NUMMER VIER, ZWEI TAUSEND NEUN HEIMAT BESCHIM PFUNG
diana jurjevic /stichelschwarz / jÜrg neugebauer/ elvira lauscher /marco kerler / bobby solo / zeberced / florian arnold / kairos / christine sÜffing / janosch moldau / max häring
№
»Wenn Man Die Gemeinh Mit Der SchöNHeiT De Kommt Man Auf Selbst
einheit Der Bewohner Der Landschaft Verrechnet, bstmorDÂŤ thomas bernhard (gehen)
INTRO
gut, fassen wir uns kurz, damit wir nicht zu kurz kommen. die ES schließt das jahr nunmehr mit ihrer vierten ausgabe ab. wohlwissend, dass das jahr im november endet und nicht- wie etwa breitengradig angenommen- im dezember. der dezember, und dies ohne belehrend sein zu wollen, dient nämlich allein nur dazu, der fussabtreter des kommenden jahres zu sein. passieren wir revue? - um himmelswillen nein! wir analysieren andere dinge, aber beileibe nicht uns selbst. ja wir trotzen gar dagegen und nehmen es in kauf, dieselben muster zu wiederholen. unsere "günter grass'sche blechtrommel" ist sozusagen das gespannte, chlorfreigebleichte papierformat. wir haben, mit allem respekt, besseres zu tun als zu wachsen. beispielsweise uns die frage zu stellen, wie designer- wenn sie nicht gerade damit beschäftigt sind hornbrillen zu tragen- stühle entwerfen würden, wenn unsere kniebeugen denen der flamingos gleichen würden. [sind wir daher schon zu den pataphysikern zu rechnen ...?] vielleicht kommt es auch nicht auf die antwort an, sondern vielmehr darauf fragen zu finden, auf die es keine antworten gibt. auf dem boulevard unserer langeweile dem november zu horchen, die augen geschlossen. november, der verheißungsvolle. nahezu androgyn. "dir ... im gegensatz zu knefs berlin hast du einen kleinen mund sogar eine winzige zahnlücke zwischen deinen schneidezähnen, zwar auch sommersprossen latent unterfüttert, aber die wiederum in einklang mit deinen herbstlich roten haaren. du sprichst mit einem leichten akzent, so bist du doch geprägt von der sprache der sehnsucht. keiner stadt außer unserer verleihst du mehr kontur und vermagst sie in szene zu setzen, so wie es kein bühnenbilder besser machen könnte ..." in keinem monat ist ulm tatsächlich orientalisch anmutend verschleierter und erotischer als im november. denn allein nur in diesem zeitfenster wird ulm in dichtem nebel ertränkt und hebt ihr wahres ich hervor. ich habe zum beispiel tatsächlich japanische touristen gesehen, die unseren münster ansahen, das aufgrund des nebels nicht mehr zu sehen war. interessanter gedankensplitter: die touristische attraktion lag allein nur darin, etwas zu besuchen, das man nicht sah, eben weil man es nicht sah. ist die geträumte liebe auch liebe? ... durchaus, wenn sie winkt.
hakan dağıstanlı
ES’sche grüsse wir freuen uns
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Inhalt
einleitung _s.7 vorwort _s.10
heimatbeschimpfung _s.15 portrait_
janosch moldau_s. 43 / max h채ring _s. 53
bericht syn채sthetik _S. 65 kurzgeschichte _edgar_S. 75 kolumne_kairos_S. 85 ulmonolog _S. 89 impressum_S.94
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Vorwort
DIE WAHRE REALITÄT IST DIE ALLTAGSWIRKLICHKEIT hakan dağıstanlı
in ordnung, wir möchten keine längst geschlagenen schlachten wieder in angriff nehmen aber gestatten sie es uns, die dinge zu rekapitulieren. fangen wir doch mit den essentiellen dingen des lebens an: unseren essgewohnheiten. unsere heimat weist wohl hinsichtlich dessen die schlechteste küche der welt (gut, gott sei dank gibt es da noch die engländer) auf. die ES schließt sich dieser aussage insofern an schneidet aber dennoch alte zöpfe nicht ab sondern massiert ihre kopfhaut zwecks besserer durchblutung. das ES'sche kulinarische dogma weisst nämlich folgende eckpunkte auf: eine warme brezel sollte einem verklebten donut immer noch bevorzugt werden, kartoffelbrot ist immer noch besser als ein subwaysandwich und 'ner rote mit curry-ketchup sollte man gegenüber einem hot dog eindeutig vorzug gewähren. wir schreiben sozusagen "kuk" (kaffee u. kuchen) auf unsere fahnen und beschreiten unseren weg ins weite tal der internationalen feinkostwölfe während wir „spätzle mit sssoooooßßß" kampfschreien. da scheint das zitat von olaf thon, zwar in einem
anderen kontext verwendet, sich hierin gut anzufügen: "wir lassen uns nicht nervös machen, und das geben wir auch nicht zu!" verdammt nochmal, uns schmeckt semmelknödel, sauerkraut mit fettigem speck und gegenüber schweinehaxen sind wir verwunderlicherweise nicht abgeneigt. gut, wir pflegen eine auch international ansehnliche weinkultur, aber trinken lieber sangria aus tetra paks oder faxe aus 'ner literdose. wir ehren den pfennig und versaufen die mark. abgestandener vollkorn und verbitterter jägermeister gehören zur grundaustattung unserer kampftrinker in den vordersten reihen, von den hinteren soll hier lieber nicht die rede sein. nicht geizig, sondern genau
wir vergeben auch ungerne unsere zigletzte zigarette an freunde von fremden mal ganz abgesehen. machen einen unterschied, ob jemand eine oder zwei sekunden über rot gefahren ist, die trinkgeldvergabe in cafés ist zumeist ledig-
Vorwort
lich (oder sollten wir sagen : „gott sei dank!") auf eben bedachte preispolitik zurückzuführen (hefeweizen : 2,90) und sind stolz darauf zu horten und zu kumulieren. was und wozu auch immer - ja wir besinnen und beziehen uns gar bei verdutzten anblicken anderer auf diese volksgrippe und husten „mir miasad schbara" und können uns dabei natürlich das verschmitze grinsen in ausgetrockneten mundwinkeln nicht verheimlichen. wir pflegen zwar soziales, gehen zusammen aus, haben zusammen freude, zahlen aber dann doch lieber getrennt und unterdrücken dabei stets das schleichende gefühl eines verdachts der zweckgemeinschaft. „die deutsche rechnung" ist in anderen ländern regelrecht zu einem sprichwort geworden. geschenke vergeben wir ungerne, schließlich ist noch keine weihnacht'. „liebr zehn minuta gschämt, als a großes gschenk gmacht" heißt die devise und dazu stehen wir auch. sitzen hingegen tun wir in kellerlöchern von gaststätten,
um kegel umzuschmeißen, und das wiederum verwunderlicherweise mit voller seriösität. kein schöner land
gegenüber fremden sind wir aufgeschlossen, aber nicht wenn sie allzu fremd sind. wir beschmunzeln die kinderreichen anderen, dressieren aber selbst dackel im wohnzimmer. die anderen werden aber immerhin von uns toleriert (wenn wir doch bloß wüssten, dass nietzsche schon die toleranz als verdeckte beleidung entlarvt hat). die anderen, ja die sind dazu verdammt nicht bürger, sondern auf ewig nur mitbürger sein zu dürfen. wir haben z.b. unter anderem das einzigartige paradoxon und phänomen des ausländers erschaffen, der hierzulande gebürtig ist. trotzdem haben wir es geschafft, homosexualität endlich an die macht zu katapultieren, die wiederum in anderen sittlichkeiten angeblich nicht existiert, totgeschwiegen bzw. gesteinigt wird. (ahmadinedschad: „in iran, we don't have homosexuals!"). was natürlich wiederum für unser gesundes demokratieverständnis
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Vorwort
spricht. was ist das also, diese heimat und ihre sitten und gepflogenheiten, die sich an jedem von uns festbeißen wie ein staffordshire und uns formen wie spalierobst? „mir send eba so" schreit es aus uns raus. mit leichtem blick, vielleicht sogar grammbemessen neidisch aber auf jeden fall kiloweise trotzig, zu unseren nachbarn. doch woher rührt dieser trotz. ein bürgermeister eines gottverlassen anatolischen dorfes unweit der grenze und lichtjahre von der hauptstadt entfernt, soll vor der erfindung des fernsehers folgendes gesagt haben: „wir, die hier leben. wir, die die nachrichten erst drei tage später kriegen wenn die grosstädter sie schon längst wieder vergessen haben. warum lieben wir unsere heimat, unser dorf: weil wir keine andere möglichkeit haben! wir wissen nämlich, dass die prämisse für ein glückliches leben die liebe zur heimat ist. wenn wir also lernen unsere heimat zu lieben, so kann dies der schönste ort der welt werden".
äußerst pathetisch, aber doch wahr. und wir? - ja, wir lieben auch unsere heimat fern von ideologischer unterfütterung, allein nur daraus schöpfen wir kraft für ein kritisches denken und beschimpfen sie auch zeitweise, falls nötig. unsere heimat kann uns daher nicht gleichgültig sein. kritisieren tut man doch letzlich nur seine liebsten, nicht um kontraproduktiv zu sein, sondern um sie noch schöner zu gestalten. wir lieben sie nämlich bewusst, eignen die täler und die flüsse, das saftige grün der wälder, zusammengefasst das erbe unserer ahnen an, um sie unseren nachkommen weiterzureichen. daher sollten die folgenden texte und traktate nicht als armutszeugnis und beschmutzung unserer heimat ausgelegt werden sondern als eine hommage gar einer huldigung an unsere bittersüßen gefilde, seien es nun landschaftlicher, sittlicher oder politischer natur. in diesem sinne wünschen wir eine angenehme mentale reise in ulm um ulm und um ulm herum.
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HEIMAT BESCH IMPFUNG
MAGISTER F. A. STICHELSCHWARZ
Ulmer Thesen zur Kultur ein Pamphlet – magister f. a. stichelschwarz
zwitterstadt ulm/ neu-ulm das abbild einer geschäftig brummenden kleinmetropole, die ihren bewohnern und gästen eine schwindlig ulm wollte europäische kulturhauptstadt wermachende breite und tiefe an kulturellen den; dazu glaubte man sich gut gerüstet: schätzen offeriert. dies der erste eindruck. donaufest. donauschwäbisches zentralmuseum, wer einen zweiten, gar einen dritten blick ris stadtmuseum mit kunsthalle (und umgekehrt). kiert, den fällt freilich der faulige odem einer stadthaus. münster. ulmer geld regiert die welt. absterbenden schicht an – denn das, was sich donau ringsum. dann kam die krise. und die mit letztem anstrich von boheme rund um kultur aufs abstellgleis. kultur ist luxus. kulturhauptstadt? luxus. und der muss nicht sein. kunstverein und galerien herum präsentiert, ist ein letztes fragment, ein rest eines kulturbürein echter schwabe spart. gertums, das es nicht mehr gibt. 1. vermutete tatsachen
2. der faulig-schöne schein
dem durchschnittlichen, sein gottgegebenes hirn ausgeschaltet lassenden flaneur bietet die
nachwuchssorgen plagen die hiesige künstlerschaft nicht mehr. wer nachwuchssorgen hat, weiß, dass es „irgendwo da draußen“ noch nachwuchs gibt, den man nur rekrutieren müsste.
ULMER THESEN ZUR KULTUR
in ulm lohnen sich die nachwuchssorgen nicht mehr. der nachwuchs ist nicht mehr da. er ist geflohen. über verschüttete milch zu jammern ist nicht des ulmers sache. talente gibt es auch anderswo, man braucht sie ja nicht selbst zu pflegen. wenige teilen meine traurige rührung, wenn ich die absurden, mitunter absurdkomischen, stellenweise todtraurigen rituale einer rein selbstreferentiellen kulturschickeria verfolge, ihre so zärtlich gehegten weil bewährten vitamin-b(eziehungs)-strukturen, die gescheiterten experimente, die zombiehafte „ulmer avantgarde“ und das verzweifelte festklammern an einer staubig schmeckenden zufriedenheit (ausruf einer rechtsanwaltsgattin: „unverschämtheit! werft ihn aus der stadt, den ketzer!"). dies wird, man ahnt es wohl, kein plädoyer zur erhaltung der momentan (noch) vorhandenen ulm/ neu-ulmer kultursteppe. auch kein nostalgisches zurückblicken auf eine zeit, als am sonntagnachmittag die ganze familie gleich nach dem gottesdienst das kreuzzeichen auch vor dem örtlichen kunstverein schlug.
dass ulm nur eins noch zu verlieren hat: den schönen schein. das donaufest verkommt mitsamt seinem sonnengott zu in eitelkeit gepuderter abwrackprämie für kulturkreative sackgassen. einer auffassung von kunst folgend, die dem 19. jahrhundert entstammt, ist man seit jahrzehnten emsig bemüht, künstler von weit her in die stadt zu locken, während das ohnehin zum erbarmen zarte pflänzchen heimischer junger kunst bestenfalls in hinterhöfen keimt. warum? die kapitalisierung von kultur könnte eine ulmer erfindung sein; jedenfalls hat sie in ulm begeisterte anhänger. für stadtmuseum, kunsthalle, stadthaus und theater sind die auslastungszahlen längst bedeutungsvoller als die inhalte. somit gibt es klare gewinner in der donaustadt, die das verlieren noch nicht gelernt hat. wer die geringsten angriffsflächen bietet und windschlüpfrigkeit als marke etabliert, dem stehen hier tür und tor offen. wo aber der effizienzevaluations-wahn als sand im kulturgetriebe knirscht, ist es aus mit der kunst.
3. tote gemütlichkeit
ulm hat sich allerdings einen luxus gegönnt: den künstlerischen nachwuchs zur randerscheinung zu degradieren. eingelegt in spiritus müssen uns künstler zum vergnügen dienen, die lange tot sind - und die, die es nicht sind, lassen es sich nicht anmerken. vor der mit den schießscharten der spießigkeit geschmückten niedertrachtsmauer tanzen ulmer kulturpolitiker einen totentanz. wo vielleicht in früheren zeiten einmal neben merkantilem sehnen auch barocker lebensübermut schäumte, da gaffen uns heute nur schuhläden und dönerbuden an. der schleppende konservatismus dieser stadt, diese unglücksliaison aus stänkern, abstumpfen und kuschen offenbart,
4. im bett mit banken und unternehmen
ein zirkus der eitelkeiten, eine in selbstreferenzen abgesoffene schein-boheme trifft sich da an jenen immer gleichen stellen der stadt, wo eine vergreisende kunstszene sich schon „jung“ wähnt, wenn sie noch nicht im rentenalter angekommen ist. wenn touristen aus vollklimatisierten reisebussen durch die putzig aufgedonnerte kommerzmeile hirschstraße gescheucht werden, öffnet sich ihnen der blick zur neuen mitte: glatter, neuer beton, glas, stahl. die ganze stadt will sein wie dieser vollklimatisierte, geruchsneutrale bus: gemütlich, warm, kuschelig. ulm setzt sich ein strahlendes kindergesicht auf
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magister f.a. stichelschwarz
und geht mit der eigenen geschichte um wie mit einem comic-hausgespenst. sie darf sich zeigen, das schon, aber bitte schön durch den kitschund kuschelfilter gejagt. der süße ulmer spatz, am besten gleich in schokolade mitzunehmen; und der putzige, ein bisserl doofe schneider, der so lieb in die donau gehüpft ist. lieb und ein bisserl doof, so mag man in ulm seine helden. lieb und ein bisserl doof, so macht man in ulm kultur. etwas wirklich neues, frisches, aufregendes, freches war in ulm seit langem nicht mehr zu erleben. die durchlöcherung der künstlerischen autonomie und das anpassen an ökonomische notwendigkeiten hat der szene ein gelangweiltes, langweiliges, angepasstes gesicht gegeben. auf hohem niveau wird da von „existenznöten“ lamentiert, man ist ängstlich bemüht, sich marketingstrategisch und politisch richtig zu verhalten und bloß keine fehler zu machen – als wären kunst und künstler nichts anderes als unternehmen, die ihren aktionären eine reiche dividende ausschütten und steigende kurse verbuchen müssen. eisig ist der hauch aus dem loch, in dem die aufklärung und überhaupt diese ganze schöne seifenblase des humanismus verschwunden ist. die bedrohte spezies künstler hüllt sich entweder in den warmen pelz der beliebigkeit – oder erfriert beim versuch, „selbst“ zu bleiben. 5. im dienste des erwartbaren
aufs glatteisfeld der frage, was kunst denn sei, begebe ich mich nicht. auf diesen schlachtfeldern sind schon andere, größere gestorben. dass kunst aber ein entfaltungsraum für eigenbrötler und skurrile mit den dazu notwendigen zeiträumen sein muss, daran zu glauben fällt einem in diesen zeiten schwer. künstler zeichnen sich im gegensatz zu jedem
anderen berufsfeld gerade dadurch aus, dass sie keinen festen und allgemein anerkannten maßstäben folgen. wo sich aber die kulturszene (leise flüsternd: vorrangig dort, wo kommune und land als financiers einwirken), derart auf errungenem ausruht, wo man sich mutlos am nachwuchs vorbei bemüht und fröhlich jeden konformen unfug beklatscht, um immer schön „auf der sicheren seite“ der publikumsakzeptanz zu bleiben – da verrottet jeder letzte rest einer bunten kunst- und kulturszene. in ulm ist alles mainstream, ist alles berechenbar, durchschaubar, nachvollziehbar. der „andere blick“ ist – falls es ihn hier jemals gab – auf der strecke geblieben. künstler degenerieren zu geschäftsführern im dienste des erwartbaren (geflüstert: auch das ist harte arbeit!). je immanenter aber der profitgedanke, desto größer die entwertung künstlerischer arbeit. wo ist diese von niklas luhmann für die kunst verteidigte, zauberhafte und notwendige „unwahrscheinlichkeit [der kunst] und ihres entstehens“? 6. raus aus ulm!
in ulm riecht das künstlersein ein bisschen faulig, staubig, man wird als künstler irgendwo zwischen säufern, grünen weltverbesserern, hartz iv und schädling verortet. man weiß mit ihnen nicht viel anzufangen, den paradiesvögeln, von denen sich schon zu viele als kreative pleitegeier herausgestellt haben. künstler darf sich heute jeder nennen, der sich zum größenwahn berufen fühlt: friseure, hygienetechniker, schreihälse, pickelausdrücker, bilanzfälscher, computerkids, gelegenheitsprostituierte, aasfresser, überhaupt alle, die sich „anti“ geben, um in der menge abtauchen zu dürfen. da der berufsbegriff „künstler“ nicht unter markenschutz gestellt ist, darf jeder damit spielen – und
ulmer thesen zur kultur
ihn leeren, ausquetschen, korrumpieren. ins schwärzeste – auch wenn sie sich verbürgt nicht auf ulm bezog - hat die roman- und theaterautorin sibylle berg getroffen: „der berufsbegriff [künstler] riecht schlecht - ein wort, das menschen, die ich nicht mag - junge anlageberater mit ihren elastischen jungen frauen, die claudia heißen und sehr aufgeschlossen sind - gern verwenden“. das, was in museen und galerien stattfindet und das, was wirklich und wahrhaftig kunst ist, das hat sich in ulm schon vor jahren gespalten. auf der einen seite ein fröhlich blühendes, überdüngtes feld gesicherter positionen – und auf der anderen seite jene, die aus ulm fliehen. nach berlin, leipzig, hamburg, sonst wo hin. wo sie, mit etwas glück, nicht am „dienst an der erwartung“ scheitern. 7. letzte anmerkung
all das ließe sich wohl leicht über jede andere kleine großstadt auch sagen. aber als überzeugter lokalpatriot schimpfe ich zuerst auf meine heimatstadt.
(laut: buhrufe, erleichtertes flüchten)
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damn marco kerler: 1985 in ulm geboren. 2007 erschien sein debüt „damn poetry“. seit 2008 macht er unter dem pseudonym „hauser85“ im alleingang experimentelle rapmusik. eine ep zum freien download erscheint anfang 2010 auf seiner myspace-site. texte von im sind in diversen anthologien und magazinen (u.a. matrix) veröffentlicht. kontakt unter www.myspace.com/damnpoetry
introducing:
poetry. marco kerler / damn poetry.
marco kerler / damn poetry.
Ich bin jung
und trotzdem kommt es mir so vor als w채re Ulms Stadtmauer wieder errichtet ohne Tor ohne T체r
In Deutschland werden
Säufer zu Dichtern Dichter zu Säufern Laien zu Fernsehstars Schauspieler zu Stadtpantomimen Körper zu Musikern Musiker zu Landstreichern Lüge wird Wahrheit Wahrheit gibt es nicht Hier Hier werde ich
marco kerler / damn poetry.
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Donauwasser /Pufferbar R.I.P./
In die Bar vom Rauch verschluckt Worte knallen wie Korken an die Decke Die Welt l채sst sich so leicht erkl채ren wir liegen uns in den Armen tr채llern ein Lied von Heimat In meinem Herz flieSSt Donauwasser
marco kerler / damn poetry.
ULM
DRAUSSEN TOD NEBEL FRISST ULM REGENSTADT AN DER DONAU PRIVATLOSE STADT JEDER KENNT JEDEN UNIVERSITÄTSSTADT KZ-STADT
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HANS UND SOPHIE SCHOLL STADT ALBERT EINSTEIN DAS MÜNSTER BAUSTELLENSTADT KLEINSTADT GROSSSTADT MITTELSTADT EINE STRASSENBAHNLINIE
marco kerler / damn poetry.
Up to Date
Eine Sekunde oder ein Bruchteil davon gibt es viel alles verändert beim alten geblieben ist nichts und doch erkenn ich meine Stadt auf den ersten Blick nach Jahren nicht wieder Dort wachsen Häuserblocks in hundertstel Sekunden verzerren Erinnerung erschrecken in ihrer architektonischen Monströsität in einer Sekunde ist alles aus der Mode geraten Lyrik zum Beispiel interessiert keine Sau
marco kerler / damn poetry.
Hungrig
Der Verkehr ist Drum `n Bass die Stimmung Heavy Metal Ich lauf da mittendurch im Kopf nur Chillout Trip-Hop Die Musik der Stadt ist wechselhaft was auf der Strecke bleibt ist Jazz nur Blues spielt noch mit letzter Kraft die Bettler bleiben hungrig
marco kerler / damn poetry.
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dIana jurjevic
es ist eine schande! diana jurjevic
"es ist eine schande!" entlädt sich eine ulmerin über das systematische ausrotten eines ulmerischen kulturguts, des popperbrunnens. das langsame absterben des popperbrunnens durch die absperrung zur herdbrückstrasse und dem parkplatz geht einher mit dem schwindenden charakter vieler städte (copy-paste-franchiseketten lassen von den postkarten grüßen). ulms neue mitte gibt sich ebenfalls nah am globalen zeitgeschehen: bank, bank aus steueroase und kunst als wertanlage. glaubt man dem bloßen auge stellt ulm das goldene kalb in seine neue mitte. in unmittelbarer nachbarschaft, nur wenige schritte entfernt, weilt jedoch ulms einzigeratiger charme. nicht eingeweihte würden ihn einen treffpunkt nennen, ulmer wissen dagegen, dass er viel mehr ist, aber vor allem bedeutend wichtiger! deshalb gaben sie ihm einen eigenen namen. und so wie der name von den ulmern am leben gehalten wird, die ihn bis heute so nennen, genauso lebte das phänomen popperbrunnen von den ulmern. der popperbrunnen, das ist kein ding, das man sich ansehen kann, sondern flair, das man erleben muss. für die,
die nachkommen, will ich versuchen diese unnachahmliche stimmung zu beschreiben: der popperbrunnen ist die piazza auf dem der nord- und ostdeutsche tourist begreift, dass er sich im süden befindet. wo der pariser seine mode zur schau trägt, die londonerin ihre terrier, zeigt der ulmer bei genügend lichteinfall, (wichtig für die optimale inszenierung) was die deutsche autoindustrie, deutschlands brot, hergibt. der popperbrunnen war der catwalk des motorisierten flaneurs und er war einzigartig. würde es noch eines unsinnigen rankings auf der welt brauchen, dann wäre der popperbrunnen, und da bin ich mir 100pro sicher- weltweit unter den top fünf der automobil-promenaden. was von mo-fr in mühevoller handarbeit in den autozulieferfirmen um ulm produziert wurde, leistete seinen dienst am wochende: der funkelnde lack im sonnenschein, der schnurrende motor, der erst richtig in der verkehrsberuhigten zone seine geltung fand, die getönten hinterscheiben, die seiner fahrerin eine geheimnisumwobene aura verleihen sollten und die richtige anlage zur musikalischen tieferlegung. jedes kleinteil
ES IST EINE SCHANDE
zum ulmer kult popperbrunnen
vermittelt die eine große botschaft: „yes, we can". als zuschauerin konnte man sich ein eis in der italienischen eisdiele holen (- ja, das können die italiener besser machen, aber autos?!) und dann das ulmer theater, die hohe kunst des angebens des kleinen mannes, bewundern oder auch verhöhnen. zur sommerspielzeit dauerten die vorstellungen oft bis nach sonnenuntergang und zugaberunden waren nicht selten. jugendlicher wettkampfgeist, gepaart mit sexuell aufgeladenem konkurrenzgehabe gehörten zum pflichtprogramm. aber allen differenzen zum trotz, ob nun golf- oder bmw-liebhaber, im großen und ganzen waren sie sich einig. nirgendwo sonst war ulm mehr südländisch, hatte mehr flair. die ulmer hatten einen kult erschaffen und kümmerten sich jedes wochenende so liebevoll darum wie der hausbesitzer um seinen rasen. sie schwängerten die ulmer luft mit dolce vita und erweckten den verschlafenen ort mit stadtlärm, dh nämlich stadtleben (liebe lärmgenervten mitbürger). die stadt ulm hat diesem treiben einen riegel vorgeschoben und damit den jugendlichen und allen theaterfans
und -kritikerinnen einen nicht-kommerziellen raum weggenommen. damit verschärft sie die ohnehin folgenreiche stadteentwicklung der letzten jahre. private unternehmen verdrängen immer stärker öffentlichen raum: „du darfst nur in deiner stadt sein, wenn du dafür auch bezahlen kannst - konsumiere oder verschwinde". es wäre eine schande, wenn wir diesen raum nicht zurückerobern würden.
in diesem sinne:
reclaim the streets.
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elvira lauscher
Bier Auf Gesellig
elvira lauscher
heute ist es wieder gesellig. am biertisch ist es immer gesellig. so ein fest mit so langen tischen, weißwurst und auch brezen, das hat schon was. ich sitze zwischen maiers und müllers und auch fischers sind da. normalerweise reden wir nicht miteinander. zwischen fischers und mir liegt sonst ein hausflur und alle zwei wochen die kehrwoche. mehr brauche ich wohl nicht zu sagen. der fischers mann hebt das weizen und prostet mir zu. ich schüttle auch mein hefe durch, in seine richtung. meine nächste kehrwoche ist erst in acht tagen. „ah, hallo, frau schmidt. auch hier beim fest?“ was bin ich heute wieder gesellig.
bier auf vorrat vor ein paar jahren gab’s mal ein angebot. zur em oder wm oder war’s gar irgendeine olympiade? ich kenne mich nicht so gut aus im sport, das geb’ ich zu. im sparen bin ich viel besser. drum hab’ ich auch die vier für drei gekauft. so ein schnäppchen kann man sich nicht entgehen lassen. schließlich war’s irgend so ein sportliches
ereignis und jeder weiß, dass man da gerne mal einen über den durst trinkt. am liebsten bier, das habe ich schon öfter gelesen, sogar schwarz auf weiß. also hab’ ich eben vier für drei gekauft, mit jeweils zwanzig flaschen. ein markenbier war es auch noch, einen billigen gruscht hätte ich nicht gewollt. es hat dann auch ganz gut geklappt, so zwei, drei oder vier abende. sieben flaschen gingen weg und der sport hat mir dann auch gefallen. toll war es, mal so normal zu sein. jetzt hoff ’ ich halt auf das nächste sportliche ereignis. mental bereite ich mich schon mal vor, auf die restlichen 73 flaschen.
tuxuran / VIVA PrEKARIA
behandle jeden f端r sich und damit alle gleich
bobby solo / ULMER SPtzenhirn am milden sössle
ulmer spatzenhirn am milden sössle
bobby solo
ulm liegt günschtig. das spricht der oberbürgermeister gerne aus, meint damit wohl den vorteilhaften standort zwischen stuttgart und münchen, und natürlich auch die lage am fluss. die donau verbindet ulm mit der ganzen welt, obwohl hier nie ein transportschiff vor anker geht und güter anliefert. kultur wird angeschwemmt, wie treibholz. die donaustadt ulm ist mittelpunkt im internationalen donaudialog, dessen donaukultur und donaugeschichte riesige donauwellen schlägt, dies alles unter leitung des donaubüros, auf neu-ulmer seite, vis-a-vis vom haus der donau in ulm. endlich wurde der fluss entdeckt, nachdem er jahrelang nur dazu diente, brücken von württemberg nach bayern zu schlagen, wie ein kopf, der nur dazu da ist, die haare geschnitten zu bekommen. ich habe gehört, dass ein berblinger flugwettbewerb geplant ist, von der donaustadt ulm subventioniert mit 800.000 €uro. schön, dass der donauschwabe nun auch noch das fliegen neu
erfinden muss, wo wir doch im jahre 2009 wissen sollten, dass der mensch, so wie er gebaut ist, gerade mal hüpfen kann. ich habe hunger, ich bestelle mir einen zigeunerspieß an einem ungarischen stand auf donaufest. der kostet leider 12,80 €, weil die standgebühren an der ulmer donau etwas teuer sind. das kann ich mir mit hartz IV nicht leisten. stattdessen gehe ich in ein alteingesessenes ulmer lokal und schaue mir die speisenkarte an: donauschnitzel mit münsterspätzle an frischen zupfsalaten. gut abgehangenes sozialdemokratensteak nach ob-art, ulmer filet-töpfle nach art des hauses „langer", hirschragout "hilde knef " mit kulturkartoffeln, garniert mit 1000 rosen oder albert einstein-barsch mit antisemitischem gemüse der saison oder (jetzt muss ich wirklich lachen) grill-mix-teller aus gegrilltem spatzenhirn und gebackenem löwenmensch, auf milde art. na gut, ich trinke ein gold-ochsen-pils vom fass und gehe zu burger king, doppel whopper.
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zeberced / [kala kala elimde sigaram kaldi]
tuna agitlari zeberced ... es weht eine bedacht kühle brise an der donau, so als ob sie es vermag jeden, in das „innere" ihrer besucher eindringend, zu erfrischen. als ob man am donauufer, in der gegenwart von klagelieder anstimmenden blicken der schwäne, zum durchlüften das verrostete fenster der seele kippen kann. für einen moment eines flügelschlags. heute fliesst sie ganz besonders langsam, die donau. nahezu ehrfurchterregend - der spiegel ulms. oder sogar, als wäre sie die wange der stadt, deren wimperntusche auf ihr zerrinnt mit all ihrer würdevollen reflektion. subtil und aufmerksam. fast schon, als ob sie das gewissen dieser stadt sei. am nullpunkt der donau wird jedem die
erkenntnis offenbart, nichts zu sein und eben deswegen alles, heißt es. nirgends wird einem die vergehende lebenszeit sinnbildlicher vergegenwärtigt als zu ihren füßen. wie eine göttin mahnt sie und möchte doch zugleich unverbindlich bleiben. ja, nirgends erkennt man sich selbst besser als in ihrer schwerwiegenden obhut. sie nimmt die schmerzen und sehnsüchte, die freude und die liebe unzähliger menschen schweigend an, begleitet sie und übergibt sie schließlich den meeren.
tuxuran / VIVA PrEKARIA
die angst ist des menschen st채ndiger begleiter angst nicht zu gen체gen angst zu verlieren was man hat und die schlichten richten sich fast immer nach ihr
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JÖRG NEUGEBAUER / ulm hat sowas mächtiges
ulm hat sowas mächtiges jörg neugebauer
zumindest das münster gibt diesen ton vor. das münster steht, so heisst es, schon lange. kaum vorstellbar, wie ulm sich anhören würde, wenn das münster dort fehlte. ulm hat eine donau, die sagt, sie fließt hier gerne vorbei. warum ulm da steht, wo es steht, vermag sie auch nicht zu sagen. freilich redet sie viel mit den schwänen. die sind ganz ulmisch gesinnt, neu-ulmer schwäne gibt es praktisch keine. die donau, genau genommen, fängt kurz vor ulm an und hört kurz danach auf, man darf sich da nicht täuschen lassen. viele täuschungen kommen von solchen namen, wie eben „donau", die etwas zu bezeichnen scheinen, und doch ist nichts weiter damit. nichts weiter als das eben, was ist. von der brücke aus zeigt sich der fluss, auch von den ufern, von denen eins immer im schatten liegt, das ist dann das ufer der toten. von denen ist ulm ja ganz voll. im namen des
lebens werden neuerdings wolkenkratzer verlangt, mindestens drei. das münster, der größte kratzer wird sich nicht groß drum bekümmern, jetzt hat es ja wieder sämtliche glocken im bauch. die spannung haltend zwischen schiff und turm, versammelt das münster berge und fluss zu einer einheit, ohne die ulm sich selbst gar nicht sähe. wahrscheinlich wäre es längst schon erloschen, so aber bewahrt es sich in seinem gedächtnis, die bockgasse zum beispiel ist so ein gedächtnis. ganz abschüssig zum gänstor hinunter. die gasse selbst weiß noch von den böcken, zur donau aber gehts durch die höll. da muss ein jeder hindurch, der an den fluss will.
tuxuran / VIVA PrEKARIA
alles ist wichtig und nichts von bedeutung
(laut: buhrufe, erleichtertes fl端ch
te
(laut: buhrufe, erleichtertes fl端chten)
üch
ten)
AUS ÜbERzEU– GUnG, DASS WIR mEHR Könn(T)En.
POR TRAIT
POR TRAIT
janosch moldau
HUMOR IST WENN MAN TROTZDEM SCHWARZ TRÄGT bobby solo
POR TRAIT
MDQRVFK PROGDX GLH SHUVRQ wenn jm mit tief ins gesicht gezogener kapuze und abschottender sonnenbrille in seinem bistrostuhl kauert, wirkt er wie ein um die bĂśse, schĂśne welt wissendes groĂ&#x;mĂźtterchen, das zwei weltkriege, fĂźnf ehen und 80 jahre lebenserfahrung in ihrem gehirn und ihrem herzen deponiert hat. die initialen jm stehen nachfolgend nicht fĂźr jim morrison, der laut einer sĂźdwestpresse-sommerloch-meldung auf den seychellen als barkeeper arbeitet und mit grauer mähne, das orgelsolo von light my fire pfeifend, ganz passable cocktails mixt. janosch moldau, 35, lebt und arbeitet, nach jahren in der fernseh- und klamotten-rheinmetropole kĂśln, wo er seine entzĂźckende frau kennengelernt hat, nun, mit frau, wieder an der donau, in neu-ulm. hier wird die musik komponiert, entwickelt und aufgenommen. die in england gegrĂźndete janosch moldau ltd. managt und vertreibt sich selbst. ein querverweis zu depeche mode ist unumgänglich und auch in seiner persĂśnlichkeit sieht jm parallelen zum frontmann martin l. gore. aber auch die arrangement-ekstasen des phil spector finden in moldaus musik ihren niederschlag. kĂśln war dem paar zu affektiert, zu oberflächlich, das rheinland ist mehr fĂźr flache witze denn fĂźr tiefgang bekannt. tiefgang ist spĂźrbar in der musik moldaus. elegische melodien mit sensibel aufgebauten beats und sparsamen bis Ăźberquellenden effekten gehen hand in hand mit den melancholischen texten, in der frauen und kinder „angel" sind,
augenblicke zwischen liebenden „clear" und die nicht mehr zeitgemäĂ&#x;e kirche ein Ăźberholtes, schwarzes loch im dasein des menschen ist. dies alles, am letzten remix-album ersichtlich, durchaus auch tanzbar.
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in neu-ulm entsteht nun das neue album, nach motel songs, das den durchbruch brachte, das anders werden will, aber, weil geht nicht anders, die unverkennliche, zuweilen eigensinnige handschrift moldaus tragen wird. eine handschrift, die sich Ăźber die jahre entwickelt hat, aber immer schon da war: autentico nennt sich dies im italienischen, wo sich das paar vielleicht einmal beheimatet sieht. im november geht es mit mesh, einer elektronisch angehauchten indie-band auf tour durch deutschlands groĂ&#x;städte, um dann das neue album zu vollenden. viel zu tun im leben eines musikers. jane birkin hat Ăźber sich und serge gainsbourg gesagt: „wir haben immer sehr viel miteinander gelacht,
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BOBBY SOLO
am ende zählt nur der humor" - was auch mich an einem menschen immer mehr interessiert und auch erfreut als sein genius, ist die fähigkeit zur selbstironie und ein intelligenter humor. letzterer kann bei einem schwarzgekleideten ambient-wave-rocker sehr subtil sein. jm wirkt auf den ersten blick wie der unverstandene poet, doch er kann lachen, wenn er als nostalgiker oder wave-tucke bezeichnet wird - humor ist, wenn man trotzdem schwarz trägt ... ich sitze mit jm vor dem schönen café bossa nova am westlichen judenhof in ulm. die letzten apostel des sommers 2009 wärmen uns mit talaren aus sonnenstrahlen, frau moldau nimmt platz, der oberbürgermeister läuft, uns volksnah grüßend, vorbei in richtung „ladys fitness
point" und wir grüssen freundlich zurück. auf den treppen zum brunnen im judenhof führt eine showtanzgruppe das musical des herbstes auf, nur wir sehen und hören sie, klatschen beifall und bestellen prosecco. la bella vita. one with the sinner ...
„die welt wird immer weiblicher". jm sagt das, nicht weil es vorige woche in der süddeutschen zeitung stand, er sagt es, weil er es weiß, wie vieles von dem was er sagt so klingt als ob er es einfach weiß, meist so, als wüsste er es schon immer. „irgendwann wird die welt so weiblich sein, dass kriege einfach kein thema mehr sind", fügt er hinzu. ich habe genau das schon mal
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HUMOR IST... / PORTRAIT JANOSCH MOLDAU
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von john lennon gelesen, und ich freue mich, denn ich mag john lennon wie keinen anderen musiker, empfand es immer so als habe er mich miterzogen, als kind, in einer zeit des heranwachsens, in der mehr input gefragt war als das notwendige der eltern. „frauen beschützen ihre familie, ihre kinder, sie haben keinen grund, andere anzugreifen", fügt jms frau hinzu. männer sind machtbesessen, wollen stets mehr als sie haben und was sie zum leben brauchen, werfe ich ein, sie wollen kontrollieren und unterjochen. und was ist mit frau merkel? fragen wir uns - ausnahmen bestätigen die regel. wir lachen und der oberbürgermeister kommt vom „ladys fitness point" zurück und wir grüßen uns wieder freundlich.
vielleicht werden obs auch immer weiblicher? im juni 2009 sitze ich mit jm im bordbistro der deutschen bahn in richtung berlin. der musiker reist zu seinen bundes-und europaweiten auftritten immer mit der bahn und weiss, dass es im bistro fast immer platz gibt, auch für die instrumente. unser ziel ist der (p)ostbahnhof, jm wurde gebucht zur „convention of the universe", einer "depeche mode-release-party" zur damals neuen lp, mit der ur-vorband nizzer ebb und de/vision, ich begleite ihn. hier, inmitten dieser schwarzen gemeinde, welche erregt auf den body-music-dampfhammer nizzer ebb¥s wartet und vielleicht
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HUMOR IST... / PORTRAIT JANOSCH MOLDAU
die klavierlackweiße halbakustikgitarre, in seine eigene musik getaucht und die beats per knopfdruck stampfend - der hingepinselte wangenglitzer funkelt im spotlicht. nachmittagssonne vor der naschkatze in neu-ulm. einer der liebenswürdigsten menschen, die ich kenne, mit zerzaustem haar und fensterglasbrille genießt selbstgemachten apfelkuchen mit cappuccino und hält die hand seiner frau. ich freue mich, dass die welt immer weiblicher wird ...
einen der angekündigten depeche-modemusiker zu sehen bekommt, spüre ich die bühnenpräsenz von jm, der es, egal wo, schafft, die aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. und wenn er die menge dann mit einem bierzeltspruch "so, jetzt alle klatschennnn ..." dazu bringt, eben dies zu tun, ist das schon subtil großartig. selbst in gesellschaft von rebellen ist moldau ein sanfter - rebell. die halbe strecke ulm-berlin besteht bekanntlich aus der schillernden seitenansicht geislingens. jm meint, wir führen seit stunden an geislingen vorbei und freut sich über die sterile zuverlässigkeit der currywurst im bordbistro der deutschen bahn, zu der ein schönes, kühles becks vom fass gereicht wird, über welches ich mich mehr freue, nur am rande erwähnt.
contact: www.janoschmoldau.com www.myspace.de/janoschmoldau
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wenn jm etwas erheiternd findet, nennt er es trash oder volltrash, so auch unser mittagessen, zu dem wir uns meldungen aus der tagespresse vorlesen: "mann sitzt drei tage tot vor fernseher, tod im gummianzug" etc. etc. das daraus entstehende gespräch über die verrohung der gesellschaft wird roh unterbrochen durch den auftritt von einem dutzend schwäbisch-kreischender frauen um die 40, die (wie ich vermutete) einmal jährlich ohne ihre gatten unterwegs und deshalb ständig kurz vor einem nicht vorgetäuschten orgasmus zu stehen scheinen, hysterisch durcheinander brüllen - mittagsschlaf ade - trash,nein volltrash. inspirierend findet jm so eine zugfahrt, ebenso wie engel, sexshops, pornokinos, cafés, waschsalons und natürlich kirchen. wohnen und arbeiten mit münschterblick. eine art rock über der schwarzen hose, rüschenhemd, glitzer-showmasterjacke, eine schwarze federboa, fliegerpelzmütze und POR TRAIT
janosch moldau
tUxuran / VIVA PrEKARIA
sicherheit existiert nur unter ausklammerung der realit채t
tuxuran / VIVA PrEKARIA
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es gibt immer sehnsucht und es gibt mehr
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DER REALITÄT EnTKommEn DER GRAfIKER UnD mALER mAX HÄRInG florian l. arnold
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florian l. arnold
die moderne ist ... ein chaos, ein maschine gewordenes sinnbild unserer suche nach einer tieferen dimension des daseins, nach etwas, das mehr ist als geboren werden, arbeiten, altern und sterben. jeden tag sehen wir uns ins mosaik aus komischen, dramatischen, skurrilen, perversen und unerklärlichen zufällen geworfen, glauben uns mal über den dingen, mal im tiefsten chaos des alltags zu versinken. wir suchen nach einem sinn in religionen und pseudoreligionen, wir ergötzen uns an den possen derer, die sich unserer unterhaltung verschrieben haben und sind enttäuscht, wenn es diesen mediokren clowns nicht gelingt, uns abzulenken. ablenken scheint das große stichwort unserer tage zu sein. alles
soll uns ablenken von – allem. was wir auch vorfinden, nichts scheint uns genügen zu können. sollte nietzsche doch recht gehabt haben, als er sagte, wir bräuchten die kunst, um nicht an der realität zu verzweifeln? unser zeitalter kennt nur noch das diktat des mammons und wir mutieren zu ferengi, jener star-trek-alienrasse, die sich allein dem mammon verschrieben hat und ethos, moral und intelligenz allein nach ihrem wert in geld bemiddt. wie seltsam muss es jedem, der so denkt, und lebt vorkommen, wie der künstler max p. häring zu leben, der sich dem wagnis kunst jeden tag aufs neue aussetzt – und das seit beginn seines studiums 1973 an der akademie der bildenden künste in münchen bei professor mac zimmer-
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max häring
der realität entkommen / PORTRAIT max häring
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mann. seit 1982 ist max häring freischaffend tätig, doch hat er sich nie ernstlich bemüht, dem zeitgeschmack entgegen zu gehen. im gegenteil: als die jungen wilden in den 80er jahren durch die galerien stürmten und videokunst zum nonplusultra künstlerischen ausdrucks wurde – da griff max häring zu den tradierten (und damals völlig als „out“ abgestempelten) techniken von zeichnung, radierung und malerei. auf jedem feld arbeitet er mit höchster akkuratesse und handwerklicher perfektion. ein erzähler mit tuschfeder und pinsel. das überreale, der magisch-phantastische realismus, das erzählerische reizten ihn von allem anfang an. seine werke, ganz gleich in welcher technik entstanden, zeugen von hohem aufwand. geschmeidig,
selbstverständlich und narrativ wenden sich seine arbeiten an querdenker, an die „open minds“, an die geistig befreiten – kurzum: all jene „unkorrekten“, die in einer optimierungswütigen gegenwart zu „antihelden“ werden müssen, sofern sie ihre geistige freiheit nicht feilhalten. max häring nennt seine freien zeichnungen „free comic“ – eine „sehr assoziative, völlig offene, zum teil auf der unkontrollierten verknüpfung von bildern, fotographien, erinnerungen und zitaten aus literatur, film usw. beruhende technik“. diese verknüpfungen beziehen sich auf die „[…] unterschiedlichen bereiche (musik, literatur, architektur, film, fotographie, und bildende kunst) “. „free comic“,
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FLorIAN L. ArNoLd
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max h채ring
der realität entkommen / PORTRAIT max häring
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so bezieht der zeichner häring ein zitat von isidore ducasse auf seine arbeit, „[…] ist schön wie die begegnung einer nähmaschine mit einem regenschirm auf einem operationstisch“. free comic lässt uns im stile des free-jazzbegriffs an eine frei schwingende fassung des comics denken. dessen stilmittel greift häring zwar durchaus auf, aber er überführt sie auf diffizile weise, viele denk- und zeichenschichten umfassende arbeitsphasen hindurch in etwas, das man nur noch selten mit dem landläufigen comic-begriff verbindet. die zeichnung wird zur geschichte. es geht nicht um linie oder form als grafischen selbstzweck, als innenarchitektonischer „appetizer“, der zu sitzgruppe oder designervase passen muss. wer sich auf eine max-häring-zeichnung einlässt, taucht ein in eine welt, in der alles miteinander vernetzt ist; ein wenig pathetisch ausgedrückt: nähme man alle zeichnungen härings zusammen, ließe sich daraus eine art rezept für die welt entnehmen, ein meta-zeichen für das, was mit uns stimmt oder auch nicht stimmt. dazu mixt häring virtuos eigenkreationen und bildzitate, die er, wie viele künstler ein unermüdlicher sammler und entdecker, aus fernsehzeitschriften, prospekten, postkarten, flyern, katalogen und fotografien ableitet. er besitzt, dies darf ich verraten, zuhause einen dicken ordner voller kaum briefmarkengroßer abbildungen aus der kunstgeschichte aller länder, ausgeschnitten und konserviert für das auge des zeichners, der sich, wenn es nötig ist, daraus ein sinnreiches zitat fabriziert: da findet
sich in seiner tuschfeder-zeichnung „crossroads 3“ das münster heilig kreuz aus schwäbisch gmünd neben einem dürer-holzschnitt, und in der zeichnung „zoyd wheelers fenstersturz“ (zu einer szene aus einem roman des amerikanischen underground-wunders thomas pynchon) begegnen wir motivischen auszügen aus den barocken deckengemälden der klosterkirche ottobeuren. eine inspirierende rolle spielen caravaggios „david“ und italienische spitzen-arbeiten des 17. jahrhunderts in „opfer 3 – vor dem start“. wirbelnder kosmos der möglichkeiten in seinen gemälden bedient sich max häring der stilmittel unterschiedlichster kunstepochen, denen er jeweils ihre essenz entnimmt. man sieht sich in einen farbwirbelnden, nuancierten, womöglich süchtig machenden kosmos der möglichkeiten geworfen. diesen lädt häring mit der atemberaubenden perspektive psychoanalytischer abgründe auf und versetzt ihm zudem einen stoß in richtung jener fantastisch-surrealen traumdeutung, wie sie auch von künstlern wie fabius von gugel, richard oelze, alfred kubin, max ernst oder wolfgang lenz verfeinert wurde. scheinbar in stille ruhende landschaften überhöht häring auf die ihm typische weise: indem er - virtuos mit licht und raum spielend - all die dinge, die uns bekannt vorkommen, um eben jene nuance verdreht, die uns alles in einem neuen licht erscheinen läßt - als wären wir wieder in die eigene kindheit zurückgekehrt, in der wir alles mit universellem staunen zum ersten mal wahrnehmen. dies ist es, was
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max häring
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florian l. arnold
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max h채ring
ES IST EINE SCHANDE
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florian l. arnold
max häring aus den eindrücken macht, die die gegenwart auf ihn einprasseln lässt. und zugleich ist es weit entfernt von einer illustrierenden, die gegenwart dokumentierenden haltung. vielmehr ein fortschreiben und verbessern der grauen gegenwart mittels grafik und malerei. im irrgarten des zum schoßhündchen von „sammelnden“ banken und selbstreferentieller anspruchslosigkeit verkommenen kunstmarkts muss es ein wenig absonderlich, vielleicht sogar logisch scheinen, dass jemand wie max häring nicht dem zwang zu inflationärem ausstellen und selbstvermarkten erliegt. er zeigt nur an ausgewählten orten sorgfältige ausschnitte seines könnens. diese - nennen wir das kind ruhig beim namen – „verweigerung“ gegenüber dem räderwerk des kunstmarkts und seinen mechanismen von anpassung, zurechtschleifen und dem schielen nach multimedialem applaus klingt fast zu fantastisch, um wahr zu sein. und doch erscheint es geradezu zwingend, dass ein künstler mit einem gespür für die möglichkeiten von sprache, metapher, allegorie und verschlüsselung sich vor dem lärm der welt zurückziehen muss, wenn er in die tiefsten regionen der menschlichen fantasie eintauchen will. eine fantasie, die zwar das schlimmste auszumalen imstande ist, doch dank optimismus, humor und einer guten portion menschenliebe immer noch an ein gutes ende glaubt. ob in den zeichnungen, den gemälden, ob in den karikaturen oder in seinen kaum zehn zentimeter großen kleinskulpturen max härings arbeiten künden bei allem innewohnenden optimismus auch vom zerbrechen der welt und der sicherheit, in der wir uns so lange wähnten. max’ bildwerke wirken wie aus zehntausenden kleinster fragmente hergestellt, sichtbar nur für einen moment, bevor sie sich auflösen und zu etwas ganz anderem zusammenballen. ein meister neuer realitäten. obwohl ich nun schon einige male in max härings atelier war, dort bilder im entstehen gesehen und das lager mit fertigen arbeiten gesehen habe, frage ich mich
dennoch manchmal, ob es das alles gibt: diesen zurückhaltenden künstler, der so ohne jedes sendungsbewusstsein bilder - zeichnungen und malereien - von altmeisterlicher raffinesse erschafft; dessen kunstwerke aus einer realität zu stammen scheinen, die mit der unseren nur wenig gemein zu haben scheint: rätselhaft weite bildräume von erstaunlicher imaginationskraft, hergestellt in aufwändigster maltechnik, gemälde in "altmeisterlicher" lasurmalweise, verfeinert durch zarte farbschraffuren. wo wir uns der realität ergeben und das träumen anderen überlassen, die – so glauben wir – unsere träume besser verstehen als wir selbst – da vermengt max häring realität und traumerleben zu neuen realitäten. er kreiert auf einem bogen papier oder einer leinwand mittels tusche und farblasuren sinnbilder für jeden träumer, der am morgen erwacht und sich nicht mehr an das geträumte erinnern kann. man hat noch eine stimmung im kopf, die ahnung eines films, dessen anfang und ende man allerdings verloren hat – und den man doch gerne noch einmal sähe. der künstler max häring scheint den ganzen traum-film zu kennen, er erschafft ihn neu, bild für bild, damit wir uns immer und immer wieder erinnern können, nachträumen, neuträumen können, fantasieren, abheben, der realität entkommen. oder, in den worten von max härings lieblingsautor thomas pynchon: „die leinwand ist eine dunkle seite, die vor uns aufgeschlagen ist, schweigend und weiß. (...) das letzte bild stand viel zu kurz, als daß es ein auge gehalten hätte. eine menschliche gestalt war es vielleicht, träumend von einem frühen abend in jeder großen hauptstadt, deren leuchten hell genug ist, um von unsterblichkeit zu sprechen, vors haus getreten für einen wunsch an den ersten stern; aber es war kein stern, es stürzte ein leuchtender engel des todes. und auf der verdunkelten weite der leinwand ist etwas weitergelaufen, ein film, den zu sehen wir nicht gelernt haben ...“
max häring
der realit채t entkommen / PORTRAIT max h채ring
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max h채ring
Christine Sรถffing
der klang-haptomat
Der Klang-Haptomat
BERICHT der klang-haptomat synästhetische projekte im grenzbereich von kunst und wissenschaft von christine sÜffing -------------------------------------
synästhetisch betrachtet hat ein schiedenste formen der synästhesie klang eine farbe, eine form und eine werden unterschieden: jemand, der materialbeschaffenheit. genauso wie klänge, geräusche und stimmen in farben einen geruch oder einen geschmack. wahrnimmt, ist ein farbenhĂśrer, ein doch was heiĂ&#x;t „synästhetisch be coloured-hearing-synästhetiker. jetrachtet“? synästhesie nennt sich mand, der buchstaben, zahlen, vokale die neurologisch nachweisbare verknĂźp- oder wochentage farbig wahrnimmt, fung mehrerer sinneswahrnehmungen. ist ein graphem-synästhetiker. diese beispielsweise wird ein schmerz beiden formen sind die häufigsten nicht nur als schmerz wahrgenommen, synästhesieformen. sehr viel selsondern zugleich auch als farbe oder tener sind die koppelungen: gerĂźgeruch oder geschmack. so entsteche hĂśren, geschmack fĂźhlen,gefĂźhle hen z.b. grĂźne schmerzen oder nach hĂśren oder gefĂźhle in farben sehen, zimt schmeckende oder nach laub klänge schmecken. riechende schmerzen. der klavierton a1 kĂśnnte blau aussehen und sich diese verknĂźpfungen werden in der samtig anfĂźhlen oder er schmeckt synästhesie-forschung als hyperbinsĂźĂ&#x; oder riecht nach etwas. ein ding (1) verstanden. sie zu erforschen buchstabe, z.b. das g, kĂśnnte gelb ist fĂźr die wissenschaftler zum eisein, der montag orange, die 7 aber nen von interesse, um mehr Ăźber das grĂźn. theoretisch kĂśnnen sämtlimenschliche bewusstsein zu erfahren, che sinnesverknĂźpfungen auftreten, zum anderen um im bereich der kĂźnstdoch ist meist ein reiz mit einer lichen intelligenz roboter vernetzt farbwahrnehmung gekoppelt. verzu programmieren. interessanter-
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Christine Söffing
flash-konzert
weise aber hat sich bei den forschungen herausgestellt, dass jeder synästhetiker eine andere zuordnung bei seiner gekoppelten wahrnehmung aufweist. wenn also für den einen der klavierton a1 blau ist, so ist er für den nächsten synästhetiker gelb und für einen weiteren rosa. es ist also nicht generell möglich zu sagen, der klavierton a1 ist für synästhetiker blau, der montag gelb. konstant aber bleibt die subjektive zuordnung eines jeden synästhetikers, die dadurch wie ein persönliches inneres lexikon fungiert. wie allerdings synästhesien zustande
kommen, ist immer noch nicht geklärt. einige forscher vermuten vererbbarkeit, andere meinen, synästhesie sei latent bei jedem menschen vorhanden. für mich sind klaviertöne blau, geigen-, cello- und gitarrenklänge grün und saxofonklänge meist orange oder rot. allerdings kommt es auf den genauen klang an und darauf, wer wie spielt. ist der anschlag auf der klaviertaste hart oder weich, schnell oder langsam etc. manchmal möchte dann jemand wissen, wie ein konzert, ein musikstück aussieht. also hatte ich, um diese fragen zu beantworten, eine ganze
Der Klang-Haptomat
weile musik gemalt. ein konzert auf longstrings von simone heuveldop 1996 in der st. georgs-kirche ergab an die 50 ölbilder, „die roten klänge", denn ein bild alleine reichte nicht, um dieses unglaublich warme klangvolumen, die weichheit der töne und ihre flauschige oberfläche darzustellen. bilder zu monteverdi, bach oder alexander laszlo (2), einem komponisten, der selbst synästhetiker war, entstanden. da allerdings die klänge bewegte farbige formen im raum bilden, skulpturen, können gemalte bilder nur momentaufnahmen der bewegung darstellen. die farbigen formen verdecken auch nicht, wie manche annehmen, den raum dahinter, sie verdecken sich nicht einmal gegenseitig. auf der anderen seite sind sie nicht durchsichtig, sondern oft voluminös und kompakt. die augen melden ja nicht dieses bild aus dem realen raum, sondern das sehzentrum wird beim hören des klanges zugleich mit der klangwahrnehmung aktiviert. welches instrument klingt denn so wie der himmel gerade aussieht? oder welches so wie dieses gelb dort drüben? wurde ich auch gefragt. doch so herum funktioniert die synästhesie nicht. ich sehe nur eine farbe, wenn ich einen klang höre und nur so lange wie ich ihn höre. sehe ich eine farbe, dann höre ich gar nichts. so kam ich auf die idee,
mir ein digitales farb-klang-archiv anzulegen, um zum einen klänge der gleichen farbe miteinander vergleichen zu können, und zum anderen auf die klänge zugreifen zu können, wenn wir, die emu (3), landschaften, bilder oder filme vertonen. ein projekt war die vertonung des zwölfteiligen farbkreises von johannes itten. dafür bat ich den soundsammler und soundgenerierer axel baune, mitglied des emu-ensembles, mir aus seinen klangarchiven instrumentale und vokale sounds sowie geräusche vorzuspielen. abend für abend hörten wir maigrüne, zinnoberrote, weltraumblaue, zarthellrosa, blutrotdunkle, sienafarbene, erdbeerrosane, himbeerrosane, hellgraue, granitgraue, schwarze, hellgelbe, tannennadelgrüne, umbra, orangefarbene klänge – doch es gab einfach keine lila sounds. warum nicht? warum überhaupt haben bestimmte klänge bestimmte farben? was ist das spezifische, das typische bei den orangen klängen? was bei den grünen klängen? klanganalysen gaben uns erste aufschlüsse und bestärkten die theorie, dass die synästhesie eine form der differenzierung von wahrnehmung ist. 470 sounds hatte ich nun in den ordnern. vorwiegend grüne in den unterschiedlichsten grüntönen. der ittenkreis hat nur zwei grüntöne. die farbkugel von philip otto runge hat auch viel zu wenig farb-
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Christine Söffing
töne. genaugenommen gibt es auf ihr ja nur die abmischung zu weiß hin oder zu schwarz. nicht aber blaugrüns, braun-grüns, verschiedenste gelb-grüns. welches farbsystem also passt am ehesten zur darstellung der synästhetischen farbvielfalt? auf dem erstellten farb-klang-archiv beruhen zwei kandinsky-projekte: einmal die vertonung des kandinskybildes „gelb-rot-blau“. hier setzte ich das bild, um eine zeitstruktur zu erhalten, in einen flash-film um, der uns spielern partitur war. das zweite projekt fußt auf der idee, einen wirklich synästhetischen bühnenraum zu erzeugen. in der vh ulm projizierten wir mit 6 beamern auf drei wände und schrieben synästhetische, logische oder einfach subjektive flash-partituren für die gesamtfläche der drei wände. jede partitur wurde vom emu-ensemble in echtzeit live gespielt.
was also bedeutet die materialeigenschaft? was die form? der synästhesieforscher und musikwissenschaftler georg anschütz schrieb zu der formwahrnehmung bei synästhetikern 1930 (4): „häufig zeichnet sich der klangcharakter der instrumente und stimmen eigenartig raumhaft aus. die trompete bewirkt etwa säulen oder aber in sich erst wachsende, nach oben immer breiter und massiger werdende gestalten. gezupfte töne oder solche des klaviers, der harfe und der glocken bilden die mannigfachsten arten von kreisen, scheiben, kugeln, tropfen und ähnlichem.“ prof. ramachandran (5) zeigt am berühmten formkonstanten-beispiel „bubakiki“ auf, dass eigentlich jeder mensch klänge mit formen verknüpft:
„betrachten sie die beiden folgenden geometrischen figuren und vergeben sie den namen hbubah an die eine und den namen hkikih an die andere fidie fragen gingen weiter: gur: wer ist kiki und wer ist buba? wenn nun also 3 klänge das gleiche fast alle menschen ordnen den namen grün haben, wie verhält es sich dann buba der linken, rundlichen figur mit ihren anderen variablen: der zu und den namen kiki der rechten, form und der materialeigenschaft? spitzen, kantigen figur. grundlage so kann der eine maigrüne klang die hierfür könnte die synästhetische form eines dicken, breiten, kleinen fähigkeit sein, bestimmte laute tropfens haben und eine samtige eher als rundlich (runder mund beim materialbeschaffenheit. der nächste erzeugen?) und andere leute eher als maigrüne klang z.b. aber kann eine spitz (spitzer mund?) zu empfinden. doppelt gewellte form haben und fühlt laute aber haben keine geometrischen sich glatt an. eigenschaften!“
Der Klang-Haptomat
buba kiki betrachten sie die beiden folgenden geometrischen figuren und vergeben sie den namen 'buba an die eine und den namen 'kiki an die andere figur
was also bedeutet die form des klanges für mich? korreliert die form mit der farbe des klanges? fragte ich mich und begann meine 470 gesammelten klänge auf ihre formen hin zu untersuchen. zu dieser untersuchungsreihe entstand „der begehbare farbkreis nach itten“, eine interaktive installation (6), bei der man barfuß flauschige in farbe und materialbeschaffenheit des klanges gearbeitete klangformen begehen konnte und durch das betreten der form den jeweiligen sound auslöste. waren mehrere menschen in der installation, so löste nur einer einen klang aus, dann der nächste. welchen klang man hörte, zeigte eine farb-
projektion. einige besucher stellten dabei fest: „diese farbe passt doch gar nicht zu dem klang! der klang ist doch grün, nicht rot!“ und erfuhr so, selbst synästhetiker zu sein. oder: „ja, zu der form habe ich so einen sound erwartet.“ um nun mehrere farben zusammen hören zu können, entwickelte ich den klang-haptomat, ein pult mit drücktasten. jede taste ist bedeckt von einem stoff in farbe und materialeigenschaft des dazugehörigen klanges – wie gelb und weich und flauschig, maigrün und glatt und weich, weich
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Christine Sรถffing
begehbarer farbkreis
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Christine Söffing
und huppelig und dunkelrot. der klang-haptomat wird auf der 19. ulmer triennale vom 5. dezember 2009 bis 31. januar 2010 zu sehen, hören und fühlen sein. neben den synästhetischen projekten gibt und gab es auch ganz andere arbeitsreihen: die landschaftsskulpturen im öffentlichen raum in zusammenarbeit mit friedrich w. heitmann als "gruppe inbild" – wie z.b: das tritons-horn in blaubeuren über der blau. oder die lichtbilder „die kuh im öffentlichen raum“ – wie die installation in der universität ulm [n24, ebene 1]. doch die synästhetischen projekte beschäftigen mich gerade besonders,
weil ich vermute über ein künstlerisches herangehen an das forschungsfeld der hirnphysiologen, etwas über das bilddenken und die wahrnehmung des menschen herauszufinden. an der untersuchung, welche klänge welche farben haben, können sie sich, liebe leserin, lieber leser, gerne beteiligen. mailen sie ihr interesse an info@synaesthesiewerkstatt.de. dann schicke ich ihnen eine cd mit 30 klängen und der in einem text genau angeleiteten bitte, jeden klang so genau wie möglich zu beschreiben.
ergänzungen -------------------------------------------------------------------------www.synaesthesie.org (1) unter "binding" versteht die neurobiologie, dass es im bewusstseins- und wahrnehmungsfeld möglich ist, verschiedene aspekte so aufeinander zu beziehen, dass eine einheitliche wahrnehmung (bzw. "wahrnehmungsgegenstand") entsteht. psychologen sprechen von "intermodaler integration", d.h. form, farbe, bewegung, klang, gefühlston, alles verschiedene, heterogene wird so aufeinander bezogen, dass es zumindest temporär als einheit erlebt wird. synästhesie wird in dieser sicht als "hyper-binding" ("verstärktes" binding) verstanden, d.h. als binding an stellen des kognitiven wahrnehmungssystems, an denen es üblicherweise nicht vorkommt. in den noch offenen fragen zu binding und intermodaler integration erhofft man sich durch die synästhesie-forschung neue erkenntnisse (nach h. m. emrich). (2) siehe: siedler, natalia und jewansky, jörg: von der farbe-ton-beziehung zum farblichtflügel. die farblichtmusik im
Der Klang-Haptomat
20. und 21. jahrhundert. peter lang verlag. bern/frankfurt a.M. 2006. (seite 411-414) (3) emu- ist die gruppe experimentelle musik und kunst an der universität ulm. sie besteht aus künstlern, musikern, physikern, neurowissenschaftlern, informatikern, tänzern, technikern, forschern und studenten. (4) anschütz, georg: abriss der musikästhetik. leipzig 1930 (seite 187). (5) ramachandran, vilayanur: neurowissenschaftler, direktor des brain and perception laboratory, center for brain and cognition, university of california, san diego, usa. er beschäftigte sich u. a. mit synästhesie. (6) programmierung: andhi pabst und klaus schmidtke. hierzu erscheint demnächst ein artikel im tagungsband „labor schöppingen – das universum nebenan“. www.kww.kunstundwissenschaft.de
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www.synaesthesiewerkstatt.de
EDGAR jรถrg neugebauer
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seinen gang? oft genug hält er inne und blickt durch das schmale fenster, unter dem sein sekretär steht, auf die enge gasse hinunter. dort ist alles still und leer um diese späte stunde. zeit! sonst liegt er, edgar, um diese zeit schon über eine stunde bei hannelore – nun ja, was man so „liegen bei“ nennt. wie seine mutter, so ist auch hannelore brünett, doch die anmut der jugend ist bei ihr dahin. was hatte er ihr für briefe geschrieben in der verlobungszeit! wenn er seine frau heute anschaut, vermag er das kaum mehr zu glauben. gewiß liebt er sie noch, aber er hat kein verlangen mehr nach ihr. schon einige zeit bevor er aufgehört hatte mit ihr zu schlafen, war es nicht immer einfach gewesen, in die dafür nötige stimmung zu kommen. die zeugung des kleinen mädchens war letztlich schon bloßer zufall gewesen, eine augenblickliche laune. vielleicht auch eine glückliche fügung, das wird sich noch zeigen. hannelore stellt diesbezüglich keine ansprüche mehr an den gatten. in der anfangszeit ihrer ehe ist das ganz anders gewesen. jetzt aber ist die furcht vor einer neuen schwangerschaft stärker als jede andere empfindung. schon die letzte hatte sie eigentlich nicht mehr gewollt. und das matronenhafte, welches ihr aussehen in den letzten jahren mehr und mehr prägt, paßt ja auch wenig zu einer frau, die ständig nach sexueller betätigung verlangt. im streichholzlicht neuer zigarrenentzündung fällt edgars blick auf die große griechische vase, die er neben anderen antiquitäten in seinem arbeitszimmer aufbewahrt. dort kommt einmal unsere asche hinein – hannelores und meine. dann erst ist alles an seinem platz, dann erst wird ruhe sein. edgar erschrickt bei diesem gedanken. ist denn das leben nicht schön, oder hat
spätabends erst, wenn die tagesroutine erledigt ist und die kinder alle schon schlafen, beginnt die eigentliche arbeit für edgar. so sitzt er, die zigarre zwischen den lippen, nach praxisschluß oft noch stundenlang in dem kleinen, an sein behandlungszimmer angrenzenden kabinett und schreibt. vorlesungsmanuskripte vor allem, zunehmend aber auch jene fachwissenschaftlichen texte, die, in einschlägigen journalen veröffentlicht, weithin beachtung finden. eigentlich sind es fast nur protokolle, aber sie werden seinen weltruhm begründen. doch noch ahnt er davon nichts. im gegenteil: edgar glaubt schon am ende zu sein. kaum kommt er von diesem gedanken noch los. ganz gleich, in welcher stimmung er sich am abend an seinen schreibtisch begibt – spätestens nach einer stunde ist sie wieder da: diese leere, diese empfindung völliger nichtigkeit. wie oft hat er versucht, dagegen anzukämpfen, mit aller kraft vernünftiger argumente: hat er denn nicht schon sehr viel erreicht? ein angesehener arzt ist aus ihm geworden, an patienten mangelt es nicht. dieses stattliche haus hier gehört ihm, vor wenigen jahren erst hat er es für sich und die seinen erworben. und seine familie ist groß. sechs kinder hat hannelore ihm geboren, das letzte erst vor einem vierteljahr. befindet er sich, nun vierzigjährig, nicht auf gutem wege mit seinem leben? und doch: ist es denn mehr als ein bloßes dahingleiten auf vorgezeichneter bahn? führen nicht hunderte, ja tausende ein dasein, das sich von seinem nur geringfügig unterscheidet? und waren es nicht tausende vor ihm und werden es nicht wieder tausende sein, die ein ganz ähnliches leben führen? wozu überhaupt noch weiterhin existieren? geht nicht alles auch ohne ihn 1.
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es nicht einige sehr schöne seiten? das erkenntnisstreben, die ganze mühsal der wissenschaft – ist das nicht etwas herrliches? gerade das mühevolle daran ist doch das schöne. und dass alles im möglichen bleibt. wie könnte es je gewißheit geben? gewiß ist nichts als die nächste zigarre – hoffentlich! denkt edgar, das warme gefühl zwischen den lippen genießend. alles dogmatische selbst ist das böse. auf den inhalt des dogmas kommt es nicht an. dogmen entstehen immer aus schwäche, und gewißheit zu wollen ist zeichen von schwäche. leben heißt, sich im möglichen zu bewegen, abzuwägen, was für die eine oder die andere möglichkeit spricht. und dennoch: ist nicht der tod ziel allen lebens? er ist doch immerzu da. alles strebt auf ihn hin. nicht ein bloßes aufhören, kein leider-nicht-mehr des lebens ist er, kein bloßes schwinden und erlöschen von kraft. nein, denkt edgar, er muß schon selbst etwas sein, eine substanz, wie die philosophen sagen. er erschöpft sich nicht in einem mangel. würde es sonst kriege geben? kriege! edgar saugt fest an seiner zigarre, um ihn ist beißender rauch. seine drei söhne werden an der front kämpfen müssen, doch sie werden den krieg überleben. einen buben sieht edgar, das wird sein enkelkind sein. auf einer winzigen bühne sieht er ihn stehen. wie um etwas aufzusagen. doch das kind weigert sich. hier soll ich was aufsagen, wo niemand mir zuhört? wo ist sie hin, die mama? kann ich da auch hin? hier will ich nicht bleiben, nie. der tod als ziel allen lebens. mag sein also, dass es zwei gibt, zwei kräfte, die alles lebendige treiben: von der andern, vom eros, wußte ja platon schon viel. was ist seine „liebe zu den schönen körpern“ anderes als meine „libido“? ein bißchen ideen-voyeuris-
mus war wohl bei ihm mit dabei - mir ist solch höheres spannertum fremd. aber es hat eben jeder so seine vorlieben. edgar sieht jetzt fast gar nichts mehr, weil sein arbeitszimmer ganz mit rauch angefüllt ist. diese liebe zu den schönen körpern muß bald an ihre grenzen stoßen - wie sollte sie nicht bei dieser vielzahl reizender körper! zudem sind die physischen kräfte beileibe nicht unerschöpflich, von gesellschaftlichen rücksichten gänzlich zu schweigen. wo soll all die libido hin? diese kraft, die nach entladung strebt! liebe ist dafür nicht das richtige wort, aber in „libido“ klingt es noch an. sie stirbt nicht einfach ab, diese kraft, aber sie muß sich andere ziele suchen. an die stelle von, sagen wir – isabelle –, tritt meine theorie über die menschliche seele. ein trostpreis zwar nur, aber das streben ist halbwegs befriedigt. halbwegs, ja, denkt edgar und lehnt sich zurück unter ächzen des stuhles. mit der zweiten hälfte muß man dann sehen, wie man zurechtkommt. für die anderen aber ist es so besser. wenn ich, denkt edgar, mit isabelle schliefe, hätten wir beide nur etwas davon - - edgar hustet über seiner zigarre. meine deutung der menschlichen seele hingegen könnte sehr vielen von nutzen sein. isabelle! edgar, den erkaltenden zigarrenstummel jetzt in der lippenmitte, wie eine trillerpfeife, in die gleich hineingeblasen wird, schließt für eine sekunde die augen. die patientin litt an schweren verstimmungen, anfällen von abscheu, scheinbar unmotivierten zuckungen und immer wiederkehrenden angstzuständen. gegen essen und trinken zeigte sie starke abneigung, gutes zureden machte sie nur aggressiv. isabelle ist aber keine verstockte schweigerin, schließlich möchte sie ja geheilt werden. also beginnt sie zu reden. dabei 2.
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mus, dem freien fluß ihres sprechens unterwarf. rückfragen brachten bloß alles ins stocken, ließen die sprechende ungehalten, ja derart grob reagieren, wie sie es sich im normalen umgang niemals erlaubt hätte. aber das hier war eben kein normaler umgang. das hatte was von hinabsteigen in die tiefe, das hatte was von archäologie. und das verdankte er ihr! seit isabelle behandelt edgar seine patienten anders als seine kollegen dies tun. der dialog als heilmethode, als schlüssel zu einer möglichen heilung. edgar ist tief in seinen schreibstuhl gesunken. wie lange hat er nun nichts mehr von seiner lieblingspatientin gehört! hat er nicht neulich erst von ihr geträumt? leider ist just dieser traum ihm entfallen. ansonsten sammelt er ja seine träume. mehrere vorträge hat er ihnen schon gewidmet. allen ernstes mißt er den träumen bedeutung bei. an ihnen glaubt er ablesen zu können, wie es der seele momentan geht, was sie wünscht, hofft oder fürchtet. wie haben die meisten seiner kollegen gelacht! beinahe wäre er aus dem ärzteverband ausgeschlossen worden – scharlatane hätten darin keinen platz! er habe schon tausende von leichen seziert, hatte der doktor masopust von der rednertribüne herab ausgerufen beim medizinerkongress, dabei sei er aber noch nie auf eine seele gestoßen! aber ist das nicht das eigentlich menschliche? denkt edgar jetzt, auch um den gedanken an isabelle zu verscheuchen ist das nicht das eigentlich menschliche, sich stets einen ausweg zu suchen? was ist unsere ganze kultur anderes als solch ein ausweg, ein umgelenktes zeugungsstreben? somit unterschieden wir uns doch noch ein wenig vom tier. allerdings fällt’s nicht immer leicht, menschlich zu bleiben, nicht zurückzusinken in bestialität. das tierhafte! dem tier kann man es nicht vor-
geht sie über edgars anfängliche versuche hinweg, alles in ein rationales erklärungsraster zu pressen und ständig nach ursache und wirkung zu forschen. aber ist denn nicht gerade das wissenschaft, zeichnet nicht das wissenschaft aus, dass alles fein säuberlich sortiert wird nach richtig und falsch, nach kausalität und wechselwirkung? so jedenfalls hat edgar es gelernt, wissenschaft und weiße handschuhe, das hat seit jeher zusammengehört. nun muß er erkennen, dass er nichts verstehen kann, solange er ständig dazwischenfragt und seine patientin zwingen will, sich den naturwissenschaftlichen denkmustern zu unterwerfen. ja, die patientin verbietet es ihrem arzt geradezu, den freien fluß ihrer erinnerung aufzuhalten. der ist jetzt nämlich stark in bewegung geraten, dieser erinnerungsstrom, chaotisch, schlammig und allen begradigungsversuchen zum trotz immer wieder über die ufer tretend, kreuz und quer, ja sogar manchmal rückwärts fließend. und dieser urstrom schwemmt vieles heran, was edgar durch sperrigen rückstau nie in den blick bekommen hätte. statt dessen, spürt er, braucht er nur am ufer dieses flusses zu sitzen und zu schauen, was der wohl alles heranschwemmen mag, um es dann geistesgegenwärtig herauszuziehen. nur geduldig mußte man sein und warten können. anfangs hatte er sie ja massiert. eine methode, die mittlerweile ein wenig verrufen ist. aber sie hatte gewirkt. dabei hielt er sich in dieser hinsicht keineswegs für überdurchschnittlich begabt. die streichelnden bewegungen seiner hände auf ihrem längs einer liege ausgestreckten körper hatten seine patientin in einen entspannungszustand versetzt, der es ihr ermöglicht hatte zu sprechen. was er nicht alles aus ihr herausmassiert hatte! aber nur solange er sich dem rhyth3.
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wehe, du glaubst nicht! edgar hat eine weile an der zigarre genuckelt, um ihren ungewohnten geschmack zu prüfen. jetzt nimmt er sie aus dem munde, weil er sie anzünden will. sollen sie doch einen großen künstlichen phallus schwenken, denkt er, das wäre wenigstens ehrlich. seht her, wie groß unser vater ist! und was er alles vermag! wieviel narzißmus sich darin zeigt! es muß gott geben – weil ich ja wichtig bin! es muß das ewige leben geben – weil meines so wertvoll ist! wieviel schwäche aus dieser unfähigkeit spricht, die unsicherheiten des daseins zu ertragen! da ist doch die wissenschaft besser. jaja, die wissenschaft. ganz gewiß ist sie besser als religion. aber sie sollte sich nicht überschätzen. nur solange sie sich darauf beschränkt, möglichkeitenaufzuzeigen – türöffner der phantasie zu sein – ist sie eindeutig besser. edgar setzt jetzt die erste schwärzliche eule in brand. dazu, sinniert er, unwillkürlich eine gebeugte haltung annehmend, ist demut erforderlich, mäßigung – spirituelle tugenden, die der religiöse dogmatismus für sich instrumentalisiert hat. mit dem ziel, das bild dieser welt zu entstellen. und nicht bloß das bild, die welt selbst und ihre menschen gleich mit. auch vor den tieren macht diese art von besessenheit nicht halt. das leben selbst wird herabgesetzt. die wissenschaft aber muß im dienste des lebens stehen, sonst ist sie nichts wert. dienen muß sie, nicht herrschen. wenn sie doch dies nur begriffe! herrschen – und hier atmet edgar tief durch – herrschen darf allein die phantasie. ich selbst eigne mich allerdings wenig zum künstler. ich muß immer begreifen, anstatt mich ergreifen zu lassen. so vieles darf in der wirklichen welt nicht sein. und doch ist es da. also muß die kunst ihm wenigstens einen zufluchtsort bieten. edgar ist kalt jetzt, zu dieser
werfen, aber dem menschen sehr wohl, weil er zu anderem fähig ist – fähig nach oben und unten hin, weit unters tierische noch hinab. der rauch! edgar schmerzen die augen. weshalb muß ich jetzt an meine schwestern denken, daran, was ihnen geschehen wird, nach meinem eigenen tod? ihnen und so vielen anderen - nur weil wir diesem volk angehören! jedenfalls meinen das viele: wir seien ein ganz besonderes volk. zu allem möglichen ausersehen, zum guten wie auch zum schlechten. manche von uns glauben das selbst. wie, wenn wir doch ägypter wären? doch der rauch, der kann nichts gutes verheißen. edgar reibt sich die schmerzenden augen. wenn er nur weinen könnte! oder wenigstens singend klagen. aber er ist ja unmusikalisch. edgar erhebt sich, mühsam nach so langem sitzen, und geht zur kommode hinüber, wo er seine zigarrenkisten aufbewahrt. auch einige kleinformatige pappschachteln sind darunter, die ihm abramson, sein berliner kollege, oft schenkt. eine große eule ist dort im schattenriß abgebildet, und demgemäß heißen sie auch schwärzliche eule. noch nie hat edgar eine von ihnen versucht. wäre es heute nicht an der zeit? mehrmals schon hat abramson ihn gefragt, wie ihm die schwärzliche eule denn munde. stets hatte er nur etwas genuschelt. und sich vorgenommen, bis zum nächsten treffen endlich eine zu rauchen. mit einer schwärzlichen eule im munde kehrt edgar ans schreibpult zurück. wenn nur die religionen nicht wären! die gottesfürchtigen vor allem, die ein-gott-religionen. allein schon der ständige lärm um die fortdauer nach dem tode! als ob die erwiesen oder irgend erweisbar wäre. von wünschbarkeit gänzlich zu schweigen. und dann diese aufdringlichkeit mit ihrem gott! wie unbescheiden das alles, wie wichtigtuerisch! 4.
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machen. und sie richtig machen heißt: arbeit und traum zu vereinen. das unbewußte, das im traum regiert, muss auch während der arbeit wirksam bleiben. hatte nicht isabelle - unter seinen, edgars, streichelnden händen - in einer art halbwachem dämmerzustand zu ihm gesprochen? und war das nicht die wirkliche arbeit gewesen, wirklicher und wirksamer als alle wohlgeordnete reflexion? die zigarre noch kalt zwischen den fingern, geht edgar zurück an sein pult. so manchesmal hatte ihn das physisch erregt: isabelles leib zu massieren. nun, er war ein junger mann gewesen damals, längst noch keine vierzig wie jetzt. er hatte - kein zweifel - seine arbeit zeitweise mit gesteiftem penis verrichtet. diesen teil der arbeit zumindest. der andere stand ihm noch bevor: auf eros hat logos zu folgen - ohne den vorgänger dabei zu verleugnen. der sollte stets mit anwesend sein - eros als wegbegleiter des geistes. der die träume mit einwebt ins kleid der vernunft. edgar weiß, dass es spät ist. kurz spielt er mit dem gedanken, das fenster zu öffnen. statt dessen legt er sich einen stapel papier zurecht, viele unbeschriebene bogen – so verschwenderisch ist er sonst nicht. und auf den flügeln der schwärzlichen eule schreibt er und schreibt er und schreibt. als er innehält, ist eine weitere stunde vergangen. worüber hat er geschrieben? er kann sich selbst nicht erinnern, hält, wie ein alter mann, das papier dicht vor die augen. ihm gefällt, was er liest. es gleitet gut durch die kehle des lesers. steckt nicht doch ein verborgener künstler in ihm, dem kleinen kaufmannssohn aus der provinz? edgar lehnt sich zurück. das gefühl, die schlüsselworte seiner zweiten lebenshälfte, ja seines zweiten lebens, in dieser nacht gefunden zu haben, durchströmt ihn. und doch kommt er sich vor wie ein betrüger. alles liest sich so überzeugend - aber ist es deshalb auch wahr? der penis! edgar greift sich
spätfrühen stunde. im mai sind die nächte manchmal sehr frisch. soll er aufstehen und, mit den armen gegen den leib schlagend, sich notdürftig wärme verschaffen? vom fenster drüben dringt schon der tagesschein her. wie alt fühlt man sich doch, wenn man friert! denkt der um sich schlagende edgar. und wie steif. altern und steifwerden - ist das nicht ein und dasselbe? schlimmer noch ist inneres frieren, frieren in hautiger hülle. kaltes altern. steifgefroren durchmißt edgar das kleine zimmer. wie rauchig es hier drinnen ist! doch wozu das fenster öffnen? die realität hereinlassen im gegenzug zum hinausströmenden rauch. bald wird sie von selbst hereinkommen in gestalt der ersten patienten. die realität auf zwei beinen, die arbeit. hier ist das andere, hier ist der traum, der rausch, die vision!. realität ist frühes zubettgehenmüssen, um anderntags ausgeschlafen seinen dienst tun zu können. realität ist der dreimal aufgeschobene brief an die feuerversicherung. aber lebt man für diese dinge? man lebt, weil man träume hat. und weil immer, zu jedem zeitpunkt, die chance besteht, dass sie wahr werden. wahr! nicht im sinne des realitätsprinzips wahr, nicht als zu erledigende aufgabe, als pensum, welches eben bewältigt werden muß. wahr ist nur, was uns freude schenkt, lust und zärtlichkeit. ein dasein, das dazu keine chance bietet, ist keines. ein tod, dem man nicht mit freude, lust und zärtlichkeit begegnen kann, ist keiner. der ist nicht mehr als ein verrecken. aber wozu jetzt an den tod denken, wenn bald der erste patient draussensteht? edgar geht, mit wieder elastisch gewordenen gliedern, zur kommode, entnimmt der schachtel eine neue zigarre. zum leben gehört, so der die frische eule entlangschnuppernde edgar, die arbeit. der traum ist nicht ohne die arbeit zu haben. ist träumen schon schwierig, so ist es arbeit erst recht. es kommt nur darauf an, sie richtig zu 5.
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fort mit ihm, mit edgar verbindet. die welt will doch immer betrogen sein. bekümmert blickt edgar auf die halbe zigarre hinunter, die ganz klein vor sich hinschwelt dort auf dem abschüssigen pflaster. die frau hat gar keinen grund, auf den penis neidisch zu sein. aus ungleich mehr und vielfältigeren quellen vermag sie lust und lebenskraft zu schöpfen. man müßte ihr das bloß einmal sagen - lange genug ist es anders erzählt worden. dazu sind wohl die wissenschaftler da. solche, wie ich einer bin. aber, denkt edgar grimmig, das sollen andere besorgen. nicht zuletzt sie, die frauen selbst - gibt es nicht mittlerweile auch wissenschaftlerinnen? mein penisneid ist eine wunderbar einprägsame formel. mag sie auch ein märchen sein, mir soll sie ein leben in anerkennung, ja ruhm bescheren. auf eine solche formel muss einer erst einmal kommen! die wunderkraft der schwärzlichen eule. oder isabelle. oder auch beide, isabelle und die eule zusammen. in fünfzig jahren mögen sie ruhig den wahren sachverhalt darstellen: die maßlose überlegenheit der frau in allem, was mit erotik zu tun hat. und was gäbe es, das damit nicht zusammenhinge? läßt sich solches überhaupt finden? edgar stößt seinen stuhl zur seite. den, auf welchem er diese nacht gewacht und gesessen. lieber ein scharlatan als ein am leben gescheiterter! der mit vierzig schon am ende ist. lieber eine falsche wahrheit in die welt setzen als die welt von der eigenen existenz in unkenntnis lassen. herausgehen und die welt von sich überzeugen - hieß es nicht so? das nächste jahrhundert soll meins werden. dann dürfen die frauen kommen.
eine frische zigarre. ist er wirklich so wichtig, wie es dort steht? natürlich wirkt er viel imposanter als die unscheinbar kleine klitoris. doch ist für das mädchen, später die frau, die daraus zu gewinnende lust nicht derjenigen ähnlich und ebenbürtig, welche dem mann aus der handgreiflichen befassung mit seinem gliede erwächst? ist die größe des organs für das ausmaß der lust überhaupt von bedeutung? und während beim mann sich alles auf dieses teil konzentriert, kennt die frau noch den ganz anders gearteten genuß ihrer hingabe. sich hinzugeben auf vielerlei weise, daraus schöpft die frau ihre kraft, ihre phantasie, ihren lebensmut. letztlich auch ihr vermögen sich zu behaupten. hingabe bedeutet nicht schwäche. sie bedeutet seiner selbst bewußt zu sein als eine, die es wert ist, genommen zu werden. von männern, ja, aber nicht nur. genommen, angenommen vom leben, anstatt in schuld und scham mit den tode zu sympathisieren. die hingabe ist also durchaus nicht aufs sexuelle beschränkt, gleichwohl dort am unmittelbarsten erlebbar. die frau kann sich hingeben mit ihrer haut, mit ihren blicken, mit der art wie sie ihren körper bewegt, mit der stimme, mit ihren händen, mit - - - edgar kommt mit seiner aufzählung zu keinem ende, weiß, dass er damit nie zum ende kommen kann, weil er stets noch etwas anfügen müßte. wesentlich aber bleibt: der penisneid ist eine legende. natürlich mögen die frauen den penis, aber nicht, um ihn selber zu haben, dann böte er nichts verlockendes mehr. edgar steht auf, öffnet das kleine, zur amselgasse hinuntergehende fenster und wirft, ganz gegen seine gewohnheit, die erst halbaufgerauchte zigarre zum fenster hinaus. nach außen hin wird er an dieser position festhalten - gar keine frage - der penisneid soll wie der ödipus so etwas wie sein markenzeichen werden - etwas unverwechselbares, das jeder so6.
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es schlägt jetzt die stunde der koAlition
es schlägt jetzt die stunde der koalition. neuerdings wird vieles in farben umgesetzt, als wäre die politik ein malkasten, gut, wir werden nun also schwarz-gelb angemalt. schwarz-gelb war früher borussia dortmund und sonst nichts auf der welt, soweit man sie kannte, heut kennt man ja mehr von der welt als damals, als libuda in glasgow für dortmund das tor schoss. glasgow, das war unvorstellbar weit weg, so wie für uns heute 1966, als das mit dem tor von libuda passierte und dortmund in schwarz-gelb den europapokal gewann. was schwarz-gelb heute gewinnen kann, ohne libuda, können wir noch nicht wissen, denn im unterschied zum finale von glasgow ist die koalition ja noch nicht beendet. vielleicht sollte man sie erstmal nach glasgow schi-
cken, aber die merkel, heißt es, kann nicht so gut englisch, die versteht bloß physik. das hat sie wieder mit libuda gemein, wie hätte der sonst aus 35 metern das tor treffen können, also ohne physik geht sowas gar nicht, da braucht man auch gar kein englisch dazu. das mit schwarz-gelb und libuda stimmt aber eigentlich bloß zur hälfte, denn libuda war eigentlich schalker, also blau-weiß, und ist erst kurz vorher nach dortmund gewechselt, was damals noch nicht ganz so gefährlich war wie heute, aber doch auch schon gefährlich, denn von schalke nach dortmund zu wechseln, das ist mindestens so wie von ulm nach reutlingen, also eigentlich unvorstellbar. kurzum, libuda war eigentlich noch blauweiß, im herzen zumindest, damit
stand er wiederum seehofer nahe, aus heutiger sicht, denn wenn einer heute blau-weiß ist, dann seehofer. oder ist seehofer nicht vielmehr weiß-blau? das kommt darauf an, ob man bayern von oben oder von unten betrachtet, seehofer betrachtet bayern natürlich von oben, schließlich ist er der präsident. der präsident ist immer oben, auch der ministerpräsident, der ja immerhin auch ein präsident ist, wenn auch bloß von ministern. für das gelb in schwarz-gelb ist eigentlich die fdp zuständig, die bringt da das gelbe hinein. die fdp aber hat überhaupt keinen libuda, westerwelle ist höchstens mit wosab vergleichbar, der in jenem finale auch mitgespielt hat, jedoch kurz nach spielende k.o. geschlagen wurde aus wut über den sieg von schwarz-gelb.
ähnlich k.o. war westerwelle ja nach der bundestagswahl - in einer pressekonferenz weigerte er sich eine auf englisch gestellte frage zu beantworten, natürlich nicht weil westerwelle kein englisch könnte, sondern weil er so k.o. war vom schwarz-gelben sieg, genauso wie wosab 1966. wenn also wosab jetzt an der regierung ist, zusammen mit seehofer und der physik, dann wissen wir, was die stunde geschlagen hat. kairos
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tuxuran / VIVA PrEKARIA
www.myspace.com/tuxuran
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besser sollt’s werden gut geht vorbei
ulMonolog TSCHNABERBIER und POSSENKOFER spazieren. 88 89
belauscht von florian l. arnold
herr tschnaberbier: na, ich weiß nicht … wie das jetzt hier alles aussieht, so neu, so glatt. nein, ich weiß wirklich nicht. das sieht ja nicht mehr aus wie das ulm, das ich kenne. da wars auch mal dreckig und da durfte auch mal der putz gemütlich von den wänden bröckeln. und jetzt wird alles neu gemacht, mit viel glas und stahl und beton wird alles neu erfunden …! also, nein, nein, herr possenkofer, das ist nicht mehr mein ulm. lassen sie uns gehen, irgendwohin, wo die welt noch in
ordnung ist…! herr possnkofer: ich weiß gar nicht, was sie haben? ist doch schön so. weg mit dem alten gerümpel! das ist eine neue zeit, die braucht neue fassaden! herr tschnaberbier: also, dann gehöre ich nicht in diese zeit. ich mags gemütlich. herr possnkofer: was ist denn in ulm ungemütlich? herr tschnaberbier: na alles. diese neue mitte. pfui, wie sauber es da aussieht, fehlen ja nur noch die videokameras an allen hausecken
florian l. Arnold
und ein paar grau gekleidete streifenpolizisten und wir wären mittendrin im orwell-alptraum. und das stadthaus, diese betonbüchse. mir tun ja immer die putzfrauen leid, die die vielen glasfenster putzen müssen! oder die bahnhofstraße. graue kommerztristesse. da schmerzen einem die augen noch CFJN wegschauen! herr possnkofer: sie sind reaktionär. am liebsten wärs ihnen doch, wenn wir die neue mitte wieder abreißen und einen haufen fachwerkhäuser hinstellen – richtig? ganz ulm ein einziges fischerviertel – wäre das nach ihrem geschmack? herr tschnaberbier: wäre jedenfalls besser als das, was wir jetzt haben. diese kalte stadt mit ihren gräTTlichen fassaden: metall und glas und beton. alles kalt und grau und häTTlich. herr possnkofer: es wäre doch aber komisch, hochhäuser als fachwerkhaus zu bauen. oder in die neue mitte kleine krumme alte häuschen! dafür müTTte man eintritt kassieren wie iO legoland! herr tschnaberbier: na, ich seh schon, sie wollen mich ja nicht verstehen. nehmen wir nur mal diesen neubau beim haus der begegnung, dieses ding mit den schwarzen ziegeln. da kriegt man ja depressionen wenn mans nur anschaut! und von der kirche sieht man auch fast nichts mehr!
herr possnkofer: aber städte leben davon, daTT das alte und das neue nebeneinander existierFO! das ist doch sehr reizvoll. denken sie doch an das harmonische miteinander von rathaus und stadtbibliothek, von stadthaus und münster …! herr tschnaberbier: harmonisch ist das nicht. davon jucken mir die augen. und im sommer blendet mich das viele glas. ganz zu schweigen von der hitze, die der beton aufsaugt und absondert. da wirds ja schnell mal 50 grad heiß. ich hab mir beim barfußgehen am stadthaus glatt die füße verbrannt! dann bin ich ins stadthaus geflüchtet um nicht zu verbrennen – aber da drin lief die klimaanlage und kühlte alles auf ESFJ grad herunter. ich lag anschließend vier wochen mit grippe im bett – und das im august! moderne architektur ist menschenfeindlich, sag ich! herr possnkofer: was? herr tschnaberbier: ja, menschenfeindlich. immerzu wird man mit materialien tyrannisiert, die man nicht versteht. und man wird wie eine ratte im labor um die ganzen gebäude herumgelotst. ich warte ja immer drauf, daTT mir vom himmel ein stück käse auf den kopf donnert, BMT wenn ich um die spitze vom münstertor rumgehe und eine stimme sagt: „versuchsperson hat es geschafft, experiment geglückt!“ herr possnkofer: sie armer! können ja von glück reden, daTT sie sich
ulmonolog
an den scharfen gebäudekanten nicht die kleidung zerreißen! herr tschnaberbier: sie wissen schon, was ich meine! geistig frierts mich, wenn ich nur moderne metall-treppengeländer anfasse, mit ihrem kalten metall, das hart und kantig in meine handflächen schneidet … oder der grüne teppich in der stadtbibliothek! der ist bestimmt aus china, mit lauter chemie drin! nein, da sind mir knarzende parkettböden lieber! herr possnkofer: sie könnten die schönheit eines alten parkettbodens aber nicht genießen, wenn sie nicht immer wieder über metall- oder betonböden gehen würden! herr tschnaberbier: also geben sie zu, daß es furchtbar ist, dieses betonzeug überall? herr possnkofer: das habe ich nicht gemeint! ich meinte: der kontrast ist es doch, der die dinge schön macht. alt und neu, holz und metall, knarzen und nichtknarzen … herr tschnaberbier: aber warum fahren die leute im urlaub immer dorthin, wo es schön ist? alte städte, unberührte landschaften? also ich hab noch nicht gehört, daß einer nach bremerhaWen fährt weils da so schöne betonburgen gibt. oder nach bitterfeld … herr possnkofer: aber die leute fahren nach ulm, um sich die neue mitte und das stadthaus und die stadtbibliothek anzusehen. weil die eben auch … schön sind!
herr tschnaberbier: schön? schön ist es dort, wo die menschen gern bleiben. sich hinsetzen und ein schwätzchen halten. in der neuen mitte rennen alle nur zwischen den autos herum oder fliehen ins nächste café! herr possnkofer: wuTTten sie, daTT die hälfte der häuser im fischerviertel – oder auf dem kreuz – neubauten sind? sie wirken nur alt, aber gebaut wurden sie nicht im mittelalter sondern erst vor 10, 20, 30 jahren. herr tschnaberbier: und was soll das heiTTen? herr possnkofer: das heiTTt, dasT menschen immer schwierigkeiten mit dem neuen haben. daTT sie die dinge erst schön finden, wenn sie ein biTTchen patina bekommen, wenn das neue nicht mehr ganz neu ist, sondern sich mit geschichte vollgesogen hat …! herr tschnaberbier: ich wusste es! sie leben auch in einem haus mit knarzenden parkettböden und alten doppelstockfenstern und unverbaubarem blick aufs fischervierteM …! herr possnkofer: also bitte – sie drehen mir ja das wort im mund herum! herr tschnaberbier: durchaus nicht. ich höre nur zu. sie sagten, die dinge brauchen patina, um von den menschen als wertvoll erachtet zu werden. herr possnkofer: ich weiß schon, was ich gesagt habe!
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herr tschnaberbier: naja, wenn ich mir das so anschaue – vielleicht ist es ja nicht so falsch – wenn die mitte mal vierzig, fünfzig jahre alt ist – dann bin ich neunzig – dann sind wir zusammen vierzig, fünfzig jahre gemeinsam gealtert – dann wird die mitte besser aussehen als ich … und wenn das einsame bäumchen da mal größer ist und die baustellen weg sind – wer weiß … herr possnkofer: es könnte also auch mal schön sein? herr tschnaberbier: es wird alt sein! herr possnkofer: alt und schön! herr tschnaberbier: alt und baufällig eher! herr possnkofer: also reißt man alles ab und baut es neu! herr tschnaberbier: um gottes willen! gerade wenn ich mich an das zeug gewöhnt habe, reißen sie es ab? nein, danke, dann lieber alles so lassen, wie es ist! herr possnkofer: also neu und schön? herr tschnaberbier: mit patina. und geschichte. herr possnkofer: alles nur eine frage der zeit, mein lieber …!
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