ImNamen des Volkes
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mit Illustrationen von Philipp Heinisch
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AusdemRahmenfallendeUrteileundandere steuerlicheundjuristischeStilblüten
VonDipl.-FinanzwirtRalfSikorski undPhilippHeinisch
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© Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2020 www.ESV.info
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Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde
Druck: Hubert & Co., Göttingen
Früher litten wir an Verbrechen, heute an Gesetzen.
(Publius Cornelius Tacitus, ca. 58–120, römischer Historiker und Senator)
I. Im Anfang war das Wort .....................................
II. Süß und ehrenvoll ist es, Steuern zu zahlen ....................
III. Ungebühr vor und hinter dem Gericht ........................
IV. Es soll Gerechtigkeit geschehen ...............................
V. Zwei Dinge sind unendlich: das Universum und die menschliche
..................................................
VI. Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben ................
VII. Reisen veredelt den Geist .....................................
....................................................
Endlich einmal ein Vorwort das auch gelesen wird oder „Wie viele Gebote braucht ein Land?“
Wenn Sie diese Zeilen lesen, dann sind Sie hoffentlich auch alt genug, um die schonungslose Wahrheit über die Rechtswissenschaften unseres Landes zu akzeptieren. Zum Beispiel die Wahrheit über die immer wiederkehrende Mär von der Reform zur Steuervereinfachung. Oder die Wahrheit über die nie enden wollende Rentenreform. Oder die Wahrheit über die nicht ernsthaft gewollte Gesundheitsreform. Oder, oder, oder. Die Liste ist lang. Aber Reformen in Deutschland? „Jede Reform, wie notwendig sie auch sein mag, wird von schwachen Geistern so übertrieben werden, daß sie selbst der Reform bedarf.“1
Wenn man einmal die zuständigen Finanzbeamten, die Steuerberater vor Ort, die Buchhalter der Betriebe oder die betroffenen Unternehmer selbst zum leidigen Thema Steuerrecht befragt, wird man erfahren, dass all diese Menschen sich nichts sehnlicher wünschen als eine Steuervereinfachung, auch, um ihre diesbezügliche Arbeitszeit wieder sinnvoller und effektiver einsetzen zu können. Aber was wissen diese Menschen schon von der Gesetzgebung – und was wissen die Betroffenen schon darüber, was gut für sie ist.
Allein im politischen Berlin gibt es inzwischen rund 6 000 Interessensverbände. Und die Vertreter dieser Verbände wissen gemeinsam mit Politikern und den Beteiligten der Ministerialbürokratie viel besser, was gut für uns ist. Deswegen werden Jahr für Jahr Gesetze geschaffen, die kein Mensch braucht, die kein Mensch will, die große Unternehmen reicher machen oder Dinge regeln, von denen wir bislang gar nicht wussten, dass ein Regelungsbedarf besteht.
1 Samuel Tylor Coleridge, 1772–1834, englischer Literaturkritiker.
Aus: Ralf Sikorski / Philipp Heinisch, Im Namen des Volkes © Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2024
Ursache dafür ist die unendliche Regelungswut gerade der Deutschen, aber auch der Europäer, die alles, was geregelt werden kann, auch wirklich regeln wollen. Und zudem war es schon immer einfacher, ein Gesetz neu zu schaffen als denn ein überholtes Gesetz später wieder aufzuheben. Ein Gesetz ins Leben zu rufen, dauert in aller Regel 3 bis 6 Monate, bis es den parlamentarischen Weg genommen hat, zumindest, wenn politisch Konsens über dieses Gesetz besteht. Die Abschaffung eines Gesetzes, zumal für den Bürger nachteilig, scheint dagegen gar nicht möglich zu sein. So wird die unter Kaiser Wilhelm II. zum 1.7.1902 ins Leben gerufene Schaumweinsteuer zur Finanzierung einer deutschen Kriegsmarine heute noch erhoben, und kaum jemand weiß davon. Man hat wohl bei Gründung der Bundesrepublik schlicht vergessen, sie aufzuheben. Und wenn man sich dann die Ausstattung unserer aktuellen Bundeswehr im Allgemeinen und der deutschen Marine im Besonderen einmal so ansieht, kommen einem dann doch erhebliche Zweifel, ob all die Steuertaler, die wir mit jedem Glas Sekt in die Bundeskasse spülen, denn auch wirklich dort ankommen. Nie war unser Land so reich wie heute, nie sprudelten die Steuereinnahmen so hoch wie in den letzten Jahren. Aber statt den Bürgern zu geben, was den Bürgern gehört, werden keine Steuererleichterungen geschaffen, sondern starr an alten Zöpfen festgehalten oder gar neue Abgaben ins Spiel gebracht. So wurde denn zuletzt der sog. Solidaritätszuschlag nur für 90 % der Bevölkerung abgeschafft, und die Berechnung für den verbleibenden Teil der Steuerzahler ist komplizierter denn je. Trotz verfassungsrechtlicher Bedenken, die im Finanzausschuss bei den Beratungen über das Gesetz geäußert wurden, war keine Einsicht der Politik erkennbar. Sollen die Betroffenen doch klagen, bis dahin fließt das Geld erst einmal ins Staatssäckel.
Genauso verhält es sich mit Gesetzen in anderen Rechtsgebieten. So haben die meisten Gesundheits-„Reformen“ eine kurzfristige Veränderung der Finanzierung medizinischer Leistungen bewirkt, während die Förderung präventiver Ansätze krankheitsbedingter Kosten dagegen meist eine nur sehr geringere Rolle spielte. Und sucht man in Wikipedia einmal nach dem Begriff „Rentenreform“ findet man aktuell folgende Begriffserklärung: „Eine Rentenreform ist ein sozialpolitisches Gesetz, mit dem die Leistungen, die Beiträge oder die Organisation der Gesetzlichen Rentenversiche-
Aus: Ralf Sikorski / Philipp Heinisch, Im Namen des Volkes
Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2024
rung neu geregelt werden.“ Allein die Festlegung geänderter Beiträge als Reform zu bezeichnen, kann man nur als Euphemismus bezeichnen. Von ernsthaften Reformen im Sinne der Definition des Dudens sind wir in allen Bereichen weit entfernt: „Reform ist die planmäßige Neuordnung, Umgestaltung oder Verbesserung des Bestehenden ohne Bruch mit den wesentlichen geistigen oder kulturellen Grundlagen“.
Das am 5.1.1938 in Kraft getretene „Gesetz über die Änderung von Familiennamen und Vornamen“ (das sog. Namensänderungsgesetz) ist auch heute immer noch gültig, wenngleich sein Regelungsgehalt heute ein ganz anderer ist. Aber es ist sprachlich noch immer so gefasst, als wäre das Deutsche Reich ein nach wie vor existierender Staat, denn Paragraph 1 des Namensänderungsgesetzes lautet tatsächlich auch heute noch aktuell: „Der Familienname eines deutschen Staatsangehörigen oder eines Staatenlosen, der seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Deutschen Reich hat, kann auf Antrag geändert werden.“ Und inhaltlich werden ernsthaft im Gesetz selbst Begriffe wie „Reichsregierung“ oder „Reichsminister des Inneren“ verwendet. Obwohl das Namensänderungsgesetz in der Vergangenheit mehrfach überarbeitet worden ist, wurden die genannten Bezeichnungen bis heute nicht durch aktuelle Begriffe ersetzt.
In allen Rechtsgebieten wünschen sich die Betroffenen selbst die Abschaffung der einen oder anderen Rechtsvorschrift, aber eben nur die Betroffenen selbst. Denn überall gibt es Ministerialdirigenten, die in ihren Abteilungen wichtige Paragraphen (nicht etwa ein ganzes Gesetz) betreuen. Was würden sie machen, wenn es diese Vorschriften nicht mehr gäbe? Da gibt es Verbände und Kammern, deren Wohl und Daseinsberechtigung es ist, ihre Mitglieder durch den Dschungel der Paragraphenwelt zu führen. Was würden diese Organe machen, wenn es diesen Dschungel gar nicht gäbe?
Und da Gesetze allein ja nicht reichen, um eine Gesellschaft zu reglementieren, gibt es da noch unzählige Verwaltungen und Gerichte, die beschäftigt werden müssen. Denn jedes neue Gesetz zieht regelmäßig eine Flut von Verwaltungsanweisungen zur Interpretation des Gesetzes nach sich, was wiederum eine Flut von Rechtsstreiten vor den Gerichten auslöst, denn auch die Klagefreudigkeit der Deutschen ist unübertroffen. Und dann schreiben Richter Urteile zu komplizierten Rechtsbereichen und glauben Aus: Ralf Sikorski / Philipp Heinisch, Im Namen des Volkes
ernsthaft, dass die zugrunde liegenden Gesetze zu ihrem Fachgebiet ein Geschenk des Gesetzgebers an die Wissenschaft sind, nicht etwa notwendige Normen des Zusammenlebens in der Gesellschaft. Und wenn dann ein Urteil nicht im Sinne der Macher des Gesetzes ausfällt, wird das Gesetz eben wieder geändert. So nährt sich das System selbst.
Schon der französische Staatstheoretiker Jean Bodin (1529–1596) wusste, dass ein Staat stetig wächst, unmerklich und meist sogar ohne Absicht. Wir lassen uns ständig neue Normen einfallen, hinterfragen aber nie, ob wir nicht einmal auch ein paar alte Regelungen über Bord werfen können. So ist auch Artikel 21 Abs. 1 Satz 2 der Verfassung des Landes Hessen bis heute noch in Kraft: „Bei besonders schweren Verbrechen kann er zum Tode verurteilt werden.“2 Glücklicherweise gilt jedoch vorrangig unser Grundgesetz, wonach Bundesrecht Landesrecht bricht (Artikel 31 GG) und die Todesstrafe abgeschafft ist (Artikel 102 GG). Auch wenn juristisch gesehen keine Bedenken gegen Artikel 21 der Landesverfassung bestehen, da sie de facto durch das Grundgesetz unwirksam ist, läuft dem Leser doch vielleicht ein kleiner Schauer über den Rücken. Niemand in Deutschland wird Ihnen sagen können, wie viele Gesetze es zurzeit in unserem Land gibt, nicht einmal die Herausgeber der entsprechenden Textsammlungen, denn ihre Anzahl ändert sich täglich.
Wenn Sie diese Erkenntnisse auf alle Rechtsbereiche unseres Landes übertragen, dann haben Sie eine Vorstellung davon, warum in Deutschland Reformen gar nicht mehr möglich sind. Und warum wir die Erhöhung des Arbeitnehmerpauschbetrags von 920 Euro auf 1 000 Euro als „Steuervereinfachung“ feiern.3 Und wenn doch möglich, dann werden Reformen in Deutschland in Trippelschritten vollzogen. Als Professor Paul Kirchhof, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, im Jahr 2011 seine Ideen für eine Steuerreform vorstellte, schrieb die Süddeutsche Zeitung: „Es werde Licht: weniger Steuerarten, weniger Privilegien, weniger Bürokratie. Paul Kirchhof ist ein positiv Verrückter und glaubt an den großen Wurf. Der Professor aus Heidelberg will das deutsche Steuersystem radikal vereinfa-
2 Die Verfassung des Landes Hessen vom 1.12.1946 (GVBl 1946 Seite 229) ist die älteste Verfassung in Deutschland und immer noch in Kraft.
3 Steuervereinfachungsgesetz 2011 vom 1.11.2011 (BGBl 2011 I Seite 2131).
Aus: Ralf Sikorski / Philipp Heinisch, Im Namen des Volkes © Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2024
chen.“4 Übrig geblieben ist von seinen guten Plänen und Ansätzen nichts mehr, nachdem diese in die Maschinerie des Lobbyismus geraten sind.
Und auch diese Erkenntnis lässt sich auf alle Rechtsbereiche in Deutschland übertragen. Schon Tolstoi wusste, dass „Gut gemeint eben noch lange nicht gut gemacht ist.“ Denken Sie immer daran: die Wissenschaft hat es zwar geschafft, den menschlichen Code zu knacken, das war aber nichts im Vergleich zum Code unseres Rechtssystems. Daran verzweifeln nicht nur Wissenschaftler. Wie heißt es so schön in einer Erläuterung des Wirtschaftsministeriums zum Zollrecht: „Ausfuhrbestimmungen sind Erklärungen zu den Erklärungen, mit denen man eine Erklärung erklärt.“ Klar soweit?
Und da es bekanntermaßen komplizierter ist, Kompliziertes zu vereinfachen als Einfaches zu komplizieren, werden wir noch lange auf Reformen zur Vereinfachung unserer Rechtssysteme warten müssen.
Ich habe für dieses Buch in erster Linie lesenswerte Urteile zusammengetragen. Urteile, bei denen der Richter mit spitzer Feder und feinfühligem Humor, manchmal auch sarkastisch oder frustriert, zur Sache Stellung nimmt und nicht nur einfach entscheidet. Jedes Urteil eine Stilblüte ganz eigener Art. Und anders als in vergleichbaren Büchern (meist mit absurden Rechtsgrundlagen aus den USA) erfolgt nicht nur ein Hinweis auf das entsprechende Urteil, sondern die entscheidenden lesenswerten Textpassagen werden im Originaltext abgedruckt, einschließlich der dazugehörenden Fundstelle. Erläuterungen oder Anekdoten dazu runden die Sammlung ab.
Das Buch richtet sich aber nicht nur an Steuerberater, Rechtsanwälte und Richter, sondern auch an interessierte Laien. So ist das Urteil des Amtsgericht Mönchengladbach zur Frage, ob zwei Einzelbetten anstelle eines Doppelbettes im Urlaubshotel einen Reisemangel wegen gestörter Schlaf- und Beischlafgewohnheiten darstellen, auch ohne große Kommentare oder Kenntnisse der Rechtsmaterie unübertroffen.
Die in diesem Buch dargestellten Fundstücke, egal ob Gesetze, Verwaltungsanweisungen und ganz besonders Urteile, sind alle authentisch, sie
4 Süddeutsche Zeitung vom 28.6.2011 „So radikal stutzt Kirchhof das Steuerrecht“.
Aus: Ralf Sikorski / Philipp Heinisch, Im Namen des Volkes © Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2024
wurden wirklich alle so veröffentlicht, auch wenn man das an mancher Stelle kaum glauben kann. Prüfen Sie es selbst, ich habe alle offiziellen Fundstellen jeweils mit angegeben. Lassen Sie sich überraschen, mit wie viel Humor der ein oder andere Richter seinen ach so trockenen Beruf ausübt.
Die Zeichnungen zu diesem Buch hat Philip Heinisch geliefert, der es geschafft hat, mit feinem Strich meine Ideen und Aussagen auf seine Figuren zu übertragen.
Viel Vergnügen beim Lesen dieser Lektüre
wünscht Ihnen
Ralf Sikorski Aus: Ralf Sikorski / Philipp Heinisch, Im Namen des Volkes
Die aufgezeigten Gesetze, Urteile und Verwaltungsanweisungen gibt es alle wirklich, während die dazu handelnden Personen und Orte frei erfunden sind. Bei den genannten Personen ist jede Ähnlichkeit mit lebenden Übeltätern rein zufällig.
Zur besseren Unterscheidung in der Darstellung wurde der Originaltext aus Gesetzen, Urteilen und Verwaltungsanweisungen in roter Schrift dargestellt. Außerdem passte es so prima zu den Illustrationen. Da es sich um die Wiedergabe von Originaltexten handelt, folgen sowohl Rechtschreibung als auch Grammatik jeweils dem Originaltext, auch wenn dieser nicht immer ganz fehlerfrei ist.
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Hätte die Natur so viele Gesetze als der Staat, Gott selbst könnte sie nicht regieren.
(Ludwig Börne, 1786–1837, deutscher Publizist)
Aus: Ralf Sikorski / Philipp Heinisch, Im Namen des Volkes © Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2024
oder
„Die Amtssprache ist Deutsch – mit viel Liebe zum Detail“
Erste Rechtsverletzung und die Vertreibung aus dem Paradies
„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“ (Johannes, Kapitel 1). Und Gott hat den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse in den Garten Eden gestellt: „Du sollst essen von allen Bäumen des Gartens; aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen sollst du nicht essen; denn welchen Tages du davon issest, musst du unbedingt sterben!“ (Mose, Vers 2, Kapitel 16).
Wir wissen heute, dass Adam und Eva zwar nicht sterben mussten, nachdem sie das einzige Gesetz, das seinerzeit im Paradies galt, übertreten hatten, sondern nur verbannt wurden. Aber wir wissen heute auch, dass die gegessene Frucht nicht angetan war, den Menschen die erhoffte Erkenntnis
Im Anfang war das Wort
auch zu bringen, was die Gesetzesübertretung aus heutiger Sicht ziemlich überflüssig aussehen lässt. Und wir wissen heute auch, dass der Mensch selbst – offenbar im Wissen darüber, dass eine Vielzahl seiner Art schlicht danach giert, Gesetze zu übertreten – deutlich mehr Erfindungsreichtum beim Schaffen von Vorschriften hat als Gott selbst. Der bringt es gerade mal auf zehn Gebote.
Erfindung der Schrift als erster Schritt zur modernen Gesetzgebung
Mit der Erfindung der Schrift läutete die Menschheit das Ende der Steinzeit ein, es begannen die sogenannten Hochkulturen. Und mit der Ausbildung der Schrift im Altertum nahmen wohl letztendlich die Gesetzgebung und die Bürokratisierung ihren Anfang. Hätte der Mensch nicht schreiben gelernt, gäbe es heute keine Gesetze, keine Verwaltungsanweisungen, keine Urteile, keine behördlichen Vordrucke – und vor allem keine Steuererklärungen.
Und wie der Mensch im Laufe der Zeit gelernt hat, sich schriftlich mit Worten auszudrücken: Während Gott – als er sich später aufgrund seiner einschlägigen Erfahrungen mit dem Ungehorsam der Menschen darauf besonnen hat, dass man Vorschriften durchaus auch mal schriftlich niederlegen kann – für die Zehn Gebote noch mit 81 Wörtern auskam, benötigten die Väter der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung schon allein für die Präambel 201 Wörter. Aber die Entwicklung ist bekanntlich nicht aufzuhalten. Und so hat heute allein Paragraf 20 des deutschen Einkommensteuergesetzes mehr als 2 600 Wörter. Welch ein Fortschritt!
Was ist komplizierter als unser Steuerrecht? Die Vereinfachung desselben
Mit viel Liebe zum Detail hatte der Gesetzgeber einst in § 2 Absatz 3 des Einkommensteuergesetzes einen Satz 6 geschaffen, der sage und schreibe allein 135 Wörter umfasste.5 Die Regelungen über den sog. „Horizontalen und vertikalen Verlustausgleich“ wurden zum 1.1.2004 durch das „Gesetz
5 Nur zur Klarstellung: nicht alle 6 Sätze, sondern nur dieser eine, sechste Satz! Leseprobe, mehr zum Werk unter ESV.info/978-3-503-19521-3
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Im Anfang war das Wort
zur Umsetzung der Protokollerklärung der Bundesregierung zur Vermittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz“ wieder aufgehoben, weil kein lebender Programmierer gefunden wurde, den Wunsch des Gesetzgebers auch einem Computerprogramm beizubringen. Verstanden hat diesen Satz eh niemand:
„Bei Ehegatten, die nach den §§ 26, 26b zusammen veranlagt werden, sind nicht nach den Sätzen 2 bis 5 ausgeglichene negative Einkünfte des einen Ehegatten dem anderen Ehegatten zuzurechnen, soweit sie bei diesem nach den Sätzen 2 bis 5 ausgeglichen werden können; können negative Einkünfte des einen Ehegatten bei dem anderen Ehegatten zu weniger als 51 500 Euro ausgeglichen werden, sind die positiven Einkünfte des einen Ehegatten über die Sätze 2 bis 5 hinaus um den Unterschiedsbetrag bis zu einem Höchstbetrag von 51 500 Euro durch die noch nicht ausgeglichenen negativen Einkünfte diesen Ehegatten zu mindern, soweit der Betrag der Minderungen bei beiden Ehegatten nach den Sätzen 3 bis 6 den Betrag von 103 000 Euro zuzüglich der Hälfte des den Betrag von 103 000 Euro übersteigenden Teils der zusammengefassten Summe der positiven Einkünfte beider Ehegatten nicht übersteigt.“
Warum hat keiner der vielen Deutschlehrer unter den Bundestagsabgeordneten diesen Schachtelsatz verhindert?
Nun wird der ein oder andere Ministerialbeamte einwenden, diesen Satz muss ja auch der Betroffene gar nicht verstehen, dafür gibt es ja schließlich Steuerberater. Hand auf’s Herz, falls Sie selbst dieser exotischen Berufsgruppe angehören: haben Sie diesen Satz verstanden, Sie sind ja schließlich vom Fach?
Komplizierte Gesetze sind der Preis für unsere moderne
Zivilisation
Natürlich sind dem Gesetzgeber im Laufe der Zeit immer feinere Formulierungen für sein Ansinnen eingefallen, um alles, aber auch wirklich alles, was im Leben passieren könnte, zu regeln und nichts dem Zufall zu überlassen. Und wer glaubt, dass dieser Regelungswahn eine Erfindung der Neuzeit sei, der irrt sich gewaltig, wie ein Blick ins 1896 geschaffene und am 1.1.1900 in Kraft getretene Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) zeigt. Und die hier genannte Vorschrift ist immer noch gültig.
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Im Anfang war das Wort
§ 961 BGB – Eigentumsverlust bei Bienenschwärmen
„Zieht ein Bienenschwarm aus, so wird er herrenlos, wenn nicht der Eigentümer ihn unverzüglich verfolgt oder wenn der Eigentümer die Verfolgung aufgibt.“
§ 962 BGB – Verfolgungsrecht des Eigentümers
„Der Eigentümer des Bienenschwarms darf bei der Verfolgung fremde Grundstücke betreten. Ist der Schwarm in eine fremde nicht besetzte Bienenwohnung eingezogen, so darf der Eigentümer des Schwarms zum Zwecke des Einfangens die Wohnung öffnen und die Waben herausnehmen oder herausbrechen. Er hat den entstehenden Schaden zu ersetzen.“
Wichtig ist in diesem Zusammenhang zu wissen, dass ein Imker, der einen fremden Schwarm auf einem noch fremderen Grundstück entdeckt, dieses Grundstück nicht betreten darf. Zum Einfangen dieses Schwarms ist daher vorher unbedingt das Einverständnis dieses Grundstückseigentümers einzuholen. Hier werden vom Gesetzgeber Probleme gelöst, die jeder von uns im täglichen Leben schon einmal erlebt hat, oder?
§ 963 BGB – Vereinigung von Bienenschwärmen
„Vereinigen sich ausgezogene Bienenschwärme mehrerer Eigentümer, so werden die Eigentümer, welche ihre Schwärme verfolgt haben, Miteigentümer des eingefangenen Bienenschwarms; die Anteile bestimmen sich nach der Zahl der verfolgten Schwärme.“
Diese „Vereinigung“ von Bienenschwärmen, die dafür sorgt, dass eine Miteigentümergemeinschaft wider Willen entsteht, darf nicht verwechselt werden mit der „Vermischung“ von Bienenschwärmen. Denn dann wird man seiner Bienen verlustig.
§ 964 BGB – Vermischung von Bienenschwärmen
„Ist ein Bienenschwarm in eine fremde besetzte Bienenwohnung eingezogen, so erstrecken sich das Eigentum und die sonstigen Rechte an den Bienen, mit denen die Wohnung besetzt war, auf den eingezogenen Schwarm. Das Eigentum und die sonstigen Rechte an dem eingezogenen Schwarm erlöschen.“
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Im Anfang war das Wort
Und ist eine Rechtsvorschrift noch so exotisch, taucht irgendwann im Laufe von 100 Jahren ein nicht für möglich gehaltenes Problem in der Praxis wirklich auf und löst tatsächlich ein Gerichtsurteil zu dem vom Gesetzgeber aufgeworfenen Problem aus, womit seine Daseinsberechtigung mit Verspätung bewiesen wird. So entschied das Amtsgericht Bad Homburg:6
„Es stellt keinen Reisemangel dar, wenn eine Ferienanlage für mehrere Stunden von einem Bienenschwarm heimgesucht wird.“
Und das Landgericht Frankfurt sieht nicht einmal dann einen Mangel, wenn einer der Feriengäste von Bienen gestochen wird, weil Bienen nun einmal Teil unseres Lebens sind:7
„Die Störung eines Club-Urlaubs durch einen plötzlich ausgebrochenen Bienenschwarm, der erst nach drei Stunden wieder eingesammelt werden kann, ist nicht als Reisemangel, sondern als Verwirklichung des allgemeinen Lebensrisikos zu werten. Dies gilt auch dann, wenn der Reiseteilnehmer an einer Bienenstichallergie leidet und von mehreren Bienen gestochen wird.“
Man kann halt keinen Abenteuerurlaub buchen und sich später beklagen, dass dieser Urlaub wirklich mit einem Abenteuer verbunden war. Und unsere Vorfahren können sich rühmen, dass sie schon 1896 erkannt haben, dass es ein solches Problem einmal geben könnte und wir sind heute froh, dass sie es in weiser Voraussicht für uns seinerzeit schon aufgegriffen haben.
Aber auch unsere österreichischen Nachbarn, die das Bürgerliche Gesetzbuch ursprünglich im Großen und Ganzen von uns als „Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch“ übernommen haben, zeigen viel Liebe zum Detail und scheuen sich nicht, Selbstverständlichkeiten zu regeln:
§ 929 ABGB
„Wer eine fremde Sache wissentlich an sich bringt, hat keinen Anspruch auf eine Gewährleistung.“
6 AG Bad Homburg vom 4.11.1998, 2 C 3193/97.
7 LG Frankfurt vom 16.9.1999, 2/24 S 433/98.
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Im Anfang war das Wort
Schade eigentlich, denn auch als Dieb einer Sache kann man ja wohl erwarten, dass die Dinge, die man an sich nimmt, auch einwandfrei funktionieren, oder?
Gibt es etwas Komplizierteres als unsere Gesetzgebung?
Natürlich: die Ehe
Und natürlich haben sich unsere Vorfahren auch rechtliche Gedanken gemacht über die größte Herausforderung, die das Leben für uns Menschen, wenn wir erwachsen werden, bereithält: die Ehe. Oscar Wilde8 hat zu seinen Zeiten den Vorschlag gemacht, dass „Junggesellen besonders hohe Steuern zahlen sollten. Es sei nicht gerecht, dass einige Männer glücklicher sein sollen als andere.“
Die Ehe ist etwas wunderbares, verbinden sich doch in ihr zwei Menschen, die fortan gemeinsam ihre Probleme lösen – insbesondere Probleme, die sie ohne die Ehe gar nicht gehabt hätten.
Und natürlich hat sich der Gesetzgeber im Laufe der Jahrhunderte immer wieder mit der Ehe beschäftigt bzw. beschäftigen müssen. Statt vieler Regelungen zur Ehe sei an dieser Stelle § 1314 des Bürgerlichen Gesetzbuches erwähnt, eine Regelung, die einen Ausweg für Menschen bereithält, die nicht ahnen konnten, was denn eine Ehe so eigentlich bedeutet. Und das gilt ja wohl für die meisten Betroffenen.
§ 1314 BGB – Aufhebungsgründe
„Eine Ehe kann aufgehoben werden, wenn ein Ehegatte bei der Eheschließung nicht gewusst hat, dass es sich um eine Eheschließung handelt.“
Kann man also glaubhaft machen, man habe nicht gewusst, auf was man sich da so einlässt, so kann man folglich seinem Partner eine Ereigniskarte vorlegen mit dem Hinweis „Gehe zurück auf Los“ und alles fängt noch einmal von vorne an.
8 Oscar Wilde, 1854–1900, irischer Schriftsteller.
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Im Anfang war das Wort
Alkohol macht gleichgültig. Mir doch egal!
Und folgerichtig müssen sich unsere Gerichte damit befassen, wann man nicht mehr wusste, was eine Eheschließung bedeutet. Da tauchte dann auch ganz schnell die Frage auf, wieviel Promille vor dem Standesamt noch im zulässigen Bereich liegen, hat sich doch schon so mancher Bräutigam vorher ein wenig Mut angetrunken. In Bremen baute im Jahr 2010 der angehende Ehemann auf der morgendlichen Fahrt zum Standesamt einen Unfall. Der Polterabend am Abend zuvor scheint also zur Zufriedenheit aller Beteiligten gelaufen zu sein, denn die zugezogene Polizei stellte einen Restalkohol von 1,5 Promille fest. Die Beamten trafen eine salomonische Entscheidung: sie nahmen dem Bräutigam zwar den Führerschein ab, fuhren ihn aber zum Standesamt, wo die Trauung mit seiner schon auf ihn wartenden Braut dann vollzogen wurde. Aber war sie auch gültig? Das Fahren eines Fahrzeugs ist nach dem Gesetz mit 1,5 Promille nicht zulässig, aber das Ja-Wort zur Eheschließung ist gleichwohl möglich?
Unbedingt erwähnen muss man im Zusammenhang mit der Eheschließung noch eine aus heutiger Sicht schier unglaubliche Rechtsvorschrift, die leider inzwischen abgeschafft wurde:
§ 1300 BGB
„Hat eine unbescholtene Verlobte ihrem Verlobten die Beiwohnung gestattet, so kann sie auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld verlangen.“
Die Regelung über das sog. „Kranzgeld“ wurde durch das Gesetz zur Neuordnung des Eheschließungsrechts im Jahre 19989 aufgehoben. Zur Begründung im Hinblick auf die Aufhebung dieser Vorschrift 98 Jahre nach der Einführung derselben führt der Gesetzgeber aus, die Regelung sei „rechtspolitisch überholt“ und daher zu streichen. Er führt aber weiter dazu aus: „Soweit im Einzelfall ein Bedürfnis für den Ersatz verminderter Heiratsaussichten oder einem anderen immateriellen Schaden besteht, können Ersatzansprüche nach § 825 BGB geltend gemacht werden.“ Eine
9 Gesetz vom 4.5.1998, BGBl 1998 I Seite 833.
Im Anfang war das Wort
mehr als erstaunliche Formulierung, selbst für das Jahr 1998. Der wirkliche Grund für die Aufhebung der Regelung dürfte wohl sei, dass es im 21. Jahrhundert schlicht keine „unbescholtene Verlobte“ bei der Eheschließung mehr gibt.
Wer kein Kind hat, soll keinen Rat über Kinder erteilen10
Nicht selten geht aus einer Ehe ein Kind hervor, wobei die vorherige Eheschließung nicht zwingend ist. Und natürlich hat der Gesetzgeber auch insoweit Selbstverständlichkeiten geregelt, auf die man als unmündiger und unerfahrener Bürger niemals alleine kommen würde:
§ 1591 BGB
„Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat.“
Da muss man erst einmal darauf kommen, auch so etwas regeln zu müssen.11
Zwei Dinge auf Erden sind uns ganz sicher: der Tod und die Steuern12
Um den Lebenszyklus zu vollenden, schauen wir uns einmal an, welche Regelungen der Gesetzgeber für den Fall der Beendigung der Eigenschaft als natürliche Person vorgesehen hat, also dem Tod.
§ 1922 BGB – Gesamtrechtsnachfolge
„Mit dem Tode einer Person (Erbfall) geht deren Vermögen (Erbschaft) als Ganzes auf eine oder mehrere andere Personen (Erben) über.“
§ 1923 BGB – Erbfähigkeit
„Erbe kann nur werden, wer zur Zeit des Erbfalls lebt.“
10 Von den Jabo, eine ethnische Gruppe im afrikanischen Staat Liberia.
11 Fairerweise muss man einräumen, dass der Text im Jahre 1900 in § 1591 BGB ein ganz anderer war. Erst zum 1.7.1998 erhielt das Gesetz den o. g. Wortlaut.
12 Benjamin Franklin, 1706–1790, amerikanischer Politiker.
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Im Anfang war das Wort
Noch so eine Bestimmung, ohne die die Welt nicht funktionieren würde. Wer selber tot ist, bekommt nichts aus der Erbmasse. Mal ehrlich, was soll man auch damit?
Verlassen wir ein Gesetz, das vor über 120 Jahren geschrieben wurde, auch wenn große Teile des Gesetzes heute noch unverändert anwendbar sind. Das deutsche Sprichwort „Von der Wiege bis zur Bahre, Formulare, Formulare“ bahnte sich schon früh seinen Weg, gerade die Preußen waren berühmt für ihren Regelungswahn. Aber auch Mitte des letzten Jahrhunderts bereits unmittelbar nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs ging die Regelungsflut sofort weiter. Durch eine Veröffentlich im Amtsblatt des Regierungspräsidiums Saar wurden Personen, die im Saargebiet wohnen und auf öffentlichen Straßen und Plätzen ein eigenes oder ein fremdes Fahrrad benutzten, darauf hingewiesen, dass zu diesem Zwecke der Besitz eines gültigen Steuerausweises erforderlich war.13
„Die Steuer wird erhoben für die Dauer eines Jahres, das am 1. April beginnt und am 31. März endet, erstmals für die Zeit vom 1. Okt. 1945 bis 31. März 1956. Die Steuer beträgt jährlich 12 ,–- RM.
Die Besteuerung erfolgt durch Verwendung einer Jahressteuermarke (Radfahrmarke), die auf dem von der Militärregierung vorgeschriebenen Personenausweis (Registrierungskarte) zu entwerten ist. Personen, die infolge ihres Alters nicht im Besitz eines solchen Ausweises sind, ein Fahrrad jedoch auf saarländischen Straßen und Plätzen benutzen, sind verpflichtet, sich einen solchen Ausweis ausstellen zu lassen.
Der mit einer gültigen Steuermarke versehene und auf die Person des Fahrers lautende Personenausweis ist bei der Benutzung des Fahrrads auf öffentlichen Straßen und Plätzen des Saargebiets auf Verlangen den mit der Steuerüberwachung beauftragten Personen vorzuzeigen.
Wer den Bestimmungen dieser Verordnung zuwiderläuft, verfällt einer Strafe von 25–100 Reichsmark. Im Wiederholungsfall kann auf Einziehung des Fahr-
13 Amtsblatt des Regierungspräsidiums Saar vom 10.10.1945, 1945 Nr. 8 Seite 23.
Im Anfang war das Wort
rads erkannt werden. Hierbei ist es ohne Bedeutung, ob das Fahrrad dem Benutzer eigentümlich gehört.“
Und dann, ganz wichtiger, der folgende Hinweis:
„Zu dieser Verordnung ergehen Durchführungsbestimmungen.“
Wenn man alte Filmaufnahmen aus diesem Jahr so sieht, stellt man sich zwangsläufig die Frage, ob es keine wichtigeren Dinge gab, die geregelt werden mussten. Aber so öffnet man als Gesetzgeber den Weg für die Verwaltungen, die ja auch gerne eigenständig weiterführende Regelungen auf den Weg bringen wollen. Denn das ist ja auch eine Idee der Gewaltenteilung: Jede Gewalt darf sich selbstständig zu einem Problem äußern.
Es war in Europa leichter, 12 Währungen abzuschaffen, als eine Steuer14
Nun leben wir im Zeitalter der Globalisierung und gerade im Zuständigkeitsbereich der Europäischen Union werden Rechtsvorschriften häufig gar nicht mehr vom nationalen Gesetzgeber erlassen, sondern aufgrund EU-rechtlicher Vorgaben. Und die Texte unseres europäischen Gesetzgebers sind schlicht sprachlich unübertroffen – mit den Formulierungsfeingeistern aus Brüssel hält niemand mit. So sind die Begriffserläuterungen der „EG-Richtlinie 78/764/EWG des Rates vom 25.7.1978 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Führersitz von landund forstwirtschaftlichen Zugmaschinen auf Rädern“15 schlicht sprachlich einfach nicht zu toppen:
„Führersitz ist der einer einzigen Person Platz bietende Sitz, der für den Führer bestimmt ist, wenn dieser die Zugmaschine führt.
Sitzfläche ist die nahezu horizontale Fläche des Sitzes, die die sitzende Haltung des Führers ermöglicht.
Rückenlehne des Sitzes ist die nahezu vertikale Fläche des Sitzes, die dem Führer als Rückenstütze dient.“
14 Austin O’Malley, 1858–1932, US-amerikanischer Journalist.
15 Amtsblatt Nr. L 255 vom 18.9.1978 Seite 1 bis 39, Anhang I.
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Im Anfang war das Wort
Solche Formulierungen gelingen nicht allein durch Abschluss des zweiten juristischen Staatsexamens, sondern verlangen jahrelange Übung durch Einsatz in diversen Behörden oder in Fachausschüssen des Deutschen Bundestages. Erst dann ist man bereit, sich der Herausforderung zu stellen, europäische Normen zu formulieren. Was unsere Großväter als Projekt der wirtschaftlichen Liberalisierung gestartet haben und unsere Väter zu einem Erfolgsmodell machten, ist mittlerweile zu einem abschreckenden Beispiel von Überregulierung und technokratischen Mikromanagement verkommen.
Donaudampfschifffahrtselektrizitätenhauptbetriebswerkbauunterbeamtengesellschaft
In deutschen Ausschüssen lässt sich prima das Formulieren der verrücktesten Gesetzesvorlagen üben, um den möglichen späteren Herausforderungen auf europäischer Ebene im Falle einer Versetzung (mit angemessenen, d. h. höheren Dienstbezügen) gerecht werden zu können. Aber nicht nur die Abfassung endloser Schachtelsätze scheint eine Spezialität deutscher Normengeber zu sein, nein, so ganz nebenbei werden dabei auch noch unglaubliche Wortungetüme geschaffen. Hier die längsten Wörter der deutschen Sprache, allesamt erzeugt von Bürokraten – und alle beruhen auf wahren Begebenheiten:
• Grundstücksverkehrsgenehmigungszuständigkeitsübertragungsverordnung
• Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz
• Mindestlohndokumentationspflichteneinschränkungsverordnung
• Vermögenszuordnungszuständigkeitsübertragungsverordnung
• Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaftengesetz
• AltersvorsorgeProduktinformationsblattverordnung.
Das Wort
„EG-VerbraucherschutzdurchsetzungsgesetzErmächtigungsübertragungsverordnung“
übertrifft die vorgenannten Beispiele im Hinblick auf die Anzahl der Buchstaben (73!) aller vorherigen Nennungen, die beiden Bindestriche nicht
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Im Anfang war das Wort
einmal mitgezählt. Tatsächlich passt es damit noch soeben in eine Zeile eines Schriftsatzes in DIN A 4.
Und dann ist da noch die FuUV, die
„Verordnung zur Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung bei ungünstiger Beschäftigungslage“, deren Bezeichnung schlicht nicht mehr in eine Zeile eine DIN-A4-Schriftsatzes passt, weil es 92 Buchstaben umfasst – ohne Bindestriche. Sie war gültig vom 1.1.1979 bis zum 30.12.1979 – aber ist unvergessen.
Das angeblich längste Wort der deutschen Sprache außerhalb unserer Behördensprache
„Donaudampfschifffahrtselektrizitätenhauptbetriebswerkbauunterbeamtengesellschaft“ existiert dagegen tatsächlich nicht, es ist ein Kunstwort, von einem Spaßvogel geschaffen. Natürlich will hier der geneigte Leser das Gegenteil glauben und mir fällt es verständlicherweise schwer, etwas zu beweisen, was es nicht gibt. Wer in einem juristischen Beruf zu Hause ist, muss sich schnellstens zwei Dinge abgewöhnen: Glauben und den gesunden Menschenverstand. Es gilt zu beweisen, nicht zu glauben.
Weihnachtsmänner im Sinne des Gesetzes sind auch Osterhasen
Da die Rechtswissenschaft die Sprache zur Verkündung von Regeln benötigt und diese Regeln möglichst verständlich gefasst sein müssen, kommt es häufig zu komplizierten Formulierungen, weil verständlich geregelt nicht automatisch verständlich formuliert heißen muss. Ein bekanntes Beispiel für den gesetzlichen Sprachgebrauch ist die sog. Legaldefinition. Unter Juristen hält sich hartnäckig das Gerücht, dass durch die „Reichsschokoladenverordnung“ der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts Folgendes angeordnet wurde: „Weihnachtsmänner im Sinne dieser Regelung sind auch Osterhasen.“
Die Verordnung sollte angeblich die Verwendung von Zucker einschränken und regelte offenbar zunächst nur eine Einschränkung zur Herstellung
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von Weihnachtsmännern, bevor sie die genannte sinnvolle Ergänzung erfuhren haben soll. So hübsch die Geschichte auch ist, sie lässt sich nicht nachweisen und dürfte nichts anderes sein als ein Gerücht – zugegebenermaßen gut ausgedacht. Tatsächlich findet man in den Unterlagen dieser Zeit eine Anordnung, wonach der seltene inländische Zucker nicht für die Herstellung von Schokolade verwendet werden durfte; die Beschränkung wurde aber schon 1924 wieder aufgehoben. Eine „Reichsschokoladenverordnung“ gab es aber offenbar nicht. Dies erscheint auch plausibel, da in den Kriegsjahren generell ein Verbot für die Herstellung von saisonalen Süßwarenartikeln bestand.16
16 Die Anekdote wurde sehr schön als Fiktion entlarvt von Prof. Dr. Piekenbrock, „Der Weihnachtsmann, der Osterhase und die (Rechts-)Wissenschaft“, De Gruyter 2015 Seite 335.
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Dagegen lässt sich die folgende Absurdität historisch belegen:17
„Hunde im Sinne des Gesetzes sind auch Katzen“, dachte man sich in der Gemeinde Emmerzhausen im schönen Westerwald und führte 1894 nach dem preußischen Vorbild zur Einführung einer Hundesteuer aus 1810 eine Katzensteuer ein. Steuerpflichtig war der Besitz einer Hauskatze ab dem dritten Monat der Geburt. „Die erste Katze ist frei, die zweite kostet eine Reichsmark und die dritte Katze wird mit drei Reichsmark besteuert.“ Die entsprechende Verordnung wurde nach wenigen Jahren wieder aufgehoben. Glücklicherweise handeln die meisten Gemeinden zurzeit verwaltungsökonomisch, zumindest soweit es eine Katzensteuer betrifft, und verzichten auf derartige Planspiele, da wohl Erfassungs- und Erhebungsaufwand in keinem vernünftigen Verhältnis zum Ertrag stehen. Auch wenn dieses Argument bei vielen anderen Abgaben sicherlich auch angebracht wäre.
Auch die sog. „Gurkenverordnung“ oder „Gurkenkrümmungsverordnung“ hat es wirklich gegeben, wenngleich nicht unter diesen Namen. Am 16.6.1988 veröffentlichte die Europäische Kommission eine Verordnung, die Gurken anhand verschiedener Merkmale in unterschiedliche Güteklassen im Geltungsbereich der Europäischen Union einteilte.18 Sie legte dabei u. a. fest, dass eine Gurke der Handelsklasse „Extra“ maximal eine Krümmung von zehn Millimetern auf zehn Zentimetern Länge aufweisen durfte. In erster Linie steht sie heute noch als Synonym für eine ausufernde Bürokratie und den zügellosen Regelungswahn der europäischen Verwaltung, obwohl sie zum 1.7.2009 wieder abgeschafft wurde. Bemerkenswert daran ist, dass die Kommission die Verordnung außer Kraft setzte, obwohl eine Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten und sogar große Wirtschafts- und Bauernverbände sich für eine Beibehaltung aussprachen. Kaum zu glauben, aber die Verordnung ging sogar auf eine Initiative des Handels zurück. Die Verordnung führte dazu, dass in fast allen größeren Geschäften eine
17 Nachzulesen in der Chronik der Gemeinde Emmerzhausen auf www.emmerzhausen-westerwald.de, die von einem engagierten Bürger der Gemeinde Emmerzhausen – Marc Rosenkranz – eingerichtet wurde und gepflegt wird; die offizielle Homepage der Gemeinde verweist auf diese Seite und diese Chronik. 18 Verordnung (EWG) Nr. 1677/88 der Kommission vom 15.6.1988 zur Festsetzung von Qualitätsnormen für Gurken, ABl. EG 1999 L 150 Seite 21.
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Gurke der anderen glich und dass die Hersteller von der „Bodenhaltung“ zu einer hängenden Aufzucht übergingen, die den geraden Wuchs der Gurken begünstigte. Und sie war ein gefundenes Fressen für Kabarettisten in allen Ländern Europas. Der Handel setzt sie heute noch als interne Norm zur Bestimmung der Güteklasse ein.
Ein Baum ist behördlich ein raumübergreifendes Großgrün
„Manche deutsche Wörter sind so lang, dass sie eine Perspektive haben“, sagte einst der amerikanische Schriftsteller Mark Twain während einer Rede am 21. November 1897 vor dem Presse-Klub in Wien über die „schreckliche deutsche Sprache.“ Und dabei kannte er die hier vorgestellten Wortschöpfungen noch gar nicht.
Die „Grundstücksverkehrsgenehmigungszuständigkeitsübertragungsverordnung“ (abgekürzt GrundVZÜV) war eine Verordnung zur Übertragung der Zuständigkeiten des Oberfinanzpräsidenten der Oberfinanzdirektion Berlin nach § 8 Satz 2 der Grundstücksverkehrsordnung auf das Bundesamt zur Regelung offener Vermögensfragen. Sie galt vom Dezember 2003 bis zum November 2007 und ist mittlerweile wieder aufgehoben. Woran man sehen kann, dass ein Gesetz wohl doch aufgehoben werden kann, wenngleich der aufmerksame Leser hier sofort erkannt hat, dass es sich um ein Gesetz gehandelt hat, das nicht den Bürger, sondern eine Behörde belastet hat.
Das im Jahr 2000 durch das Land Mecklenburg-Vorpommern eingeführte „Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz“ (abgekürzt RkReÜAÜG) wurde am 29.5.2013 wieder aufgehoben, weil gesunde Rinder seit dieser Zeit an Schlachthöfen nicht mehr auf die Rinderkrankheit BSE getestet werden und damit die Überwachung der entsprechenden Etikettierung überflüssig geworden war. Die tatsächliche Bezeichnung des am 19.1.2000 beschlossenen Gesetzes war „Gesetz zur Übertragung der Aufgaben für die Überwachung der Rinderkennzeichnung und Rindfleischetikettierung.“ Das Wort wurde schon 1999 während der Beratungen zum Gesetz im Schweriner Landtag von der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) für die Wahl zum Wort des Jahres 1999 vorgeschlagen, was den feinen Humor der Jury beweist. Es landete dann aber doch abgeschlagen auf dem zehnten Platz. Sieger wurde das Wort „Millennium.“ Leseprobe, mehr zum Werk
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Ganz schön beeindruckend, wenn Gesetzesnamen auf die deutsche Vorschlagliste für das Wort des Jahres landen, aber die Mitarbeiter des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission bleiben auch hier mit ihren Wortschöpfungen unerreicht.
Aber nicht nur der Gesetzgeber, auch die Verwaltungen wissen mit Worten umzugehen:
„Gewürzmischungen sind Mischungen, die ausschließlich aus Gewürzen bestehen“
heißt es im gemeinsamen Ministerialblatt zu den Leitsätzen des Lebensmittelhandbuchs.19
Würden Sie einen „Wissenstest Behördendeutsch“ bestehen? Dann sollten Sie den ein oder anderen Begriff an Fernsehsender zum Erraten in diversen Quizshows übersenden.
•Eine „Lebensberechtigungsbescheinigung“ ist ein Personalausweis.
•Eine „Bestallung“ ist die Übernahme einer Vormundschaft, während „Beelterung“ die Adoption meint.
•Ein „deichselgeführtes Flurförderzeug“ ist nichts anderes als Hubwagen.
•Hinter einer „nicht lebenden Einfriedung“ verbirgt sich nichts simpleres als ein Zaun.
•Und eine „rauhfutterverzehrende Großvieheinheit“ umschreibt einfach nur eine Kuh – klingt aber besser.
•Eine „Betriebsmittelaufnahme“ ist das Betanken eines Fahrzeugs.
Dagegen mutet „Mehrstück“ als behördliche Bezeichnung für eine Kopie recht harmlos an, ebenso wie der Begriff „Versagung“ für die Ablehnung eines Antrags.
Und im „Merkblatt Kindergeld“ der Familienkasse des Bundeszentralamts für Steuern wird uns detailliert erläutert, wie man seine Kinder zu zählen hat, falls man welche zu zählen hat.
19 Ministerialblatt zu den Leitsätzen des Lebensmittelhandbuchs in der Fassung vom 27.8.1998 (GMBl. 1998 Nr. 30 Seite 577).
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„Welches Kind bei einem Berechtigten erstes, zweites, drittes oder weiteres Kind ist, richtet sich nach der Reihenfolge der Geburten. Das älteste Kind ist stets das erste Kind.“
Gut, dass das geklärt ist und somit niemand auf die Idee kommt, seine Kinder nach seinem persönlichen Geschmack zu ordnen, Lieblingskind 1, Lieblingskind 2. Vielleicht sollten wir Eltern stattdessen verpflichten, ihrem erstgeborenen Kind einen Namen mit dem Anfangsbuchstaben „A“, dem Zweitgeborenen einen Namen mit dem Anfangsbuchstaben „B“ usw. zu geben. Das würde auch die Namensgebung, die manche Eltern schlicht überfordern,20 deutlich vereinfachen.
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20 Siehe im Nachfolgenden noch ausführlich Kapitel V.
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Familienkasse
Bundesagentur für Arbeit
Familienkasse: Wir helfen Familien
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Wir leiden in Deutschland offenbar an einem Abkürzungsfimmel21 – kurz Aküfi22
Unübertroffen nicht nur das sprachliche Talent der Verwaltungen, einfache Worte so aneinanderzureihen, dass daraus völlig unverständliche Sätze entstehen. Nein, auch das Talent zur Bildung von absurden Abkürzungen ist Teil der Stellenbeschreibung eines jeden Abteilungsleiters in einem Ministerium. Die Abkürzung
„BDGBMinBGAnO“ ist denn auch kein Geheimcode, sondern steht für
„Anordnung zur Durchführung des Bundesdisziplinargesetzes bei dem bundesunmittelbaren Bundesinstitut für Berufsbildung im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung“.23
Der Wertsackbeutel – große Sprachkunst nach einer wahren Lüge
„Der Wertsack ist ein Beutel, der aufgrund seiner besonderen Verwendung nicht Wertbeutel, sondern Wertsack genannt wird, weil sein Inhalt aus mehreren Wertbeuteln besteht, die in den Wertsack nicht verbeutelt, sondern versackt werden.“
Recherchiert man im Internet zum Thema „Wertsackbeutel“ findet man fast überall den Hinweis, dass der vorliegende Text § 49 der Allgemeinen Dienstordnung der ehemaligen Bundespost entstammt. Tatsächlich handelt es sich aber um einen Scherz eines jungen Inspektors der Bundespost, der sogar zu einer mündlichen Anfrage im Deutschen Bundestag geführt hat.24
21 Nach DUDEN ein umgangssprachlich abwertendes Substantiv für die übertriebene, übersteigerte Vorliebe für Abkürzungen.
22 Wiktionary.org liefert dazu auch noch die passende Abkürzung.
23 Die Verordnung vom 16.4.2002 ist tatsächlich so veröffentlicht worden im BGBl 2002 I Seite 1460.
24 Protokoll der 86. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 20.1.1967, Anlage 9.
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Die sog. „Mündliche Anfrage“ des Abgeordneten Kahn-Ackermann25 beantwortete der Bundesminister Dr. Dollinger wie folgt:
„Namen und Dienststellung des Verfassers eines nach Ihrer Anfrage dem § 49 der Allgemeinen Dienstanweisung für das Post- und Fernmeldewesen vorgehefteten Merkblatts über den Wertsack kann ich nicht nennen, weil ein entsprechendes amtliches Merkblatt gar nicht existiert.
Wohl aber kursieren und den Postangehörigen humorvolle Gedichte und satirische Wortspiele über gewisse im Postbetriebsdienst vertraute Begriffe. Auch der an sich nüchterne § 49 der Allgemeinen Dienstanweisung, der sich mit betrieblichen Fragen der Wertbriefbeutelübergabe im Bahnpostdienst befaßt, ist im Laufe der Zeit in ähnlicher Weise wegen des Fachbegriffs ‚Wertsack‘ von humorigen Postlern persifliert worden. Diesen Scherztext veröffentlichten kürzlich einige süddeutsche Zeitungen, wie es in der Faschingszeit üblich ist.“
Erstaunlich, wie oft man im Internet gleichwohl Zitate und Hinweise findet, die von der Echtheit dieser Dienstordnung ausgehen. Vielleicht, weil wir es glauben wollen?
Die Tatsache, dass die Amtssprache immer komplizierter wird und Bescheide von Behörden oder Urteile von Gerichten nicht mehr ohne Hochschulstudium verstanden werden können, wurde inzwischen auch von der Politik wahrgenommen. Man darf allerdings davon ausgehen, dass das Arbeitshandbuch „Bürgernahe Verwaltungssprache“ des Bundesverwaltungsamtes aus dem Jahre 2002 nicht auf den Bestsellerlisten einschlägiger Zeitschriften erschienen ist, denn wie ist es sonst zu erklären, dass die Finanzministerinnen und Finanzminister der Länder26 auf ihrer Jahrestagung am 25.8.2018 in Goslar das Land Nordrhein-Westfalen beauftragt haben, eine gemeinsame Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Bürgerliche Sprache“ einzurichten.
Ein Blick auf den aktuellen Internetauftritts des Ministeriums für Finanzen des Landes Nordrhein-Westfalen zeigt, dass man offenbar noch nicht ganz so weit ist:
25 Bundestag-Drucksache V/1290 Frage XIII/6.
26 Bürgerfreundliche, aber nicht lesefreundliche Ausdrucksweise.
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Man hüte sich, mit seinem Vermögen oder seiner Person in die Hände der Justiz zu fallen27
Im Laufe der Jahre hat sich die Sprache der Juristen mehr und mehr verselbstständigt. Nachdem Gesetzgeber und Verwaltungen Vorreiter einer ausufernden Fachsprache waren, wollten auch Richter nicht im Schatten stehen und zur Wahrung eines Gleichklangs der Gewalten folglich unverständliche Urteile schreiben. Viele Urteile unserer Gerichte sind ohne Dolmetscher kaum noch zu verstehen, geschweige denn nachzuvollziehen. Ein Urteil des Bundessozialgerichts aus 1999 mag da als mahnendes Beispiel dienen:28
„Ob das Opfer seine Schädigung i. S des § 2 Abs. 1 S. 1 mitverursacht hat, ist vor den Voraussetzungen des Versagungsgrundes nach § 2 Abs. 1 Alt. 2 OEG zu prüfen. Die Mitverursachung stellt gegenüber dem Ausschlußgrund der Unbilligkeit einen Sonderfall dar. Zum Bereich der Mitursächlichkeit gehören alle unmittelbaren, nach natürlicher Betrachtungsweise mit dem eigentlichen schädigenden Tatgeschehen, insbesondere auch zeitlich, eng verbundene Umstände, während alle nicht unmittelbaren, lediglich erfolgsfördern-
27 Adolph Franz Friedrich Freiherr von Knigge, 1752–1796, deutscher Jurist und Schriftsteller.
28 BSG vom 1.9.1999, B 9 VG 3/97 R.
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de Umstände, d. h. typischerweise die Vorgeschichte der eigentlichen Gewalttat, im Rahmen der Unbilligkeit zu prüfen sind.
Darüber hinaus können auch sonstige Gründe zur Unbilligkeit einer Entschädigung führen. Ist eine Entschädigung aus sonstigen Gründen oder aus dem Tatgeschehen nicht unmittelbar vorangegangenen Verhalten des Opfers unbillig, sind dies Fälle der 2. Alternative der Vorschrift, also der Unbilligkeit als Generalklausel. Denn was als Verursachung i. S. der 1. Alternative nicht zur Leistungsversagung führt, kann nicht allein, sondern nur aus sonstigen zusätzlichen Gründen zur Bejahung der Unbilligkeit führen.
Eine Mitverursachung i. S. von § 2 Abs. 1 S. 1 OEG kann nur angenommen werden, wenn das Verhalten des Opfers eine annähernd gleichwertige Bedingung neben dem Tatbeitrag des rechtswidrig handelnden Angreifers, also hier des G, darstellt.
Die Mitverursachung kann – wie die Rechtsprechung bereits entschieden hat – auch in einer vorsätzlichen oder grobfahrlässigen Selbstgefährdung des Opfers – wenn es etwa den Täter durch ein schwerwiegendes, vorwerfbares Verhalten provoziert hat.“
Was nur wollte uns der Senat damit sagen?
Betrachten wir zunächst einmal den Sachverhalt, der dem Urteilsspruch zugrunde lag:
Der stark alkoholisierte Ehemann (M) der Klägerin verbrachte den Abend bei einem Freund (F), einem ausgebildeten Sportschützen und Waffennarren – und ebenfalls nicht nüchtern. Im Laufe des Abends gerieten die beiden in Streit, was auch unter Freunden nun einmal vorkommen kann. Nachdem F den M aufforderte, die Wohnung zu verlassen, zückte M ein Messer und griff F an, worauf dieser M erschoss. F wurde später rechtskräftig verurteilt, das Strafgericht wertete unverständlicherweise die weiteren drei Schüsse auf das getroffen am Boden liegende wehrlose Opfer nicht mehr als Notwehr, sondern fand das Ganze etwas übertrieben.
Das Bundessozialgericht, bei dem dann schließlich die Rechtsfrage anhing, ob der Ehefrau des erschossenen M eine Opferentschädigung zustehe oder nicht, sah später im Verhalten des M ein Mitverschulden am eigenen Tod, sogar ungeachtet der Frage, ob der Freund in Notwehr gehan-
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delt habe oder nicht (man denke an die weiteren 3 Schüsse). Aus diesem Grund sei es angemessen, den Hinterbliebenen (also der Ehefrau) keine Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) zu zahlen, da der Ehemann eben seinen Tod selbst provoziert hat.
Daraus kann man als normaler Rechtsanwender, der ja nur mit dem gesunden Menschenverstand, und nicht mit juristischem Wissen ausgestattet ist, nur folgern:
„Ehefrauen, die ihren Ehemann erschießen, haben keinen Anspruch auf eine Witwenrente.“
Hey, und das versteht man nun wieder.
Du sollst nicht ehebrechen
Wäre Julius Schwarzbart29 etwas bibelfester30 gewesen, wäre ihm möglicherweise eine Menge Ärger erspart geblieben. Der Ehemann seiner hübschen Freundin Birgit Baumann kam leider während eines 24-Stunden-Dienstes zu früh nach Haus, womit die beiden nun um 3:00 Uhr morgens wirklich nicht rechnen konnten. Und da die beiden Liebenden, die sich im Schlafzimmer des Hauses der Eheleute Baumann vergnügten, die Schlafzimmertür von innen abgeschlossen hatten, nahmen sie auch die leisen Geräusche, die der Ehemann beim vorsichtigen Aufschließen der Haustür und beim Schleichgang in das obere Stockwerk des Hauses machte, nicht wahr. Und offenbar hatte der gehörnte Ehemann vor der Schlafzimmertür ein wenig gelauscht. Er brach schließlich wutentbrannt die Schlafzimmertür auf und stürzte sich auf den Liebhaber seiner Frau und verprügelte diesen derart, dass Julius nicht nur zu einer mehrtägigen stationären Behandlung ins Krankenhaus gebracht werden musste, sondern auch noch 6 Wochen arbeitsunfähig war. Diagnostiziert wurden neben
29 Während die Rechtsgrundlagen alle echt sind und die Geschichten an der einen oder anderen Stelle ein wenig aufgehübscht wurden, sind die Namen der Protagonisten oder Übertäter und der genannten Orte natürlich alle frei erfunden und jede Übereinstimmung mit echten Personen wäre rein zufällig. Und da das eingangs schon erwähnt wurde, wird es nur hier und jetzt noch einmal klargestellt.
30 Die zehn Gebote, Buch Exodus 20, 1.
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diversen Prellungen 4 Rissplatzwunden im Bereich des linken Ellenbogengelenks und eine Wadenbeinköpfchenfraktur mit geringer Verschiebung der Bruchfragmente.
Wieder genesen nahm sich Julius einen Anwalt und verklagte den Ehemann auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes. Er räumte dabei eine gewisse Mitschuld ein, die er auf „höchstens 1/3“ bezifferte und verlangte einen Betrag von 1.000 DM.“31 Da das Amtsgericht Brakel seine Klage abwies, war eine Beruf beim Landgericht Paderborn erforderlich, hatte doch das Amtsgericht die Kühnheit besessen, ihn darauf hinzuweisen, dass er in das „Allerheiligste der Ehe“ eingedrungen sei, nämlich das Schlafzimmer der Eheleute, und damit einen Anspruch auf Schmerzensgeld verwirkt habe. „Wenn er“ – so pragmatisch der Richter des Amtsgerichts – „sich unter solchen Umständen den Zorn des Beklagten zuziehe und von ihm eine gehörige Tracht Prügel einstecken müsse, so rechtfertige dieses jedenfalls nicht die Bewilligung eines Schmerzensgeldes.“ Diese Ausführungen zeigten, so seine Argumentation, dass der Richter mehr unter Verwendung moralisch ethischer als juristischer Begriffe geurteilt habe.
Das Landgericht Paderborn wies die Berufung zurück und bestätigte das Urteil des Amtsgerichts Brakel mit dem Hinweis, das Mitverschulden des Klägers Julius Schwarzbart überwiege hier so sehr, dass es unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Schmerzensgeldanspruchs vorliegend zum völligen Ausschluss eines Anspruchs führe. Aber nicht nur der Urteilsspruch als solches, sondern auch die weitergehenden Ausführungen des Gerichts zum Sachvortrag des Klägers und seiner Geliebten als Zeugin sind absolut lesenswert:
„Daß der Beklagte den Kläger körperlich verletzt hat . . . und kein Rechtfertigungsgrund, insbesondere nicht der der Notwehr besteht, ist unter den Parteien außer Streit.
Zwar geht die Kammer davon aus, daß der Beklagte seine Ehefrau und den Kläger nicht oder nur spärlich bekleidet im Ehebett vorgefunden hat, nach-
31 Hinweis für die jüngeren Leser: Im Jahr 1989, in dem unsere Geschichte spielt, war die Deutsche Mark eine Währung in Deutschland. Die Deutsche Mark (DM) war vom 21.6.1948 bis zum 31.12.2001 eine gültige Währung, zunächst in der sog. Trizone, später in der Bundesrepublik Deutschland.
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dem er die Schlafzimmertür aufgebrochen hatte. Der körperliche Angriff des Beklagten diente aber weder dem Zweck, einen Unterlassungsanspruch durchzusetzen, noch war er hierzu geeignet.
Das überwiegende Mitverschulden des Klägers ergibt sich daraus, daß dieser den tätlichen Angriff dadurch in erheblichem Maß selbst verursacht hat, daß er nicht nur mit der Ehefrau des Beklagten fremdging, sondern dies auch noch im ehelichen Schlafzimmer des Beklagten geschah.
Die Ehefrau des Beklagten hat als Zeugin ausgesagt, daß sie nicht unbekleidet im Bett gelegen hätten, sondern sich zunächst im Flur der Wohnung aufgehalten hätten, um Konzertkarten zu übergeben. Sie hätten sich dann, als sie den Beklagten heimkommen hörten, nur in der Absicht ins Schlafzimmer begeben, dem Kläger ein unbemerktes Verlassen der Wohnung durch das dortige Fenster zu ermöglichen.
Dabei ist zunächst bereits wenig glaubhaft, daß die Zeugin mit dem Kläger bis zu diesem Zeitpunkt noch kein intimes Verhältnis gehabt haben will. Dagegen spricht nicht allein der Umstand, daß sie sich zu nächtlicher Stunde in Abwesenheit des Beklagten mit dem Kläger in der Wohnung aufhielt, son-
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dern die gesamte Vorgeschichte. Der im selben Hause wohnende Zeuge XY hat bekundet, daß der Kläger des öfteren in der Wohnung übernachtet habe. Weiter kommt hinzu, daß die Ehefrau des Beklagten gemeinsam mit dem Kläger einen Urlaub in Spanien verbracht hat. Daß es sich unter all diesen Umständen bis zum Tage dieses Vorfalls um eine rein freundschaftliche Beziehung gehandelt haben soll, nimmt die Kammer der Zeugin nicht ab. Die Aussage der Zeugin ist voller Widersprüche und Ungereimtheiten. Es spricht alles dafür, daß die Zeugin glaubte, nachdem es ihr anscheinend lange Zeit gelungen war, ihren Mann zu täuschen, dieses werde auch gegenüber dem Gericht gelingen.
Die Kammer kann nachvollziehen, daß der Beklagte ungeachtet des gehegten Verdachts nicht darauf gefaßt war, die beiden im ehelichen Schlafzimmer seiner Wohnung im Bett anzutreffen, und daß er unter diesen Umständen in einem Ausbruch spontanen Zorns den Kläger tätlich angriff.
In diesem Fall ist das Mitverschulden des Verletzten so hoch zu bewerten, daß jedenfalls ein Schmerzensgeldanspruch nicht besteht.
Das Verhalten des Klägers stellte eine ungeheure Provokation des Beklagten dar. Es offenbart ein besonderes Maß an Hemmungslosigkeit und Unverfrorenheit gegenüber dem Beklagten, wenn der Ehebruch in der Ehewohnung in nicht zu überbietender Dreistigkeit unter schamloser Ausnutzung der Arbeitsbedingungen des Beklagten stattfand.
Daher kann der Kläger bei einer solch schwerwiegenden Beleidigung und Kränkung des Beklagten jedenfalls kein Schmerzensgeld verlangen. Dies würde auch dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen.“
Die Kammer wies aber am Ende des Urteils nochmals ausdrücklich darauf hin, dass das Verhalten des Beklagten rechtswidrig war. Ein Freibrief für Ehemänner, in vergleichbaren Situationen auf die Liebhaber ihrer Ehefrauen einschlagen zu können, kann in dieser Entscheidung schon deshalb nicht gesehen werden (schade eigentlich), weil bei Verletzungen des Kontrahenten nicht nur ein Schmerzensgeldanspruch im Raume steht, sondern auch Ansprüche auf materiellen Schadenersatz, wie z. B. für Arztund Krankenhauskosten. Über diese Mithaftung war vorliegend aber nicht durch das Gericht zu entscheiden.
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Bildung ist bewundernswürdig, aber man sollte sich von Zeit zu Zeit erinnern, dass wirklich Wissenswertes nicht gelehrt werden kann32
Dagegen stellte das Bundessozialgericht in einem anderen Fall fest, dass es durchaus angemessen sein kann, auch den Angehörigen eines Angreifers zu entschädigen, auch wenn der Angreifer seinen Tod mitverschuldet hat:33
„Es ist nicht unbillig, denjenigen zu entschädigen, der durch den Angriff auf einen anderen (Primäropfer) einen Schock erleidet und dadurch selbst psychisch geschädigt wird (Sekundäropfer), auch wenn das Primäropfer den Angriff mitverursacht hat.“
Übersetzen kann man das Urteil wohl wie folgt: Wer einer Straftat zusehen muss, ist ebenfalls Opfer, auch wenn der Tote, mit dem man verheiratet war, durch sein Verhalten die Tat durch sein aggressives Verhalten ausgelöst hat.
Nachvollziehbar ist dagegen folgendes Urteil des Bundessozialgerichts zum Schutzzweck des Opferentschädigungsgesetzes:34
„Ein minderjähriges Kind, dessen Vater die Mutter getötet hat, hat auch dann Anspruch auf Gewährung einer Halbwaisenrente, wenn der Vater als gesetzlicher Vertreter keinen Versorgungsantrag nach dem OEG stellt, um seine Straftat nicht aufzudecken. Allerdings ist dieser Anspruch solange nicht zu erfüllen, solange der Vater als Schädiger dem Kind Unterhalt leistet.“
Das Gericht hat im Sinne des Kindes entschieden, dass der Anspruch des Kindes dem Grunde nach besteht, auch wenn er nicht geltend gemacht wurde (wie auch, das minderjährige Kind wird ja vom Vater als gesetzlichen Vertreter vertreten), er aber so lange nicht zu erfüllen ist, solange der Vater wiederum seiner Unterhaltspflicht nachkommt. Dies bietet dem Kind gegenüber dem Vater naturgemäß ungeahnte Möglichkeiten der
32 Oscar Wilde, 1854–1900, irischer Schriftsteller.
33 Urteil des BSG vom 7.11.2001, B 9 VG 2/01 R.
34 Urteil des BSG vom 23.10.1985, 9a RVg 4/83.
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Finanzierung seines eigenen Lebensstils, was wiederum selbst dem Strafrecht gefährlich nahe kommt.
Die Amtssprache ist Deutsch
Staunend vernahm man im Jahr 2013, dass die deutsche Umgangssprache durchaus Bestandteil unserer verbindlichen Amtssprache sein kann. So entschied das Verwaltungsgericht Neustadt, dass jemand, der sich an dem Begriff „Jobcenter“ stört, nicht aber an dem Inhalt seiner Bescheide, nicht klagefugt sei.35 Die Richter entschieden, der Ausdruck sei „deutsch genug.“
Der Grundsatz, wonach die Amtssprache Deutsch sei, werde durch diesen Begriff nicht verletzt, so die Richter, denn auch die deutsche Umgangssprache ist Teil unserer Fachsprache. Schon ein Blick in den Duden verrate, dass der Begriff allgemein geläufig sei. Vielleicht ergehen Urteile demnächst zum besseren Verständnis auch nicht mehr „Im Namen des Volkes“, sondern beginnen mit der Einleitung: „Hey Alter, gegen dich wird wie folgt Recht gesprochen.“
Interessant ist die offizielle Schreibweise dieser Aussage im Gesetz selbst, z. B. in § 87 Absatz 1 Abgabenordnung oder § 23 Absatz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz: „Die Amtssprache ist deutsch“, steht da. Klein geschrieben, nicht – wie es zutreffend wäre – mit einem großen „D“ ganz vorn. Legt man den Satz in der fehlerhaften Schreibweise „Die Amtssprache ist deutsch“ grammatikalisch auf die Goldwaage, regelt diese Aussage eben nicht den gewollten Anspruch, in amtlichen Texten immer die Sprache „Deutsch“ zu verwenden, wie es uns die mannigfaltigen Kommentare zu diesen Gesetzen wissen lassen wollen. Der Satz regelt vielmehr, dass eine beliebig geschaffene Amtssprache – egal, wie sie ausfällt – immer per Definition „deutsch“ ist. Würden wir Esperanto als Amtssprache zulassen, würde diese Sprache kraft Gesetzes automatisch als „Deutsch“ gelten. Ob das unsere Väter so regeln wollten?
Und „last but not least“36 soll einmal das Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz zu Wort kommen, das entschied, dass „an sich nicht erstattbare
35 VG Neustadt, Beschluss vom 17.12.2013, 4 K 918/13 NW.
36 Umgangssprachlich.
Aus: Ralf Sikorski / Philipp Heinisch, Im Namen des Volkes © Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2024
Leseprobe, mehr zum Werk unter ESV.info/978-3-503-19521-3
Im Anfang war das Wort
Kosten des arbeitsgerichtlichen Verfahrens erster Instanz insoweit erstattbar sind, als durch sie erstattbare Kosten erspart bleiben.“37
„Erfolgt – wie vorliegend – keine Beiordnung eines Verkehrsanwalts, dann sind die Reisekosten des Prozessbevollmächtigten insoweit aus der Staatskasse erstattbar, als die Kosten eines Verkehrsanwalts erspart wurden.“
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
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37 LAG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 8.6.2009, 8 Ta 126/09.
Aus: Ralf Sikorski / Philipp Heinisch, Im Namen des Volkes © Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2024
Regelungswut
Klagebegeisterung
^ Die Regelungswut der Deutschen ist legendär. Wir versuchen, alles durch ein Gesetz zu regeln, was sich regeln lässt, niemand vermag mehr die Anzahl unserer Gesetze zu zählen. Die Folge ist eine Flut von Verwaltungsanweisungen zur Interpretation des Gesetzes, was wiederum eine Flut von Rechtsstreiten vor den Gerichten nach sich zieht. Denn auch die Klagefreudigkeit der Deutschen ist unübertroffen. Und wenn dann ein Urteil nicht im Sinne der Macher des Gesetzes ausfällt, wird das Gesetz eben wieder geändert. So nährt sich das System selbst.
Ralf Sikorski, passionierter Stilblütensammler, hat lesenswerte Urteile zusammengetragen. Jedes Urteil eine Stilblüte ganz eigener Art, bei denen der Richter mit spitzer Feder und feinem Humor Stellung nimmt. Begeben Sie sich auf einen satirischen Streifzug durch den Wahnsinn unseres Rechtsstaates über
• die unerträgliche Sprache von Gesetzen,
• die komplizierte Sprache bei und das angemessene Verhalten vor Gericht,
• die Sinnhaftigkeit mancher Streitigkeiten vor Gericht.
Das Buch liefert aber nicht nur Steuerberatern, Rechtsanwälten und Richtern unnützes Wissen ihres Berufsstandes, sondern richtet sich auch an interessierte Laien. So ist das Urteil des Amtsgerichts Mönchengladbach zur Frage, ob zwei Einzelbetten anstelle eines Doppelbettes im Urlaubshotel einen Reisemangel wegen Störung der Schlafund Beischlafgewohnheiten darstellen, auch ohne große Kommentare unübertroffen.
Der Autor
Dipl.-Finanzwirt Ralf Sikorski ist nach langjähriger Dozententätigkeit an der Fachhochschule für Finanzen in NRW heute Sachgebietsleiter in einem Finanzamt. Seine Dozentenrolle nimmt er daneben immer noch bei zahlreichen Fortbildungsveranstaltungen wahr. Seine Tätigkeit als Autor diverser steuerlicher Lehrbücher und als Herausgeber mehrerer Stilblütensammlungen rundet sein vielfältiges Tätigkeitsbild ab.
Der Zeichner
Philipp Heinisch hängte 1990 die Anwaltsrobe an den Nagel und wurde Zeichner, Maler und Karikaturist, schuf Steuer- und Juristenkalender, illustrierte Bücher und stellte unzählige Male aus. Mit charakteristischem Strich belebt er Messen und Kongresse und hat sich weit über die Grenzen seiner Heimatstadt Berlin hinaus einen Namen gemacht (www.kunstundjustiz.de).
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