KSI Krisenprävention Sanierungsberatung Insolvenzmanagement

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21. Jahrgang

Januar/Februar 2025

Seiten 1–48

www.KSIdigital.de

KSI

Krisenprävention

Sanierungsberatung

Insolvenzmanagement

Wirtschaft · Recht · Steuern

HERAUSGEBER:

RA Peter Depré, Mannheim

Prof. Dr. Markus W. Exler, Kufstein

WP StB Michael Hermanns, Wuppertal

Burkhard Jung, Berlin

Dr. Raoul Kreide, Heidelberg

Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Dresden Eva Ringelspacher, München

RAin Jutta Rüdlin, Melsungen

Prof. Dr. Jens Schmittmann, Essen

Prof. Dr. Florian Stapper, Leipzig

Dr. Thomas Stern, Triesen

Prof. Dr. Henning Werner, Heidelberg

KRISENPRÄVENTION UND RESILIENZ

Führt Vertrauen noch? 5

Prof. Dr. Ulrich Krystek

Transformations- und Sanierungsaufgaben in 2025: Über die KI-Revolution und andere Herausforderungen 12

Dr. Hans-Jürgen Hillmer

RESTRUKTURIERUNG UND FINANZMANAGEMENT

Neue Grundlagen ordnungsgemäßer Unternehmensrestrukturierung (GoU) 17

Prof. Dr. Markus W. Exler und Prof. Dr. Henning Werner

Optimierung der Finanzierungsstruktur mittels Debt Advisory 23

Volker Riedel und Eva Ringelspacher

Nachgefragt: Wie gelingt die Transformation in eine nachhaltig nachhaltige Finanzierungswelt? 28

Beantwortet von Dr. Melanie Frieling und Prof. Dr. Verena Verhofen

SANIERUNG

UND INSOLVENZ

Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz bei der Erstellung von Sanierungsgutachten 30

Prof. Dr. Markus W. Exler, Prof. Dr. Dr. Mario Situm und Maria Sieghartsleitner

Aktuelle Diskussionen zur Reform der bankspezifischen Insolvenzrangfolge („Superpräferenz“) 36

Dr. Thomas Stern

Impressum

KSI Krisenprävention Sanierungsberatung Insolvenzmanagement

Wirtschaft • Recht • Steuern

Jahrgang: 21. (2025) • Erscheinungsweise: 6-mal jährlich • www.KSIdigital.de

Herausgeber:

RA Peter Depré, Mannheim • Prof. Dr. Markus W. Exler, Kufstein • WP StB Michael Hermanns, Wuppertal • Burkhard Jung, Berlin • Dr. Raoul Kreide, Heidelberg • Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Dresden • Eva Ringelspacher, München • RAin Jutta Rüdlin, Melsungen • Prof. Dr. Jens Schmittmann, Essen • Prof. Dr. Florian Stapper, Leipzig • Dr. Thomas Stern, Triesen • Prof. Dr. Henning Werner, Heidelberg Gründungsherausgeber (u. a.):

Dr. Lutz Mackebrandt, Berlin • Gerald Schwamberger, Göttingen

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Zitierweise: KSI, Heft/Jahr, Seite

ISSN: 2944-7135, eISSN: 2944-7143

Satz: PER MEDIEN & MARKETING, Braunschweig • Druck: H. Heenemann, Berlin

EDITORIAL

Erneuerung – auch der KSI! 1

Dr. Hans-Jürgen Hillmer

KRISENPRÄVENTION UND RESILIENZ

Führt Vertrauen noch? 5

Zur Bedeutung von Vertrauen und Misstrauen für die Krisenbewältigung vor dem Hintergrund einer neuen Welle des Misstrauens

Prof. Dr. Ulrich Krystek

Transformations- und Sanierungsaufgaben in 2025: Über die KI-Revolution und andere Herausforderungen 12

Studienbasierte Ableitung von Handlungsfeldern Dr. Hans-Jürgen Hillmer

RESTRUKTURIERUNG UND FINANZMANAGEMENT

Neue Grundlagen ordnungsgemäßer Unternehmensrestrukturierung (GoU) 17 Überarbeitung der GoRS aus 2015

Prof. Dr. Markus W. Exler und Prof. Dr. Henning Werner

Inhalt 01.25

Optimierung der Finanzierungsstruktur mittels Debt Advisory 23

Keine Chance für „Give Us the Key“ Volker Riedel und Eva Ringelspacher

Nachgefragt: Wie gelingt die Transformation in eine nachhaltig nachhaltige Finanzierungswelt?

Beantwortet von Dr. Melanie Frieling und Prof. Dr. Verena Verhofen

SANIERUNG UND INSOLVENZ

Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz bei der Erstellung von Sanierungsgutachten 30

Zukunftsperspektiven und Handlungsempfehlungen auf der Basis aktueller Studienergebnisse

Prof. Dr. Markus W. Exler, Prof. Dr. Dr. Mario Situm und Maria Sieghartsleitner

Aktuelle Diskussionen zur Reform der bankspezifischen Insolvenzrangfolge („Superpräferenz“)

Wie sicher sind Unternehmenseinlagen im Einlagensicherungsfall?

Dr. Thomas Stern

KSI-NACHRICHTEN

KSI mit neuem Herausgebergremium

für Unternehmensbewertungen

KSI-RECHTSPRECHUNGSREPORT

für Eröffnung eines

für durch Insolvenzverfahren

2025: Erneuerung –auch der KSI!

Sehr geehrte Leserinnen und Leser!

Zum von elementaren Unsicherheiten geprägten Jahreswechsel 2024/2025 fehlte es nicht an berufenen und selbsternannten Propheten, die mit häufig politisch gefärbten Empfehlungen glänzten, wie denn nun die immer zahlreicher und vor allem intensiver werdenden Krisen zu meistern sind. Die politischen Einflüsse werden in den nächsten Wochen aufgrund der bevorstehenden Wahlen kaum auszublenden sein. Feststeht aus hier dominierender Fachexpertise aber, dass der Beratungs- und Führungsbedarf immens sein wird, um in diesem volatilen Umfeld auf Erfolgsspuren bleiben bzw. in sie zurückkehren zu können.

Experten, die in Kommunikation das Schlüsselelement erfolgreicher Führung in Krisenzeiten sehen, könnten vor diesem Hintergrund richtig liegen. In unsicheren Zeiten zeigt sich die wahre Stärke von Führungskräften: Die sieht der Spezialist für Führungskommunikation Hannes Goth in ihrer Fähigkeit, durch klare und einfühlsame Kommunikation Orientierung und Zusammenhalt zu schaffen. Er hob in einer Mitteilung vom 2.12.2024 hervor, dass Führungskräfte in Krisen nicht nur informieren, sondern inspirieren müssen. Ihre Worte und ihr Handeln entscheiden darüber, ob Vertrauen entsteht und Teams gestärkt aus schwierigen Situationen hervorgehen. In einer Welt, die von Volatilität geprägt ist, werden demnach Führungskräfte – und deren Berater, so sei hier hinzugefügt – zu den zentralen Multiplikatoren für Resilienz und Erfolg. Für Goth ist Krisenkommunikation weit mehr als das Vermitteln von Fakten: „Sie ist die Brücke, die Vertrauen aufbaut und Mitarbeitende durch Unsicherheit trägt.“ Eine zentrale Säule der Krisenkommunikation ist hierbei die Transparenz: Erneuerungsprozesse und potenzielle Einschnitte müssen offen und frühzeitig kommuniziert werden, um Akzeptanz zu schaffen.

Wer noch Zweifel hat, wie wichtig solche Kommunikationsanforderungen – insbesondere vor dem Hintergrund der fundamentalen Erneuerungsprozesse z.B. aufgrund der Künstlichen Intelligenz (KI) –sind, dem sei der Beitrag unseres Autors Prof. Dr. Ulrich Krystek zur Lektüre empfohlen. Ab S. 5 lesen Sie eine bemerkenswert tiefgehende und zugleich informative Analyse zur Bedeutung von Vertrauen und Misstrauen für die Krisenbewältigung vor dem Hintergrund einer neuen Welle des Misstrauens. Es wird aufgezeigt, welche Rolle diese beiden Soft Facts bei Transformationen, Restrukturierungen und Sanierungen spielen. Die Bedeutung vertrauens- und misstrauenszentrierter Führungsstile sowie die einer vertrauenswür-

digen Krisenkommunikation werden dabei ebenso herausgestellt wie Maßnahmen zur Wiederherstellung von Vertrauen. Damit soll auch der Erfahrung entgegengewirkt werden, dass Vertrauen und Misstrauen in der Wahrnehmung ihrer Bedeutung hinter den Hard Facts von Sanierungsstrategien und -maßnahmen weit zurücktreten. Das dürfte in ganz besonderer Weise für die Umwälzungen gelten, die die KI-Revolution in 2025 und den nächsten Jahren mit sich bringen wird, auch wenn manch beschwichtigende Äußerung zu vernehmen ist, dass es sich nur um eine Evolution handele. Dieser Unterschied ist letztlich aber nur eine Frage des Betrachtungszeitraums.

Dem Appell der Fokussierung auf eine die Veränderungsprozesse begleitende Kommunikation tragen auch wir selbst mit einem gesplitteten KSI-Relaunch Rechnung. Mit einem neuen HerausgeberGremium verbinden wir die Absicht, die Kommunikationsleistung in Form von entsprechenden Fachbeiträgen zur Krisenprävention, zur Restrukturierung, zur Sanierung und zur Insolvenzabwicklung zu erhöhen. In der neubenannten Rubrik KSI-Nachrichten finden Sie auf S. 4 entsprechende Informationen und natürlich auch schon auf der ersten Umschlagseite eine Übersicht der insgesamt 12 Persönlichkeiten, die mit ihrer hochkarätigen Expertise die Redaktion bei der Themen- und Autorenfindung unterstützen.

Fachliche Informationen bedürfen der adressatengerechten Aufbereitung, um erstens überhaupt wahrgenommen zu werden und dann in die Informations- und Entscheidungsabläufe einfließen zu können. Mit dem ersten Heft sehen Sie bereits ein neugestaltetes Inhaltsverzeichnis auf den S. 2 und 3, auf weitere darstellungstechnische Neuerungen dürfen Sie in Heft 2 gespannt sein, mit dem wir den Relaunch im immerhin schon 21. Redaktionsjahr komplettieren werden. Es wird dann ein wenig bunter sein, das dürfte in eher trüben Zeiten zwecks Ablenkung von Problemfeldern und Neuorientierung auf innovative Geschäftsfelder ein – wenn auch nur kleines – Rädchen sein, um die hochdimensionierten Anforderungen auffangen zu können.

Welche Wirkungen hierdurch entfaltet werden können, bleibt einstweilen abzuwarten, aber jedenfalls beste Aussichten für das neue Jahr wünscht Ihnen Ihr

Dipl.-Kfm. Dr. Hans-Jürgen Hillmer, Chefredakteur KSI, ist Inhaber des BuS-Netzwerks für Betriebswirtschaftliche und Steuerliche Fachinformationen (www.bus-hillmer.de)

Führt Vertrauen noch?

Führt Vertrauen noch?

Zur Bedeutung von Vertrauen und Misstrauen für die Krisenbewältigung vor dem Hintergrund einer neuen Welle des Misstrauens

Prof. Dr. Ulrich Krystek*

Eine neue Welle des Misstrauens könnte auch die für Krisenbewältigungen in Unternehmen notwendige Vertrauensbasis erschüttern. Vor diesem aktuellen Hintergrund werden Vertrauen und Misstrauen mit ihren häufig übersehenen Chancen und Risiken erläutert. Es wird aufgezeigt, welche Rolle diese beiden Soft Facts bei Sanierungen spielen. Sie existieren dort gleichzeitig, sind keinesfalls nur von theoretischem Interesse, sondern leisten einen wichtigen Beitrag zur Rettung krisenbefallener Unternehmen in der Praxis. Die Bedeutung vertrauens- und misstrauenszentrierter Führungsstile sowie die einer vertrauenswürdigen Krisenkommunikation werden dabei ebenso herausgestellt wie Maßnahmen zur Wiederherstellung von Vertrauen. Noch immer, so ist zu vermuten, treten Vertrauen und Misstrauen in der Wahrnehmung ihrer Bedeutung hinter den Hard Facts von Sanierungsstrategien und -maßnahmen zurück.

1. Einführung

Lange Zeit galt Vertrauen unumstritten als Grundhaltung der Unternehmensführung. Namhafte Autoren wie z. B. Reinhard Sprenger in seinem damaligen Bestseller von 2007 „Vertrauen führt“ oder ähnlich auch Gertrud Höhler in ihrem Buch von 2009 „Warum Vertrauen siegt“ haben neben vielen anderen diesen Grundsatz einem breiten Kreis von Führungskräften fast schon als ein Dogma nahegelegt.

Eine neue Welle der Wahrnehmung und Thematisierung von Misstrauen scheint die bis dahin herrschende Auffassung in der Praxis allerdings zu erschüttern und es wird von einer großen Vertrauenskrise gesprochen.1 Eine solche Beobachtung wird u. a. durch Befragungsergebnisse renommierter Meinungsforschungs-Institute gestützt und kann kaum mehr übersehen werden.

Anlass genug, die Bedeutung von Vertrauen und Misstrauen mit seinen Chancen und Risiken neu zu überdenken. Dies erscheint auch deshalb angezeigt, weil die Vertrauensproblematik eine entscheidende, häufig unterschätzte Rolle bei der Bewältigung von Unternehmenskrisen spielt. Die Koexistenz von Vertrauen und Misstrauen muss gerade in akuten Krisenphasen akzeptiert und offen kommuniziert werden, damit beide als wichtige Bausteine bei der Firmenrettung gemeinsam wirksam werden können.

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2. Misstrauen als neue Grundhaltung?

In der Managementforschung und -praxis haben sich Phasen von Vertrauens- und Misstrauenszentrierung als Grundhaltung der Führung abgelöst.

2.1 Phasen von Vertrauen und Misstrauen im Zeitablauf

Die Thematisierung von Vertrauen in Theorie und Praxis begann kurz vor Beginn der 1980er Jahre und stieg danach rasant an.2 Sie spielte dagegen in den weiter zurückliegenden Jahrzehnten kaum eine Rolle. Vielmehr dominierte dort, bezogen auf die Bewältigung von Unternehmenskrisen, ein als selbstverständlich angenommenes Misstrauen die Grundhaltung, ausgedrückt durch einen misstrauenden, autoritären Führungsstil in akuten Krisenphasen. So wurde etwa die Auffassung vertreten, „dass eine der ersten Maßnahmen zur Bewältigung der Krise die Aufhebung jeglicher Art kooperativer Führung und die Rückkehr zur autoritären Führung“3 sein müsse. Eine deutliche Trendwende ergab sich dann in den1980er Jahren und fand ihren Höhepunkt etwa zwischen 2008 und 2011.4 Sprenger vertrat damals die These, dass „es für den wirtschaftlichen Erfolg (von Unternehmen) nur einen einzigen Erklärungsansatz gibt: das Maß des gelebten Vertrauens.“5

2.2 Starke Anzeichen für eine neue Welle des Misstrauens Ganz anders dagegen verlief die Behandlung von Misstrauen in Theorie und Praxis. Sie stand – unausgesprochen und kaum erforscht – stets im Schatten des Vertrauenspostulats. Seit etwa 2022 hat sich diese Situation offenbar radikal verändert und derzeit wird ein generelles Klima des Misstrauens, jedenfalls in der deutschen Bevölkerung, diagnostiziert. Die Gründe dafür sind noch nicht erforscht. Häufig wird spekuliert, dass die unter dem Stichwort „Poly-

* Prof. Dr. Ulrich Krystek war bis zu seiner Emeritierung Inhaber des Lehrgebiets Strategisches Controlling an der TU Berlin, Fakultät VII, Wirtschaft und Management. Er ist derzeit Mitglied von Beiräten und darüber hinaus beratend für mehrere Unternehmen tätig.

1 Vgl. Lobo, Die große Vertrauenskrise, 2023, S. 19 ff.; Matthes: „Wir haben eine Vertrauenskrise“, Interview mit Bayer-Aufsichtsratschef Norbert Winkeljohann, Handelsblatt.com vom 3.1.2024.

2 Vgl. Arnott, Trust – current thinking and future reseach, European Journal of Marketing 9–10/2007 S. 982.

3 Höhn, Das Unternehmen in der Krise, 1974, S. 111.

4 Vgl. Pielken, Vertrauen zwischen Banken und Krisenunternehmen in der Sanierung, 2017, S. 25.

5 Sprenger, Vertrauen führt, 2007, S. 12.

krise“6 zusammengefassten, vielfältigen und sich zeitgleich überlagernden Krisenerscheinungen dafür verantwortlich sein könnten. Was auch immer die sicher sehr komplexen Ursachen des gegenwärtigen Misstrauensklimas sein mögen, die Tatsache als solche scheint unabweisbar und wird u. a. in den Kernaussagen von führenden Meinungsforschungs-Instituten deutlich, die für Deutschland in Tab. 1 auf S. 7 zusammengefasst sind. Derzeit (Ende 2024) sind keine Anzeichen für eine Änderung dieser Situation in Sicht.

Ein Blick auf die übrigen DACH-Staaten zeigt ein differenzierteres Bild. Für Österreich ergibt sich eine ähnliche Situation wie in Deutschland. Auch dort prägen Pessimismus und Misstrauen die Grundstimmung der Bevölkerung.7 Anders dagegen in der Schweiz: Obwohl nach einer OECD-Studie das Vertrauen generell in den von ihr untersuchten Staaten schwindet, ist das Vertrauen der Bevölkerung in die Landesregierung dort so hoch wie in keinem anderen Land. Als Grund dafür werden die in der Schweiz vergleichsweise häufigen Volksbefragungen angeführt. Sie wirken als Form einer direkten Teilhabe der Bevölkerung am Regierungshandeln in besonderer Weise vertrauensstiftend.8

3. Vertrauen und Misstrauen: nur scheinbar bekannte Begriffe

Vertrauen und Misstrauen erscheinen uns als Begriffe umgangssprachlich bestens vertraut. Dennoch bedürfen sie im hier interessierenden Zusammenhang einer Erläuterung, die besonders ihre häufig unterschätzten Nebenwirkungen einschließt: ihre Chancen und Risiken.

3.1 Vertrauen: Komplexitätsreduktion mit Nebenwirkungen

3.1.1 Zum Begriff Vertrauen

Im allgemeinen Sprachgebrauch wird Vertrauen gleichgesetzt mit dem Glauben an die Zuverlässigkeit, Integrität, Ehrlichkeit und Gerechtigkeit von Personen und Institutionen.

In den unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit dem komplexen Konstrukt Vertrauen beschäftigen, haben sich jedoch sehr differenzierte Begriffsbestimmungen herausgebildet.

Für den deutschsprachigen Raum kann noch immer diejenige von Ripperger als die umfassendste Ausdeutung gelten. Danach kennzeichnet Vertrauen die „freiwillige Erbringung einer riskanten Vorleistung unter Verzicht auf explizite vertragliche Sicherungs- und Kontrollmaßnahmen gegen opportunistisches Verhalten in der Erwartung, dass sich der andere trotz Fehlen von Schutzmaßnahmen nicht opportunistisch verhält.“9

3.1.2 Chancen des Vertrauens

Als eine erste Chance von Vertrauen wird seine komplexitätsreduzierende Wirkung herausgestellt.

Sie entsteht durch den Ausschluss gewisser Entwicklungsmöglichkeiten und neutralisiert so auch spezifische Gefahren, die nicht ausgeräumt werden können, aber das Handeln nicht irritieren sollen.10

Darüber hinaus werden dem Konstrukt Vertrauen eine Vielzahl weiterer positiver Wirkungen zuerkannt, deren wesentlichste Aspekte wie folgt zusammengefasst werden können:11

Vertrauen bewirkt eine Verbesserung von Kommunikation, ebenso eine Verbesserung von Kooperation und Problemlösung in Gruppen, ist ein Ansporn zur Übernahme von Verantwortung und verbunden mit einer Reduzierung von Stress.

Vertrauen reduziert Kosten und beschleunigt und flexibilisiert Prozesse.

3.1.3 Risiken des Vertrauens

Weniger thematisiert werden dagegen die Risiken von Vertrauen, wobei sein Charakter als risikoreiche Vorleistung eine vielzitierte Ausnahme bildet. Als weitere Risiken sind zu nennen:

Vertrauen benötigt Zeit, um sich entwickeln zu können, ebenso ein gewisses Maß an Vertrautheit und Vorwissen über den Vertrauensgegenstand.

Vertrauen kommt ohne Kontrollen nicht aus, da sich der Vertrauensgeber vergewissern muss, ob sein gewährtes Vertrauen noch gerechtfertigt ist.

Vertrauen ist nicht nur ein Geschenk, sondern kann sogar als Fessel, Hypothek und Verpflichtung empfunden werden, die eigene Handlungsmöglichkeiten beschränkt.

Vertrauen kann schnell, sogar schon durch einen einzigen Vertrauensbruch in Misstrauen umschlagen.

Vertrauen ist nicht die einzige Möglichkeit zur Reduktion sozialer Komplexität.

Vertrauen ist stets situationsabhängig und es gibt durchaus Anlässe, bei denen Misstrauen angebracht ist.

Vertrauen, kann – im Gegensatz zu Misstrauen – nicht angeordnet werden.

Damit erweist sich Vertrauen keinesfalls als „Allzweckwaffe“ und das Übergewicht seiner Chancen oder Risiken ist vom Vertrauensgegenstand und zugleich von der jeweiligen Situation abhängig, in der Vertrauen gewährt werden kann.

6 Vgl. Krystek, Polykrise: Wird Krisenmanagement unmöglich?, KSI 1/2024 S. 5–11.

7 Vgl. Seidel, Pessimismus und Misstrauen prägen die österreichische Bevölkerung, Der Standard vom 22.9.2022, s. u. https://www.derstandard.de/story/ 2000138658056/pessimismus-und-misstraun-praegen-die-oesterreichschischebevoelkerung, letzter Zugriff: 14.10.2024.

8 Vgl. Fuster, Umfrage der OECD: Das Vertrauen in den Staat schwindet – nicht aber in der Schweiz, NZZ Deutschland vom 11.7.2024, s. u. https://www.msn. com/de-de/finanzen/top-stories/umfrage-der-oecd-das-vertrauen-in-den-staatschwindet-nicht-aber-in-der-schweiz/ar-BB1pMo08, letzter Zugriff: 14.10.2024.

9 Ripperger, Ökonomie des Vertrauens, 1998, S. 45.

10 Vgl. Luhmann, Vertrauen, 2014, S. 30.

11 Vgl. nachfolgend zu den Chancen und Risiken von Vertrauen Sprenger, Vertrauen führt, 2007, S. 102 f.; Luhmann, Vertrauen, 2014, S. 22, 29, 56, 111; Höhler, Warum Vertrauen siegt, 2009, S. 34, 282; Bogott/Weischwill, Vertrauen. Macht.Wirtschaft, 2002, S. 35, 78 f.; Hartmann, Vertrauen – Die unsichtbare Macht, 2022, S. 136.

Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz bei der Erstellung von Sanierungs-

gutachten

Zukunftsperspektiven und Handlungsempfehlungen auf der Basis aktueller Studienergebnisse

Die Erstellung von Sanierungsgutachten als wichtige Aufgabe für Unternehmenssanierungen in Krisenzeiten erfordert präzise Analysen und ist zeitaufwendig. Die Integration von Künstlicher Intelligenz (KI) verspricht, diesen Prozess zu beschleunigen und die Qualität der Gutachten zu erhöhen. Ausgehend von einer qualitativen Studie, die Experteninterviews nutzt, wurden Einsatzmöglichkeiten und Risiken von KI in der Erstellung von Sanierungsgutachten analysiert. Die Ergebnisse zeigen, dass KI besonders bei der Datenanalyse und Krisendiagnose hilft, indem sie effiziente Datenverarbeitung und präzisere Analysen ermöglicht. Herausforderungen liegen in der Sicherstellung der Datenqualität und der Nachvollziehbarkeit von KI-Entscheidungen. Empfohlen wird, die Datensicherheit zu verbessern, spezifische Schulungen für Mitarbeiter anzubieten, Transparenz bei KIEntscheidungen zu erhöhen und rechtliche Rahmenbedingungen anzupassen, um die Integration von KI effektiv voranzutreiben und ihre Potenziale auszuschöpfen.

1. Problemstellung und Relevanz für Krisenkonstellationen

Die Erstellung von Sanierungsgutachten ist ein wesentlicher Bestandteil der Unternehmenssanierung und -restrukturierung, insbesondere in Krisensituationen, in denen Unternehmen vor ernsthaften finanziellen oder operativen Herausforderungen stehen. Ein solches Gutachten dient als Entscheidungsgrundlage für Investoren, Banken und andere Stakeholder und muss auf fundierten

Analysen beruhen. Nach der BGH-Rechtsprechung sind die Mindestbestandteile die Benennung der Krisenursachen, das Formulieren der Vision des sanierten Unternehmens, das Herausarbeiten von Sanierungsmaßnahmen sowie das Darstellen einer Integrierten Planung über den Sanierungszeitraum.1

Ein bedeutender Standard für die Erstellung dieser Gutachten ist der IDW S 6, der in Deutschland vom Institut der Wirtschaftsprüfer (IDW) herausgegeben wird. Der IDW S 6 definiert klare Anforderungen an die Inhalte und die Struktur eines Sanierungsgutachtens. Hierzu zählen u. a. die Analyse der Krisenursachen, eine integrierte Unternehmensplanung, die finanzwirtschaftliche Bewertung der Sanierungsfähigkeit sowie die rechtliche Prüfung, um sicherzustellen, dass die gesetzlichen Anforderungen und die Haftungsrisiken minimiert werden.2

Die Erstellung eines solchen Gutachtens ist jedoch äußerst komplex und aufwendig. Der Prozess umfasst mehrere aufeinanderfolgende Schritte, von der Datensammlung über die Analyse bis hin zur finalen Gutachtenerstellung. Diese Schritte sind zeitintensiv und erfordern oft eine enge Zusammenarbeit mit dem betroffenen Unternehmen, das jedoch häufig selbst nicht über ausreichende Datenqualität oder Informationen verfügt. In der Praxis führt die Komplexität des Prozesses dazu, dass die Erstellung eines Sanierungsgutachtens mehrere Wochen in Anspruch nehmen kann. Diese Zeit ist auch erforderlich, weil nur dadurch gewährleistet werden

kann, dass das Sanierungskonzept rechnerisch und sachlich korrekt ist und dieses eine durchgängige Schlüssigkeit aufweist.3

Vor diesem Hintergrund erscheint der Einsatz von KI als eine vielversprechende Möglichkeit, den Erstellungsprozess von Sanierungsgutachten zu beschleunigen und gleichzeitig deren Qualität zu erhöhen. KI könnte bei der Analyse großer Datenmengen, der Identifizierung von Krisenursachen und der Prognose zukünftiger Entwicklungen unterstützen. Zudem könnte KI dabei helfen, repetitive Aufgaben wie die Datensammlung und -aufbereitung zu automatisieren, was Beratern mehr Zeit für die eigentliche Analyse und strategische Planung gibt. Aktuell gibt es in der Praxis kaum Erfahrungswerte, wie man KI bei der Erstellung von Sanierungsgutachten einsetzen kann und welche Chancen und Risiken damit einhergehen.

Das Ziel dieses Beitrags besteht darin, ausgehend von einer durchgeführten qualitativen Studie (Experteninterviews) darzustellen, wie KI-basierte Ansätze die Effizienz und Effektivität in der Erstellung von Sanierungsgutachten verbessern können. Zudem erfolgt eine Darstellung der potenziellen Chancen und Risiken durch den Einsatz von KI bei der Erstellung von Sanierungsgutachten und allgemein im Rahmen des Restrukturierungsmanagements.

* Prof. (FH) Dr. Markus W. Exler ist Partner der nexum AG, Köln, sowie Leiter des Instituts für Grenzüberschreitende Restrukturierung an der Fachhochschule Kufstein Tirol; Prof. (FH) Dr. Dr. Mario Situm, MSc., MBA, ist Studiengangsleiter an der Fachhochschule Kufstein und Partner der DANiSTER GmbH, München, und der DANiSTER Development GmbH, Linz; Maria Sieghartsleitner, M.A., ist Absolventin des berufsbegleitenden Masterstudiengangs Corporate Transformation Management an der Fachhochschule Kufstein Tirol und Consultant bei der ACTUM Performance Group GmbH, Linz.

1 Vgl. Dücker, Eigentümerstruktur und Unternehmenssteuerung in wirtschaftlichen Krisenzeiten: Eine empirische Analyse unternehmensspezifischer Einflussfaktoren vor einer Insolvenz, 2020, S. 50–51; Feldbauer-Durstmüller/Mayr, Sanierungsmanagement in KMU, Controlling 2010 S. 154–156.

2 Vgl. Graewe/Gößmann, Restrukturierung und Sanierung, in: Graewe (Hrsg.), Wirtschaftsrecht: Lehrbuch für Master-Studiengänge, 2017, S. 587–588.

3 Vgl. Weiland, Praxis des Sanierungsmanagements: Von der Krisendiagnose zum Leitbild des zu sanierenden Unternehmens, KSI 2006 S. 68.

2. Grundlegender Überblick zu Künstlicher Intelligenz

KI stellt keine bestimmte Technik oder kein bestimmtes Modell dar. Es geht dabei darum, intelligente Maschinen unter Verwendung von Computerprogrammen zu bauen.4 Demnach beschreibt sie die Fähigkeit einer Maschine, kognitive Aufgaben auszuführen, die mit dem menschlichen Verstand verbunden werden.5 Im Rahmen der Industrie 4.0 stellt KI eine Schlüsseltechnologie dar, mit welcher aus Mustern oder wiederkehrenden Zuständen bestimmte Ableitungen vorgenommen werden können, um beispielsweise Produktionsplanungen, Maschinensteuerungen etc. zu optimieren.6 Damit dies in der Praxis umgesetzt werden kann, ist eine große Menge an Daten/Informationen erforderlich, anhand welcher KI-Systeme trainiert werden. Aus diesen Daten werden schnell Zusammenhänge und damit auch Muster erkannt, wie bestimmte Variablen miteinander in Beziehung stehen. Wenn dadurch ein bestimmtes Modell definiert ist, dann kann bei einer neuen Eingabe von Daten eine Wahrscheinlichkeitsvorhersage für ein Ergebnis getroffen werden.7

KI revolutioniert bereits jetzt und in Zukunft die Art und Weise, wie wir arbeiten, Entscheidungen treffen und Innovationen vorantreiben. Sie ermöglicht es Maschinen, Aufgaben zu erlernen und auszuführen, die traditionell menschliches Denken und menschliche Intuition erfordern. Durch die Fortschritte im maschinellen Lernen und in den neuronalen Netzwerken ist es möglich geworden, dass Systeme nicht nur auf Befehle reagieren, sondern auch aus Erfahrungen lernen und sich selbstständig verbessern.

KI-Systeme werden zunehmend in einer Vielzahl von Branchen eingesetzt, von der Medizin über die Finanzwirtschaft bis hin zur Fertigung, und transformieren so die globale Wirtschaftslandschaft. Ob es darum geht, komplexe medizinische Daten zu analysieren, personalisierte Marketingstrategien zu entwickeln oder effiziente Logistiklösungen zu implementieren – die Anwendungsfelder der KI sind vielfältig und wachsen stetig. Nachfolgend sind einige der Schlüsselanwendungen und Möglichkeiten aufgeführt, die KI in verschiedenen Sektoren und Aspekten unseres Lebens bietet:8

Integration von KI und Neurowissenschaften: Die Verschmelzung von KI und Neurowissenschaften wird als eine potenzielle Revolution in unserem Verständnis der menschlichen Kognition gesehen. Durch das Modellieren von Gehirnprozessen können wir die Funktionsweise natürlicher Intelligenz besser verstehen und gleichzeitig verbesserte KI-Systeme entwickeln.9

Einsatz in der Medizin: KI wird zunehmend in der Medizin eingesetzt, insbesondere in der Diagnostik, wo sie hilft, Muster in großen Datenmengen zu erkennen, die für menschliche Diagnostiker zu komplex sind. Dies verbessert die Genauigkeit von Diagnosen und die Personalisierung von Behandlungen.10

Entscheidungsfindung in Unternehmen: In Unternehmenskontexten ermöglicht KI präzisere und effizientere Entscheidungsprozesse. Durch die Analyse von großen Datenmengen können bessere Entscheidungsgrundlagen in kürzerer Zeit getroffen werden. Dies führt zu einem verbesserten Management und optimierten Betriebsabläufen.11

Zukünftige Entwicklungen und Potenziale: Die Weiterentwicklung der KI wird voraussichtlich alle Bereiche unserer Gesellschaft beeinflussen, von der Arbeitswelt bis zur Freizeitgestaltung. Die KI hat das Potenzial, nicht nur wirtschaftliche Prozesse zu optimieren, sondern auch individuelle Lebensqualität durch personalisierte Dienstleistungen und Unterstützung im Alltag zu verbessern.12

KI eignet sich aufgrund der vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten somit auch bei der Erstellung von Sanierungsgutachten, dies insbesondere deshalb, weil mit ihr die Automatisierung von bestimmten Prozessschritten erreicht werden kann.13 Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass durch den Einsatz von KI in der Restrukturierungspraxis im Allgemeinen Vorteile und Chancen umgesetzt werden können. Einer Studie der Bitkom e. V. aus dem Jahre 2023 für Deutschland kann entnommen werden, dass 73 % der befragten Personen in der KI mehr Chancen als Gefahren sehen.14 Es muss jedoch auch bedacht werden, dass es Nachteile und mögliche Risiken gibt. Eine allgemeine Darstellung im Sinne einer SWOT-Analyse hinsichtlich der Vor- und Nachteile und der

Chancen und Risiken beim Einsatz von KI ist in Abb. 1 auf S. 32 zu finden.

3. Format der Studie und Forschungsfragen

Die vorliegende Untersuchung basiert auf einem qualitativen Ansatz, um den Einsatz von KI in der Erstellung von Sanierungsgutachten zu analysieren. Im Rahmen dieser Studie wurden insgesamt zehn Experteninterviews (Personen aus den Bereichen Unternehmensberatung und Restrukturierung) durchgeführt, die gezielt die Erfahrungen und Perspektiven von Fachleuten mit umfassender Berufserfahrung und praktischer Expertise in der Restrukturierung/ Sanierung einbeziehen. Die Grundlage für die Experteninterviews bildete ein semi-strukturierter Interviewleitfaden, der auf einer umfassenden Literaturrecherche basiert und relevante Themen der KI-Integration in Sanierungsgutachten aufgreift.15 Dieses Format ermöglicht es, gezielte Antworten auf relevante Fragestellungen von den Interviewpartnern zu erhalten, während gleichzeitig Raum für spontane Ausführungen bleibt.16

4 Vgl. Lenzen, Künstliche Intelligenz, in: Dederich/ Zirfas (Hrsg.), Optimierung: Ein interdisziplinäres Handbuch, S. 357.

5 Vgl. Kreutzer, Künstliche Intelligenz verstehen, 2023, S. 8.

6 Vgl. Babel, Systemintegration in Industrie 4.0 und IoT, 2024, S. 47.

7 Vgl. Brune, Künstliche Intelligenz heute: Anwendungen aus Wirtschaft, Medizin und Wissenschaft, 2022, S. 2; Vossebein/Hildmann/Wengler, LeadManagement, 2023, S. 43.

8 Diese Aufzählung ist sicherlich nicht als erschöpfend anzusehen. Es gibt viele weitere Anwendungsmöglichkeiten.

9 Vgl. Krauss, Künstliche Intelligenz und Hirnforschung, 2023, S. 4–5.

10 Vgl. Roth/Tuggener/Roth, Natürliche und künstliche Intelligenz, 2024, S. 146–147.

11 Vgl. Scharff, Wie künstliche Intelligenz Entscheidungen prägt, 2024, S. 65–71.

12 Vgl. Krauss, Künstliche Intelligenz und Hirnforschung, 2023, S. 246; Roth/Tuggener/Roth, Natürliche und künstliche Intelligenz, 2024, S. 214–215.

13 Vgl. Bünnagel, Künstliche Intelligenz und Unternehmenswissen, 2024, S. 2.

14 Vgl. Bitkom e. V., Drei Viertel sehen Künstliche Intelligenz als Chance, s. u. https://www.bitkom. org/Presse/Presseinformation/Drei-Viertel-sehenKuenstliche-Intelligenz-Chance, 2023.

15 Vgl. King/Horrocks/Brooks, Interviews in qualitative research, 2019, S. 64.

16 Vgl. De Sordi, Qualitative research methods in business, 2024, S. 11, 63; Strübing, Qualitative Sozialforschung, 2024, S. 101–102.

Um die Verständlichkeit und Validität des Leitfadens sicherzustellen, wurden vor der Durchführung der Interviews zwei Pre-Tests mit fachkundigen Experten durchgeführt. Diese Testphase ermöglichte es, potenzielle Unklarheiten zu identifizieren und den Leitfaden entsprechend zu optimieren.17 Alle geführten Interviews wurden vollständig transkribiert und mit Software-Unterstützung unter Anwendung der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring ausgewertet.18 Die Codierung erfolgte in zwei Schritten: Zunächst wurden im Rahmen einer initialen Codierung deskriptive Labels zur Indexierung der Daten vergeben, anschließend wurden in einer zweiten Codierungsrunde die Codes neu organisiert und verfeinert, um Muster zu erkennen und die Forschungsfragen zu beantworten.19 Ausgehend vom Ziel der Studie sollten folgende Forschungsfragen beantwortet werden:

Für welche spezifischen Bereiche der Erstellung von Sanierungsgutachten kann bzw. könnte KI eingesetzt werden? Welche Chancen und Risiken gibt es beim Einsatz von KI bei der Erstellung von Sanierungsgutachten?

4. Prozessschritte zur Erstellung eines Sanierungsgutachtens und Einsatzmöglichkeiten künstlicher Intelligenz

VORTEILE (S = STRENGHTS)

Beschleunigte bzw. verbesserte Prozesse und gesteigerte Produktivität

NACHTEILE (W = WEAKNESSES)

Hohe Kosten und Ressourcenbedarf für die Entwicklung, den Betrieb und die Wartung von KI­Systemen Reduktion von Kosten

Mangel an Transparenz und Nachvollziehbarkeit der KI­Entscheidungen

Förderung von Innovationen und WachstumVerlust von Arbeitsplätzen durch Automatisierung und Technologiewandel

Verbesserung existierender Dienstleistungen und Produkte Abhängigkeit von KI kann zu Kontrollverlusten führen

Verbesserung von DevelopmentprozessenEthische Bedenken, insbesondere im Hinblick auf Autonomie und Privatsphäre

CHANCEN (O = OPPORTUNITIES)

Möglichkeit zur Entwicklung neuer Dienstleistungen und Produkte

Optimierung von Vertriebswegen und Verbesserung des Kundenservice

RISIKEN (T = THREADS)

Verstöße gegen Datenschutzvorgaben

Fehler in der Anwendung von KI­Nutzungen

Verbesserung von Wartungstechniken Mangelnde Nachvollziehbarkeit von Ergebnissen Steigerung der Produktionsleistung und ­qualität Fehler bei der Programmierung

Möglichkeit zur Einsparung von EnergieMangelnde Beherrschbarkeit von KI­Systemen

Abb. 1: Vor- und Nachteile bzw. Chancen und Risiken bei der Nutzung von Künstlicher Intelligenz20

Ausgehend von den Aussagen der Experten konnten fünf Prozessschritte zur Erstellung eines Sanierungsgutachtens identifiziert werden.

(1) Die erste Phase, Datenbeschaffung und -analyse, umfasst die Sammlung und Auf bereitung aller relevanten Informationen. Hierzu gehören insbesondere finanzielle Daten wie Bilanzen, Gewinn- und Verlust rechnungen sowie Cashflow-Analysen, aber auch Marktinformationen und operative De tails wie Lieferantenverträge und Produk tionsdaten. Diese Phase bildet die Grundlage für das gesamte Sanierungsgutachten. KI kann in dieser Phase eingesetzt werden, um große Datenmengen systematisch zu analysieren und unstrukturierte Daten zu organisieren. Durch den Einsatz von KI werden Finanzdaten schneller erfasst, Muster in den operativen Daten entdeckt und relevante Markttrends erkannt, die für die spätere Analyse entscheidend sind.

(2) Im zweiten Schritt, der Diagnose der Krisenursachen, werden die zugrundeliegenden Gründe für die wirtschaftliche Schieflage des Unternehmens identifiziert. Hierzu gehört eine tiefgehende Analyse des Geschäftsmodells, der Wettbewerbsposition, operativer Effizienz und finanzieller Kennzahlen. Es werden sowohl externe Faktoren (wie Marktveränderungen oder geopolitische Risiken) als auch interne Schwachstellen (wie ineffiziente Prozesse oder Fehlentscheidungen im Management) betrachtet. KI kann in dieser Phase helfen, komplexe Datenmuster zu analysieren und Zusammenhänge zwischen verschiedenen Faktoren aufzudecken. Beispielsweise kann KI Trends und Anomalien in den Finanzkennzahlen erkennen, die auf strukturelle Schwächen hinweisen, oder Marktanalysen durchführen, um die Konkurrenzsituation des Unternehmens besser zu verstehen.

Der dritte Schritt beinhaltet mit der Entwicklung des Sanierungskonzepts die Formulierung konkreter Maßnahmen zur Überwindung der Krise. Hierzu zählt die Erstellung eines umfassenden Finanzplans, der aufzeigt, wie das Unternehmen wieder auf den Weg der Profitabilität gebracht werden kann. Auch operative Maßnahmen zur Restrukturierung – wie Kostensenkungsprogramme, Personalabbau oder die Schließung unrentabler Geschäftsbereiche – werden ausgearbeitet. Darüber hinaus müssen stra-

17 Vgl. Bogner/Littig/Menz, Interviews mit Experten, 2014, S. 34; Misoch, Qualitative Interviews, 2019, S. 144.

18 Vgl. Mayring/Fenzl, Qualitative Inhaltsanalyse, in: Baur/Blasius (Hrsg.), Handbuch Methoden der Empirischen Sozialforschung, 2022, S. 691–706.

tegische Maßnahmen entwickelt werden, die die Wettbewerbsfähigkeit langfristig sichern, so die Anpassung des Geschäftsmodells oder die Einführung neuer Produkte oder DienstJetzt

19 Vgl. Roger, Coding qualitative data, in: Okoko/ Tunison/Walker (Hrsg.), Varieties of qualitative research methods: Selected contextual perspectives, 2023, S. 74–76.

20 Selbst erstellte Übersicht in Anlehnung an Bitkom Research, Was sind aus Sicht Ihres Unternehmens die wichtigsten Vorteile von Künstlicher Intelligenz im Kontext von Industrie 4.0?, s. u. https:// de.statista.com/statistik/daten/studie/990505/ umfrage/umfrage-zu-vorteilen-kuenstlicherintelligenz-in-deutschen-industrieunternehmen/, 2024; Deloitte, Welches sind die wichtigsten Vorteile, die Sie durch Ihre generativen KI-Bemühungen zu erreichen hoffen?, s. u. https://de.statista. com/statistik/daten/studie/1480703/umfrage/ vorteile-die-durch-ki-erreicht-werden-sollen/, 2024; Fricke, Künstliche Intelligenz: Was sind die Vorteile und Nachteile von KI?, s. u. https://at. gruender.de/kuenstliche-intelligenz/kuenstlicheintelligenz-vorteile-nachteile/, 2024; Kreutzer, Künstliche Intelligenz verstehen: Grundlagen –Use-Cases – unternehmenseigene KI-Journey, 2023, S. 89–95; Scharff, Wie künstliche Intelligenz Entscheidungen prägt: Eine Multiple-Case-Study über Entscheidungen künstlicher Intelligenz im Kontext von Unternehmen, 2024, S. 87. Hierbei sei erwähnt, dass dies keine vollständige Aufzählung darstellt und nur einen Überblick bieten soll.

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