sich veränuns in seiner ikonografischen Geschichte dernden Umgangs mit dem Glauben ging auch dadurch in vielen Gestalten. daraus ein Wendepunkt der Theaterkultur In der griechischen Kunst der Antike unter hervor. In Passions- und Mirakelspielen um dem Einfluss Platons wird das Problem die zentralen christlichen Feste Weihnachder Darstellungsweise des Todes umganten und Ostern erschien das »Göttliche« gen, indem statt des Todes selbst der Gott durch Schauspieler personifiziert auf der des Todes Thanatos dargestellt wird, der Bühne. Neben anderen betreten Tod und mit dem Tod gleichgesetzt wurde. Hesiod Teufel nun die Bühne als handelnde Wesen. beschreibt Thanatos als Gott der »ein eiserners Herz« hat und einen »ehernen, erbarmungslosen Sinn« zeigt. Er wird als Jüngling mit einer nach unten gerichteten Fackel gezeigt. Er trägt äußerlich keinerlei Anzeichen des Todes. Sein Zwillingsbruder Hypnos (Gott des Schlafes) hält seine Fackel nach oben. Thanatos und Hypnos werden als Paar vorgestellt. Das Merkmal der Fackel erscheint gleichsam wie ein Kippschalter mit zwei Zuständen: Schlaf, der Leben spendet und Tod, der das Leben nimmt.


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Der Tod mit der Augenbinde stellt sein gleichDie später aufkommenden bildlichen Darstelmachendes, unterschiedloses Walten in den lungen des Todes zeigen ihn zunächst Vordergrund. Das Motiv erschien vor allem als eine Art Leiche, einen so genannten in der französischen Kathedralsplastik Transi 15. Es lässt sich nur vermuten, dass die 15 Transi [von lat. transire »vorüberdes 13. Jahrhunderts in Paris, Reims und Darstellung eines toten Menschen die Vorgehen«]: spätmittelalterliche DarstelAmiens. Eingerahmt wird der Tod von stellung erleichtert, dass es sich dabei um lung eines verwesenden Leichnams, einer Szene, die auf ein Gericht des Todes den Tod selbst handelt. Um die Menschen oft von Gewürm und Schlangen über die Menschheit hindeutet. Die alleals Tote zu markieren, müssen sie sichtdurchwachsen, als Mahnung an die gorischen Bezüge der Augenbinde gingen bare Indizes des Todes tragen, die auf das Vergänglichkeit alles Irdischen (vgl. zunächst auf Fortuna und Amor über, später nichtvorhandene Leben hindeuten. Im Falle Memento mori, Vanitas-Motive). und bis heute geläufig auf die Justitia 17. des Transi sind dies sichtbare Anzeichen des Verwesungsprozesses, hagere Gestalten Alfred Rethel 18 greift in seiner Holz16 Anthropomorphismus mit eingefallenen Gesichtern, in Leichenschnittfolge »Auch ein Todtentanz / aus dem [altgriech. anthropos »Mensch« und tücher gewickelt und häufig mit Würmern Jahre 1848« auf die Darstellung der Justitia morphe »Form, Gestalt«]: Das Zuspreund Maden besetzt. Diese illustrative Darmit Augenbinde, Waage und Schwert chen menschlicher Eigenschaften auf stellung toter Menschen, die für den persozurück und überträgt Attribute wieder Götter, Naturgewalten, Tiere etc. nifizierten Tod stehen und sie erst von den auf den Tod: Im ersten Bild seiner Folge daneben stehenden lebenden Menschen sitzt die Justitia gefesselt im Hintergrund 17 Justitia [lat. Iustitia »Gerechtigkeit«]: unterscheidbar macht, wird zu einer Konsund mehrere Gestalten überreichen dem ist die römische Göttin der Gerechtigkeit tante in den klassischen Totentänzen. Der Tod ihre Waage und ihr Schwert. Auf dem und des Rechtswesens. Als Allegorie wird sie Tod wurde damit anthropomorphisiert 16. Marktplatz in folgenden Bildern hält er meistens als Jungfrau mit verbundenen Augen die Waage am Zünglein statt am Ring. Erst spätere Bilder zeigen den Tod als Skedargestellt, die in einer Hand eine Waage, Das Schwert übergibt er der Masse, die lett, wobei das der Darstellung zugrunde in der anderen das Richtschwert hält. Dies soll er vorher vor einem Anschlag mit der liegende Prinzip beibehalten wird. Es wird verdeutlichen, dass das Recht ohne Ansehen Aufschrift »Einigkeit, Freiheit, Brüderlichkeit« hierbei ein anderes Stadium des toten der Person (Augenbinde), nach sorgfältiger gegen die Monarchie aufgehetzt hat. Menschen gewählt. Das Bild des Skeletts Abwägung der Sachlage (Waage) gesprochen wandelte sich weiter durch wiederentund schließlich mit der nötigen Härte (Richtdeckte genauere anatomische Kenntschwert) durchgesetzt wird. Gelegentlich nisse. So wird der personifizierte Tod im wird sie auf einer Schildkröte stehend gezeigt, 16. Jahrhundert als Spiegel seiner Zeit womit symbolisiert werden soll, dass jedes anatomisch genauer gezeigt. Das Skelett gründliche Verfahren seine Zeit braucht. ist damit zu dem noch heute bekannten ikonografischen Topos geworden, das 18 Alfred Rethel sich im Verlauf der Geschichte als Träger (1816–1859) war ein deutscher Hisweiterer Symbole entwickelte und damit torienmaler der Spätromantik. den Kontext seiner Zeit wiederspiegelt.


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In Rethels Totentanz zeigen sich die narrenDer Tod erhält damit Züge, die seine thehaften Züge in dem Versprechen von matische Nähe zur Figur des Narren »Einigkeit, Freiheit, Brüderlichkeit«, die der Tod und des Teufels betonen, die sich aus 19 Till Eulenspiegel nach Art eines Eulenspiegels19 wortwörtder biblischen Genesis um die Erbwar ein Narr (Gaukler) und Titelheld sünde und aus der Theatergeschichte lich meint. In Albrecht Dürers 20 Kupeines mittelniederdeutschen Volksdes Mittelalters herleiten lassen. ferstich »Ritter, Tod und Teufel« (1513) wird buches. Das Buch »Ein kurtzweilig Im Mittelalter wurde die Schlange, die zum der Tod zum Mahner, der das physische Lesen von Dyl Ulenspiegel, geboren uß Verzehr der verbotenen Frucht verleiEnde, die Vergänglichkeit der Zeit darstellt. dem Land zu Brunßwick, wie er sein tet, mit dem Teufel gleichgesetzt. Über Im Motiv der Vergänglichkeit mit Bezug auf leben volbracht hat…« wurde anonym den Sündenfall wird der Tod durch den Alltag der Menschen wurde der Tod veröffentlicht. Die älteste erhaltene den Teufel in die Welt gebracht. auch als Totengräber gezeigt, der auf eine Fassung stammt aus dem Jahr 1510/1511. Die mittelalterliche Narrenfigur wurde in Schaufel gestützt am oder im Grab steht. den Psalterillustrationen des 12. JahrhunDas Motiv kam im französischen und 20 Albrecht Dürer derts König David gegenübergestellt, der deutschen Kunstraum in Bilderserien im der Jüngere (1471–1528) sinnbildlich für den Glauben steht. Der 14. und als Einblattdrucke im 15. Jahrwar ein deutscher Maler, Graf iker, Narr steht ihm als Lästerer oder Spötter hundert allmählich auf. Der Tod erhielt Mathematiker und Kunsttheoretiker des Glaubens gegenüber. Attribute wie der das Attribut der Sanduhr, das ihm Eigenvon europäischem Rang. Er war ein Spiegel zeigen an, dass der Narr nur in sich schaften des griechischen Chronos, dem bedeutender Künstler zur Zeit des selbst verliebt ist und Gott nicht erkennen Gott der Zeit (auch der Lebenszeit) verleiht. Humanismus und der Reformation. kann. Mit der Säkularisierung des Theaters übernimmt die Figur des Narren die Rolle von Tod und Teufel als lästernde, gottesferne Gestalt und wird ab dem 14. Jahrhundert selbst zum Sinnbild für die Vergänglichkeit (Vanitas, siehe Kapitel 5.2) und symbolisiert damit den Tod: Es war eine Aufgabe des Narren, seinen Herren an seine Sterblichkeit zu erinnern. Die Bezeichnungen Schalk und Schelm und Sprichwörter wie »Ein Schelm, wer böses dabei denkt« kunden noch von dieser Verbindung.


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Mit dem Motiv des Mors Triumphators verwandt, Ein weit verbreitetes und das wohl bekannist das Motiv des Todes als Reiter, wie es teste Gleichnis des personifizierten Todes bereits in der »Offenbarung des Johannes« [6,7f ] ist das des Schnitters. In den früheren beschrieben wird: »Und ich sah, und siehe, Formen hält der Tod eine Sichel. Durch ein fahles Pferd. Und der darauf saß, dessen den Rückgang der Wälder wurde die Sichel Name war: Der Tod, und die Hölle folgte ihm im 12. Jahrhundert allmählich und bis ins nach. Und ihnen wurde Macht gegeben über den 16. Jahrhundert vollständig von der Sense vierten Teil der Erde, zu töten damit Schwert abgelöst. Diese Entwicklung vollzieht sich und Hunger und Pest und durch die wilden ebenfalls im Symbol des Sensenmannes. In Tiere auf Erden.« Der Tod ist neben Pest, der Vorstellung erntet der Tod das Leben Krieg und Hunger einer der vier Reiter der der Menschen wie die Halme des Getreides. Apokalypse, wie sie in Dürers bekann1350 schuf der Florentiner Buonamico ter Holzschnittszene »Die apokalyptischen Buffalmacco 21 in der Camposanto 22 in 21 Buonamico Reiter« von 1498 dargestellt sind. Pisa den berühmten Freskenzyklus Buffalmacco (um 1315–1336) »Triumph des Todes« [»Trionfo della Morte«], war ein italienischer Maler, der in der in mehreren Episoden Szenen des Florenz, Bolongna und Pisa gemalt hat. Jüngsten Gerichts und aus dem Leben der heiligen Eremiten darstellt. Der Tod 22 Camposanto (Camposanto erscheint geflügelt und senseschwingend Monumentale, »heiliges Feld«) über einer Schar von Menschen. ist ein Gebäude in Pisa, das Im Laufe der Jahrhunderte avancierte dieses einen Friedhof beherbergt. Motiv zu einem eigenständigen ikonografischen Topos. Der »Triumphzug des 23 Trecento und Quatrocento: Todes« wird ausgehend vom Trecento und Bezeichnung für die Proto- und Quatrocento 23 Gegenstand zahlreicher Frührenaissance in Italien im Künstler, unter anderem bei Pieter 14. und 15. Jahrhundert. Brueghel dem Älteren 24 , der in seinem gleichnamigen Ölgemälde von 1562 den 24 Pieter Brueghel der Gedanken des »Mors Triumphator« mit Ältere (um 1525–1569) war ein dem jüngsten Gericht verbindet. James Maler der niederländischen Renaissance, Ensor schuf 1896 eine Radierung, welche der für seine Darstellung des bäuerdie Szene des triumphierenden Todes in lichen Lebens bekannt geworden ist. die Stadt verlegt. In Arnold Böcklins »Die Pest« (1898) reitet der Tod auf einem geflügelten Ungeheuer durch die Straßen.


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25 Johannes von Tepl (auch Johannes von Saaz, 1350–1414) war ein deutscher Dichter. Sein Werk »Ackermann aus Böhmen« erzählt in 34 Kapiteln von einem Streitgespräch des Ackermanns mit dem Tod, den er wegen des Todes seiner Frau anklagt. In den ungeraden Kapiteln trägt er seine Trauer von dem Verlust seiner Frau vor, in den geraden antwortet der Tod mit Logik und Zynismus. Im vorletzten Kapitel erscheint Gott, der dem Ackermann wegen seiner

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Liebe lobt, aber dem Tod Recht gibt. Das letzte Kapitel ist ein lyrisches Gebet für die Seele der Verstorbenen. Es gilt als eines der bedeutensten Werke deutscher Literatur des Spätmittelalters.

»Totentanz« Der Türmer, der schaut zu Mitten der Nacht Hinab auf die Gräber in Lage; Der Mond, der hat alles ins Helle gebracht; Der Kirchhof, er liegt wie am Tage. Da regt sich ein Grab und ein anderes dann: auch kommen hervor, ein Weib da, ein Mann, In weißen und schleppenden Hemden. ¶ Das reckt nun, es will sich ergetzen sogleich, Die Knöchel zur Runde, zum Kranze, So arm und so jung, und so alt und so reich; Doch hindern die Schleppen am Tanze. Und weil hier die Scham nun nicht weiter gebeut, Sie schütteln sich alle, da liegen zerstreut Die Hemdlein über den Hügeln. ¶ Nun hebt sich der Schenkel, nun wackelt das Bein, Gebärden da gibt es vertrackte; Dann klippert‘s und klappert‘s mitunter hinein, Als schlüg‘ man die Hölzlein zum Takte. Das kommt nun dem Türmer so lächerlich vor; Da raunt ihm der Schalk, der Versucher, ins Ohr: Geh! hole dir einen der Laken.

In diesem Themenkreis bewegt sich auch der Tod als Jäger, wie er in der Druckfolge »Ackermann aus Böhmen« (1461) von Johannes von Tepl 25 erscheint. Hier verfolgt der Tod fliehende Reiter mit Pfeil und Bogen. Die mit dem Totentanz am ehesten verbundene Darstellung des Todes als Spielmann weist zahlreiche Bezüge zu magischen Vorstellungen im Volksglauben auf, die auch in Sagen wie der des Rattenfängers von Hameln aufscheinen. Eine Verbindung zum Phänomen der Tanzwut (siehe auch Kapitel 4.4) und zum Volksglauben der Armen Seelen, die sich nach Mitternacht aus dem Grabe erheben um zu tanzen, erscheint naheliegend. Die Verbindung zwischen Narr und Tod, im Bild des Todes wird in dieser Figuration noch einmal deutlich, in der der Tod die Züge eines Unterhalters erhält und durch Tanz und Musik die Menschen aus dem Leben führt. Dieses Paar aus Tod und Mensch mit den vorgestellten unterschiedlichen Bedeutungen ist die Ausgangsbasis für den klassischen Totentanz, in dessen Bild sich durch das Zusammenwirken der vorgestellten Zeichen und durch die darin enthaltene Gewichtung von Denotation und Konnotation komplexere Verbindungen ergeben.


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2.2 Das tanzende Paar

¶ Getan wie gedacht! und er flüchtet sich schnell Nun hinter geheiligte Türen. Der Mond, und noch immer er scheinet so hell Zum Tanz, den sie schauderlich führen. Doch endlich verlieret sich dieser und der, Schleicht eins nach dem andern gekleidet einher, Und, husch, ist es unter dem Rasen. ¶ Nur einer, der trippelt und stolpert zuletzt Und tappet und grapst an den Grüften; Doch hat kein Geselle so schwer ihn verletzt, Er wittert das Tuch in den Lüften. Er rüttelt die Turmtür, sie schlägt ihn zurück, Geziert und gesegnet, dem Türmer zum Glück, Sie blinkt von metallenen Kreuzen. ¶ Das Hemd muß er haben, da rastet er nicht, Da gilt auch kein langes Besinnen, Den gotischen Zierat ergreift nun der Wicht Und klettert von Zinne zu Zinnen. Nun ist‘s um den armen, den Türmer getan! Es ruckt sich von Schnörkel zu Schnörkel hinan, Langbeinigen Spinnen vergleichbar. ¶ Der Türmer erbleichet, der Türmer erbebt, Gern gäb er ihn wieder, den Laken. Da häkelt – jetzt hat er am längsten gelebt – Den Zipfel ein eiserner Zacken. Schon trübet der Mond sich verschwindenden Scheins, Die Glocke, sie donnert ein mächtiges Eins, Und unten zerschellt das Gerippe. (von Johann Wolfgang von Goethe, 1815.)

er »Basler Totentanz« Beispielsweise besteht das Ikon König bestand ursprünglich aus der konkreten Darstellung auf der aus 24 Tanzpaaren, Wand (Signifikant) und bewegt sich von die in einem Reigen dort zur Vorstellung von einem König miteinander tanzen. (Signifikat); bleibt durch die kontextuelle Dabei wechseln sich Einbettung aber nicht auf dieser Stufe Menschen, in typische stehen, sondern bewegt sich weiter zum Kleidung der Stände dargestellt, mit Referenten Mensch, der das Denotat bilFiguren ab, die den Tod symbolisieren. det. In der daneben angeordneten Figur Kern der Darstellung ist das einzelne tandes Todes bleibt die Stelle des Referenten zende Paar. Dieser Kern findet sich in leer. Der Tod besitzt keinen Referenten. allen klassischen Totentänzen wieder. Sie Auf diese Weise wird die Abwesenheit des besteht aus zwei Zeichen: dem Menschen Lebens intuitiv sichtbar gemacht. und der Todesfigur mit ihren unterschiedAuf seine Denotationen reduziert, wird im lichen Haupt- und Nebenbedeutungen. Totentanz also der Mensch als solcher Dem Symbol des Todes wird ein Ikon für den dem Tod gegenübergestellt. Alle andeMenschen gegenübergestellt. Die Ähnlichren Eigenschaften, Kleidung, Alter und keit zwischen dem bezeichneten Gegensonstige Attribute des Menschen oder des stand und dem Zeichen ist das Merkmal personifizierten Todes sind Konnotationen. eines Ikons, wie z.B. bei einem Porträt Dadurch, dass die Sterblichkeit des Menoder lautmalerisch Begriff. Das Ikon für schen universal und allgemeingültig ist, den Menschen und das Symbol für den Tod wird jedoch der Konnotation eine größere treten über die anthropomorphen EigenBühne geschaffen. Die Hauptbedeutung, schaften des symbolisierten Todes mitobwohl zentral, tritt in den Hintergrund, einander in Kontakt. Es handelt sich dabei bleibt dabei aber zugleich omnipräsent. zunächst um äußerlich menschenartige Die Künstler der klassischen Totentänze Figuren, die aufgrund ihrer Gemeinsamhatten jeweils die Schwierigkeit zu überkeiten überhaupt erst in Verbindung treten winden, nicht irgendeinen Menschen können. Das heißt, sie müssen gleichardarzustellen, sondern den Betrachter tig genug sein, um miteinander tanzen selbst. Da sich der Betrachter nicht autozu können. Durch die Gemeinsamkeiten matisch in eine menschliche Figur im Bild werden sie vergleichbar. Der Vergleich versetzt, sich nicht automatisch mit ihr stellt jedoch ihre Unterschiede heraus. Die identifiziert und damit die Aussage nicht Einbettung in eine Szene mit vielen, im auf sich anwendet, haben die Künstler den Prinzip gleichen Paaren lässt ihren Stand in Menschen Attribute verliehen oder sie in der Ständegesellschaft als Konnotationen Kontexte gesetzt, die es dem Betrachter erscheinen, während der Mensch als Referent ermöglichen, sich selbst ins Bild zu denaller Ikone erscheint: Alle Figuren sind in ken. Die Attribute geben dem Betrachter erster Linie Menschen und erst nachgelaeine Hilfestellung zur Identifikation. gert sind sie Könige, Äbte oder Bettler.


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Der Mensch in den Darstellungen bleibt also Da jedes Paar in seiner Hauptbedeutung genau dieselbe Aussage trägt, beinhaltet immer als erstes Mensch, denn er sieht sich der »Basler Totentanz« in gewisser Weise das in der Szene mit dem Tod konfrontiert, Merkmal der Wiederholung, das wie beerst nachgeordnet wird ein bestimmter schrieben, die Eigenschaft des Menschen an Mensch, eine bestimmte Zielgruppe, ein sich hervorstellt. Das Bild stellt mit den bestimmter Betrachter angesprochen. Das 24 Paaren 24-mal das Gleiche dar, wobei bedeutet, der Referent Mensch als Lebewesen sich jeweils die Konnotation (die Ständewird möglicherweise dadurch besonders attribute) verändern. Dadurch, dass jedem betont, weil er in seinem Gegenpart, dem dargestellten Menschen das Gleiche widerTod, abwesend ist und weil er die gemeinfährt, erscheint der Tod als Gleichmacher same Konstante zwischen allen dargestellaller.Diese Konnotationen sind im gesellten Menschenikonen (im semiotischen Sinne) schaftlichen Kontext wichtig, um dem Bebildet. Der »Basler Totentanz« ermöglicht trachter eine Identifikation zu ermöglichen. die Identifikation mit den Figuren, indem Um 1538 wird der Totentanz-Reigen von Menschen verschiedener Stände über Hans Holbein dem Jüngeren 26 von der äußerliche Attribute wie der Kleidung 26 Hans Holbein der identifizierbar werden. Es ist anzunehWand gelöst und auf seinen Kern reduziert. Jüngere [1497 oder 1498–1543]: men, dass ein mittelalterlicher Betrachter Das einzelne Paar aus einem Menschen war ein deutscher Maler. Auf einem das Wandbild wie eine »Tabelle« gelesen und der Personifikation des Todes löste den Selbstbildnis, das er kurz vor seinem hat. Er konnte anhand der Kleidung und Reigen ab. Gewissermaßen verschwindet Tod malte, bezeichnet er sich selbst der Position im Bild seinen Repräsentandie Redundanz der Information, dafür wird als Basler. Er zählt zu den bedeuten ermitteln, also den Menschen in der dem Betrachter eine höhere Abstraktionstendsten Malern der Renaissance. Darstellung, der ihn selbst gleichsam ins leistung abverlangt, da die gleichmachende Bild holt und diesen Vorgang für andere Wirkung des Todes nun nicht mehr unMenschen und deren Vertreter nachempmittelbar über viele gleiche Paare gezeigt finden. Er konnte damit erkennen, dass wird, sondern über die Denotation »Mensch«. jeder einzelne Mensch seinen Platz in dieser Schließlich muss diese Konstellation »Tabelle« findet, vom Papst bis zum Bettler. aus Mensch und Tod selbst ein Zeichen sein, das vergleichbar mit dem Beispiel »Abendstern« eine innenliegende Eigenschaft des Menschen (eine Konnotation) nach außen trägt: seine Sterblichkeit.


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3. Der Europäische Totentanz

Im Zuge seiner Geschichte hat der Europäische ls so genannten Totentanz eine weitläufige Entwicklung Europäischen Totentanz gemacht. Durch die Epochen hindurch bezeichnet man eine hat er sich als Darstellungsform immer seit dem 14. Jahrhunmehr differenziert und divergiert. Von den dert aufkommende anfänglich monumentalen Wandgemälden bildliche Darstellung entwickelte er sich bis hin zur völligen zur Todesthematik, künstlerischen Autonomie. Doch zu jeder die meistens durch Textzeilen ergänzt Zeit war der Totentanz eine Plattform wird. Darin soll die Gewalt des Todes für die Angst vor Sterben und Tod und über das Leben ausgedrückt werden. Der ein Forum für zunächst religiöse, dann Tod wird durch Personifizierung in Form gesellschafts-politische und schließlich einer Skelettgestalt oder Transi dargestellt, individuell-künstlerische Inhalte zur sowie die Gruppe der Tanzenden durch Todesthematik. Der Erfolg dieser Gattung eine Reihe von Allegorien. In Frankreich liegt in der gestalterischen Vielfalt, der entstanden verbreitete sich diese Art Möglichkeit verschiedenster Assoziationen der Darstellung überall in Europa, doch und nicht zuletzt in seiner Ambivalenz zentrierte sie sich vorwiegend im deutschzwischen Todesangst und Lebenslust. und französischsprachigen Raum. Jene Wandmalereien zur Todesthematik können uns einen Eindruck bestimmter Dimensionen der europäischen Kultur des ausgehenden Mittelalters und der Frühen Neuzeit geben. Die Pest, der gefürchtete Schwarze Tod, den die Menschen in jenem Jahrhundert schmerzlich erfahren mussten, lässt im Spiegel des Totentanzes die geistige Verfassung der Menschen im gesamten Europa erkennen. Auf der Schwelle vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit stellt der Totentanz einen wesentlichen Teil der religiösen »Erbauungsliteratur« dar, indem er vor den Konsequenzen eines sündigen, unbußfertigen Lebens warnt.


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27 Memento mori [lat. »Gedenke zu sterben« (dass du sterben musst); häufig als »gedenke des Todes« übersetzt]: Etwas, das uns an unsere Vergänglichkeit erinnert. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts war es üblich, dass einige Männer in ihren Hosentaschen oder an der Uhrkette einen kleinen Gegenstand

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mit sich herumtrugen, der sie an ihre eigene Sterblichkeit erinnern sollte. Es handelte sich z. B. um kleine Sanduhren, in denen die Lebenszeit zu verinnen scheint, kleine Nachbildungen von Totenmasken, und häuf ig sogar ein kleiner offener Sarg, in dem der Verfall des menschlichen Körpers dargestellt wurde.

28 Oxymoron [von griech. oxys »scharf(sinnig)« und moros »dumm«]: eine rhetorische Figur, bei der eine Formulierung aus zwei gegensätzlichen, einander widersprechenden oder gegenseitig ausschließenden Begriffen in einem Wort (z. B. Hassliebe) oder als Begriffspaar (z. B. alter Knabe) gebildet wird.

29 Dialektik [über lat. (ars) dialectica »Kunst der Gesprächsführung«]: 1) innere Gegensätzlichkeit. 2) philosophische Arbeitsmethode, deren Wesen darin besteht, (in Rede und Gegenrede) Widersprüche aufzudecken und zu überwinden und dadurch die Wahrheit zu f inden, Erkenntnis zu erlangen .

4. Totentänze des Mittelalters

seine Popularität. Im Jahrhundert der Pest m die folgenden waren die Menschen um so empfänglicher Ausführungen zum für ein Bild, das Tanz und Tod, Lust und mittelalterlichen TotenVerfall in sich vereint. Das Memento mori, tanz besser verstehen verpackt im Bild des Tanzes, kann als zu können, werden seine wichtigsten Oxymoron 28 aufgefasst werden, das mit formalen Merkmale seiner Dialektik 29 über die Zeiten hinkurz beschrieben, an späterer Stelle aber durch bis heute die Menschen fasziniert. noch detaillierter dargestellt. Die frühen Die mentalen Strukturen des mittelalterlichen Totentanzdarstellungen muss man sich Menschen müssen in die Interpretation folgendermaßen vorstellen: An einer ca. des Totentanzes einbezogen werden, 60–80 m langen Kirchenwand oder Frieddenn seine Darstellungsform transporhofsmauer sind lebensgroße Figuren mit tiert neben Vorstellungen von Tod und Versen darunter oder darüber abgebildet. Leben auch Auffassungen von GesellBei dem Motiv handelt es sich um eine schaft und Weltanschauung. Ebenso Reihe tanzender Gestalten, immer ein spiegelt er den offiziellen kirchlichen Skelett oder Transi abwechselnd mit einem Glauben, sowie den Volksglauben wieder. Menschen. Die Textzeilen bestehen aus Als älteste erhaltene Totentanzdarstellungen Bildüberschriften wie z.B. »Tod und Graf«, werden das Fresko in der Abteikirche welche die Szene eindeutig betiteln, und La Chaise-Dieu in der Auvergne (um einer Art Dialog zwischen der Todesgestalt 1410) und das berühmte Wandgemälde und dem totgeweihten Menschen. an der Kirchhofsmauer des Franziskaner»Ihr müsst alle nach meiner Pfeife tanzen«, diese klosters Aux Saints Innocents in Paris oder ähnliche Worte werden dem per(1424/1425) geschätzt. Von Frankreich sonifizierten Tod jener mittelalterlichen ausgehend verbreitete sich der TotenDarstellungen oft in den Mund gelegt. Und tanz zunächst in der Bretagne, dann am genau das ist auch die zentrale Aussage Mittelrhein und in Norddeutschland, des Totentanzes: die Unvermeidlichkeit später in Böhmen, im Baltikum, in Italien, des Todes. Alle Menschen, unabhängig Katalonien und England, schließlich welchen Standes und welchen Alters überall in Europa. Die berühmtesten müssen sich dem Tod fügen. Die GleichTotentanzdarstellungen finden wir in heit vor dem Tod ist das wesentliche Paris, Basel, Lübeck und Luzern, seine Merkmal des Totentanzes und im MittelZentren blieben demnach im deutschalter das zentrale Motto. Er ist somit ein und französischsprachigen Raum. deutlich formuliertes Memento mori 2 7 . Die europäische Dimension des Totentanzes wird nicht nur in seiner Verbreitung Das Moment des Tanzens ist das zweite deutlich, sondern ist am Erfolg dieses Hauptkennzeichen dieser DarstellungsMediums abzulesen: offensichtlich gab es form zu jener Zeit. Besonders die ambivaeine relativ vergleichbare mentale Verlente Verbindung von Tod und Tanz, von fassung der Menschen im ausgehenden der Angst um das eigene Leben auf der Mittelalter. Die Pestepidemien, der einen Seite und der Lust am Leben auf der massenhafte jähe [plötzliche] Tod hat die anderen Seite verliehen dem Totentanz Menschen Europas in eine permanente Verunsicherung des Lebens gestürzt.


TOTENTANZ

4.1 Der Historische Kontext

30 Dämon [über lat. daemon aus griech. daímon »göttliches Wesen, (böser) Geist«]: a) Teufel, Wesen zwischen Gott und Mensch. b) das Böse im Menschen. c) unheimlicher, auf jemanden große Macht ausübender Geist.

Talismane, Duftstoffe und Beschwörungen ür das Verständnis des halfen nicht, um die gefürchtete Krankheit Europäischen Totentanzes zu bannen. Die einzige Möglichkeit ihr ist der historische zu entkommen war die Flucht aus ihrem Kontext seiner EntsteUmfeld, was oft den Armen und Schwachen hungszeit von grundnicht gelang. Die Pest kam immer in legender Bedeutung. Wellen, welche die Menschen durchaus Mit dem Ausbruch der beobachten konnten und dazu gehörte das Pest im Jahr 1348 begann das größte Mashilflose Warten auf ihre Ankunft. Das ist die sensterben Europas und man kann sagen, Stunde der Bußpredigt, der radikalen Geidass das 14. Jahrhundert das Jahrhundert ßelungen und des großen Memento mori. Die des großen Todes war. Es wird geschätzt, Zeit war reif für das Bild des Totentanzes. dass in nur fünf Jahren, zwischen 1347 Doch führte das »Bedenke, dass du sterben musst!« und 1352, ca. dreißig Prozent der Bevölnicht nur zu frommen Bußübungen. Memenkerung Europas durch diese Krankheit to mori impliziert immer auch ein Carpe diem umkamen. In einer von der Pest befallenen [aus lat. »Nutze/pflücke den Tag!«], denn »…es Stadt starb etwa jeder zweite Einwohner. könnte dein letzter sein.« Es gibt Berichte von Im Vergleich dazu kamen während des wildesten Festen und Orgien, ein weiteres Zweiten Weltkrieg fünf Prozent der GesamtZeichen für die kollektive Hysterie. Das harbevölkerung Westeuropas durch Krieg und te Gegenüber von Leben und Tod in jener Massenvernichtung um. Durch das 14. und Zeit war die Voraussetzung für den Toten15. Jahrhundert zogen sich immer wieder tanz mit seiner dramatischen Wirkung. neue Pestwellen, die die Menschen in einen Zu erwähnen ist an dieser Stelle die stetigen Angstzustand versetzten und sie Narrenliteratur, die im 15. Jahrhundert empfänglich machten für die makabren entstand. Es handelt sich dabei um eine Tänze in den Tod. Die meisten der frühen volkstümliche, satirische Literatur, welche Totentänze stehen ganz offensichtlich im die menschlichen Schwächen beschreibt Zusammenhang mit den Pestepidemien. und durch Karikieren und Übertreibung Das große Peststerben brachte einen Zuden Leser zu belehren, sowie Kritik des sammenbruch der gesellschaftlichen Zeitgeistes auszudrücken versucht. Das Verhältnisse und Konventionen mit sich: Motiv der Narrenliteratur ist die verkehrte Familienbindungen, Freundschaften und Welt. Auch der tanzende, foppende, sprinGruppenbeziehungen zerrissen; Ärzte, gende Tod der Totentänze ist verkehrte Priester und Notare verweigerten oft aus Welt. Doch im Gegensatz zur NarrenliteraPanik ihre Berufspflichten; Häuser von tur kann beim Totentanz kein Schmunzeln Verstorbenen wurden schamlos geplündert oder Lachen diese verkehrte Welt aufheben. und die Kirche trieb nicht selten Handel mit Der Tod ist nicht lustig. Der Totentanz, in den Sterbesakramenten. Die Pest brachdem sich Tod und Vitalität, Grauen und te ohnmächtiges Entsetzen mit sich, es Lust, Schrecken und Ekstase vereinen ist der herrschte ein kollektives Gefühl des UnterKosmos eines Dämons 30. Und das Prinzip gangs und eine trostlose Grundstimmung. dieses Dämonischen ist der ästhetische Schock der Vereinigung von Tanz und Tod.


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31 Heilsgeschichte: Der Begriff entstammt dem jüd.-christl. Denken. Strenggenommen bezeichnet er eine Geschichtsinterpretation, die in der Menschheitsgeschichte eine Entwicklung auf ein Ziel außerhalb derselben sieht, eben zum Heil, zu dem jedes geschichtliche Ereignis

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in Beziehung gesetzt wird. Im weiteren

Sinne wird nahezu jede religiöse Geschichts-

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beschriebenen Ereignisse sind entweder gar

interpretation als H. bezeichnet. Die in ihr

nicht oder nur lückenhaft außerhalb der religiösen Tradition überliefert. Deshalb ist meistens nicht zu entscheiden, inwieweit die H. mit geschichtlichen Fakten übereinstimmt. Die Mitte der christl. H. [»Fülle der Zeit«, Gal. 4,4; Eph. 1,10] befindet sich räumlich in der römischen Provinz Judäa, zeitlich in den ersten Jahrzehnten der christl. Zeitrechnung: Leben und Wirken, Tod durch Kreuzigung und Auferstehung des Jesus von Nazareth als Jesus Christus. Als dessen Ankündigung und Vorbereitung gilt die Schöpfungsgeschichte der Bibel mit dem Sündenfall. Die Geschichte nach Christus gilt als letzte Zeit oder Endzeit, in der das Evangelium zu allen Völkern dringt, bis die Zahl der Geretteten voll sein und der christl. Messias Jesus Christus in Herrlichkeit zum zweiten Mal kommen wird. Die kritische Geschichtswissenschaft der Neuzeit hat allerdings gezeigt, wieviele mythische Bilder auch in die Geschichtsdarstellung der Bibel eingeflossen sind – und zugleich darauf aufmerksam gemacht, dass jedes Erzählen auswählend und gewichtend ist.

4.2 Der Totentanz als gemalte Bußpredigt

s wird vermutet, dass Bei einigen Totentänzen ist statt der eines sich bei den frühesleitenden Predigerszene ein anderes Motiv ten monumentalen wie z.B. der Sündenfall oder das Jüngste Totentänzen des 14. Gericht zu Beginn oder auch am Ende der Jahrhunderts um eine Reihe abgebildet. Immer jedoch handelt säkulare Erscheinung es sich dabei um christliche Bilder, die handelt, die – ähnlich auf das individuelle Sündersein anspreder Justitia – die Gleichheit aller Menschen chen und der Totentanzdarstellung ihren heilsgeschichtlichen 31 Rahmen geben. betont. Die großen Bettelorden »instruDer Totentanz entstand demnach in einer mentalisierten« die Totentänze dann städtischen Umgebung des Klerus. ihrem Ideal entsprechend zu religiösen Durch die Platzierung der 60–80 m großen Zwecken. Dabei wurden die DarstellunWandmalereien in Beichtkapellen oder gen mit christlichen Motiven gefüllt und an Kirchhofsmauern wurde das Gemälde die Aspekte des Tanzes traten nach und gemeinsam erlebt: betrachtet, gelesen und nach in den Hintergrund. Die Botschaft war durch musikalische Untermalung »gehört«. nicht mehr in erster Linie das Prinzip der So wie die Bußpredigt die Gemeinde Gleichheit, sondern der Schrecken eines zum kollektiven Zuhören zusammenplötzlichen, des gefürchteten jähen Todes, bringt, so vereint der Totentanz als deren der die Menschen unvorbereitet aus dem bildnerische Entsprechung dessen die Leben reißt. Ganz im Sinne des Memento Menschen bei kollektiver Anschauung. mori sollten die Totentanzdarstellungen zu einem bußfertigen, gottgefälligen Leben ermahnen. Im Zusammenhang mit dem großen Peststerben jener Epoche, das den Boden für die überwältigende Angst vor dem Tod bereitete, kann der Totentanz als gemalte Bußpredigt verstanden werden. Die frühen Totentänze wurden in Form von Wandgemälden entweder im Inneren von Kirchen, überwiegend in Beichtkapellen, oder außen an Kirchhofs- oder Friedhofsmauern angebracht. Da es sich meistens um Kirchen oder Klöster der Dominikaner oder Franziskaner handelte, kann man die Totentanzdarstellungen als eine andere, damals neue Form der Bußpredigt in städtischen Predigerorden interpretieren. Diese Vermutung kommt daher, dass bei den bekanntesten Totentanzdarstellungen (z.B. in La Chaise-Dieu, Lübeck, Basel, Berlin, Straßburg) zu Beginn eine Predigerszene steht, in welcher der Prediger als Dominikaner oder Franziskaner dargestellt wird.


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Die Intention der Bußpredigt bzw. des Totentanzes ist es, dem Einzelnen die Verantwortung seines Handelns vor Augen zu führen und ihn zu einem Leben den christlichen Idealen entsprechend zu ermahnen. Diese Mahnung geht einher mit der Warnung vor den Konsequenzen eines sündigen Lebens. Denn kommt der Tod im falschen Moment, so gibt es nur noch die Verdammnis. Die Totentänze bauen eine Brücke zwischen dem Bewusstsein individueller Sündhaftigkeit und dem Tod als Übergang ins Jenseits. Dieses Jenseits differenziert sich in der Vorstellung des mittelalterlichen Menschen entsprechend dem vorhergegangenen Handeln im Diesseits und gliedert sich in Himmel, Hölle und Fegefeuer. Zu Zeiten der Schwarzen Pest, die oft als Strafe Gottes verstanden wurde, war der plötzliche Tod nicht selten und die Bußpredigt gewann an Wichtigkeit für die Menschen. Die Darstellung des jähen Todes und mit ihm die Gefahr der ewigen Verdammnis sollten zur Reflexion der eigenen Christlichkeit anstossen und eine Umkehr, eine positive Wende im Leben bewirken. Die Totentanzdarstellungen, die den unerwarteten Tod abbildeten, sind eine für das christliche Memento mori sehr geeignete Form. Der Erfolg des Totentanzes als breitenwirksames Medium liegt im Zusammenspiel des Motivs der Bußpredigt – das ihm seine »didaktische« Funktion gibt – und seiner Ästhetik. Im Laufe der Zeit wird er sich später durch die verschiedenen Möglichkeiten seiner Gestaltung immer mehr vom kirchlichen Kontext lösen und autonomisieren.


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4.3 Der Totentanz und die Ars Moriendi

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Beim Totentanz dagegen liegt der Fokus durch in wichtiger Andie Darstellung des unerwarteten, zum haltspunkt für das Tanz auffordernden Todes auf dem SchockVerständnis des effekt. Dieser soll den Menschen die UnumTotentanzes als eine gänglichkeit des Todes, vor dem alle gleich Form der Bußpredigt sind, vermitteln und sie auf diese Weise zur ist seine Verbindung Buße bewegen. Es werden tanzende, das zur so genannten heißt, noch lebendige Personen dargestellt, Ars Moriendi [lat. »Die Kunst des Sterbens«]. welche als totgeweiht gelten, weil sie von Als Ars Moriendi bezeichnet man eine einem foppenden, entlarvenden Tod zum ebenfalls im 15. Jahrhundert beliebte Tanz aufgefordert werden. Im Gegensatz Gattung von Erbauungsbüchern, in denen zur Ars Moriendi lassen die Totentänze mit die Kunst des rechten, heilsamen Sterbens, das ihrer Darstellung vom unvorbereiteten Tod zur Seligkeit führen soll, gelehrt wird. keine Sterbevorbereitung im christlichen Beide Gattungen haben inhaltliche BerühSinne zu. Daher ist die Mahnung und die rungspunkte: Sie zielen auf die Umkehr des von ihr provozierte Angst vor einem jähen Sünders angesichts der drohenden VerTod, der jede rechtzeitige Buße verhindert, dammnis ab, indem sie versuchen, Angst ein wesentlicher Inhalt des Totentanzes. vor dem plötzlichen Tod hervorzurufen. Dennoch stellen beide – Totentanz und Doch liegt der Unterschied darin, dass bei Ars Moriendi – eine Möglichkeit dar, dem den Ars Moriendi das angestrebte SterThema Sterben und Tod und den damit ben, das idealerweise ein bußfertiges verbundenen Ängste eine Form zu gesein sollte, betont wird. Dargestellt ist ben. In beiden Gattungen manifestieren ein Sterbender, meistens im Bett liesich psychische Befindlichkeiten gend, von Skelettgestalten umgeben. Der und Phantasien der Menschen dieser Tod steht unmittelbar bevor. Der Aufruf Zeit – primär in bildlicher Form. zur Buße und die geistige Seelsorge des Sterbenden stehen im Vordergrund.

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4.4 Das Moment des Tanzes

32 grotesk [über frz. grotesque aus gleichbed. ital. grottesco, zunächst in Fügungen wie grottesca pittura »Malerei, wie man sie in Grotten u. Kavernen gefunden hat«]: a) durch eine sehr starke Übersteigerung oder Verzerrung bestimmte Ordnungen umkehrend und absonderlich, phantastisch wirkend. b) absurd, lächerlich; sonderbar, verzerrt, überspannt.

33 Liturgie [über kirchenlat. liturgia aus griech. leitourgia »öffentlicher Dienst« zu leitos »das Volk betreffend« u. ergon »Werk, Arbeit, Dienst«]: amtliche od. gewohnheitsrechtliche Form des kirchlichen Gottesdienstes. L. umfasst das gesamte gottesdienstliche Geschehen: Wort und Gesang, Gestik, Bewegung und Gewänder, liturgische Geräte, Symbole und Symbolhandlungen.

34 Kult [aus lat. cultus »Pflege« zu colere »behaupten«, vgl. Kolonie]: 1) an feste Vollzugsformen gebundene Religionsausübungen einer Gemeinschaft. 2) übertriebene Verehrung für eine bestimmte Person, Sache oder einen Gegenstand. Ein Kult umfasst in jedem Fall folgende drei Aspekte: ein Objekt oder eine Sache (um die sich der Kult dreht), eine Gruppe von Individuen (die diesen ausführen) und eine Reihe mehr oder weniger ritualisierter Handlungen.

Der Totentanz wird somit Ausdrucksmittel ie charakteristische eines gemeinschaftlichen Schicksals und Dialektik des Totenkollektiver Ängste. Das, was sonst nur tanzes besteht nicht unfassbar drohend gegenwärtig gewesen nur im Verhältnis wäre, bekommt eine Form, die der kollekTodesangst und Lebenstiven Angst in Zeiten der Pestepidemien lust, sondern ebenso Ausdruck verlieh. Diese Form ist einfach, in der Mischung von die Motive für jeden verständlich, und belehrender Absicht der Bußpredigt und doch vielschichtig und assoziationsreich. Elementen des archaischen Volksglaubens, Was genau aber bedeutet der Tanz im Totensowie profaner bürgerlicher Kultur. tanz? Das Erschreckende und gleichzeiUm breitenwirksam zu sein, mussten Medien tig Faszinierende an dieser Darstellung wie Totentanz und Ars Moriendi im Alltag ist nicht die Gestalt des Todes, die dem nahe an der Vorstellungswelt der RezipiMenschen des Mittelalters viel »vertrauter« enten verankert sein. Diese Vorstellungswar als uns heute, sondern der Umstand, welt der Menschen in jener Zeit implizierte dass das Skelett tanzt. Das eigentliche auch so genannte magische Elemente wie Grauen ist, dass der Tod agil und lebenz.B. die Vorstellung vom Tod als erbardig oft in wilden Tanzbewegungen darmungsloser Gestalt, der vergleichbar dem gestellt ist und somit als gruselige und Rattenfänger von Hameln durch Flötenmusik alle Menschen ohne Ausnahme groteske 32 Imitation des Lebens verstanden in eine Reihe und damit in den Tod zwingt. werden soll. Im Moment des Tanzes aber Weiterhin existierte die Vorstellung von liegt der elementare ästhetische Reiz. einer Gegenwart der Toten, das heißt In diesem Zusammenhang ist die Beleuchtung einer gewissen Aktivität der Toten z.B. bei des Tanzes und seine Einbindung in den ihren nächtlichen Tänzen auf dem Friedhof. mittelalterlichen Lebensalltag wichtig. In Sagen und Legenden hieß es, wer die Tanz ist die reinste Form des Spiels und BeToten beim Tanzen gesehen hat, läuft Gewegung um seiner selbst willen. Tanzen ist fahr zum Mittanzen gezwungen zu werden, eine archaische Lebensäußerung, Ausdruck also zu sterben. Diese Vorstellungen boten von Lust bis hin zu Ekstase. Die Kirche die Basis für die Verbindung von Tanz tolerierte immerhin bis ins siebte Jahrhunund Tod, die den Totentanz konstituiert. dert den Tanz als liturgische 33 Handlung, Die Religionswissenschaft definiert Tanz als aber seit Augustinus (354–430 n. Chr.) gemeinschaftsbildendes Szenario und wurde er von der Kirche immer drastischer schreibt ihm auf der Ebene archaischen verurteilt, weil er in jeder Form gefährlich Denkens die Funktion der Abwehr böser sei und die kultische 34 Form dieser HandGeister zu. Als der Totentanz enstand, lung eine archaische Kraft freisetze. war Bannung und Beschwörung der zentrale Gedanke hinter dem Bild des Reigens von Skeletten und Todgeweihten. Denn nach einem Grundsatz der Magie könne Gleiches mit Gleichem gebannt werden, daher verhelfe schon allein die Abbildung von Toten bzw. des personifizierten Todes zur Bannung, wobei der Tanz als Abwehrzauber gegen den jähen Tod, gegen die Pest verstanden wurde.

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35 Veitstanz [von »Heiliger Vitus/Veit«, lebte um 300 n. Chr., Schutzpatron u. a. der Tänzer]: Der Hintergrund zum V. ist nicht restlos geklärt. Es wird angenommen, dass durch den massenhaften Pesttod ganze Bevölkerungssteile in eine religiöse Hysterie verfallen sind, die zu ausschweifenden, ekstatischen Tänzen geführt haben soll. Andere Quellen geben an, dass vergiftetes Mutterkorn des Getreides oder Drogen mit halluzinogener Wirkung (z. B. Engelstrompeten) dazu geführt haben sollen. Die Nervenkrankheiten Chorea major (Huntington) und Chorea

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minor (Sydenham) wurden früher V. genannt. Zur Heilung wallfahrte man im 14. Jahrhundert zur Veitskapelle bei Ulm.

Bei der so genannten Tanzwut, auch Von der Kirche gefürchtet war nicht so sehr der schreitende Tanz der höfischen GeVeitstanz 35 genannt, handelte es sich sellschaft, sondern die so genannten um kollektive Ausbrüche, bei denen die Sprung- und Reigentänze. Aus diesen ging Menschen in Massen so lange und wild im 14. Jahrhundert der Paartanz hervor, tanzten, bis sie erschöpft umfielen oder bei dem Mann und Frau sich umschlingen. sogar starben. Es soll bei dieser Form der Der so genannte gesprungene Paartanz Massenhysterie durchaus zu anstößigen wurde durch seine Ausgelassenheit und Szenen gekommen sein. Nach Ansicht der Wildheit zu einer beliebten Möglichkeit der Kirche hatte hier der Teufel seine Finger eigenen Grenzerfahrung. Nach Auflösung mit im Spiel. An dieser Stelle kann die des Kettenreigens erhielt auch dieser Brücke zum Totentanz geschlagen werEinzug in die Totentanzdarstellungen. den, denn für den gläubigen Menschen Die Kirche musste einen langen Kampf gegen des Mittelalters steht der tanzende Tod den Tanz führen. Dabei muss man sich assoziativ dem tanzenden Teufel sehr nahe. vergegenwärtigen, dass der Kirchhof Im Totentanz werden Leben und Tod vereint: bis zum Beginn der Neuzeit in der Regel Das Motiv des Tanzes steht für Vitalität ein Ort der Öffentlichkeit war. Und der und Lebenslust und die Personifizierung Friedhof war kein Hof ausschließlich im des Todes für Verwesung und Grauen. Sinne von Ruhe und Frieden für die Toten, Diese dialektische Verbindung macht den sondern oftmals ein Ort, wo an den Seiten Europäischen Totentanz als ästhetisches der Beinhäuser Läden und Buden errichMedium aus. Seine Entstehung fällt in eine tet wurden. Jener Ort hatte Asylrecht, das Zeit, in der die Menschen wussten, dass heißt er musste jedem (z.B. Verstoßenen) der Tanz immer auch Annäherung und Einlass gewähren. Weiterhin war er ein Liebesspiel mit dem Ziel die Vereinigung von Steuern befreiter Platz, weshalb in den bedeutete. Der personifizierte Tod imitiert meisten Fällen ein geschäftiges Treiben durch den Ausdruck lustvoller Beweherrschte. Das Konzil von Rouen verbot gungen im Tanz das Lebens und definierte 1231 das Tanzen im Bereich des Friedhofes, somit eine neue Form des Makabren. um der Zügellosigkeit Herr zu werden.


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4.5 Der »Basler Totentanz«

Beliebtheit. In der Aufklärung dagegen m Jahr 1805 wurde der wurden Darstellungen von Tod und Verso genannte »Basler dammnis nicht mehr als so wichtig betrachTotentanz«, ein kulturtet und das besagte Werk verlor an Beachhistorisches Zeugnis tung bis hin zur völligen Verwahrlosung. des Spätmittelalters, beim Abriss der Fried- Das mag daran liegen, dass man im neuen Zeitalter, in dem sich die Menschen allmähhofsmauer des ehelich von religiösen Zwängen und Ängsten maligen Dominikanerklosters durch das befreit hatten, einem Wandgemälde, das die städtische Bauamt zerstört. Seit Mitte des Gewalt des Todes darstellen und zur Buße 15. Jahrhunderts hatte auf der Innenseite ermahnen sollte, nichts mehr abgewinnen der ca. 60 Meter langen Mauer ein gemalter konnte. Es war nicht mehr von Interesse, Totentanz mit lebensgroßen Figuren exisdas Relikt einer überwundenen Zeit zu tiert. Menschen, die in naher Umgebung bewahren und Geld für die Instandhaltung wohnten, hatten sich für den Abriss der aufzubringen. Der »Basler Totentanz« war Mauer und einer Umgestaltung des Friednicht etwa einer Zerstörung aus religiösen hofs hin zu einer Grünanlage eingesetzt. Motiven zum Opfer gefallen, sondern einem Der Stadt kam diese Forderung entgegen, neuen Zeitalter mit anderen Werten und da die zukünftige Parkanlage mit weit Vorstellungen. Glücklicherweise haben eigeringeren Kosten verbunden war als die nige Kunstinteressierte beim Abriss wenige Restaurierung des Bildes und die Instandbemalte oder beschriebene Stücke aus der haltung des alten Friedhofes. Der Hilferuf Mauer herausschlagen und retten können, einiger Kunstfreunde, die auf die einst so daher existieren heute noch drei Text- und berühmte Attraktion der Stadt und den kul19 Bildfragmente, die im Historischen turhistorischen Wert dieses Wandgemäldes Museum Basel zu sehen sind. hingewiesen hatten, wurden nicht gehört. Um sich dieses berühmte Werk der frühen Dass der »Basler Totentanz« beinahe ohne WiTotentanztradition vorstellen zu können, derstand abgerissen wurde, kann auf ein KONTAKT: wird der »Basler Totentanz« im Folgenden verändertes Bewusstsein der Menschen des WWW.NINASCHUETTE.DE nach einer Aquarellkopie von Johann beginnenden 19. Jahrhunderts gegenüber KONTAKT@NINASCHUETTE.DE Rudolf Feyerabend (1779–1814) Darstellungen von Todesthematik gedeutet aus dem Jahr 1806 beschrieben. werden. Mit der Reformation von 1529 waren die Gebäude des Dominikanerklosters in die Hände der Stadt übergegangen, die das Wandgemälde an der Friedhofsmauer der Predigerkirche durch regelmäßige Restaurationen ordentlich in Stand gehalten hatte. Im Barock beschäftigten sich die Menschen zwar mit einem anderen Hintergrund als im Mittelalter, aber ebenfalls intensiv mit der Todesthematik und der »Basler Totentanz« erfreute sich großer


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ABB. ANDREAS VESALIUS


FLORIAN L. ARNOLD

HERAN IHR STERBLICHEN! DIE AUSSTELLUNG „EVERYBODY: TANZ MIT DEM TOTENTANZ“ IN MEMMINGEN FLORIAN L. ARNOLD


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ABB. WALTER SCHELS

die thematische und gestalterische vielfalt der totentänze im 20. jahrhundert ist bedeutend. wie schon in vorangegangenen jahrhunderten blieb der totentanz primär eine darstellungsform der europäischen kunst- und kulturlandschat; doch spätestens nach den traumatischen umbrüchen des ersten weltkriegs 1914 bis 1918 entfaltet sich der totentanz quer durch alle genres. so kennen wir totentanzdarstellungen in literatur, malerei, graik und skulptur, aber erstmals auch im ilm (vorangegangen waren 1898 die gebrüder lumière 1898 und im jahr 1905 georges meliès 1905 darstellungen animiert tanzender skelete), in der musik („totentänze“, u. a. für klavier und orchester von franz liszt und später von cesar bresgen). als nippes, kitsch- und gagkunst (schlüsselanhänger,

computeranimationen, videospiele und –clips, internetkunst etc) taucht der tod immer wieder auch im alltag auf. es ist kein zufall, dass ältere totentanzdarstellungen, etwa rethels totentanz oder holbeins „todesbilder", in der zeit um den ersten weltkrieg herum in ungewöhnlich hohen aulagen wieder veröfentlicht werden. es folgen zahlreiche nachahmungen und neuschöpfungen zeitgenössischer künstler. insbesondere der deutschsprachige raum bringt totentanzwerke in nahezu unüberschaubarer anzahl hervor; mehr denn je spielt das zeitgeschehen für die totentanzdarstellung eine bedeutende rolle – ausschlaggebend sind sozialpolitische und gesellschatliche faktoren. der totentanz wird zudem auch für karikaturisten und politische zeichner – etwa im „simplicissimus“ in


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der ersten hälte des 20. jahrhunderts – in das genre „satire“ überführt mit selten gekannter bissigkeit, aber auch einer neuen qualität. george grosz, lyonel feininger, karl arnold sind nur einige, die den feixenden tod als sinnbild einer menschenfeindlichen gegenwart auszeichnen. der ursprünglich stark im christlichen glauben verwurzelte totentanz wird zum synonym für den vernichtungswillen einer säkularisierten welt. wer sich dem thema auf eine weise annähern möchte, die frei ist von klischeehaten gruselund gänsehautefekten, der sollte die bis 9. mai in der „mewo“ (kunsthalle memmingen) gezeigte ausstellung „everybody: tanz mit dem totentanz“ nicht versäumen. schon der erste blick in die

ausstellung macht deutlich, dass das thema von allen seiten beleuchtet wird; skelete scheinen in der dreistöckigen halle dem licht entgegen zu wirbeln – das licht einer gläsernen decke freilich, die zum einstigen postamt gehört, in dem die „mewo“ untergebracht ist. deren hintergrund bilden fotograien der mumien aus der berühmten „kapuzinergrut“ von palermo, erstaunlich gut erhaltene leichen, deren stille zusammenkunt wie das morbid angehauchte werk eines zeitgenössischen künstlers wirkt. in der mite des saals: ein großer erdhaufen – die assoziation zu einem grabhügel ist natürlich kein zufall – und darin ilme zum thema. an den wänden ringsum auf augenhöhe: malereien des künstlers peter gilles, der einen teil seiner expressiven gemälde


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ERSTMALS IN IHRER GESCHICHTE HAT DIE MENSCHHEIT DAS POTENTIAL ERREICHT, SICH SELBST AUSZULÖSCHEN.

mit blut fertigt; ob es das eigene blut ist, wie gern kolportiert wird, oder doch „nur“ tierblut, tut der wucht dieser bilder keinen abbruch. gilles gibt der tradierten totentanzdarstellung ihre ursprüngliche funktion zurück: der totentanz ist etwas entlarvendes, aufdeckendes und ofenbarendes. er erzählt uns etwas über unsere weigerung, sich mit dem tod abzuinden. im irrglauben, mitels medizin, wellness, sport und ignoranz ewig jung bleiben zu können, trit uns das sterben von menschen, die uns nahe sind, bis ins mark. zugleich ist der tod in fernsehen und internet etwas, das kaum aufregender ist als die aktuelle wetermeldung. er berührt uns nicht mehr, so inlationär erscheint er uns in seinen erscheinungen. doch aus diesem grund ist die totentanz-thematik in der gegenwartskunst wichtig und aktuell. zeitgenössische darstellungen sind nicht auf kopistische verarbeitungen der bildüberlieferung angewiesen, vielmehr verknüpfen sie sich mit gegenwärtigen themen. unsere realität wird in dieser ausstellung gekonnt mit dem topos tod verbunden, unsere wahrnehmung sukzessiv vom erdgeschoss bis ins dachgeschoss geschärt

ABB. PETER GILLES

und wachgerütelt. für die kulturell sonst eher träge stadt memmingen ist diese ausstellung ein regelrechter quantensprung, hinter dem der kölner kunstsammler hartmut krat steckt. er ließ von 25 renommierten künstlerinnen und künstlern je ein großformatiges faksimile-buch mit dem 1463 von bernd notke gemalten totentanz in der marienkirche zu lübeck künstlerisch überarbeiten. das im zweiten weltkrieg zerstörte werk des spätmitelalterlichen meisters erfährt in den überzeichnungen, übermalungen und bearbeitungen von enrique asensi und giampiero zanzi sowie einer „verbrennung“ von peter gilles eine lebendige aktualisierung. „heran ihr sterblichen – umsonst ist alles klagen – ihr müsset einen tanz nach meiner pfeife wagen“, lockt der tod, und alle müssen ihm gehorchen. da nutzt kein irdischer besitz, kein titel, keine diesseitige herrschatlichkeit. so ist der papst, zum letzten tanz aufgefordert, empört: „wie, scheut der tod den blitz von meinem banne nicht?“ der tod, einen leeren sarg geschultert: „komm, alter vater, komm, kreuch aus dem vatican,



ABB. MICHAEL BRENDEL


FLORIAN L. ARNOLD

DAUER DER AUSSTELLUNG

8. NOV. 2009 –9. MAI 2010 ÖFFNUNGSZEITEN DI –SO UND FEIERTAGE 11-17 UHR, EINTRITT 3 EURO / ERMÄSSIGT 2 EURO

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in diesen sarg hinein! hier trägt dein scheitel nicht – der hut ist viel zu hoch – du mußt itzt enger wohnen!“ frohlockt der tod im lübecker totentanz, einem der bekanntesten mitelalterlichen totentanzreigen. viele objekte und totentanzarbeiten, angefangen bei hans holbein d. j., daniel hopfer oder mathäus merian d. ä. im 16. jahrhundert bis zur klassischen moderne mit beiträgen zum thema von ernst barlach, alfred kubin, max klinger oder alfred rethel ergänzen die kernidee der ausstellung. unterm strich sind rund einhundert arbeiten von etwa fünfzig künstlern zu sehen. das menschliche skelet als materielles substrat jenseits aller metaphysik ist für nahezu jeden künstler ausgangspunkt seiner arbeit. der „everybody“, der körper, wird aber auch von künstlern wie den fotografen walter schels oder rudolf schäfer an der bemerkenswertesten schnitstelle gezeigt: am übergang vom noch begehrenswerten und geliebten objekt/ subjekt zur schrecken verursachenden sache – zur leiche. der blick in pathologie, seziersaal, anatomie und leichenschauhaus wird zur nagelprobe für den betrachter. darf man diese

schlafenden gesichter als „schön“ empinden? man tut sich leichter, mit begrifen wie „würde“ das schmerzliche moment dieser „letzten ansichten“ zu umschifen. denn diese menschen – kinder, erwachsene, greise – die von schels und schäfer so überaus achtsam, nachgerade liebevoll ins bild gesetzt werden, endeten doch nach dem betätigen des auslösers in den gesellschatlich ungeliebten und verborgenen, hinter bunkerartigen anlagen wohlversteckten räumen von krematorien. kein zufall, dass der tote etwas geworden ist, dass selbst angehörige nur noch selten zu gesicht bekommen. in unsere gut aufgeräumte gesellschat passen querschläger wie krankheit, sterben und tod nicht. „everybody dies, but me!“ scheinen die „lebenden greise“ von lorida zu verkünden, wenn sie mit über 80 auf skates zum „inal-autumn-date“ rasen. dass der tote körper immer nur im kontrast mit dem lebendigen fasziniert, versteht sich von selbst. und so kontrastiert die „mewo“-präsentation immer wieder das vitale von menschen unserer zeit mit der arbeit des anatomen. von den darstellungen des lämischen anatomen andreas vesalius


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ABB. ROBI MÄLLER / FRITZ HAUSER

über röntgenbilder bis zu den abbildungen der plastinate eines gunter von hagens wird der blick des besuchers geführt, der die ambivalenz der sezierenden bemühung um den menschen – um das, was er ist, wenn er ist – begreifen soll. das abenteuer unserer körperwerdung von unserer geburt bis zur entsorgung des irdischen rests stellt aber immer auch alle faceten des menschlichen daseins dar. . da sind auch skurrile momente, etwa in dem in einer miniaturisierten mülleimer gezeigten animationsilm „totentanz“ von robi müller und fritz hauser oder der nachbildung des diamantverzierten totenschädels von damien hirst. da erzeugt die raumgreifende installation von micha brendel („planets and plazents“ 2005 sowie „der park für den letztlich liegenden“, 1995) einen eigenen ästhetischen reiz, dem auch die tatsache, daß hier eingelegte, getrocknete und plastinierte organe zum einsatz kommen, keinen abbruch tut. ein amüsiertes lächeln stellt sich ein, wenn die masken von südseevölkern frech grinsende knochenschädel nachbilden. auch die todesartenserie von claudia reinhardt („killing me sotly“), die wirkliche selbstmorde berühmter frauen foto-

graisch nachempindet, gehört hierher; die grenze zwischen iktion und dokumentation bewegt sich auf diesen fotos auf einem hauchschmalen grat. so lebendig, facetenreich und – ja! – ästhetisch ist der tod seit langem nicht mehr gezeigt worden wie in „everybody“. der rundgang durch diese von fritz franz vogel und kunsthallenleiter joseph kiermeier- debre kuratierten ausstellung endet schließlich im dachgeschoss in einer art kino-situation: stühle vor einem großbildschirm. doch was unterhaltung und zerstreuung am ende eines mitunter erschüternden ausstellungsrundgangs versprechen könnte, ist ein letzter höhepunkt – den zu verdauen freilich nicht jedem gegeben ist. wir sehen einem ungarischen arzt bei seiner routinierten arbeit in einem gerichtspathologischen labor zu. mit sachlichprofessioneller gelassenheit zeigt der ilm einen menschen, dessen beruf der tägliche umgang mit dem tod ist. er seziert tote menschen und berichtet nebenher, stellenweise im plauderton, von seinem leben und seiner familie. und da ist sie wieder, unsere realität:


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sie zeigt uns, wie unpathetisch alles zu ende geht, wie hillos wir tatsächlich sind. dass der vermeintliche sieg über krankheiten mehr und mehr zum pyrrhussieg verkommt im angesicht neuer seuchen, nachlässiger gesundheitspolitik und der allmacht der pharmakonzerne. zukuntsvisionen erschöpfen sich im glauben an ständigen wirtschatlichen und technischen fortschrit, in der heilserwartung unauhörlich wachsender produktion und unauhörlich ansteigendem konsums um den preis der wachsenden zerstörung natürlicher lebensgrundlagen. der totentanz ist wieder in der mite der gesellschat angekommen. und er ist, dies zeigt die so gelungen konzipierte schau in der „mewo“, dem tabu entkommen. tod und vernichtung sind nicht nur anlass für wohnzimmertauglichen grusel, sondern ernst zu nehmende auforderung, sich mit problemen nicht abzuinden. kein wunder, dass in diesem jahr die künstlerszene der stadt würzburg das dachthema „apokalypse“ probt. für künstler, die mit wachen sinnen ihre zeit beobachten, ist er mehr denn je probates mitel zur kritik. die totentänze unserer zeit werden einmal als spiegel für die problemstellungen des angehenden 21. jahrhunderts begrifen werden können, mancher totentanz gar dokumentarischen charakter erhalten. eine letzte anmerkung sei an dieser stelle noch gemacht: seit zwölf jahren gibt es eine internationale totentanzvereinigung, die bildmotive des totentanzes und seine bedeutung vom mitelalter bis in die gegenwart erforscht. in einer zeit, die den tod am liebsten verdrängt, trägt die „ars moriendi“ – die „kunst des sterbens“ – dazu bei, das gedächtnis der menschen für diese kunstform zu öfnen. MEWO KUNSTHALLE

BAHNHOFSTRASSE 1

87700 MEMMINGEN

TEL.: 08331. 850-771

E-MAIL: MEWO.KUNSTHALLE@MEMMINGEN.DE



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MICHAEL PETERS

DANSE MACABRE, VANITAS, ARS MORIENDI FOTOGRAFIEN VON MICHAEL PETERS



MICHAEL PETERS

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"THANX FOR THE BEAUTIFUL PERFORMERS: YUMIKO, DIDIER, YOSHIKO, ZULU" MICHAEL PETERS



MICHAEL PETERS


MICHAEL PETERS


ZYKLUS



ECKEHARDT KLEINE

FENSTER ECKEHARDT KLEINE

eben sah ich aus dem erkerfenster des zimmers in die beleuchtete nacht und stellte fest, dass die beiden elegant geschwungenen torlügel zu unserem grundstück, hellweiß gestrichenes eisen, nach beiden seiten jederzeit weit ofen stehen. dies also auch im winter, da man doch die tore wegen der kälte schließen sollte! wem kalt ist, der wird nicht abgehalten, unser grundstück zu betreten und wer dies heimlich oder stillschweigend vorhat, der sollte es in jedem fall tun, denn draußen auf der straße ist es leicht zu erfrieren. nicht leicht im sinn von beschwingt oder sorglos, sondern es ist leicht für den winter, jemandem das blut in den adern gefrieren zu lassen. da ist es ratsam, erstmal sich innerhalb des geöfneten tores auf seiten des grundstücks zu beinden. möglicherweise mut zu fassen, einige meter bis zum treppenabsatz zu

gehen, sogar die wenigen steinernen stufen zur villa aufwärts zu nehmen und an der haustür zu klingeln. ob jemand öfnet, bleibt abzuwarten. falls nicht, sollte man während der nacht in bewegung bleiben. falls doch, sollte man nicht zögern, die annehmlichkeiten beheizter und belebter räume zu nutzen.

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ANTONIA SPOHR

DANSE MACABRE ANTONIA SPOHR

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„der regionalexpress nach nürnberg, planmäßige abfahrt 6:28 uhr, verspätet sich wegen personenschadens um 45 minuten. voraussichtliche abfahrt des zuges ist 7:13 uhr.” „toll, den anschlusszug nach wuppertal kriegen wir dann nicht mehr.“ andreas war stinksauer und jule trat gegen ihre sportasche: „personenschaden. warum sagen die nicht einfach: es hat sich schon wieder ein selbstmörder vor den zug geschmissen und jetzt müssen alle warten, bis wir die gliedmaßen eingesammelt haben?“ „das wort mitgefühl kommt in deinem wortschatz wohl nicht vor. der arme teufel.“ gisela fand jules rotzigen kommentar einfach nur unangebracht. aber die ließ sich nicht auhalten: „er häte ja auch von einem hochhaus springen können oder sich die pulsadern aufschneiden oder tableten schlucken oder sonst etwas, ohne hier den ganzen verkehr aufzuhalten. das ist doch asozial sowas.“ „auf jeden fall sitzen wir jetzt hier mindestens eine dreiviertelstunde fest. will sonst noch jemand einen kaugummi?“ gisela versuchte die aukommende aggressive stimmung zu ersticken: „eigentlich ist es schon scheiße; ich meine, da stirbt ein mensch und wir beklagen uns wegen ein bisschen verspätung.“ doch dieses argument war für jule nicht einsichtig.

was sich ihrer achtzehnjährigen zielstrebigkeit in den weg stellte, war asozial, da musste sie keine langwierigen philosophischen überlegungen anstellen: „sollen wir jetzt alle heulen oder was? in afrika verhungert alle paar minuten ein kind. das juckt auch keine sau.“ „nein, aber ich inde es hat was mit menschenwürde zu tun“, sagte andreas, „wenn wir über die gleise fahren, wo eben einer gestorben ist und käsebrot essen als wäre nichts gewesen, dann ist das schon irgendwie würdelos.“ jule, die gewillt war, die wartezeit zumindest sinnvoll zu nutzen, hob ihr linkes bein in richtung ohr und klemmte es gegen den fahrkartenautomaten. dann begann sie, federnd die innenseite ihrer oberschenkel zu dehnen. gisela wollte ihren augen nicht trauen: „hey, sag mal spinnst du? demolier hier nicht die einrichtung. wenn dich der schafner sieht.“ „hier gibt’s überhaupt keine menschen mehr. nur noch automaten – alle wegrationalisiert.“ trotzdem nahm jule ihr bein brav wieder herunter und wandte sich an andreas: „ich wusste gar nicht, dass du so ein gutmensch bist. was willst du denn machen? eine mahnwache organisieren? so mit kerzen anzünden und betrübt gucken?“ „nein, es kann ja durchaus was kreatives sein.“ andreas ließ


DANSE MACABRE

„WAS GENAU STELLST DU JETZT BITTE DAR?“ „DEN TOD.“

sich von der kleinen nicht provozieren „ich dachte da mehr so an einen totentanz. wir improvisieren einen totentanz.“ „hier auf dem bahnsteig? und was sollen die leute denken?“, fragte gisela. „da indest du immer alle so spießig, aber wenn man zu dir mal sagt, komm tanzen wir ein bisschen auf dem bahnsteig, dann sagst du gleich: und was sollen die leute denken. meinst du nicht, dass du vielleicht selber auch so ein klein bisschen spießig bist?“ das saß. „na gut, tanze ich halt im bahnhof. von mir aus nackt, wenn's sein muss. aber ich inde die idee trotzdem scheiße.“ „und warum?“ „wo soll da der sinn liegen?“ „tanzen muss also immer einen sinn haben? „oh nee, jetzt werd' doch nicht gleich wieder so philosophisch!“, maulte jule, die von der idee eigentlich ganz angetan war. „also ich habe mir das in etwa so vorgestellt ...“ andreas bückte sich und kroch dann mit erhobenem hintern auf allen vieren um jule und gisela herum, wobei er mit dem kopf rollte, als wolle er ihn gleich zum würfeln verwenden. „was genau stellst du jetzt bite dar?“ „den tod.“ „pass bloß auf, dass der dich nicht hier rumkrabbeln sieht. wenn der sich verarscht fühlt, nimmt der dich glat mit“, sagte gisela. „gerade als tänzer muss man sich mit

den großen themen auseinandersetzen: angst, terror, tod, verlassenwerden, liebe, sehnsucht ...“ andreas verharrte selbst während seiner tanzphilosophischen betrachtungen noch in der unbequemen haltung des todes. „deshalb musst du hier ja nicht wie ein gestörter durch den dreck robben.“ doch andreas ließ sich von gisela nicht wie eine ihrer neunjährigen balletschülerinnen behandeln: „mein wahlspruch lautet: mut zur lächerlichkeit. wenn du dich nicht mal was traust, dann bleibt tanz eine nete form von gymnastik, wird aber niemals kunst.“ „wenn ich dich erinnern darf: wir sind eine amateurtruppe. wir können froh sein, wenn das ergebnis zumindest halbwegs ästhetisch aussieht. nur weil wir jetzt zu einem workshop fahren, der von pina bausch geleitet wird, musst du hier nicht so rumspinnen. deine pina ist dir wohl etwas zu kopf gestiegen.“ gisela hate bereits hektische lecken im gesicht. „siehst du, genau das nenne ich kleingeist. kunst machen immer nur die großen. wer nicht berühmt ist, soll das mit der kunst lieber gleich bleibenlassen. was ist denn das für ein ansatz? so, ihr stellt euch jetzt da hinten hin. jule, du bist ein kleines mädchen, gisela macht die alte frau und ich hole euch ab und wir tanzen einen gemeinsamen reigen.“ andreas formte seine hände zu pranken


MARK KLAWIKOWSKI

TOTENTANZ


HENKERSMAHLZEIT


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TUXURAN: FÜR UNS

und begann sich immer schneller, immer schneller im kreis zu drehen. dann hielt er abrupt inne und strebte mit großen verlangsamten schriten jule entgegen. er umfasste ihre taille und hob sie nach oben und sie strampelte wild mit ihren beinen und machte ein erschrecktes milchmädchengesicht. plötzlich fuhr ein ruck durch ihren körper und sie ließ sich lächelnd von andreas zurück auf den boden setzen. sie hob ihr bein zu einer fast perfekten arabesque und tänzelte dann in glückseligen walzerschriten um andreas herum. der sprang mit einem grand jeté auf gisela zu, die zu hören meinte, wie die nähte seiner hose rissen. die leute um sie herum machten mit ihren cofee-to-go- pappbechern einen schrit zur seite, um nicht aus versehen einen fuß ins gesicht zu bekommen. zwar wussten sie nicht, was dieser sonderbare tanz ohne musik zu bedeuten hate, sofern sie es überhaupt als tanz auffassten. aber immerhin verkürzte es die wartezeit, wenn sich einige verrückte zum afen machten und diese hier schienen ja ansonsten harmlos zu sein. da trat ein leicht pummeliger mann mit halbglatze auf den bahnsteig. er trug einen braunen anzug, der

schon etwas abgewetzt wirkte und dessen ärmel einige zentimeter zu lang waren. in der rechten hand hielt er einen aktenkofer, in der linken eine sense. er sprach andreas an, als dieser nach einem besonders anstrengenden sprung kurz innehielt, um wieder genug lut zu bekommen: „entschuldigen sie, wenn ich mich einmische, aber ich interessiere mich sehr für tanz. ich inde ihre contact improvisation höchst außerordentlich. in meiner jugend habe ich ja auch getanzt, aber irgendwann ist man froh, wenn die krat noch für den beruf reicht, da ist dann nichts mehr mit hobby.“ „was machen sie denn berulich? sind sie vertreter für landwirtschatsgeräte oder gartenbau oder so was?“, fragte gisela, die über die unterbrechung froh war. dennoch war ihr dieser kleine mann, der sich mit anbiedernder leutseligkeit zwischen sie gedrängt hate, eher unsympathisch. ganz ofensichtlich ein selbstdarsteller, der jeden augenblick nutzte, um sich selbst reden zu hören. „wegen der sense meinen sie? das ist gut, das hat mich bisher auch noch niemand gefragt, das muss ich mir merken. nein, nein, ich bin in einem


DANSE MACABRE

weltweit operierenden transportunternehmen bereichsleiter für miteleuropa, der exitus gmbh. deshalb inde ich auch ihr kleines stück hier so rührend antiquiert. wir arbeiten ja heute viel eizienter und gerade der kundenkontakt beschränkt sich nur noch auf den bruchteil einer sekunde. sonst wäre auch der personalaufwand viel zu hoch. wenn sie nur mal überlegen, wie viele menschen so an einem tag sterben ...“ „entschuldigung, ich glaube, ich verstehe sie da nicht so genau. was genau transportieren sie?“, andreas knif die augenbrauen zusammen. „seelen. wir sind spezialisiert auf den transport menschlicher seelen. kurzzeitig haten wir aufgrund einer fusion auch den transport von chamäleon-, schaf- und katzenseelen im programm, aber den bereich haben wir got sei dank wieder abgestoßen. aber ich erzähle ihnen da schon viel zu viel. wir operieren gemeinhin sehr diskret.“ „sie wollen uns doch nicht ernsthat weiß machen, sie seien der tod?“ „nein, wo denken sie hin, tod nannte man bei uns eigentlich nur die sachbearbeiter und auch die schon lange nicht mehr. das heißt jetzt executive oicer, wie in jedem international geführten unternehmen.“ andreas wollte dem ofensichtlich geistig verwirrten mann den rücken zudrehen, um weiterzutanzen, doch dieser ließ sich nicht so leicht ignorieren: „sehen sie, so ist das immer, sage ich den leuten die wahrheit, halten sie mich für einen lügner und spaßvogel, erzähle ich ihnen irgendeinen hanebüchenen mist, glaubt mir jeder. bite, wie sie wollen, eigentlich halte ich gar nichts von so billiger efekthascherei, aber anders scheint es einfach nicht zu funktionieren.“ er klopte dreimal mit seiner sense fest gegen den fahrkartenautomaten und war plötzlich weg. doch kaum haten sich die drei versichert, dass er tatsächlich verschwunden war, stand er mit schelmischem gesichtsausdruck wieder vor ihnen. „ha, sehen sie, jetzt sind sie beeindruckt. aber was ich eigentlich erzählen wollte: ich komme auch kaum mehr ins theater. das letzte stück, was ich mir von pina bausch angesehen habe, war, glaube ich, der fensterputzer. das ist aber auch jahre her. dabei sollte man öters ausgehen. das leben ist so kurz. vita brevis, ars longa sage ich immer. und ihre kleine

auführung hier, wirklich, ich bin beeindruckt. ich könnte ihnen kostenlos unsere goldene kundenkarte anbieten. das erspart ihnen auf den weg ins jenseits unnötige wartezeiten: sie können unsere viplounges nutzen und bei einigen bestatungsunternehmen bekommen ihre angehörigen damit sogar prozente. aber wir sind erst noch dabei, dieses netzwerk auszubauen.“ keiner machte anstalten, auf dieses verlockende angebot einzugehen. außerdem hate es der herr mit der sense plötzlich eilig. denn jule, gisela und andreas haten zwar vollkommen vergessen, dass sie sich auf dem bayreuther bahnhof befanden, aber nichtsdestotrotz fuhr plötzlich der verspätete zug nach nürnberg ein und die aussteigenden fahrgäste drängten auf den bahnsteig. „es war wirklich interessant, sich mit ihnen zu unterhalten, aber jetzt muss ich meinen platz suchen, ich habe nämlich reserviert. ich wünsche ihnen eine angenehme reise!“ „sie wollen doch nicht etwa in zug arbeiten?“, andreas bekam als erster den mund wieder auf. „doch, doch ich habe eigentlich immer meinen laptop dabei.“ er schaut die drei lächelnd an. „nicht, was sie jetzt wieder denken. ich bin schon lange nicht mehr ins tagesgeschät involviert. einen schönen tag noch!“ jule, gisela und andreas wurden von den anderen reisenden in den zug gedrängt und verloren dabei den herrn von der exitus gmbh aus den augen. und nachdem der pummelige mann, einen kleinen tumult verursachend, seine sense auf die gepäckablage gelegt hate, war er von den anderen geschätsleuten nicht mehr zu unterscheiden.


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64 sie ging über einen bürgersteig mit tiefen löchern, sah einen rollstuhlfahrer miten auf der autobahn und durch ein fenster konnte sie ein pappmachéskelet erspähen. sie aber hate etwas anderes vor und lief weiter, während ihre weißen kniestrümpfe nach unten rutschten. an einer neonlichtbeleuchteten bäckerei an der ecke progreso/ mexicaltzingo machte sie halt. ihre kleine bestickte rosarote lederbörse in der hand, besah sie sich die auslage, presste die stirn an die scheibe. dahinter lauter zuckrig-klebrige, kunterbunte köstlichkeiten. zierrat überall, inmiten von staubigen holzregalen, vor gesprungenen mauerwänden. manch einer häte sich vielleicht erschreckt, sie jedoch sah voller entzücken darauf. auf den farbig dekorierten schädeln war in kunstvoller schrit pedro, maria, isabel und javier graviert. so einen wollte sie haben und großmama esperanza noch heute abend bringen. oder doch lieber ein schokoladiges etwas, das sich bei näherem hinsehen als miniatursarg entpuppte? sie ging hinein und schloss die halbblinde tür hinter

sich. fast fühlte sie sich der ohnmacht nahe ob so viel unwiderstehlicher gerüche. das marzipan hate es ihr ganz besonders angetan. und die grellgrünen blüten aus zuckerguss auf dem wohlgeformten schädel. großmama esperanza würde sie lieben und vielleicht noch einmal sprechen zu ihr. nach einer weile hate sie sich entschieden: der da, der sollte es sein. hastig lief sie zurück über den holprigen bürgersteig, ganz hinauf – die papiertüte in der einen, die kleine bestickte rosarote lederbörse in der anderen hand. außer atem raschelten tausende von gelben papierblüten unter ihren füßen und sie fühlte, dass sie großmama esperanza immer näher kam. auf dem friedhof oben am berg spielte sie schon, die musik. und forderte auf zum tanz mit den toten.


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FOTO: CSH


ELVIRA LAUSCHER

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DER ERINN ERUNGS TRANK ELVIRA LAUSCHER

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whiskey passte in sein leben, wie max und moritz in die schule. zu bodenständig und alltäglich war es sonst, fern von luxus, schwäbisch-bieder. doch der whiskey war seine leidenschat, die er – zwar dosiert – aber doch regelmäßig genoss. mit beiden händen umfasste er dabei fest das viereckige glas mit dem dicken boden. fast sah es aus, als ob er sich daran wärmte. er hob es gegen das licht und genoss den dunklen ockerton, den er durch die zwischenräume seiner inger betrachten konnte. dann roch er an der lüssigkeit und dem leicht rauchigen aroma, das neben dem alkohol in seine nase stieg. schluck für schluck ließ er den whiskey dann durch seine kehle rinnen. frieder trank nur single malt whiskey, mindestens 15 jahre in einem eichenfass gereit. „eine sünde“, sagte seine frau martha, „so ein haufen geld für eine lasche!“ „ein geschmack nach eiche, nach reife und viel zeit“, entgegnete frieder ruhig. fast schien es, als wollte er noch weiter reden, doch ich habe ihn in den zwanzig jahren, in denen ich frieder gekannt habe, nie mehr dazu sagen gehört. es war für ihn ein fast schon poetischer satz. ein satz, der eigentlich ebenso wenig zu ihm passte, wie der

whiskey und die ganze zeremonie, die er darum machte. frieder und ein weizen – prima. oder ein dunkles hefe – perfekt. oder auch mal ein frisch gebrannter klarer – wunderbar. etwas lüssiges, alkoholisches, das in eine beiz passte, irgendwo auf dem land oder in der nähe des eisenbahnschuppens, in dem er seit seiner frühpensionierung unendlich viel zeit verbrachte. sommers wie winters, ja auch wenn es im schuppen nur knapp über 0 grad warm war. einen ehemaligen lokführer konnte so leicht nichts abschrecken, schon gar nicht das weter. jahrzehntelang hate er im freien auf der lok gesessen, nur von vorne vom kohlenfeuer angeheizt, oder angekokelt, wie er manchmal witzelte. hier im lokschuppen war frieder in seinem element. er restaurierte und werkelte, organisierte und schate. aus alten lokruinen, die sein von ihm mit gegründeter verein einkaute, wurden fahrbare sonntagsfreuden für nostalgiker. der dampf der alten loks zeichnete regelmäßig seine spuren am himmel der schwäbischen alb. keine aufgabe war frieder dabei zu schwierig. er besorgte ersatzteile von überall her und was er nicht fand, das machte er selbst. er


DER ERINNERUNGSTRUNK

“WENN ICH DIE OCKERFARBENE FLÜSSIGKEIT DURCH MEINE FINGER HINDURCH BETRACHTE, DENKE ICH AN CHARLES UND AN FRIEDER“

war handwerker genug und kein material war für ihn unbesiegbar. frieder schate stets, dass es sich ihm unterwarf und in der form endete, wie er es sich vorgestellt hate. metall oder holz – was spielte das schon für eine rolle? man liebte ihn für seinen erindergeist, für seine hartnäckigkeit und auch für seine humorvoll ruppige art. die jungen zugbegeisterten, die ebenfalls im schuppen halfen, sahen zu ihm auf, bewunderten sein wissen. er war noch von einem alten schlag, der heute nicht mehr so häuig zu inden ist. im schuppen trank er keinen whiskey, erzählte er mir einmal. „das passt nicht, mädel“, meinte er. ich war nie in dem schuppen gewesen und konnte mir kein bild davon machen. doch wenn er davon erzählte, von dort oder auch vom krieg, dann zeigte sich eine gewisse härte und ausdauer in seinem gesicht. so sah ein kämpfer aus, ein überlebender, ein macher. einer, der immer auf dem boden geblieben war, im wahrsten sinne des wortes. auch im krieg hate ihn niemand umhauen können, weder die klirrende kälte in norwegen, noch die zahlreichen insekten auf seiner pritsche, die ihn heimsuchten. und schon gleich gar nicht der „russ“. wenn er seinen malt in den händen hielt, wurde sein gesicht ein bisschen

weicher, nicht ofensichtlich, leider. sonst häte ich ihn schon damals gefragt, was es damit auf sich hat. vielleicht jedenfalls, denn so gut kannten wir uns all die jahre nicht, in denen wir nur stundenweise gemeinsam beim essen saßen, an den feiertagen oder auch mal an einem normalen sonntag, wenn es eben wieder an der zeit war für einen besuch bei den großeltern. jahre später dann sah ich es wieder, das weichere gesicht, das verletzlichere. frieder war schwach und alt geworden, hate seiner martha schon lange für immer auf wiedersehen gesagt. ein schlaganfall hate ihn aus der ehemals gemeinsamen wohnung und in ein altenheim gebracht. irgendwann hate er eingesehen, dass er nicht mehr alleine sein konnte und irgendwann gab er sich auch immer mehr auf. er saß im rollstuhl, kämpte nur noch mit ein paar mitbewohnerinnen, die ihm nicht zusagten. sozusagen als kleine selbst gewählte aufgabe. die damen spielten diese verbalen auseinandersetzungen – man könnte fast meinen – gerne mit. ansonsten war frieder sehr beliebt. seine ruppige, charmante art, seine ehrlichkeit und seine gradlinigkeit, die sich in der unterteilung seiner nahen umwelt in „die isch scho recht“ oder „a bese frau“ zeigte, geiel


ELVIRA LAUSCHER

den menschen um ihn herum. die mitarbeiter des heimes liebten ihn, auch die damen, die mit ihm logopädie oder krankengymnastik machten, ließen sich von seinem rauen charme direkt in sein herz entführen. fürsorglich waren sie allesamt, auch als es schlechter um frieder stand und er immer mehr abmagerte. aber er hate ein schönes alter erreicht mit über 90, da zwingt man niemandem mehr ein ungewolltes essen rein. auch keinen whiskey.

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zu beginn hate er noch manchmal einen getrunken im heim. doch hat ein ritual, das man von zu hause mitbringt, einen anderen stellenwert in einer fremden umgebung. nur noch selten sah man ihn mit dem viereckigen glas und seinem malt. manchmal zu beginn, wenn er mit seiner lieblingsplegerin moni da saß und über alte zeiten redete, holte sie ihm die lasche und ein glas. hin und wieder holte sie dann wohl auch zwei und nippte, wenn sie kurz vor feierabend noch zu ihm kam, auch an einem whiskey. doch je mehr frieder abbaute, desto seltener sah ich ihn mit einem glas mit ockergelber lüssigkeit. was ich nun eher sah, war das gesicht darunter. er nahm immer öter meine hand, wenn ich sie ihm reichte und streichelte sie. eine zärtliche und leicht hillose geste, die ich nicht mal bei seiner martha gesehen hate. seine beide hände umfassten meine und seine obere streichelte mich immer wieder, hin und her. so lange, bis es fast unangenehm wurde und man gerne mal selbst quer darüber gefahren wäre. später habe ich dann seine hand gestreichelt. es war klar, dass es nicht mehr lange ging mit frieder. auch frieder wusste das und kämpte trotzdem gegen das unvermeidliche an. zuerst wusste keiner warum. er hate doch alles gehabt und wollte selbst nicht mehr. und doch hielt ihn etwas, was ihm sein herz so schwer machte, dass es ihn nicht gehen lassen wollte. tagelang kämpte er in einer art wach-traum-zustand. wenn er sich mit seltsam glasig und trüb gewordenen augen aufrichtete, murmelte er manchmal unverständliche worte. dazwischen ein name. charles. nie zuvor hate ich den namen charles gehört und ich kannte auch keine geschichte über einen charles. moni übrigens auch nicht und auch niemand sonst, den ich fragte. manchmal richtete er sich auf und zeigte auf den himmel. „ssssie kommn ...“, nuschelte er, kaum verständlich und dann schrie er und schnaute panisch. seine hand machte

SCHRIFTENREIHEN

eine wegwischende bewegung, als ob er etwas verjagen wollte. „charles ...“ charles, immer wieder charles. ich fragte, ob das am himmel lugzeuge waren. er nickte. ob er mich wirklich verstanden hat, weiß ich nicht. auch nicht, ob die anderen fragen, die ich ihm nach und nach 2 stellte, bei ihm noch ankamen. ich habe nur eine tiefe schuld bei ihm gespürt, die ihn nicht in ruhe ließ. ob es eine tatsächliche schuld war oder eine eingebildete, die eines überlebenden, der seinen freund durch unglückliche umstände vor über fünfzig jahren im krieg verloren hat, ich weiß es nicht. und werde es auch nie erfahren. an einem nachmitag, als ich bei ihm war, füllte ich mir das glas. ich wollte ihn auch mal probieren, diesen malt. er schien ihn zu riechen, murmelte „schhheeißßß ßßßß kerllll, charles“. „du hast ihn sehr gemocht, diesen charles ...“ frieder nickte und für einen moment wirkte er wacher als in den letzten tagen. „wer auch immer charles war und was du auch getan hast, er hat dir schon lange vergeben. vielleicht tret ihr euch auf der anderen seite“, meinte ich. er stöhnte – es klang erleichtert – auf. ich habe ihn keine anderen worte mehr danach sagen hören. manchmal trinke auch ich nun einen whiskey. die stimmung dafür muss richtig sein und auch der ort. ich habe den korbsessel vor dem fenster im schlafzimmer gewählt. dort habe ich den schönsten blick über die lichter der stadt. und wenn ich trinke, muss es ein single malt whiskey sein, mindestens 15 jahre in einem eichenfass gereit. aus reiner gerste, mit frischem quellwasser und hefe angesetzt und über einem torfeuer gebrannt. wenn ich die ockerfarbene lüssigkeit durch meine inger hindurch betrachte, denke ich an charles und an frieder. wer charles war, werde ich nie erfahren und auch nicht, warum jemand von den inseln – vielleicht aus schotland? – im krieg auf die deutsche seite geriet. aber ich höre diesen unbekannten genussvoll sagen: „ein geschmack nach eiche, nach reife und viel zeit.“ und dann sehe ich die zwei jungen männer, die die gläser erheben. und ich sehe die unbeschwerten gesichter, junge gesichter. ich proste ihnen zu und spüre auf meiner zunge den vollen geschmack des malt.


TUXURAN: NICHTLIEBEN / IST NICHT HASSEN IST / ANGST HABEN


SCHRIFTENREIHEN

PETER ZWEY

WENN DIE TOTEN UND UNTOTEN TANZEN PETER ZWEY

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1. der tanz ist form und ausdruck der freude. ot steckt darin wie im trotzigen tango auch ein stachel voll hohn und parodie auf den tod, den geheimen widerpart, der augenblicklich kommen mag, um die lust am tanz jäh zu beenden. totentanz also bedeutet eine paradoxie. der tod bzw. etwas totes ist anlass oder gegenstand der freude, die nicht identisch sein muss mit der lebensfreude. die freude kann auch dem tod gelten und den toten, als den vom leben in der knechtschat befreiten. denken wir an die märtyrer und gefolterten, die ihre qual im hofnungsvollen blick auf den tod überstehen, der sie von unerträglichen schmerzen befreit. ihr tanz indet im geheimen ihrer gedanken stat. auch der selbstmörder vollführt einen letzten tanz ot an der grenze, die er wortlos passiert. 2 . dem wort totentanz entspringt ein brunnen höchster bedeutung und deutbarkeit. denn nichts ist ungewisser und unbewusster als der grenzbereich zwischen tod und leben. einerseits verweist der begrif auf tänze jenseits der zeitmauer, andererseits beschwören auch die lebenden auf vielseitige weise den tod immer wieder mit neuen und alten tänzen. schließlich gibt es jenes zwischen-

reich, wo die untoten und zombies verschiedener herkunt hausen, die in der regel freilich wenig neigung zum tanzen zeigen. aber auch ihr schlürfen und stapfen im schwarzen sand ihrer unmündigkeit ist ot als rudimentäre tanzart erklärt worden.

3. von arno schmidt stammt die fantasie, dass die toten nicht sterben können, solange sie noch zitiert, verehrt und auf irgendeinem gedächtnissockel weiterleben müssen. sie hofen alle auf endgültiges vergessenwerden, sie verluchen die tage, als sie noch am leben waren und nichts als überlebenslangen ruhm begehrten. genau dieser ruhm verwehrt ihnen nun den ewigen schlaf, nach dem sie sich sehnen. jedes mal also, wenn einer, der schon beinah vergessen ward, wieder von einem dieser lebendigen einfaltspinsel in erinnerung gerufen wird, verfällt dieser post mortem und wider willen verehrte in verzweilung und wirt vor wut und verzweilung das nacht-geschirr der ewigkeit aus den fenstern dort. 4 . ganz anders dachte der philosoph und dichter walter benjamin. ihm war gewiss, dass es eines tages eine innerweltliche erlösung aus der qual und dem


WENN DIE TOTEN...

schlachthaus der geschichte geben wird. dieser hofnung genügten ihm zufolge die sichtbaren anzeichen, dass immer wieder unabgegoltenes der geschichte zu aktueller geltung kommt. wenn eine vertane oder unerfüllte möglichkeit der geschichte nach jahrhunderten plötzlich wirklichkeit wurde, sah er darin vorzeichen eines tanzes, der am tag der befreiung von ungerechtigkeit und barbarei den jubel der menschheit bewegen wird.

5. im limbus zwischen himmel und hölle in dantes „götlicher komödie“ sitzen die ungläubigen, genauer solch tugendreiche und verdiente leute wie platon und moses, die keine gelegenheit haten, dem christentum beizutreten, da es dieses zu ihrer lebenszeit noch gar nicht gab. vermutlich war ihnen während der langen wartezeit, deren dauer bis auf den tag keiner ermessen kann, nach tanz nicht nur als ausdruck der vorfreude zumute, alsbald in den himmel der seligen aufgenommen zu werden. möglicherweise arbeiten sie auch zur stunde noch an kunstvollen iguren, von denen wir gläubigen bis heute nichts ahnen. denn was wissen wir schon von takt und rhythmus der tänze, die außerhalb von raum und zeit im rampenlicht des allmächtigen vollführt werden?

6. der katholische theologe hans urs von balthasar besuchte einmal eine der berühmten vorlesungen des wiener schritstellers karl kraus. der satiriker las aus seiner tragödie „die letzten tage der menschheit". von balthasar quälte bald die unheimliche erscheinung, dass der entfesselte tanz der worte das publikum im saal in lauter tote seelen verwandelte und loh rasch von dem orte, wo der magier und dichter diese art von totenbeschwörung abhielt. von balthasar wusste danach nie, ob er mit toten oder mit untoten zusammen dieser veranstaltung beiwohnte. von der die irdischen grenzen überwindenden krat des sprachmagiers karl kraus aber war er fortan überzeugt.

7. schließlich miodrag pavlovics buch von der „bucht der aphrodite". darin relektiert der serbische dichter auf ein großes jugoslawisches versöhnungsfest, das nur glücken kann, wenn dabei auch die verstorbenen und einst zu unrecht verurteilten und zu tode gekommenen zum feste erscheinen können. er vermisst den festlichen tanzboden dieses zukuntsereignisses in alle richtungen. wie wäre eine einladung an die besonderen gäste aus dem totenreich abzufassen und wer könnte sie überbringen? denn nur wenn keiner fehlt und der letzte gast zum ersten passt, wie ein denkstein auf den anderen, ist diese utopie erkennbar und erfüllbar.


SUNNY ERIKSON

SCHRIFTENREIHEN

DEAD CAN DANCE ES SAY VON ROCKY SUNNY ERIKSON

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1. EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN ES ist doch so: wenn wir ehrlich sind, meine damen und herren, die rentner plündern die rentenkassen. kaltblütig, mit zitrigen, faltigen händen werfen sie unser geld für gehhilfen, stützstrapse und andere fetisch-artikel raus und nehmen uns jungen die letzten jobs weg, wie die ausländer in den siebziger jahren uns die arbeit und die frauen wegschnappten. weil sie immer mehr brauchen, gierig nach tableten, sex und macht. nächte durchzechend und auf pille torkeln sie früh morgens durch die neubaugebiete und machen unnötig lärm bei der zeitungsaustragerei oder rutschen uns bei der regalbestückung im edeka zwischen den beinen rum. wir lieben lebensmitel. nachmitags hängen sie deliriös-augenringig in apotheken rum, wie junkies in den ixerstübchen der großstädte, quetschen egoman den letzten cent aus unserem gesundheitssystem heraus. weil der staat nichts dagegen unternimmt, helfen sich bürger nun selbst. mancherorts verkaufen bauarbeiter stahlgiterstützen frisch und gegen blixas bargeld von der baustelle weg, anstat sie einzubauen. sind sowieso überbewertet,

stahlstützen braucht kein mensch. der diabolische plan ist folgender: sind die neubauten errichtet, veranstalten dj builder & co unter wortspielerischvertuschenden pseudonymen ü60-teetänzchen in den kurzlebigen untergeschossen. oma, save the last dance for me ... laut joseph beuys steckt in jedem menschen dieser erde angeblich ein künstler. andy warhol räumte gar jeder kreatur in ihrer lebenszeit 15 minuten ruhm ein. die konsequenz dieser debil daher gesagten worte = casting shows & model-wgs = schate papa benedikt letztes jahr als vorhölle ab – dachte ich. ES war so: er, neu im amt, warf 49 mit zahlen bedruckte kugeln in seine vorhölle-tombola-trommel, ähnlich dem loto, aber 15 war es nicht. es iel die 16. krebs. wegen der neuen highspeed-zertrümmerungsmaschine in heidelberg, vorerst nur für privatpatienten, sorry. schade. kindesmisshandlung durch kirchenangehörige wäre die 14 gewesen – er hate den ruf eines spielers. an dieser stelle sei der chartbreaker „alma mater“ inklusive der hitsingle „the kids are alright“ von mc benedikt empfohlen – it’s a sony – amen. die 15 bleibt im jackpot. 1 und 5 ergibt 6. 3 mal 6 ergibt 666.


DEAD CAN DANCE

SAUBER RAUSGEWISCHTER IHKOPTIMISMUS, BANKFILIALENFREUNDLICHKEIT UND VERSICHERUNGSAGENTURAUGENZWINKERN. FREUDENTANZ. DONAUWALZER. DIE ANDEREN REIHEN SICH BITTE EIN IN DIE POLONAISE ZUM ARBEITSAMT.

2. DIA DE LOS MUERTOS

3. DEAD CAN’T DANCE

kennen Sie zufällig den ilm „once upon a time in mexico“? johnny depp wurde gerade von bösen buben beide augen ausgestochen, somit schnappt er sich einen mexikanischen jungen, der ihn zum stadtzentrum führen soll. in der szene greit er dann in seinen hosenschlitz und fragt den jungen: „hast du so was schon mal gesehen?“ – er holt dann eine pistole raus, das nur am rande erwähnt. der „dia de los muertos“ (tag der toten) ist einer der bedeutendsten feiertage, an dem in mexiko traditionell der toten gedacht wird. die vorbereitungen für die zeremonie beginnen mite oktober, gefeiert wird dann vom 31. oktober bis zum 2. november, je nach region auf unterschiedliche weise. der „dia de los muertos“ wurde im jahr 2003 von der unesco in die liste der meisterwerke des mündlichen und immateriellen erbes der menschheit eingetragen. die feierlichkeiten in ihrer traditionellen form gelten als bedroht, sie werden zunehmend vom nordamerikanischen halloween beeinlusst.

tote tragen keine karos. wir bilden uns ein, die menschen werden sich ob unserer lasziven fähigkeit orgien zu feiern, an uns lebemensch erinnern, dem auf seinem grabstein gemeißelt wird: rip – einer, der feiern konnte. die realität sieht anders aus. der deutsche und der schwabe an sich kann feiern, wenn zwanzigtausend andere das gleiche fühlen (nichts) und brüllen (tor!) wie er. ist aber sein lebensbejahendes charisma als beitrag zum gelungenen feste gefragt, implodiert er. der gast wirt sein geschenk auf den tisch, tätschelt den jubilar ab, frisst das bufet leer und redet den ganzen abend nur mit seinem begleiter, wippt mit den puschen und verdaut. der gastgeber ist einfach froh, wenn er wieder nach hause kann. die willigen tänzer-exoten bauen sich um die tanzläche auf wie eine mauer beim freistoß und warten bis ihr song kommt. aber was ist ihr song, was von dead kennedys? ich dränge mich – werde ich versehentlich eingeladen – gerne als platenleger auf, um das „feiern“ und gespräche zu vermeiden. eine frau wünscht sich „my papa was a rolling stone“, ich


SUNNY ERIKSON

lüge, ich häte den song nicht, schalte sofort ab, als sie zu schwärmen beginnt, schaue mir ihre nase an, ihre haare und ich sehe, dass sie lippenstit an den zähnen trägt. ich nicke zustimmend und singe in mich hinein „your papa was a neanderthaler“. ich frage sie, ob das auf ihrem kopf eine perücke ist oder irgendwas vom bufet. sie verlässt mich, verklärt summe ich „your papa was the steinheimer mensch“ vor mich hin. hilfreich ist, wenn wir in zukunt veranstaltungen einen beinamen geben, um auf deren inhalt hinzuweisen. so könnte ein geburtstag schlicht „sorry for me“ heißen. Die ü30-partys nennen wir „dead men walking“ und eine hochzeit ist in zukunt fröhlich „the last waltz“. ES lebe der zentralfriedhof und alle seine toten, der eintrit ist heute ausnahmslos für lebende verboten.

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wir erinnern uns trotz viel verdrängungsarbeit leider doch noch an das city fest der stadt ulm, welches von dieser selbst – einsichtig und weise – auch aus mangelndem interesse, abgeschat wurde. ein wahrlich gruseliger totentanz war das. das einzige, was an ein „fest“ erinnerte, waren pfandfreie (intelligent), zerbrochene maßkrüge um das münster verteilt, und ein paar alte säcke, die man gegen halb zwölf von minderjährigen mädchen losreißen musste, die ihre töchter häten sein können und schlimmstenfalls waren. 2010 nun, erstrahlt die stadt in einem ganz anderen, herrlichen licht. ein selbstbewusstsein ist da, ein innovatives ego hat sich verfestigt in jedem einzelnen von uns. spitze im wilden süden. heute würden wir hildegard knef nicht mehr davon jagen, nur weil sie mal ihre titen in die kamera gehalten hat. gut, das donaufest wird immer teurer, dafür kann endlich das roxy weg, wenn die neue mehrzweckhalle in neu-ulm steht. außerdem bekommt dann die kradhalle mehr sonne ab. und immer wieder hören wir, dass wir vergleichsweise ja in der diesen und der jenen sparte die besten sind. das ganze leben ist ja nur noch ein wetbewerb. keiner fragt, ob wir die glücklichsten sind. aufstrebende superstars und model-wgs plärren aus den fernsehern, sie wollten doch nur die besten sein. frischgebackene eltern sind stolz, nicht etwa voller freude über das kleine lebewesen. na gut, es ist gesund, das ist ja nichts besonderes. irgendein talent wird es schon zum vorschein

SCHRIFTENREIHEN

bringen, das superkind. sauber rausgewischter ihk-optimismus, bankilialenfreundlichkeit und versicherungsagenturaugenzwinkern. freudentanz. donauwalzer. die anderen reihen sich bite ein in die polonaise zum arbeitsamt. ich glaube, die ärmsten völker feiern am besten.

4. WE LOVE ULM die bleeb geeks haben es auf den punkt gebracht. knallig weiß und rot strahlt es uns von spatzenschwarzen t-shirts entgegen und muntert uns auf. „we are the world, we are the children“ – und die stimme des volkes ist laut. ulmer ulmer und doch hat die stadt sich – was das feiern angeht, noch ein kleines unbeugsames dorf, den galliern in rom ähnelnd – erhalten, der verein leise. silentium. der verein forderte die umbenennung des schwörmontags in störmontag. ist ja nur der feiertag der stadt. so mussten stadtrat und gastronomieprominenz stundenlang über die lärmbelästigung debatieren, lösungen inden für einen leisen schwörmontag. wenigstens gilt das lachen, schreien und toben von kindern laut endlich verankertem gesetz zuküntig nicht mehr als lärmbelästigung, wie industrielärm. bundesweit –geht doch. memento mori


DEAD CAN DANCE


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D P M


DEAD POEMS

DEAD POE– MS


GÜNTER HESS

MORGENSPAZIERGANG DURCH EIN DORF 1980 BEIM GANG VON ... NACH ...

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MIT ZÄRTLICHEM BLICK SEH’ ICH / DEN WEITEN UND WEICHEN SPRUNG / DER KATZE ÜBER DEN ZAUN. / WIE EIN TRITT AN EINE MÜLLTONNE / KLINGT DER SCHLAG DER VORDERACHSE / AUF IHREN LEIB / IHR MECHANISCH HINREICHEND ZERSTÖRTER LEIB / WIRD VON KRÄMPFEN DES TODES / HÜFTHOCH UND SCHRITTWEIT/ HERUMGESCHLEUDERT. / IHR MUND VERSPRÜHT BLUT/ UND ICH TRETE ZURÜCK / UM NICHT SCHMUTZIG ZU WERDEN. / DEN FOLGENDEN WAGEN / VERTRET’ ICH DIE SPUR, / DA ES MIR STILLOS SCHIENE / SIE 2 MAL TÖTEN ZU LASSEN. / DER KADAVER KOMMT IN DER RINNE ZUR RUHE / UND ICH WEISS / SEHR KLAR UND SEHR WACH; / „DIES IST DER TOD DURCH GEWALT/


DEAD POEMS

UND ICH JOB’ GERADE /ALS WAFFENENTWICKLER.“ / ALS MENSCH VON KULTUR / UNTERNEHME ICH SCHRITTE, SIE SOGLEICH UND DISKRET / DEM BLICK JENER DENKBAREN KINDER, / DIE SIE MÖGLICHERWEISE GELIEBT, ZU ENTZIEHEN. / DEN SCHOCK UND DEN RAUSCH / MEINES EINTRITTS IN DAS BEWUSSTSEIN DES TÖTENS / VERBERG’ ICH MIT ROUTINIERTER GESCHWÄTZIGKEIT / KURZFRISTIG BLIND DER INTERESSENLAGEN RINGSUM. / DIES ÄRGERT MICH NACHHER NOCH LANGE. / GÜNTER HESS


GÜNTER HESS

TOTENTANZ

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EIN SCHÖNER GREIS TRITT AUF MIT STIL UND STILLE, / VERGILBTER GLANZ VON STRAFFEN / JUGENDTAGEN. / IM ROT DES GÜRTELS ZEIGT SICH SEIN VITALER LEBENSWILLE. / DER WEISSE ANZUG WIRKT SALOPP / GETRAGEN. / SEIN KÜHLER BLICK VERACHTET SCHON DES LEBENS FÜLLE. / SEIN GANG ERZÄHLT VON KLUG BEHERRSCHTEN ALTERSPLAGEN. DEM GEDICHT VON G. TRAKL: „DER HERBST DES EINSAMEN“ ZUGEEIGNET GÜNTER HESS


DEAD POEMS

DAS GEHEIMNIS DER MACHT

DER BLICK EINES HÜHNERBARONS / BEIM BLICK AUF DIE EIER-FABRIK / MIT SEINEN 10.000 HÜHNERN: / JEDES VON IHNEN LEGT TÄGLICH EIN EI / UND JEDES HAT EINEN HALS / FÜR DIE SUPPENHUHN- KÖPFUNGSMASCHINE. / WER VERSTÜNDE DIE LUST DARIN NICHT? / DOCH WER GÄBE DIES, / AUCH VOR SICH SELBER, / AUCH ZU? / GÜNTER HESS ... AUF SEIN HÜHNER-SILO ... ?


MARCO KERLER

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KURZBERICHT INTENSIV KAFFEE KIPPEN KETTENKARUSSELL

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KERNSPIN-TOMOGRAPHIE / KAMMERKIND IN KRANKENBETT / DER GEDANKE AN TABAK UND / SAUERSTOFF AUF DER NASE / SCHWINDEL IN BEIDE / RICHTUNGEN / KARDIOGRAPHIE / IM SINNE DER KUNST / KAFFEETASSE EINE / AM TAG STATT STÄNDIG / INFUSION FÜR ZWISCHENDURCH PLUS / PILLEN MORGENS ABENDS / EKG ALL INCLUSIVE / BLUTABNAHME KÖRPER / FIEBERT MIT 3 LITER AM TAG / GETRÄNK NACH WAHL WASSER / IN DER LUNGE UND DER / GEDANKE AN TABAK / INTENSIV ERFÄHRT HERZ WAS /ES HEISST ZU SCHLAGEN DOCH / ES HAUT MICH NICHT UM / NICHT VOM SOCKEL AUF / DEM ICH KNIE / MARCO KERLER


TUXURAN

TUXURAN: URTEILE SIND SO ENDGÜLTIG UND DAMIT FALSCH


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TUXURAN: RUHE / TRITT ANGESICHTS UNSERER WERKE/ BEINAH NUR/ MIT DEM KOPF/ IM NEBEL/ EIN


ANDREAS GRYPHIUS

ES IST ALLES EITEL

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DU SIEHST, WOHIN DU SIEHST, NUR EITELKEIT AUF ERDEN. / WAS DIESER HEUTE BAUT, REISST JENER MORGEN EIN; / WO ITZUND STÄDTE STEHN, WIRD EINE WIESE SEIN, / AUF DER EIN SCHÄFERSKIND WIRD SPIELEN MIT DEN HERDEN; / WAS ITZUND PRÄCHTIG BLÜHT, SOLL BALD ZERTRETEN WERDEN; / WAS JETZT SO POCHT UND TROTZT, IST MORGEN ASCH UND BEIN; / NICHTS IST, DAS EWIG SEI, KEIN ERZ, KEIN MARMORSTEIN. / JETZT LACHT DAS GLÜCK UNS AN, BALD DONNERN DIE BESCHWERDEN. / DER HOHEN TATEN RUHM MUSS WIE EIN TRAUM VERGEHN. / SOLL DENN DAS SPIEL DER ZEIT, DER LEICHTE MENSCH, BESTEHN ? / ACH, WAS IST ALLES DIES, WAS WIR FÜR KÖSTLICH ACHTEN, / ALS SCHLECHTE NICHTIGKEIT,


DEAD POEMS

ALS SCHATTEN, STAUB UND WIND, / ALS EINE WIESENBLUM, DIE MAN NICHT WIEDERFIND'T! / NOCH WILL, WAS EWIG IST, KEIN EINZIG MENSCH BETRACHTEN. / ANDREAS GRYPHIUS / HAUPTVERTRETER DES VANITAS-MOTIVS IN DER LITERATUR. / (VANITAS: LATEINISCH "LEERE, NICHTIGKEIT, EITELKEIT")


Titel Artist KAIROS

Name Beitrag KOLUMNE

KOLUME KAIROS 87

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totentanzstunde. darf ich bitten? wenn's sein muss – der tanzmeister trägt ein durchlöchertes sakko. und sie, die tanzmeisterin? ein kostüm mit nichts drunter. andere damen sind bloß als kostüme vorhanden. da gibt's mit dem handkuss probleme. aber der tanzmeister läßt keine ausreden gelten. und immer wieder der tango. der wird gegen den uhrzeigersinn getanzt. andere sagen: im uhrzeigersinn – egal, der uhrzeigersinn ist jedenfalls wichtig. ruckartig, abgehackt, schreitend. beim tango gibt's kein auf und ab, deshalb der lieblingstanz der toten. und natürlich ist er auch ohne kopf tanzbar. sie dürfen die dame jetzt küssen. ach so, das gilt bei der trauung. können auch tote einander das jawort geben? wenn sie's ehrlich meinen, bestimmt. wohin aber dann mit den blumen?

das wird erst zum abschlussball wichtig, jetzt sind die anfängerschritte dran. und der gute benimm. oha, die füße nicht auf’n tisch! wer braucht schon tische, zu essen gibt's eh nichts. mancher tanzt sich die seele aus dem leib. ja, auch männer. frauen besäßen gar keine, hatten ältere tanzmeister gemeint, die sind jetzt pensioniert. die tanzmeisterin achtet auf richtiges schuhwerk. wer barfuß tanzt, fliegt. und wird doch nicht automatisch zum engel – tja, wenn das so einfach wär. manchmal schaut trotzdem ein engel vorbei. die dürfen das ja nicht – tanzen. fliegen schon, doch bloß zu nützlichen zwecken. da bleibt man doch lieber brav auf dem boden. die engel sehen also gern zu. aber nicht die, immer nur einer. sie könnten sich sonst gegenseitig verpfeifen. der tanz-


Name Beitrag

TOTENTANZSTUNDE

meister wird dann nervös. theoretisch dürfte er den engel ja rauswerfen, aber er fürchtet sich vor dessen schweigen. die kerle reden doch nichts. die toten spielen sich vor ihnen gern auf. und riskieren auch mal nen walzer, den mögen die engel besonders. da gehen sie richtig mit. das tanzmeisterpaar knirscht dazu mit den zähnen. wenn der engel dann weg ist, wird zur strafe polka geübt. was die gegen den walzer haben? wahrscheinlich den körperkontakt. und das schwingen. oder das österreichische, das ihm irgendwie anhaftet. die tanzmeister sind nicht, wie's immer heißt, alle aus deutschland. woher sie wirklich kommen, weiß aber keiner genau. sie scheinen sämtliche sprachen zu können, ihre haut ist mal dunkel, mal hell. zumindest sieht

sie so aus, wer kann das bei der beleuchtung schon sagen. ja doch, es gibt licht. aber es wirkt wie von glühwürmchen erzeugt. wir haben hier keine sonne, sorry, sagte neulich einer auf englisch. kairos


TUXURAN: WAS WILL ICH MIT EINEM JENSEITS /IN DEM MEIN HIERSEITS VERGOLTEN WIRD /NIEMAND WEISS WAS DARÜBER /ICH LEBE LIEBER /HIER UND JETZT / SCHON GUT


FLORIAN L. ARNOLD

ULMORBID TSCHNABARBIER UND POSSENKOFER belauscht von florian l. arnold

POSSENKOFER: du, ich glaub, wenn ich hier noch länger in ulm lebe, dann bring ich jemanden um. TSCHNABARBIER: was? ja – bist du deppert? was ist denn in dich gefahren? POSSENKOFER: weiß nicht. das macht die atmosphäre in ulm, vor allem nachts. wenns in den straßen dunkel wird. da spür ich den mörder in mir… TSCHNABARBIER: den mörder in dir? du – ich kenn dich nicht wieder! POSSENKOFER: geht mir auch so. ich seh mich früh im spiegel und sag mir: das bin ich. und abends seh ich in den spiegel und sag mir: das bin ich immer noch. aber wenn ich nachts in den spiegel seh, seh ich was, was ich nicht gern seh. TSCHNABARBIER: den mörder in dir … POSSENKOFER: oder irgendwas anderes. etwas, das diese stadt in mir wachruft. TSCHNABARBIER: dann zieh lieber weg! wenn du einen umbringst, hat nämlich keiner was davon.

POSSENKOFER: stimmt. einer ist tot, einer sitzt im knast – und die stimmung in der stadt wäre ruiniert. TSCHNABARBIER: ja, und wie! die leute kommen doch gern nach ulm, weils bei uns so ruhig und beschaulich ist. keine gangs. keine straßenschlachten. keine somnambulen mörder …! POSSENKOFER: ich bin ja auch kein mörder, also, jedenfalls noch nicht. ich wills ja auch nicht werden. wenn ich es wollen würde, würde ich zum arbeitsamt gehen und umlernen. TSCHNABARBIER: das geht? POSSENKOFER: freilich. gehst zum schalter zwölf – „sonderbereich kreative berufe“ – und da sagst du: ich hab ein talent zum mördern. und dann hilft man dir schon weiter …! TSCHNABARBIER: also hast du dich schon erkundigt? POSSENKOFER: nein, ein freund von mir. hat sich komplett umschulen lassen auf mord und totschlag. mit allem, was dazu gehört: strangulie-

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ren und filetieren, ausweiden und alle tricks mit säure und zement und … TSCHNABARBIER: pfui, hör auf! ich wills gar nicht so genau wissen! POSSENKOFER: warum fragst du dann? TSCHNABARBIER: höflichkeit. POSSENKOFER: dabei ist das wirklich interessant. das arbeitsamt zahlt die umschulung komplett – weil die sich sagen, dass alle beteiligten etwas davon haben. der mörder hat einen job. und er sorgt auch dafür, dass etwas gegen die überbevölkerung getan wird. entlastet ja auch die rentenkasse, das darf man auch nicht vergessen! und dann ist es auch gut für den wohnungsmarkt – weil ja viele leute rücksichtslos jahre- und jahrzehntelang die schönsten wohnungen blockieren. da gehen die freiwillig sonst nie raus! aber wenn so ein berufsmörder einen hinweis und ein feines trinkgeld bekommt: „du, da hast du 300, mach mir mal die wohnung am michelsberg 23 klar …“ – dann geht der los und …! TSCHNABARBIER: hör auf! das ist unappetitlich! POSSENKOFER: wir leben nun einmal in schwierigen zeiten. die arbeit liegt nicht auf der straße … TSCHNABARBIER: nein. sie liegt ahnungslos im bett, mit einem dolch in der brust! POSSENKOFER: sei nicht sarkastisch. natürlich wird heute sehr human gemördert. ich kenn einen, der spricht mit seinem opfer sogar den ganzen vorgang durch. er sagt ihm genau, wann er was macht und wozu

er es macht. und die opfer entwickeln sogar verständnis für seine arbeit. neulich erst sagte ihm ein altes mütterchen, dessen wohnung frei werden musste, dass sie selbst interesse an dieser arbeit hätte, weil sie ja ihren ehemann sowieso schon mit einer spur strychnin im schweinebraten um die ecke gebracht hat und weil bis heute keiner gemerkt hat, dass ihre vermieterin anno 67 – eine gewisse brunhilda brotkranz, die eine ganz grässliche miet-hyäne war! – dass sie diese brunhilda brotkranz mit der richtigen portion safranfarbener arsen-kekse ausgeschaltet hat. TSCHNABARBIER: und so was wohnt hier? – in ulm? POSSENKOFER: ja, sicher. sie ist 88 und keiner ist ihr jemals auf die schliche gekommen. TSCHNABARBIER: wenn das einer erfährt! die stadt wäre ruiniert. die grundstückspreise würden verfallen! die touristen würden ulm meiden wie die pest. und in unsere schöne neue mitte würden die matratzen-händler einziehen! ein graus! POSSENKOFER: das nennst du einen graus? na, ich bitte dich. ein graus ist, was mir ein makler kürzlich berichtete. er wollte ein haus im fischerviertel verkaufen – schöne lage, leicht renovierungsbedürftig, sonst lieb – er hatte schon käufer, ein nettes ehepaar aus metten. da stellte sich raus, dass unterm keller zwanzig gerippe lagen – vermutlich pesttote, vielleicht auch hugenotten, die man damals gern einen kopf kürzer gemacht hat, im … jahrhundert. man weiß es nicht.


TOTENTANZ

was sollte er machen? er hat eine lage beton drüber gegossen und dem netten ehepaar aus metten nix erzählt. und die leben glücklich und zufrieden in ihrem häuschen. TSCHNABARBIER: und zwanzig zentimeter unterm kellerboden warten zwanzig tote – na danke, da lebe ich doch lieber im hochhaus. POSSENKOFER: auch alles untote. TSCHNABARBIER: bitte was? POSSENKOFER: seltsame stellen gibt es hier. geh mal nachts am fort albeck herum. da siehst du lichter – hörst töne und schattenspiele an den morschen kalksteinwänden – und wenn du dann fliehst, eiskalt vor entsetzen und vorahnungen, quer durch die kleingärten, da fällst du über sie, über die untoten, die sich im mondlicht sonnen und tagsüber in ihren grüften unterm frauengraben aufs dunkel warten, um dann …! TSCHNABARBIER: du spinnst ja komplett. POSSENKOFER: ich sag nur, was ich weiß. TSCHNABARBIER: beweise! ich will beweise! POSSENKOFER: wenn ich dir diese beweise gebe – dann muss ich meinen freund karli holen, den berufsmörder, der sich vom arbeitsamt umschulen ließ. weil du dann nämlich zuviel weißt …! TSCHNABARBIER: was war der karli vorher? POSSENKOFER: koch. TSCHNABARBIER: und jetzt tötet er für geld? POSSENKOFER: nein, für die rentenkasse, für den wohnungsmarkt , für

eine gesunde durchmischung von verschiedenen altersgruppen in den wohngebieten – dafür tut ers! sogar die soziologen finden das gut … oder waren es die soziopathen? das weiß ich nicht mehr so genau … TSCHNABARBIER: ja, du hast recht. du würdest gut zu dem verein passen: mord und totschlag auf bestellung. und ein nettes trinkgeld fällt auch ab – oder nennt man das leichengeld? mörderkohle? kopfpauschale? POSSENKOFER: da fällt mir was auf! TSCHNABARBIER: was? POSSENKOFER: eigentlich – wenn ich so unser gespräch bedenke – dann weißt du jetzt schon zu viel. TSCHNABARBIER: äh – hm? wie? POSSENKOFER: wart mal – ganz kurz – ich ruf mal eben den karli an, geht ganz schnell … TSCHNABARBIER (panisch): was hastn vor – wie? was? POSSENKOFER: du, das tut nicht weh, karli ist lieb – der sagt dir, wie es geht und dann ist es schon fast vorbei …!


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IMPRESSUM herausgeber: hakan dagistanli redaktion: florian l. arnold, hakan dagistanli lektorat: claudia simone hoff editorial design: fuk Laboratories beata niedhart www.fuklab.org druck: induprint ulm kontakt: postmaster@kunstzeitschrift.es 0175 4959497 www.kunstzeitschrift.es


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