VERURTEILT ZU LEINWAND, STIFTEN, HOLZ UND WORT · JKWF & EULENGASSE
VERURTEILT ZU LEINWAND, STIFTEN, HOLZ UND WORT
Vier Künstler*innen arbeiten mit straffälligen Jugendlichen Ein Kooperationsprojekt der Jugend-Kultur-Werkstatt Falkenheim Gallus e.V. mit dem Kunstverein EULENGASSE e.V.
Kunst verbindet. Das Kooperationsprojekt des Kunstvereins EULENGASSE e.V. und der Jugend-Kultur-Werkstatt Falkenheim Gallus e.V. Im September und Oktober 2020 arbeiteten vier Künstler*innen des Frankfurter Kunstvereins EULENGASSE mit straffälligen Jugendlichen. Dieses Kunstprojekt wurde in Kooperation mit der Jugend-Kultur-Werkstatt Falkenheim Gallus e.V. (JKWF) entwickelt. In deren Bildhauerwerkstatt im Frankfurter Gutleutviertel wurden die Kunstprojekte nacheinander durchgeführt. Jede/r Künstler*in arbeitete an bis zu sechs Nachmittagen mit Jugendlichen und war dadurch zusätzlich zu den künstlerischen Medien der Bildhauerwerkstatt mit einem eigenen Angebot für die Jugendlichen da. Diese Publikation dokumentiert die Kunstkooperation und weist gleichzeitig über das durchgeführte Kunstprojekt hinaus. So werden im Kontext auch strukturelle Rahmenbedingungen erläutert, Sichtweisen auf Jugendliche und von Jugendlichen eröffnet, manche Klischee-Vorstellungen thematisiert und Aspekte zur Reflexion gestellt. Die künstlerischen Arbeiten, die die Jugendlichen in den vier Teilprojekten gefertigt haben, werden Anfang 2021 im Ausstellungsraum EULENGASSE in Frankfurt am Main präsentiert und zum Verkauf angeboten. Begleitend zur Ausstellung erscheint diese Publikation. Im Zentrum der Kunstkooperation standen die Jugendlichen. Dies tun sie auch in dieser Publikation. Doch hier dürfen sie aus rechtlichen Gründen nur so beschrieben oder abgebildet werden, dass sie nicht eindeutig erkennbar sind. Ein Gedanke darüber hinaus: In der Bildhauerwerkstatt machen Jugendliche aus allen Kulturen und Herkunftsländern Kunst. Doch welchen kulturellen oder nationalen Hintergrund die Jugendlichen hatten, die an den Kunstprojekten beteiligt waren, spielt hier keine Rolle und wird daher auch nicht erwähnt. Für die vier EULENGASSEKünstler*innen waren es im positivsten Sinne einfach die Mädchen, die Jungen – ›die Jugendlichen‹.
Petra Väth
Harald Etzemüller
Geschäftsführerin und pädagogische Leitung der JKWF, Kunstpädagogin M.A., Kulturmanagerin. Petra Väth gab den Impuls für die KunstKooperation mit EULENGASSE. Als größtenteils unsichtbare Kraft im Hintergrund hat sie all das in die Wege geleitet und koordiniert, was im weiteren Verlauf schnell einmal vergessen wird, ohne das jedoch nichts funktioniert hätte: Wie arbeiten Künstler*innen und Jugendliche konkret zusammen? Wann kann das stattfinden? Was kann es kosten? Petra Väth ist mit zeitlichen, finanziellen und personellen Möglichkeiten nicht weniger kreativ und offen umgegangen als später die Künstler*innen in ihren Projekten. So hat sie gezeigt, dass auch hinter den Kulissen Kreativität nicht nur nötig, sondern optimal möglich ist.
Vorstand EULENGASSE e.V., Dipl.-Ing. (FH) Freier Architekt (AKH). Harald Etzemüller ist auf Seiten des Kunstvereins EULENGASSE als Mitglied des Vorstands der Verantwortliche für die Kunstkooperation. Gemeinsam mit Vládmir Combre de Sena hat er das Projekt in Zusammenarbeit mit Petra Väth von der JKWF konzipiert, vereinsintern kommuniziert und erreicht, dass sich aus den Vereinsmitgliedern vier unterschiedliche Künstler*innen fanden, die mit den Jugendlichen zu eigens entwickelten Ansätzen arbeiteten. Mit seinem Sinn für Raum und Proportion hat der Architekt die abschließende Ausstellung des Kooperationsprojekts gestaltet.
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Vorwort Petra Väth, Geschäftsführung der JKWF und Harald Etzemüller, Vorstand von EULENGASSE e.V. Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie es zu unserer Kooperation zwischen der Jugend-Kultur-Werkstatt Falkenheim und dem Kunstverein EULENGASSE gekommen ist, und was der Begriff Partizipation auch für diese Kooperation bedeutet, dann denken wir zuerst einmal an die Partizipation der Jugendlichen an einer künstlerischen Tätigkeit, also der Arbeit, die in der JKWF gemacht wird. Jugendliche partizipieren an unserer Gesellschaft, oder über die Art und Weise, Kunst kennenzulernen und Kunst zu machen – ein Annähern. Und dann gibt es auch die Partizipation in die umgekehrte Richtung, indem die Jugendlichen die Künstler*innen von EULENGASSE an ihrem Leben teilhaben lassen. Ebenfalls haben diese an der technischen Ausstattung der JKWF teil. Im Gegenzug partizipieren die Jugendlichen an den Techniken, die von den EULENGASSE-Künst3
ler*innen vermittelt werden, die hier üblicherweise nicht auf dem Programm stehen: Malerei, Zeichnen, Collage u.a. Und das Geben und Nehmen geht weiter: Am Ende des Kooperationsprojekts steht eine Ausstellung in den Räumen von EULENGASSE in Bornheim, was für viele Jugendliche eine erste Begegnung mit institutioneller Kunstvermittlung darstellt. So sind es zwei Welten, die in diesem Projekt eine kongeniale Überschneidung finden. Von den vielgestaltigen Begegnungen, den Gesprächen, den besonderen Momenten wollen wir mit dieser Publikation andere teilhaben lassen, durch die fotografische Annäherung von Sabine Imhof, durch die beobachtenden Gespräche von Daniel Scheffel, der mit seinem Text dieser Publikation Eindrückliches, Dokumentarisches und Aphoristisches in Worte gebracht hat und durch Audio-Interviews von Vládmir Combre de Sena, die in einem Podcast einen künstlerischen Ausdruck erhalten.
Die Kooperationspartner und Mitwirkenden Die Jugend-Kultur-Werkstatt Falkenheim Die Jugend-Kultur-Werkstatt Falkenheim Gallus e.V. (JKWF) fördert Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene durch künstlerische Projektarbeit. Die Projekte und Werkstätten werden vom hauptamtlichen pädagogischen Team der JKWF konzipiert, organisiert und betreut und von professionellen Künstler*innen der verschiedensten Sparten angeleitet. Eines dieser zahlreichen Projekte der JKWF ist die Bildhauerwerkstatt Gallus. Hier hat das künstlerische Kooperationsprojekt zwischen JKWF und EULENGASSE stattgefunden. Seit 1992 können Jugendliche zwischen 14 und 21 Jahren in der Bildhauerwerkstatt Sozialstunden ableisten, die sie aufgrund begangener Straftaten richterlich auferlegt bekamen. Dazu schaffen die Jugendlichen Kunstwerke aus Holz, Stein und Metall. Das übergeordnete Ziel der Bildhauerwerkstatt besteht darin, mehrfach benachteiligte Jugendliche und junge Erwachsene in ihrer Entwicklung zu fördern. Dazu verbindet sie sozialpädagogische und kunstpädagogische Aufgaben. Der Verkauf der Kunstobjekte trägt zur Finanzierung des Projekts bei. Darin liegt zugleich der Hauptaspekt der gemeinnützigen Arbeit für die Jugendlichen begründet. Die entstandenen Kunstwerke der Jugendlichen werden regelmäßig zu unterschiedlichen Anlässen und in unterschiedlichen Einrichtungen zum Verkauf ausgestellt. Dadurch gelingt es dem Team der JKWF nicht nur, einer breiten Öffentlichkeit die Fähigkeiten und Persönlichkeiten der Jugendlichen vor Augen zu führen, sondern es trägt auch dazu bei, dass kulturelle und soziale Grenzen sowie Vorurteile abgebaut werden, die zwischen übriger Gesellschaft und straffällig gewordenen Jugendlichen bestehen.
Kai Wolf
Kathrin Jubileum
Kunstwissenschaftler und Bildender Künstler In seiner eigenen künstlerischen Arbeit stehen Stein, Holz und Metall im Mittelpunkt – genau wie bei seiner Tätigkeit in der Bildhauerwerkstatt. Daher kennt er dort alle Maschinen und Werkzeuge wie seine Westentasche. Beste Voraussetzungen also für die Jugendlichen, die dort arbeiten. Aufgrund Kai Wolfs Expertise kam es zudem während seiner mittlerweile über fünfjährigen Tätigkeit nicht ein einziges Mal zu Unfällen. Dafür fließt umso mehr kreatives Herzblut: Kai Wolf teilt seinen Jahrzehnte-großen künstlerischen Erfahrungsschatz mit den Jugendlichen und diese werden dadurch zu unterschiedlichsten Kunstwerken inspiriert.
Kunsttherapeutin, Ergotherapeutin und Sozialarbeiterin Als sozialpädagogische Fachkraft ist sie immer bei den Jugendlichen in der Bildhauerwerkstatt dabei. Egal, ob es um administrative Aspekte geht, um ganz persönliche Anliegen, oder wenn wieder einmal eine Werkbank nicht sauber hinterlassen wurde: Kathrin Jubileum ist wandelndes Büro, offenes Ohr und äußerst faire Schiedsrichterin in Personalunion. Die nötige Präsenz und den langen Atem dafür hat sie allemal. Und wenn es die Kunst erfordert, macht sie sogar den platten VW-Transporter einfach mit einer Fahrradluftpumpe wieder fahrtüchtig.
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Der Kunstverein EULENGASSE EULENGASSE ist ein Kunstverein in Frankfurt am Main, der Künstler*innen und Interessierten an zeitgenössischer Kunst und Kultur eine Plattform bietet und sich der Vermittlung zeitgenössischer Kunst widmet. Der 2003 von Künstler*innen gegründete Verein betreibt einen Ausstellungsraum im Stadtteil Bornheim und unterhält Arbeitsräume für seine rund 45 Mitglieder, zu denen Maler, Zeichner, Bildhauer, Grafiker, Fotografen, PerformanceKünstler, Videokünstler, Musiker, Schauspieler, Architekten und Designer zählen. Neben Ausstellungen organisiert EULENGASSE Diskussionen und Vorträge, Filmprogramme, Performances, Musikveranstaltungen und Exkursionen. Der Kunstverein bietet auf diese Weise verschiedene Arten, Kunst zur Diskussion zu stellen sowie Kontakte zwischen unterschiedlichen Künstler*innen und zwischen Künstler*innen und Öffentlichkeit herzustellen. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Förderung Frankfurter und Offenbacher Künstler*innen. Die Jahresprogramme werden regelmäßig unterstützt durch das Kulturamt der Stadt Frankfurt am Main.
Mittendrin: die Künstler*innen Paul Hirsch, Lilo C. Karsten, Daniel Scheffel und Rahulla Torabi. Ohne die kunstvermittelnden Fähigkeiten, die die vier Künstler*innen jede/r auf seine/ihre Weise in die Zusammenarbeit mit den Jugendlichen eingebracht haben, könnten wir hier nicht von den reichhaltigen positiven Erfahrungen aus diesem Kooperationsprojekt berichten. Kurzporträts der Künstler*innen finden sich in den Darstellungen ihrer Projekte.
R. Torabi, V. Combre de Sena, H. Etzemüller, S. Imhof, D. Scheffel, K. Jubileum, P. Väth (v.l.n.r.)
Eher im Hintergrund: Vor- und Nachbereitung Vládmir Combre de Sena Der Kommunikationsdesigner und Kulturmanager Vládmir Combre de Sena M.A. ist bei EULENGASSE zuständig für künstlerische Konzepte und Kuratierungen. Er hat das Projekt kuratiert und den Impuls zur Dokumentation der Kunstkooperation gegeben. Neben der Konzeption und Gestaltung der Publikation hat er während des Kooperationszeitraums in Form von Interviews mit den Jugendlichen deren Meinungen, Geschichten und Wünsche aufgenommen, die im EULENGASSE Kunst-Podcast als Folge veröffentlicht werden. Sabine Imhof Sabine Imhofs zentrales künstlerisches Medium ist die Fotografie. Mit versiertem Blick für Situation und Komposition hat die Filmwissenschaftlerin und neue Leiterin des Filmforum Höchst alle vier Kunstprojekte in der Bildhauerwerkstatt fotografisch festgehalten und für die eindrücklichen Bilder gesorgt, die in dieser Publikation zu sehen sind. Daniel Scheffel Daniel Scheffel hat alle EULENGASSE-Künstler*innen während ihrer Projekte in der Bildhauerwerkstatt besucht. Dabei hat der Bildende Künstler Gespräche mit Mitarbeiter*innen, Jugendlichen und den EULENGASSE-Künstler*innen geführt, Eindrücke gesammelt – auch während seines eigenen durchgeführten Kunstprojekts – und aus dem zusammengetragenen Material den Text für diese Publikation erarbeitet.
Die wichtigsten Beteiligten: die Jugendlichen In der Bildhauerwerkstatt schaffen straffällige Jugendliche unter künstlerischer und pädagogischer Begleitung Kunstwerke. Konkret ist die Arbeit der Bildhauerwerkstatt im Jugendgerichtsgesetz (JGG) begründet. Das Jugendgericht kann, um erneuten Straftaten von Jugendlichen entgegenzuwirken, den betreffenden Jugendlichen als Weisung auferlegen, »Arbeitsleistungen zu erbringen«. Die ›Arbeitsleistungen‹ sind die Sozialstunden, die die Jugendlichen in der Bildhauerwerkstatt ableisten, indem sie Kunstwerke schaffen. Die Jugendlichen werden der Bildhauerwerkstatt vom Jugendgericht zugewiesen. Die Jugendlichen – in einem relativ ausgewogenen Verhältnis von Mädchen und Jungen – stammen aus allen gesellschaftlichen Gruppen, allen möglichen Kulturen und Herkunftsländern. Die Straftaten der Jugendlichen, für die sie in der Bildhauerwerkstatt ihre Sozialstunden ableisten, reichen von Schulschwänzen, Fahren ohne Führerschein oder Schwarzfahren über Drogendelikte bis hin zu räuberischer Erpressung und schwerer Körperverletzung. Die Anzahl an abzuleistenden Sozialstunden reicht von zehn bis hin zu über hundert Stunden. Jugendliche, die in der Bildhauerwerkstatt ihre Sozialstunden ableisten, haben aufgrund ihrer Straftat(en) nicht selten auch weitere richterliche Auflagen zu erfüllen – und dies parallel zur Arbeit in der Bildhauerwerkstatt. Dazu gehören beispielsweise Drogenberatung, Anti-Aggressionstraining, Täter-Opfer-Ausgleich und andere Auflagen. Manche Jugendlichen kommen nicht zum ersten Mal in die Bildhauerwerkstatt. Wenn einige nach ihren abgeleisteten Sozialstunden noch einmal straffällig werden, sind sie nach entsprechendem richterlichen Beschluss wieder an der künstlerischen Werkbank tätig.
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Strukturen und Abläufe in der Bildhauerwerkstatt Bevor die Kunstprojekte der vier EULENGASSE-Künstler*innen vorgestellt werden, ist ein Eindruck des Umfeldes hilfreich, in dem das Gesamtprojekt durchgeführt wurde. Welche allgemeinen Abläufe, Strukturen und Regeln gibt es? Wie ist der Umgang zwischen Jugendlichen und Mitarbeiter*innen? Welche Atmosphären herrschen? Mit Aspekten wie diesen im Hinterkopf lassen sich die Kunstprojekte besser einordnen, Einzelheiten und Dynamiken werden besser verständlich und nachvollziehbarer. Zu diesem Zweck werden in violett hinterlegten Boxen, die über die Publikation verteilt sind, verschiedene Aspekte der Bildhauerwerkstatt dargestellt.
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Neu hier? Aufnahmegespräch Wenn Jugendliche neu in die Bildhauerwerkstatt kommen, werden sie zuerst von der zuständigen Sozialpädagogin empfangen. Sie klärt und notiert ›das Bürokratische‹, u.a. anhand der Formulare, die die Jugendlichen vom Jugendgericht mitbringen müssen, sowie anhand eines internen Fragebogens.
Ausstattung bedeutet Verantwortung Arbeiten mit Maschinen, Geräten und Materialien In der Bildhauerwerkstatt arbeiten die Jugendlichen mit hochwertigsten und teilweise nicht ungefährlichen Geräten und Maschinen. Neben noch vergleichsweise harmlosen Werkzeugen, wie etwa verschiedenen Hammer-, Meißel- und Beitelarten, sind darunter zahlreiche elektrische Geräte, wie beispielsweise Flex, Schweißgerät, elektrische Drechselbank, Stich-, Kreis- und Bandsäge, verschiedene Fräsen und Holzschleifgeräte sowie Bohrmaschinen. Einzig die Motorsäge und den Schweißbrenner darf ausschließlich der Künstler Kai Wolf bedienen. Ihn können die Jugendlichen jederzeit fragen, wenn er sie mit diesen Maschinen bei ihrer Arbeit unterstützen soll. 10
Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser Zur Arbeit bzw. dem pädagogischen Konzept in der Bildhauerwerkstatt gehört es, dass die Mitarbeiter*innen den Jugendlichen das Vertrauen entgegenbringen, mit der hochwertigen Werkstattausstattung verantwortungsvoll umzugehen – diese Verantwortung bekommen die Jugendlichen in Form der Geräte buchstäblich in die Hand. Für manche Jugendlichen kann schon dieses Vertrauen etwas Ungewohntes und Besonderes sein. In jedem Fall ist es eine entscheidende Basis dafür, dass die Zusammenarbeit aller in der Bildhauerwerkstatt gut funktioniert.
Ey, was geht? Und was geht gar nicht? Allgemeine Regeln in der Bildhauerwerkstatt Gemeinschaft erfordert gewisse Vereinbarungen. Diese gehen natürlich über Maschinen und Arbeitssicherheit hinaus. Deshalb müssen sich Jugendliche und Mitarbeiter*innen auch an allgemeine Regeln halten, damit ein sicheres, respektvolles und vertrauensvolles Miteinander gewährleistet werden kann.
Erst die Sicherheit, dann Arbeit und Vergnügen Um auch die Sicherheit zu gewährleisten, übernimmt Kai Wolf den zweiten Teil des Aufnahmegesprächs: Er erklärt jeder/m neuen Jugendlichen genau die Sicherheitsvorschriften zu Werkzeugen, Maschinen, Materialien und Arbeitsweisen. Die Einweisung in den Umgang mit Werkzeugen beinhaltet etwa, dass bei Stechbeitel und Co. immer vom Körper weg gearbeitet wird, genauso nie in die Richtung anderer Personen. Der Arbeitsschutz nimmt mit den größten Teil ein. Hierzu lernen die Jugendlichen beispielsweise, bei welchen Arbeiten welche Art von Schutzbrille zu tragen ist oder wo keine Brille gebraucht wird, dass einzig bei der Arbeit am Amboss Gehörschutz anzulegen ist, dass bei Steinbearbeitung allein beim Schleifen von Sandstein wegen dessen aggressiven Steinstaubs eine spezielle Maske getragen werden muss, oder dass beim Schweißen und Flexen wegen des Funkenflugs manche Alltagskleidung gar nicht und andere Alltagskleidung sehr wohl getragen werden kann. Natürlich liegen für alle Jugendlichen jederzeit entsprechende Schutzkleidungsstücke zum Drüberziehen wie z.B. Gamaschen oder Schürzen in der Bildhauerwerkstatt bereit.
Die Kunstprojekte der vier EULENGASSE-Künstler*innen Für die Jugendlichen war die Teilnahme an den Kunstprojekten der vier EULENGASSE-Künstler*innen nicht verpflichtend. Ganz im Gegenteil. Die jeweiligen Kunstprojekte wurden den Jugendlichen vorgestellt und dann entschieden sie sich selbst, ob sie die werkstatteigenen Kunstangebote nutzen oder sich lieber am jeweiligen Projekt beteiligen wollten.
Anmelden – abmelden Wer nicht kommen kann, kann zumindest eines: anrufen. Denn die Plätze sind begrenzt. Wenn hier mit jemandem gerechnet wird, die/der dann einfach nicht kommt, bleibt ein wertvoller Arbeitsplatz leer, für den sich so spontan kaum Ersatz herbeitelefonieren ließe. Gleiches gilt am Ende des Tages: Wer geht, gibt kurz Bescheid. Wer früher geht, erst recht. So lassen sich die geleisteten Sozialstunden auch richtig notieren. Für die einen sind solche Absprachen selbstverständlich, für die anderen (noch) nicht. So leistet die Bildhauerwerkstatt auch in puncto Verbindlichkeit und Verlässlichkeit gute pädagogische Dienste.
Post von der Jugend Das Kunstprojekt mit Lilo C. Karsten Lilo C. Karsten hatte Glück. An den beiden Nachmittagen ihres Kunstprojektes am 01. und 03. September 2020 war der Sommer noch nicht ganz vorbei und der Herbst stand noch nicht richtig in den Startlöchern. So konnte ihr Kunstprojekt draußen im Freien in offener Atmosphäre stattfinden: Neben der Bildhauerwerkstatt wurde ein großer Tisch aufgebaut. Hier arbeitete Lilo C. Karsten mit den Jugendlichen.
PAAAAAAUSE!!! Genau so ruft Kai Wolf einmal pro Stunde in die Bildhauerwerkstatt. Meistens jedenfalls, denn oft sind die Jugendlichen so in ihre Arbeiten vertieft, dass sie nicht an die Pausen denken. Dann ist Kai Wolfs Stimme gefordert, um den Lärm von Flex, Bandsäge & Co zu übertönen. Dass die Jugendlichen immer um ›zehn vor‹ zehn Minuten Pause machen müssen, hat vor allem Sicherheitsgründe: Während längerer Arbeit mit den Maschinen nimmt die Konzentration allmählich ab, so dass die Maschinen nachlässiger gehandhabt werden und leichter Unfälle passieren könnten. Die Einhaltung der Pausenzeiten ist also ein äußerst wirkungsvoller Unfallschutz. Danach kann es mit frischem Kopf weitergehen. Ach ja: Nach Möglichkeit sollte zum Essen auch nur die Pause genutzt werden. Getränke sind selbstverständlich durchgehend erlaubt.
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Der Kunsttisch war reich gedeckt DieKünstlerinhattefürihrProjektdieTechnikdesÜbermalensimGepäck: Sie hat unzählige Postkarten mitgebracht, die die Jugendlichen übermalen, überzeichnen bzw. malerisch und zeichnerisch ergänzen konnten. AuchMotiv-AusschnitteausZeitschriften,dieLiloC.Karsten dabei hatte, boten sich dafür bestens an. Zum Bearbeiten dieser Vorlagen standen den Jugendlichen Buntstifte, Bleistifte, Wachskreiden und Filzstifte zur Auswahl. Als Variante konnten die Jugendlichen die Postkartenvorlagen auch teilweise mit Klebeband bekleben und übermalen, so dass nach dem Abziehen des Klebebands die unbemalt gebliebenen Stellen wie ein Überraschungseffekt zum Vorschein kamen. Die grundsätzliche Technik des Übermalens bzw. Überzeichnens ist eine Arbeitsweise, die die Künstlerin auch selbst in ihrem eigenen Schaffensprozess regelmäßig anwendet. Freie Fahrt für Kopf und Stifte Das Projekt von Lilo C. Karsten hat den Jugendlichen viel Freiraum zur Ausgestaltung der Technik geboten. So waren Motive oder VorgehensweisennichtvorgegebenunddieJugendlichenkonntendiePostkarten und Magazinausschnitte ganz nach ihren eigenen Assoziationen, Vorstellungen und Themen überzeichnen und übermalen. Was die Stifte hergaben MancheJugendlichezeichnetenkonkreteMotivezudenBildvorlagen, andere kritzelten ganz entschieden mit gestisch-wildem Strich – vielleicht inspiriert durch eine ähnliche Arbeitsweise von Lilo C. Karsten. Und wieder andere knüpften an den eigentlichen Wesenskern von Postkarten an: Sie schrieben etwas über das abgebildete Kartenmotiv bzw. neben oder über ihre selbst ergänzten Zeichnungen. Freiraum für die Jugendlichen bestand auch darin, dass die Wahl der Stifte völlig freigestellt war, ebenso deren Kombination. Diese Voraussetzungen öffneten ein Experimentierfeld, das unterschiedlichste Werke hervorbrachte.
immer willkommen. Diesen Gestaltungsfreiraum hat eine Jugendliche mit einem so einfachen wie genialen Mittel ausgefüllt: Sie riss die Ecken bei einigen ihrer Postkartenvorlagen kurzerhand ab. Sie habe es einfach anders machen wollen als die anderen Jugendlichen, wie sie ganz entschieden dazu erklärte. Doofes Ergebnis, gute Erfahrung Ein Junge antwortete auf die Frage, wie er das Projekt fand, deutlich kritisch: Er habe es doof gefunden, dass beim Abziehen des Klebebandes das darunterliegende Motiv bzw. das Papier der Postkarten zum Teil kaputt gehe. So machen alle Jugendlichen ihre ganz eigenen Erfahrungen. Und dabei herauszufinden, was einem nicht zusagt, ist eine ebenso wichtige Erkenntnis.
Und was die Hände ergänzten
Manchmal kann Kunst mehr als nur Kunst
Selbstverständlich waren eigene Ideen der Jugendlichen für gänzlich andere Malmittel oder Bearbeitungsweisen der Postkarten
Nicht immer stand die Kunst im Fokus, manchmal wurde sie auch zum Rahmen. Dann nämlich, wenn Jugendliche spürten, dass alles stimmt: 16
Gegen Drogen hilft auch keine Pause Wenn offensichtlich ist, dass Jugendliche unter dem Einfluss von Drogen oder Alkohol stehen, können sie für diesen Tag nicht mitarbeiten. Denn unter solchen körperlichen Umständen können weder Maschinen sicher benutzt noch Regeln zuverlässig eingehalten werden. Eine wichtige Maßnahme, die letztlich dem Schutz aller dient. Am nächsten Tag darf die/der entsprechende Jugendliche natürlich wieder mitarbeiten – klarer Kopf vorausgesetzt.
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Lilo C. Karsten Lilo C. Karsten wurde 1956 in Wermsdorf/Sachsen geboren und studierte an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle/Saale. Zu ihren künstlerischen Medien gehören Malerei, Zeichnung, Fotografie und Installation. Seit ihrem Studium arbeitet Lilo C. Karsten national und international in Kunstprojekten mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen jeweils in verschiedenen Kontexten. Lilo C. Karsten lebt in Berlin.
Rauchen? Darf's höchstens am Schweißgerät Für Jugendliche und Mitarbeiter*innen gilt während der gesamten Arbeits- und Pausenzeit in der Bildhauerwerkstatt Rauchverbot. Schließlich hat das Rauchen lange seinen Stellenwert als gesellschaftlich anerkanntes Statement verloren und als bedenkenloser Genuss erst recht. Das soll den Jugendlichen mitgegeben werden. Aber natürlich sind sie nicht dumm und kennen die Realität bestens. Wie sagte da Kathrin Jubileum sehr verständnisvoll und ganz auf Augenhöhe zu einem Jugendlichen: »Mach's einfach wie ich: Steck die Zigaretten gar nicht erst ein, wenn Du zur Bildhauerwerkstatt gehst«. Glaubwürdige Pädagogik kommt eben nicht von oben herab.
die Leute, die Atmosphäre, die Gelegenheit. Dann begann die/der ein oder andere Jugendliche, auch etwas von sich selbst zu erzählen. Etwas mehr. Davon etwa, wie es zu Hause so war, oder wie Probleme zunahmen, wie man einfach nicht mehr weiter wusste. Und Lilo C. Karsten ist ein gutes, ein offenes und sehr empathisches Gegenüber: »Es ist so berührend, wenn die Kids ihre Schicksale erzählen und ich erlebe, wie schlecht es ihnen geht«. Aber die Kunst bietet Lichtblicke. So erfahrene Künstler*innen wie Lilo C. Karsten können sich auf die
positiven Erlebnisse und Auswirkungen in Verbindung mit ihrem jeweiligen künstlerischen Medium verlassen: »Ich finde es super, dass man den Kids dann wieder so viel geben kann«, fügt sie hinzu. Eine Jugendliche reagierte prompt: »Ich hatte am Anfang vom Kunstprojekt hier eine total schlechte Phase, aber dann mit Lilo hab' ich mich wieder ›sooooo‹ gefühlt!«. Dabei breitete sie beide Arme weit aus. So weit, als wolle sie die ganze positive Atmosphäre dieses Nachmittags ergreifen – und für immer festhalten.
Anziehungskraft für besondere Besucher*innen An den beiden Tagen des Kunstprojektes von Lilo C. Karsten herrschte eine lebhafte Stimmung am Kunsttisch im Freien. Manche Jugendlichen machten kontinuierlich mit, andere kamen nur zwischendurch dazu, um eine Postkarte zu gestalten. Es kamen sogar auch einige, die offensichtlich einfach nur einmal dabeisitzen wollten: Sie griffen das vorbereitete Angebot zwar nicht direkt auf, malten dafür aber eigene Motive auf auf weiße Blätter und bildeten ab bzw. schrieben dazu, was für sie wichtig ist: Marken ihrer Kleidungsstücke, ihre Lieblingsmusiker*innen und ähnliche Themen. Die Atmosphäre am großen Tisch von Lilo C. Karsten war also ganz offensichtlich so positiv, dass sich zeitweise auch solche Jugendlichen dazugesellten, die zuvor eher nicht mitmachen wollten. Könnte es einen positiveren Nebeneffekt solch eines Projektes geben? Einen klitzekleinen Anteil daran mag zwar auch die Tatsache gehabt haben, dass die Jugendlichen zur Teilnahme an Lilo C. Karstens Projekt die Halle verlassen durften, was sonst eigentlich nur zu den stündlichen Pausen vorgesehen ist. Aber das spielt am Ende keine Rolle mehr. Denn wenn durch vorherrschende Umstände noch mehr Jugendliche die Möglichkeit wahrnehmen, in Gemeinschaft zu sein, sich künstlerisch zu betätigen und sich dabei untereinander und mit der Künstlerin über Kunst und darüber hinaus auszutauschen, dann hat ein Projekt umso mehr ins Schwarze getroffen. Output: outstanding Wachskreiden und Stifte wurden beinahe pausenlos geschwungen. Und das Arbeiten auf kleinem Format trug dazu bei, dass Ergebnisse von den Jugendlichen oft rasch fertiggestellt werden konnten. Auch daran lag es, dass in Lilo C. Karstens Projekt die Kunstwerke der Jugendlichen regelrecht ›stapelweise‹ entstanden sind. Es ist mit Abstand das ertragreichste Projekt der vier EULENGASSE-Künstler*innen geworden.
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Wie Distanz für Nähe sorgt Das Kunstprojekt mit Rahulla Torabi Rahulla Torabi hatte überhaupt keinen Plan. Und das ganz bewusst: »Wenn man nicht weiß, was einen erwartet, kann man mit aller Freiheit schauen, was die Situation einem eröffnet«. Was Rahulla Torabi statt eines Plans dabei hatte, waren sein Auto, sein Material und seine Zuversicht. Also parkte er sein Auto vor der Bildhauerwerkstatt, nahm Material und Zuversicht unter den Arm und betrat die Halle. Und wen traf er da als allererstes? Genau: seinen Plan. Geht doch. Auf bewährte Herangehensweisen ist eben Verlass. »Das Thema hat sich in dem Moment entwickelt, als ich diesen Raum betrat und wir alle mit Masken dort standen«. Auf diese Weise wurde mit den Jugendlichen das Ideen-Motiv ›Distanz‹ geboren. Das haben Rahulla Torabi und die Jugendlichen zum Kernstück des Kunstprojektes gemacht und letztlich als Wort gebaut.
Musik sehr gerne, aber nur mit offenen Ohren Niemand darf in der Werkstatt zum Musikhören Kopfhörer in den Ohren haben. Das hat einen einfachen Grund: Wenn eine andere Person in eine gefährliche Lage geraten sollte und plötzlich nach Hilfe ruft, müssen dies alle hören können. Genauso muss jede/r hören können, wenn eine andere Person einen selbst vor einer unbemerkten Gefahrensituation warnt. Ganz allgemein ist es schlichtweg entscheidend, dass alle Jugendlichen jegliche Ansagen der Mitarbeiter*innen direkt verstehen – wozu nicht selten auch Kai Wolfs Pausenruf gehört ;-) Die Musik der Jugendlichen hat natürlich trotzdem ihren Platz in der Bildhauerwerkstatt: in der Musikanlage auf der ›Kücheninsel‹. Hier können die Jugendlichen abwechselnd ihre Handys anschließen und während der Arbeit in der Halle die Tracks aus ihren eigenen Playlists hören.
Zuerst war das Wort Die Gestaltung von Wortobjekten ist auch in Rahulla Torabis eigener künstlerischen Arbeit ein fester Bestandteil. Diese Worte baut er jedoch eher in seiner Muttersprache Paschtu. Für das Kunstprojekt war nun das Wort ›Distanz‹ gefunden. Welche Gestalt es konkret annimmt, konnte sich an sechs Nachmittagen im September 2020 entwickeln. Wer hat das Wort? Alle gemeinsam Für den Projektverlauf war eines ganz besonders charakteristisch: Rahulla Torabis Projekt war das einzige, in dem mehrere Jugendliche gemeinsam ein einziges Kunstwerk geschaffen haben. Dies geschah sozusagen in ›positivster Fluktuation‹: Jugendliche haben gesehen, dass dort ein offenes Projekt buchstäblich auf der Werkbank lag, kamen vorbei, haben sich an einem bestimmten Abschnitt beteiligt und gingen dann wieder. Es war fast immer eine andere Gruppenkonstellation, mal nur ein/e Jugendliche/r und mal mehrere, aber immer lief es Hand in Hand. Vom Wort zur Tat In den Köpfen stand das Wort ›Distanz‹, auf der Werkbank lagen jede Menge Holzleisten. Der besondere Gemeinschaftscharakter des Projektes eröffnete den Jugendlichen nun die Möglichkeit, sich gegenseitig die Bälle zuzuwerfen – ein gemeinsames spielerisches Herantasten begann: Aufgrund der Corona-Lage musste Abstand voneinander gehalten werden, dieses Thema drückt sich im gefundenen Wort ›Distanz‹ aus; könnte da nicht auch das Wort an sich aus Abständen und Distanzen bestehen? So bekam das Wort Gestalt – zuerst als Idee, und dann als Form: Die Buchstaben sollten nicht einfach flach sein, sondern sie sollten jeweils als dreidimensionale Form mit Tiefe, mit Distanz in sich selbst, entstehen.
Viel zu tun, wenig zu steuern Für die Jugendlichen galt es nun, mehrere Aspekte zu berücksichtigen: Wie hoch soll das Wort werden? Wie kann die Form der Buchstaben gestaltet werden? Und welche Position soll das Wort am Ende überhaupt haben? Soll es liegen, stehen, hängen? Rahulla Torabi musste die Jugendlichen kaum motivieren. Egal, ob es um Planerisches oder Handwerkliches ging, ob gerade nur ein/e Jugendliche/r oder gleich mehrere mitmachten: »Nach einer bestimmten Zeit hat sich gezeigt, wer was am besten kann, und das wurde respektiert«. Jeder brachte sich mit seinen jeweiligen Fähigkeiten ein. Dieses Vorgehen unter den beteiligten Jugendlichen war für Rahulla Torabi auch ganz persönlich ein sehr schönes Erlebnis. Und er ergänzte: »Diese Dynamik hat dazu beigetragen, dass das Kunstprojekt in einer sehr fröhlichen Arbeitsatmosphäre mit viel Spaß stattfand«.
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Handy-Verbot? LOL Doch. Denn Handy ist Alltag. Und genau der soll in der Bildhauerwerkstatt nicht einfach fortgesetzt werden. Das Besondere hier an den Werkbänken ist das analoge Arbeiten mit Stein, Metall und Holz. In diesem großen Unterschied zur oft digitalen Lebensrealität heutiger Jugendlicher steckt wichtiges Potenzial für neue Erfahrungen. In den stündlichen Pausen oder zum Abspielen von Musik über die Anlage dürfen Handys natürlich benutzt werden.
Projekt perfekt? Mit Sicherheit. Nicht zuletzt deshalb, weil gerade nicht alles so perfekt war. Und ein breiteres Spektrum an unterschiedlichen Stimmungen, Situationen oder Abläufen ist es, das derartige Projekte letztlich bereichert. Es läuft nicht, es rennt »Oft waren die Jugendlichen von ihrer eigenen Arbeit sehr begeistert, wollten mehr machen, mehr kreieren und waren sehr schnell«, berichtet Rahulla Torabi. So sagte beispielsweise eine beteiligte Jugendliche, dass ihr zum Wortobjekt ›Distanz‹ eine ergänzende Idee gekommen sei: Sie stellte sich vor, dass hinter das Wort ›Distanz‹ noch das Wort ›soziale‹ gebaut werden könnte – nicht nur, weil beide Worte inhaltlich als Gesamtbegriff gut zusammen passen, sondern weil es auch formal aufgrund der Buchstabenanzahl perfekt passt. Stimmt: Sieben Buchstaben bei ›soziale‹, sieben Buchstaben bei ›Distanz‹ – manchmal kommt Kunst eben 23
Rahulla Torabi Rahulla Torabi wurde 1965 in Kandahar/Afghanistan geboren und kam mit 17 Jahren nach Deutschland. Neben seinem erlernten Beruf des Automechanikers arbeitet er künstlerisch unter anderem in den Medien Zeichnung, Malerei, Collage, Fotografie und Objekt. Zudem gibt Rahulla Torabi künstlerische Workshops, zum Beispiel für Kinder sowie für Menschen mit Einschränkung. Er lebt in Frankfurt am Main.
nicht nur von Können, sondern auch von klugem Kombinieren. Dass sich diese Idee nicht umsetzen ließ, lag lediglich an der zu geringen Zeit, die kurz vor Ende des Kunstprojekts noch blieb. Es läuft... irgendwie Wie andere EULENGASSE-Künstler*innen hat auch Rahulla Torabi während seines Kunstprojekts die Erfahrung gemacht, dass die eigene Einschätzung von Projektabläufen manchmal nicht ganz zutreffen wollte. Die Einschätzung der Motivation der Jugendlichen zum Beispiel: War ein/e Jugendliche/r an einem Tag noch mit vollem Eifer am Kunstprojekt beteiligt, so hatte er/sie am nächsten Tag plötzlich überhaupt keine Lust mehr. Und genauso konnte es umgekehrt sein. »Es ist schwierig, die Begeisterung für seine eigene künstlerische Arbeit auch auf die Jugendlichen zu übertragen«, wie Rahulla Torabi sagt, und: »Man kann sich keine bestimmten Ziele setzen, z.B. wie ein Kunstwerk werden soll, sondern muss auf die Verfassung der Jugendlichen eingehen«.
Ein erlebter Verlauf kann unbewusst Bedenken bzw. Erwartungen für Kommendes auslösen. Aber das ist normal. Und normal ist auch: Es kommt ohnehin meistens anders. Wirklich Verlass ist eben oft nur auf die Unbeständigkeit. Gerade die Jugendlichen in der Bildhauerwerkstatt haben Hintergründe, die manches Verhalten nicht sofort nachvollziehbar machen. Daher sind Offenheit und Flexibilität entscheidende Arbeitsvoraussetzungen. Rahulla Torabi beherrscht beides. Richtfest Wie ging es mit dem Wortobjekt ›Distanz‹ weiter? Nachdem entschieden war, dass das Wort ein stehendes Objekt werden soll, übernahmen die Jugendlichen konkrete handwerkliche Arbeitsschritte: Es galt, Abstände zu messen, Markierungen auf den Holzleisten anzuzeichnen, die Leisten zuzusägen, grobe Stellen glatt zu schleifen. Die räumliche Tiefe in jedem der sieben Buchstaben wurde durch Abstandsstücke erreicht, die die Buchstaben nach hinten verlängert haben. Bei einer Buchstabenhöhe von etwa einem halben Meter war es hilfreich, einen verbindenden Unterbau zu konstruieren. Auf diesem wuchsen die verschiedenen Holzleisten mit Hilfe von Leim und Schrauben schließlich zu dem Wort ›Distanz‹ zusammen. Farbe bekennen Warum erhielt ein eher negativ besetztes Wort zu guter Letzt auch eine eher negativ besetzte Farbe? Weil das für Rahulla Torabi gar nicht so negativ ist – ganz im Gegenteil: »Schwarz ist meine Lieblingsfarbe«. Abgesehen davon passe sie hervorragend zu dem Wortobjekt, ja zu Schrift überhaupt, wie der Künstler erklärt. Als eine der klassischsten Schriftfarben ist sie wie keine andere ein Symbol für das Schreiben geworden, stehende Ausdrücke wie beispielsweise ›schwarz auf weiß‹ unterstreichen das für den Künstler. Es gibt darüber hinaus aber auch einen ganz banalen Grund für die schwarze Farbe: Sie deckt einfach am besten. Durch Themen wie diese haben die Jugendlichen auch Einblicke in individuelle Sichtweisen und Beweggründe eines Künstlers erhalten können. Eine Möglichkeit, die sich nicht jeden Tag eröffnet. So ergaben sich auch Gespräche darüber, welche Bedeutung Kunst hat, oder wie es ist, als Künstler zu arbeiten und wie das in der Gesellschaft ankommt. 24
Maske auf, Hut ab Das Kunstprojekt von Rahulla Torabi war nicht nur das einzige, in dem Jugendliche ein Gemeinschaftswerk geschaffen haben. Es war auch das einzige Projekt, das die Corona-Situation aufgriff, die während dieser Zeit bestand. Die entsprechende Idee zum Werk wurde mit den Jugendlichen entwickelt und das Wortobjekt wurde im Projektzeitraum von den Jugendlichen zusammen fertiggestellt. ›Distanz‹ hat es möglich gemacht, dass mehrere Jugendliche an etwas Gemeinsamem gearbeitet haben. Distanz, die verbindet – auch über den Corona-bedingten Mindestabstand hinweg.
Kreatives Chaos, aber ordentlich Aufräumen. Wer damit Spaß und Freude verbindet, gehört sicherlich zu einer Minderheit. Aber nirgends ist Ordnung so wichtig wie an Arbeitsplätzen mit Werkzeugen und Maschinen – besonders dann, wenn sich täglich immer andere Personen die Geräte teilen müssen. Deshalb gilt in der Bildhauerwerkstatt: Wer am Ende eines Tages geht, verlässt seinen Arbeitsplatz sauber und räumt alles zurück an seinen Ort. Schließlich muss es am nächsten Tag auch von anderen wieder gefunden werden können. Soweit die Idealvorstellung. Und diese wird auch berücksichtigt. Naja, meistens jedenfalls. 25
Vom Holzhocker zum Planetensystem und zurück Das Kunstprojekt mit Paul Hirsch Paul Hirsch hatte vor Projektbeginn eigentlich einen anderen Plan. Mit den Jugendlichen wollte er Hocker aus Holz bauen. ›Ihren eigenen Hocker‹ – den sollten die Jugendlichen später mit nach Hause nehmen können, um etwas Praktisches und Bleibendes vom gemeinsamen Kunstprojekt zu haben. Diese Projektidee war gut. Doch daraufhin informierte die JKWF die EULENGASSE-Künstler*innen: Gefertigte Arbeiten der Jugendlichen werden aufgrund des Gemeinnützigkeitsaspekts der Maßnahme immer der Bildhauerwerkstatt zwecks Ausstellung und Verkauf überlassen, um so die Werkstatt mit zu finanzieren.
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Waffen: No go Das sollte eigentlich klar sein. Und die Gründe dafür in diesem pädagogischen Setting ebenso. Seltenste Ausnahmen bestätigen aber auch hier die Regel. Diese gilt übrigens nicht nur für mitgebrachte Waffen, sondern auch für solche, die in der Bildhauerwerkstatt angefertigt werden. So entstand während der Zeit der Kunstkooperation ein geflexter langer Metallsäbel. Dieser wurde jedoch nach verständnisvollem Gespräch einvernehmlich zum Schwanz eines großen FlugDinosauriers umfunktioniert, welcher nun friedlich durch die Bildhauerwerkstatt schwebt.
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Umdenken #1 Was nun? Für seine vier Projekttage Ende September 2020 hat Paul Hirsch seine Idee angepasst. Anstelle von Hockern sah sein Konzept nun flache Sitze vor – aber auch diese aus Holz. Denn Holz ist Paul Hirschs ›Spezialmaterial‹, mit dem er bereits seit fast 20 Jahren als Künstler bildhauerisch arbeitet. Daher kann er sein großes Wissen dazu im Projekt auch bestens an die Jugendlichen weitergeben. Ausgerüstet mit dem Konzept flacher Holzsitze und jeder Menge Vorfreude und Tatendrang kam Paul Hirsch schließlich in die Bildhauerwerkstatt. Das Problem war nur: Es kamen kaum Jugendliche in die Bildhauerwerkstatt. Und es kam kaum Interesse. Besonders Ersteres war vorher nicht absehbar. »Es gibt solche Phasen. Leider.«, sagte Kathrin Jubileum. Einige Jugendliche sind krank, Neuzugänge verschieben sich – und manchmal kommen einfach mehrere solcher Eventualitäten zusammen. Das war genau jetzt der Fall. Umdenken #2 Also erneut die Frage: Was nun? Und die JKWF-bewährte Antwort: Schauen, was von den Jugendlichen kommt. Oder besser gesagt, von dem einen Jugendlichen, der da war. Und der kam auf eine ganz andere Idee: ein Planetensystem. Doch Paul Hirsch wäre nicht seit 20 Jahren Holzbildhauer, wenn ihn nun ein Planetensystem aus Holz aus der Bahn werfen würde. Also wurde gemeinsam besprochen, wie das hölzerne Planetensystem am besten anzugehen ist. Am Anfang vielleicht einen Planeten als Zentrum? Der Jugendliche fand das gut. Paul Hirsch brachte einen Holzklotz mit der Motorsäge grob in eine kugelähnliche Form, der Jugendliche arbeitete diese anschließend mit Hammer und Beitel feiner aus, damit daraus der erste Planet werden konnte. Diesem sollten dann weitere folgen. Paul Hirsch beschrieb seine Erfahrungen: »Dranbleiben ist für viele schwer«. Viele brauchen relativ schnell weitere kleine Erfolgserlebnisse. Das heißt, ein Fertigungsprozess muss in überschaubare Schritte unterteilt sein.
Abschlussgespräch mit Jugendlichen Früher oder später hat jede/r Jugendliche die letzte Sozialstunde abgeleistet. Dann lässt das Team gemeinsam mit dem/der Jugendlichen die Zeit noch einmal Revue passieren. Beim gemeinsamen Gang durch das riesige Lager aller Kunstwerke wird geschaut, welche Werke der/ die Jugendliche über die Zeit geschaffen hat. Alles Selbstgemachte das erste Mal komplett vor sich zu sehen, ist mitunter ein berührender Moment. Und es taucht auch schon mal eine selbstgeschaffene Arbeit auf, die für den/die Künstler*in schon völlig in Vergessenheit geraten war. Wie war es, an diesem oder jenem Stück zu arbeiten? Mit welchem Material hat die Arbeit am meisten Spaß gemacht, mit welchem am wenigsten? Und warum? Könnte die Bildhauerwerkstatt irgendwas verbessern? Je nach Persönlichkeit bleiben manche Jugendlichen bis zum Schluss eher einsilbig, andere tauschen sich sehr ausgiebig aus. In jedem Fall sorgt das Team gemeinsam mit jeder/m Jugendlichen dafür, ein wertschätzendes Abschlusspäckchen zu schnüren: gute Einsichten und wichtige Erkenntnisse für die Zukunft direkt zum Mitnehmen.
Wer ›Planet A‹ sagt, muss nicht ›Planet B‹ sagen Was aus diesem ersten Planeten wurde? Schwer zu sagen. Das wissen weder Paul noch der Jugendliche, weder Kai Wolf noch Kathrin Jubileum. Denn der Jugendliche kam zwischenzeitlich nicht, Paul Hirschs Projektzeitraum war dann jedoch beendet. So geht es schon mal dem ein oder anderen begonnenen Kunstwerk in der Bildhauerwerkstatt: Nicht alles wird fertig, wenn die/der entsprechende Jugendliche ihre/seine letzte Sozialstunde fertig abgeleistet hat. Und nicht jedes begonnene Kunstwerk findet danach andere Jugendliche, die sich seiner annehmen und daran weiterarbeiten oder es zu etwas Neuem machen. So kreist der angefangene Planet nun möglicherweise durch die ein oder andere Holzrestekiste in der Bildhauerwerkstatt. Oder er zieht seine Bahnen bereits in einem gänzlich anderen Universum, in dem er am Ende hoffentlich doch noch sein passendes Planetensystem gefunden hat. Die Kunstwelt – unendliche Weiten. 29
Paul Hirsch Paul Hirsch wurde 1958 in Niedermohr geboren. Nach einer Promotion in Philosophie und einer künstlerischen Ausbildung an der Europäischen Kunstakademie in Trier ist er seit 2002 freiberuflich als Bildhauer tätig. Zusätzlich zu seinem künstlerischen Schaffen hält Paul Hirsch Kunstvorträge, berät virtuelle Präsentationsprojekte und ist in verschiedenen Kunstbeiräten und Jurys tätig. Er lebt in Weiterstadt und Frankfurt am Main.
Eine Begegnung der ungewöhnlicheren Art Wenn Paul Hirschs Kunstprojekt auch von der Beteiligung her eher schleppend anlief, so ergab sich auf Ebene der Kommunikation umso mehr Bewegung. Was Corona verborgen hielt Corona-bedingt war der Mund-Nasenschutz Pflicht. Aber wenn man sich hier in der Bildhauerwerkstatt täglich mit neuen Jugendlichen austauscht, ist es schön, auch einmal zu wissen, wie das Gegenüber ohne Maske aussieht. »Damit jeder von beiden weiß, mit wem er zusammenarbeitet. Und zum besseren Beziehungsaufbau«, wie Paul Hirsch ganz treffend sagte. So hat er dann auch einem Jugendlichen während der gemeinsamen Unterhaltung ganz selbstverständlich vorgeschlagen, dass beide einfach einmal kurz ihre Maske abnehmen. Mit dem, was er damit hervorrief, konnte Paul Hirsch allerdings in keinster Weise rechnen: Der Jugendliche nahm die Maske ab, aber nicht nur die. Er griff hinter seinen Kopf, löste seinen Zopf und warf sich daraufhin mit wallendem Haar und ganzem Körpereinsatz vor Paul Hirsch regelrecht in Pose: »So seh‘ ich wirklich aus!«. Perplex? Exakt Stille. Sprachlosigkeit. Bei Paul Hirsch. Wie reagieren auf diese Überraschung? Am besten ganz selbstverständlich: »Ah, ähm... cool!«. Später erklärten Kathrin Jubileum und Kai Wolf, dass Paul Hirsch mit dem Thema ›Körper‹ zufällig genau den Aspekt des Jugendlichen angesprochen hatte, über den dieser sich sehr stark definiert. So kann sich eine gemeinsame Ebene zwischen Künstler und Jugendlichem manchmal auch durch völlig unerwartete Verläufe ergeben. Und die Holzsitze? Der vorletzte Tag – ein neuer Jugendlicher. Dieser konnte sich vorstellen, einen Holzsitz zu gestalten. Endlich. Paul Hirsch schaute gemeinsam mit ihm im großen Materialfundus nach einem passenden Stück Holz. Es fand sich ein sitzgerechtes, also etwa Po-breites Stück. Dieses war nun in Form zu bringen und mit einer Sitzmulde zu versehen. Dazu erklärte Paul Hirsch den Einsatz von Hammer und Beitel. Dank der Anleitung höhlte der Jugendliche Stück für Stück die Rohform des Sitzes aus, um eine möglichst ergonomische Mulde zu schaffen.
Der Jugendliche ist beschäftigt
Höhere Gewalt? Gibt's auch bei Kunst mit Straftäter*innen
Der Jugendliche war der einzige an diesem Tag. Und er arbeitete selbständig. Zwar ging Paul Hirsch ab und an zu ihm und gab Input, wenn es erforderlich war, meist war es das jedoch nicht. In Situationen wie diesen zeigt sich ein anderer Aspekt solcher und ähnlicher Projekte: Wenn es läuft, lässt man es idealerweise laufen. Schließlich gehört es nicht zum Wesen entsprechender Projekte, dass Teilnehmenden möglichst viel von außen beigebracht wird, sondern dass sie in erster Linie möglichst viel von selbst bewirken, erfahren, erfühlen.
Paul Hirsch befand sich in einer Ausnahmesituation: Außer an einem einzigen Tag war an jedem seiner Projekttage jeweils nur ein einziger Jugendlicher in der Bildhauerwerkstatt. Noch dazu war das immer ein anderer Jugendlicher, so dass sich keine kontinuierlichen Arbeitsprozesse ergeben konnten. Paul Hirsch hätte sich sehr gern viel mehr engagiert: »Ich hätt' gern fünf oder sechs Jugendliche zum Anleiten hier!«. Wenn es darauf angekommen wäre, hätte er sogar gleichzeitig neun oder zehn Jugendliche bestens betreuen können. Allein die Umstände waren nicht auf seiner Seite. Zumindest dieses Mal.
Der Künstler ist ›arbeitslos‹ Für den/die Künstler*in heißt das: Man hat zeitweise kaum zu tun. Klingt super? Ist es aber meist nicht. Was tut man stattdessen? Langsam in der Halle herumgehen, auf die Uhr schauen, sich umschauen, neun Mal angesehene Dinge ein zehntes Mal ansehen. Manchmal können solche Phasen frustrierend, lähmend – im besten Fall noch langweilig sein. Wer schone eigene Projekte durchgeführt hat, kennt das und weiß aber gleichzeitig, dass dies manchmal einfach dazu gehört. »Man ist nicht wirklich überlastet«. Diese entsprechende Aussage von Paul Hirsch kann vor dem genannten Hintergrund nun auch nicht mehr falsch verstanden werden.
Auf Du und Du oder auf Abstand: Umgang und Interaktion der Jugendlichen Einer der ersten Eindrücke, die die vier EULENGASSE-Künstler*innen von den Jugendlichen bekamen, war sicherlich der, wie offen bzw. interessiert oder verschlossen bzw. zurückhaltend die Jugendlichen gewesen sind. Gelegenheiten, dies wahrzunehmen, gab es kontinuierlich: ob in beiläufigen oder ganz gezielten Momenten, ob bei ihrer künstlerischen Arbeit mit den Jugendlichen oder ganz unabhängig vom eigenen Kunstprojekt.
Versöhnlicher Abschluss Am letzten Tag fand Paul Hirschs Projektangebot dann doch noch einen recht positiven Abschluss: Es waren zwischen vier und fünf Jugendliche vor Ort, es fanden Gespräche statt, es war Leben da – und die Atmosphäre in der Halle war gleich eine ganz andere: »Es ist total toll – komplett anders als die anderen Tage!«. Zwar wurde der Jugendliche, der am Vortag den Holzsitz begonnen hatte, nicht mehr fertig, aber es war gut, am Ende den positiven Grundeindruck des letzten Tages mitnehmen zu können.
Halber Adler mit Einfamilienhaus und Lippenstift Das Kunstprojekt mit Daniel Scheffel Der erste Tag schien es gleich darauf anlegen zu wollen: Niemand malte. Den ganzen Tag nicht. Dabei hatte Daniel Scheffel für sein Kunstprojekt alles auf einer Werkbank aufgebaut. Was war los? Ein Jugendlicher sagte: »Malen kann ich auch zu Hause«. Ein plausibler Standpunkt. Eine Jugendliche meinte: »Ich will erst mein Vogelhäuschen bauen, aber dann mach‘ ich mit beim Malen«. Ein Lichtblick. Am Ende hat sich allerdings das Vogelhäuschen durchgesetzt. Zumindest an diesem ersten Tag.
Einfach mal nachgefragt Ein Jugendlicher schweißte. Fragte man ihn, wie das geht, bekam man beinahe eine Kompletteinführung in Materialkunde und sämtliche Arbeitsschritte. Er hat sich sichtlich gefreut, sein hier erworbenes Wissen vermitteln zu können. Solche Momente sind eine schöne und letztlich augenöffnende Erfahrung: Schon durch schlichtes – aber stets ernstgemeintes! – Nachfragen lässt sich dazu beitragen, die Jugendlichen Anerkennung und Selbstwert erleben zu lassen. Wurde dagegen anderntags ein Jugendlicher – ebenfalls beim Schweißen – gefragt, ob man nur bestimmte Metalle miteinander verschweißen könne, sagte er nur sehr kurz und eher distanziert etwas dazu. Und beim Ansprechen wiederum eines anderen Jugendlichen, der in der Pause allein auf einer Bank saß, kam kaum eine Antwort zurück. Und wenn, dann war sie so kurz und leise, dass es nicht zu verstehen war. Selbstverständlich gingen Jugendliche auch von sich aus auf die EULENGASSE-Künstler*innen zu. Sie fragten sie beispielsweise, welche Art von Kunst sie machen, ob sie davon leben können u. ä. Gesprächseinstiege wie solche waren echte Einladungen, denn sie basierten auf dem eigenen Interesse der Jugendlichen, woraufhin sich vielschichtige Austausche ergeben konnten.
Zwei Angebote: Malerei und Collage Daniel Scheffels Kunstprojekt fand an sechs Nachmittagen im Oktober 2020 statt und war zweigeteilt: An den ersten drei Projekttagen bot er Acrylmalerei auf Leinwand an, an den letzten drei Projekttagen das Medium Collage. Beides sind Techniken, die der Künstler selbst seit jeher in seiner eigenen künstlerischen Arbeit anwendet. Aber was tun, wenn die Acrylmalerei heute einfach nicht ankommt? Am besten schauen, was in der Bildhauerwerkstatt sonst so passiert: Zwei neue Jugendliche kamen zu ihrem ersten Tag. Sie wurden von Kathrin Jubileum über das Organisatorische informiert und von Kai Wolf mit Arbeitsplätzen, Geräten und Sicherheitsbestimmungen vertraut gemacht. Malen mit Acrylfarben? Wollten allerdings auch die beiden Neuen nicht. Acrylmalerei: einmal mit Handbremse, einmal mit Turbo Wenn zwei Personen das gleiche Material in die Hand bekommen, kommt eigentlich nie das Gleiche heraus. Binsenweisheit. Die zwei folgenden Beispiele zeigen, welch große Unterschiede es in Herangehensweise und Motivgestaltung gab. Die erste Jugendliche An Daniel Scheffels zweitem Projekttag war das Vogelhäuschen des Mädchens zwar noch nicht ganz fertig, dafür aber das Mädchen umso mehr mit dem Vogelhäuschen. Also beste Voraussetzungen zum Malen. Daniel Scheffel hatte für die Acrylmalerei zwei Anregungen für diejenigen dabei, denen eventuell nichts einfällt: Die komplexere Anregung war das Kennenlernen der Gesichtsaufteilung beim (Selbst-)Portrait. Die einfachere Anregung war es, Klebeband auf die leere Leinwand zu kleben, die Leinwand inklusive der Klebebänder mit Farbe(n) zu bemalen und dann die Klebebänder wieder abzuziehen und den Effekt zu erleben – zufällig das gleiche Prinzip, das auch Lilo C. Karsten bei den Übermalungen der Postkarten anbot. Schwierige Entscheidungen Die Jugendliche entschied sich für die Anregung mit den Klebebändern. Die Entscheidungen zu Leinwandgröße und Motiv allerdings stellten die Jugendliche vor die Qual der vielen Wahlen. Nach längerem Wechsel zwischen Überlegen, Entscheiden, Zögern und Verwer-
fen war beides entschieden. Die Jugendliche beließ es dann jedoch nicht beim einfachen Übermalen der Klebebänder: Sie klebte sie planvoll an bestimmte Stellen und malte eine Landschaft mit Sonnenuntergang darüber. Nach dem Abziehen der Klebebänder ergaben deren Leerstellen eine Horizontlinie und eine Himmelsstruktur. Nach dem anfänglichen Zögern entpuppte sich dies als innovative eigenständige Weitergestaltung. Die 34
abstrakte Bildstruktur animierte die Jugendliche zu einem weiteren Bild. Diesem widmete sie sich genau so selbständig wie dem ersten. Also besser nicht stören... Die zweite Jugendliche Im Gegensatz zur ersten kannte die zweite Jugendliche weder Überlegen noch Nachfragen. Sie war keine Frau großer Worte: Sie nahm direkt die größte Leinwand: 1m x 80cm, die dunkelste Farbe: schwarz, und mit das klassischste Motiv: Haus. Erst hatte das schwarze Haus Fenster und Tür. Die Sonne wurde gelb, das Gras wurde grün. Doch dabei blieb es nicht, denn plötzlich verschwanden die Fenster hinter einer braunen Masse. Und direkt danach verschwand auf gleiche Weise auch die Haustür. Es blieb: die braune Form eines Hauses auf Gras mit Sonne: »Fertig«. Doch auch dabei sollte es nicht bleiben. Da geht noch was Daran, dass sich das Bild noch weiter veränderte, war Daniel Scheffel nicht ganz unbeteiligt. Warum? Weil die Jugendlichen hier sind, um durch künstlerische Medien neue Erfahrungen zu machen. Und weil die vier EULENGASSE-Künstler*innen hier sind, um dies zu unterstützen. Also war das Bild – vorausgesetzt natürlich, die Jugendliche würde keinen all zu großen Widerstand leisten – nicht fertig. Weder aus künstlerischer Sicht, noch aus pädagogischer Sicht: Aus künstlerischer Sicht bewies die Jugendliche bis hierhin viel zu viel Spontanität und Entschlossenheit, als dass das bisherige Bild einfach in seinem vergleichsweise ›lieben‹ Zustand belassen werden konnte. Und: Gute Kunst ist nicht lieb. Aus pädagogischer Sicht ist die Entscheidung der Jugendlichen, wann das Bild fertig ist, zu respektieren. Doch gegen die Möglichkeit, diese Entscheidung gemeinsam abzuklopfen bzw. weiterzuentwickeln, sprach nichts. Auch nicht die Jugendliche. Das Wichtigste jedoch: Die letzte Entscheidung liegt immer bei ihr.
Daniel Scheffel Daniel Scheffel wurde 1977 in Gelnhausen geboren. Als freischaffender Bildender Künstler arbeitet er vorwiegend in den Medien Collage und Malerei. Darüber hinaus gestaltet er künstlerische Angebote in sozialen Feldern – beispielsweise mit Menschen mit Demenz, ist Dozent an der Frankfurter Malakademie e.V. und freiberuflicher Texter. Daniel Scheffel lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.
Ob unter sich oder gegenüber Mitarbeiter*innen: Von offen bis verschlossen ist alles dabei Aktiv und offen Manche Jugendlichen kannten sich schon vorher privat, andere freundeten sich hier in der Bildhauerwerkstatt an oder sind einfach offen für den Austausch mit den anderen; sie helfen einander bei der Herstellung ihrer Kunstwerke oder verbringen die Pausen gemeinsam. Manche tun sich auch von sich aus zusammen, um gemeinsam künstlerische Arbeiten zu gestalten. Bei ruhigen Konstellationen kann sich solch gemeinsames Agieren positiv auswirken, auch auf die Gruppe, aber eher aktivere Jugendliche putschen sich auch gerne mal gegenseitig auf, wie Kathrin Jubileum aus Erfahrung zu berichten weiß.
Wimmelbild mit Lippenstift – die erste Jugendliche
Rasante Bildentwicklung – beinahe in Echtzeit Es lief in etwa so ab: »Könntest Du Dir vorstellen, dass der Himmel im Hintergrund nicht die weiße Leinwand bleibt, sondern auch eine Farbe bekommt?« »Ja. Blau«. Und sofort wurde der Hintergrund blau. Sogar mit etwas Grau. Und Braun. »Jetzt hast Du die Bildelemente schon mehr zusammengebracht. Aber... irgendwie ist die Sonne jetzt etwas zu gelb, oder? Wie wäre es für Dich, auch die Sonne zu übermalen?« Ein kurzer fragender Blick – und Daniel Scheffels Antwort: »Nur, wenn Du es ok findest. Wenn nicht, malst Du sie dann einfach wieder drauf«. Daraufhin verschwand die Sonne. Sie wurde nicht wieder draufgemalt. Danach sauste der Pinsel der Jugendlichen noch spontan in die weiße Farbe und garnierte den Hintergrund mit ein paar letzten weißen Schlieren. »Wie kommt's?« »Weiß nicht. Sieht gut aus«. Sie war eben keine Frau großer Worte: »Fertig«. Collage – jetzt wird geklebt Halbzeit: Nach den ersten drei Terminen mit Acrylmalerei bereitete Daniel Scheffel am vierten Nachmittag nun den Tisch für Collage vor. Collagen konnten entweder auf Papier oder aber auf die Leinwände geklebt werden, die vom Malen übrig waren.
Die erste Jugendliche nahm sich eine große Leinwand und sagte, sie wolle sie komplette mit kleinen Motiven übersäen. Dazu suchte sie sich Papierelemente aus den bereitliegenden Zeitschriften und Magazinen, schnitt die ersten bereits aus und legte direkt mit dem Aufkleben los und schon war das Bild fertig. Nein, natürlich nicht. Aber so wirkte es: Die Jugendliche ging ganz unbekümmert und ohne Zögern an die Sache heran. War sie entschlossen oder kurzentschlossen? Wusste sie, dass das Übersäen einer solchen Fläche Geduld und Ausdauer erfordert? Daniel Scheffel wusste es aus anderen Projekten: Viele merken plötzlich, dass so etwas ja lange dauert, anstrengend ist, und dass bald die anfängliche Lust schwindet. Davon war bei der Jugendlichen in der Bildhauerwerkstatt nichts zu spüren. Auch nicht am folgenden Termin. Die Collage wuchs, Daniel Scheffel fragte kurz nach: »Hast Du dabei einen Plan, ein Konzept? Oder spielen die Bildelemente, die Du aufklebst, für Dich eher keine größere Rolle?«. Fröhlich antwortete sie: »Das sind alles Sachen, die mir wichtig sind und die ich mag, oder wir, also mit meinen Freundinnen«. Demnach ein ganz persönliches Werk. Es beinhaltet Elemente von Mode und Lifestyle über Hobbys und Freizeit bis hin zu Liebe und Beziehung. Die Collage versprach großartig zu werden. Am nächsten Termin war sie es. Zwei Fliegen mit einem Titel Ein fertiggestelltes Werk zeugt ohnehin von bewusster Auseinandersetzung. Aber oft lässt sich dazu noch das i-Tüpfelchen ergänzen: »Wenn Du magst, könntest Du noch über einen Titel für Deine Collage nachdenken«. Zudem bietet ein Titel vor dem Hintergrund, dass die Künstler*innen straffällige Jugendliche sind, später bei der Verkaufsausstellung einen noch einladenderen Zugang für Interessierte. Das i-Tüpfelchen kam wie aus der Pistole geschossen: »Ich und meine Persönlichkeit«. Damit hatte sie ihr Collage-Thema bestens getroffen. Und ein i-Tüpfelchen hat die Künstlerin auch selbst in ihr Werk eingebaut: Sie hat die Collage nicht nur auf der Rückseite ›signiert‹ – viel Spaß beim Suchen auf Seite 44 :-)
Zwei Mädchen, zwei Collage-Welten Ein Adler als Relief – die zweite Jugendliche Zwei Mädchen hatten heute ihren ersten Tag in der Bildhauerwerkstatt und stiegen direkt bei Daniel Scheffels Collage-Projekt ein. Die erste Jugendliche interpretierte Collage relativ klassisch, die zweite auf völlig eigene Art.
Ebenso schnell wie die erste hatte auch die zweite Jugendliche eine genaue Idee, was sie machen wollte, nur eben eine völlig andere: Sie wollte einen Adler aus der Leinwand kommen lassen. Ihr Plan sah vor, die vordere Körperhälfte des Adlers regelrecht zu modellieren und ihn beinahe schon wie ein objektartiges Relief auf die Leinwand zu kleben. 36
Dies war zwar eine radikale Umdeutung klassischer Collage-Technik, aber wenn vorhandenes Material die Jugendlichen zu eigenen Ideen inspiriert, ist dies letztlich die beste Ausgestaltung eines solchen Projekts. Die Jugendliche klang so, als wüsste sie sehr gut, was sie vorhat. Sie arbeitete sehr selbständig und konstant, redete nicht viel und nicht mit vielen und war konzentriert und ruhig bei der Sache. So lagen schon bald aus Zeitung und Leim modelliert der Schnabel und ein Fuß des Adlers zum Trocknen auf dem Tisch. Die vordere Körperhälfte des Adlers entstand dann in Etappen. Jackson Pollock lässt grüßen Die Leinwand für den Adler-Hintergrund wollte die Jugendliche mit Farbspritzern aus einem durchlöcherten Gefäß gestalten. Gesagt, getan: Gemeinsam wurde an einer Stange eine durchlöcherte mit Farbe gefüllte PET-Flasche befestigt und das Dripping nahm seinen Lauf. Weil die Jugendliche Jackson Pollock noch nicht kannte, ließ sich das Collage-Projekt an dieser Stelle anhand von InternetBildern am Handy auch ein klein wenig mit kunsttheoretischem Wissen ergänzen. Wenn Adler fliegen lernen Ob es schon Pläne für die nähere oder weitere Zukunft gebe, fragte Daniel Scheffel, vielleicht etwas Kreatives? Die Jugendliche erzählte, sie wolle gern Architektur studieren. Ihr Ziel nach dem Studium sei es, selbständig zu arbeiten und ein eigenes Büro zu gründen. Klare Worte, ruhig und bedacht gesprochen. Sie wisse mittlerweile aus einem Angestelltenverhältnis, dass eine Arbeitnehmerposition auf Dauer nicht das Richtige für sie sei. Sie wolle frei sein, frei von Arbeitgeberanweisungen, frei von starren Strukturen. Einfach frei. Ihr Adlerrelief wurde zwar innerhalb Daniel Scheffels regulärem Projektzeitraum noch nicht fertig, die Jugendliche arbeitete aber danach weiter an ihrem Werk. Ihr ist zu wünschen, dass sich ihr so klar fokussierter beruflicher Traum erfüllt. Seine Flügel ausgebreitet hat er dazu bereits, der Adler, der sich bald in die Lüfte schwingt – und dann endlich in die Freiheit fliegen kann. Bis jetzt nur Mädchen ... und dann kam noch ein Junge. Der letzte Projekttag, die letzte Leinwand – ein Jugendlicher nutze die Gelegenheit, um eine Manga-Figur zu zeichnen. Nicht in erster Linie, weil das Zeichnen für ihn im Fokus 37
Ruhig und bedacht Es gab auch Jugendliche, die weniger gesellig waren. Sie arbeiteten grundsätzlich allein an ihren Kunstwerken, sprachen nur gelegentlich einmal mit Mitarbeiter*innen oder anderen Jugendlichen bzw. halfen sich eher im Stillen – sie arrangierten sich auf ihre Art mit der Situation, wirkten dabei genauso zufrieden wie die eher aktiveren, nur äußerte sich das hier eben anders. Jede/r macht einfach auf die eigene Art sein Ding.
stand, sondern weil eine Klebeverbindung seiner Holzarbeit am Nebentisch trocknen musste. Diese Wartezeit wollte der Jugendliche mit Zeichnen füllen. So bewusst er sich die Zeit für seine Arbeitsabläufe plante, so bewusst ging er auch mit dem Zeichnen um: Die Figur sei formal sehr gut gelungen, er habe sie aber zu tief platziert, so dass die Beine nicht mehr vollständig auf die Leinwand passten. Das ärgerte ihn. Daniel Scheffel schlug eine Alternative vor: »Könntest Du die Figur auch kniend zeichnen? Dann müssten die Beine nicht weiter nach unten reichen?« Hier zeigten sich allerdings Daniel Scheffels Grenzen seiner ohnehin kaum existierenden Manga-Kenntnisse: »Das geht nicht, an den Stiefeln der Figur sind wichtige Elemente, auf die es ankommt, die müssen zu sehen sein«. Das Bild blieb zunächst unvollendet, Daniel Scheffels Projektzeitraum dagegen war nun zu Ende. Die Manga-Figur wurde jedoch später von dem Jugendlichen weiter bearbeitet. Auch dabei sei er sehr kritisch mit sich gewesen, wie Kathrin Jubileum sich erinnerte.
Blicke hinter die Kulissen: Individuelle Lebenslagen von Jugendlichen Viele Persönlichkeiten, eine Erkenntnis Selbstverständlich lassen sich nicht alle Jugendlichen in die wenigen erwähnten Eindrücke pressen. Vielmehr zeigen diese ausschnitthaften Schilderungen eine Bandbreite an Zugänglichkeiten auf, die bei den Jugendlichen wahrzunehmen war und mit der die vier EULENGASSEKünstler*innen auf ihre Art und Weise einen Umgang fanden. Solch unterschiedliche Persönlichkeiten machen deutlich: Ein vermeintliches Erfolgsrezept, Menschen zu erreichen, gibt es nicht. Alle haben ganz individuelle Gründe für ihr Verhalten. Und viele wollen darüber nicht sprechen. Gerade in solchen Konstellationen kann Kunst ein Mittler sein, um über das Material und den Prozess in einen Austausch miteinander zu treten.
Manchmal ergaben sich Situationen, in denen einige Jugendliche etwas mehr von sich preisgaben. Und andere erzählten ungefragt sofort ›alles‹. Exemplarisch, doch nicht repräsentativ, sollen hier ausschnitthaft zwei solcher Austausche angeführt werden. Kochen statt Kunst: Austausch mit einem Jungen In den Pausen saß der/die jeweilige Künstler*in und der/die ein oder andere Jugendliche oft auf den Bänken vor der Bildhauerwerkstatt. Das waren schöne Momente, um sich mit den Jugendlichen abseits der künstlerischen Tätigkeiten auszutauschen. Einmal saß da ein Jugendlicher. Ich habe ihn gefragt, ob er sich zum Ableisten seiner Sozialstunden die Stelle hier in der Bildhauerwerkstatt selbst aussuchen konnte. Seine Antwort war ein eindeutiges NEIN. Parallel zu seiner Erzählung begann er plötzlich ganz unvermittelt, sich an einem etwa hüfthohen fast senkrecht stehenden säulenartigen Stein zu schaffen zu machen, der neben der Bank fest im Boden steht: Er versuchte mehr oder weniger halbherzig, ihn herauszuhebeln oder zu kippen. Während dieser Bemühungen antwortete er auf meine Frage, ob er eventuell schon beim Kunstangebot von Lilo C. Karsten mitgemachte habe: Ja, er habe gerade bei ihr am Tisch Collagen gemacht. Aber er möge eigentlich lieber Zeichnen, auch privat. Da zeichne er am liebsten Anime-Charaktere. Mittlerweile war der Junge während seines Erzählens zu mehreren (erfolglosen) Versuchen übergegangen, auf den fast senkrecht stehenden Stein zu steigen. Könnte er sich beruflich irgendetwas mit Kunst vorstellen? Nein, beruflich wolle er
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nichts Kreatives machen. Er wolle am liebsten Koch werden, denn er esse und koche sehr gern – besonders möge er japanisches Essen. Aber er würde niemals etwas mit Schweinefleisch essen. Aus religiösen Gründen? Nee nee, nicht wegen einer Religion, sondern weil es ihm einfach nicht schmecke. Der Austausch mit dem Jugendlichen war besonders. Sein Verhalten drückte aus: ›Ich bin unsicher‹, aber seine Erzählbereitschaft rief: ›Ich muss einiges loswerden‹. Und das schien die stärkere Motivation, denn er erzählte von sich aus noch weit mehr, als es die kurzen Nachfragen erfordert hätten. In seinen Erzählungen stand Feingeistiges neben Rabiatem, Sinnliches neben Unverschämtem, Reflektiertes neben Affekt. Ein Junge, offensichtlich voller Ideen und Impulse, die sich ihren Weg bahnen müssen. Irgendwie. Vielleicht ist dies exemplarisch für nicht wenige Jugendliche, die zwischen vielen Stühlen sitzen, hin und hergerissen, und – vielleicht deswegen? – mit dem Gesetz in Konflikt geraten? Leben voller Likes und Dislikes: Austausch mit einem Mädchen Eine Jugendliche zeigte mir Bilder, die sie in den Projekten der EULENGASSE Künstler*innen gemalt hatte. Ob sie auch privat gern male? Sie bejahte und zeigte auf ihrem Handy Fotos von sehr guten Zeichnungen und Gemälden. Außerdem schreibe sie gerne, vielleicht ja irgendwann mal ein Kinderbuch. Und wenn sie im Internet so viele Likes für ihre Kreativ-Postings bekomme, sei sie immer völlig überwältigt, da sie sich gar nicht für so gut halte. Die Jugendliche blühte regelrecht auf, während sie von diesen kreativen Tätigkeiten erzählte. Eigentlich wunderbar, sie wirkt wie eine junge Frau voller Pläne und Perspektiven. Aber es gibt auch die andere Seite: die junge Frau, die ungewollt schwanger wurde und alleine die Verantwortung trägt für ein eigenes Kind – vielleicht sei diese Situation ja genau richtig, wie die Jugendliche sagte, denn zu den Plänen mit dem Kinderbuch passe ihr Kind ja perfekt. So unvermittelt, knapp und direkt diese sehr gegensätzlichen Lebensumstände des Mädchens hier nebeneinander stehen, so geradeheraus schilderte es die Jugendliche auch im Gespräch. Und so gab sie sich auch: Ob richtig gut drauf und zufrieden oder tief besorgt und hoffnungslos, sie schien sich ihrer Geschichte und Gefühle kaum zu schämen. Nicht die schlechteste Voraussetzung, um die weitere Lebensgestaltung möglichst selbstbewusst in die Hand zu nehmen. Schon jetzt hilft ihr Kunst. 39
... und bei manchen läuft alles vergleichsweise geregelt Andere Jugendliche schienen ziemlich fest im Leben zu stehen. Zumindest ließ sich aufgrund ihrer Erzählungen und ihres Verhaltens darauf schließen. Straffälligkeit bei Jugendlichen bedeutet eben nicht automatisch, dass ein noch junges Leben von Problemen gezeichnet sein muss. Wie das Leben so spielt, oder auch nicht Die Jugendlichen in der Bildhauerwerkstatt sind ein Spiegel der Gesellschaft außerhalb. So haben die EULENGASSE-Künstler*innen mit den verschiedensten Jugendlichen zusammengearbeitet: mit solchen, die fest im Leben stehen und wegen einer Lappalie Sozialstunden bekamen, für die sie sich schämten, und mit Jugendlichen, die sich in derart ernsthaften Lebenssituationen befinden, dass ihnen ihre Sozialstunden demgegenüber völlig nebensächlich sind. Es gab Jugendliche, die sich als Top-Schüler*innen beste Perspektiven eröffnen und Jugendliche, die mit 16 Jahren schon Kinder haben und kaum wissen, wie es in ihrem Leben noch weitergehen soll; Jugendliche, die abends von Mutter oder Vater im schicken Wagen abgeholt wurden und Jugendliche, für die Mutter/Vater sogar den ganzen Nachmittag im Auto vor der Bildhauerwerkstatt bereit stand – weil die Tochter vom eigenen Ehemann bedroht und gesucht wurde. Jugendliche, die in Designer-Kleidung kamen und solche, die Zerschlissenes trugen; Jugendliche, die einem ›das Ohr abgekaut‹ haben und solche, die sich jeglichem Kontakt entzogen. Jugendliche, die weniger belesen waren und … so weiter. Begegnungen mit Auswirkungen Für die vier EULENGASSE-Künstler*innen waren vordergründig sicherlich solche Begegnungen sehr positiv, in denen Jugendliche offen, freudig und interessiert waren und engagiert mitarbeiteten. Nicht unbedeutender waren die anderen Begegnungen; diejenigen, die nicht so recht zu einem ›idealen‹ Projektverlauf passen wollten, die irritierten, die Fragen offen ließen, die hintergründiger waren. Diese Begegnungen waren mindestens genauso wertvoll, auch wenn sich so etwas oft erst später herausstellt.
Ganz vorn: Zurückhaltung Mitarbeiter*innen und ihr Auftreten gegenüber den Jugendlichen Professionelle Haltung: Zurückhaltung. So ließe sich auf den Punkt bringen, wie die Mitarbeiter*innen der Bildhauerwerkstatt den Jugendlichen begegnen. Denn wer sich zu sehr einschaltet, läuft Gefahr, zu überrumpeln. Stattdessen geben die Mitarbeiter*innen den Jugendlichen genügend inhaltlichen Raum – und damit sich selbst den Raum, um mit den Jugendlichen möglichst unvoreingenommen und respektvoll umzugehen. Obwohl es unter den Nägeln brennt... Die wahrscheinlich eindrücklichste Haltung ganz zu Beginn. Es prägt jeden einzelnen und jeden noch so kleinen Aspekt der Arbeit mit Jugendlichen in der Bildhauerwerkstatt – und gleichzeitig ist es im dortigen Alltag so nebensächlich, wie etwas nebensächlicher kaum sein könnte: Obwohl in die Bildhauerwerkstatt auch Jugendliche kommen, die schwere Straftaten begangen haben, fragen die Mitarbeiter*innen die Jugendlichen niemals, wegen welcher Tat sie hier sind. Verständlich, dass manche da denken: ›Aber man muss doch gut darauf vorbereitet sein, mit wem man es da zu tun hat!‹ Oder: ›Man muss doch wissen, worauf man im Umgang mit solchen Leuten achten muss!‹ Das ist richtig. Man muss es in der Tat wissen. Und alles, was man dazu wissen muss, ist: Behandle jede/n Jugendliche/n freundlich und respektvoll und nimm sie bzw. ihn ernst. Die unvoreingenommene und offene Haltung gegenüber den Jugendlichen, die daraus entsteht, ist das, was jeden einzelnen und jeden noch so kleinen Aspekt der Arbeit mit Jugendlichen in der Bildhauerwerkstatt prägt. Und die Straftaten der Jugendlichen sind es, die im dortigen Alltag so nebensächlich sind, wie etwas nebensächlicher kaum sein kann. Eine optimale Ausgangsbasis für positive Veränderung: die Jugendlichen als Menschen annehmen und nicht anhand ihrer vergangenen Straftaten einordnen.
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Unklarheit gehört dazu ‹Nicht fragen, sondern erzählen lassen›, dies könnte über vielen Aspekten in der Arbeit mit den Jugendlichen stehen. Wie bereits beschrieben: Die einen sind wie ein offenes Buch, die anderen bleiben verschlossen; manche sind sehr aktiv und erfordern mehr Begleitung, andere sind die Ruhe selbst und arbeiten völlig eigenständig. Doch auch auf solchen Ebenen wird nicht gefragt: ›Ist alles ok?‹, oder ›Geht es Dir heute nicht so gut?‹. Die Jugendlichen sollen selbst bestimmen können, ob, wann und wem sie etwas von sich erzählen möchten. So war für die Künstler*innen von EULENGASSE in wenigen Fällen auch ein Aushalten gefragt, denn manchmal war einfach nie zu erfahren, warum ein Jugendlicher immer nur bedrückt ist oder eine Jugendliche nie mit anderen spricht. Unklarheit kann unangenehm sein, oder aber – wie sicherlich für manche Jugendlichen – ein gewisser Schutz.
»Wichtig ist, was von denen kommt« (Kai Wolf) Wenn die Jugendlichen etwas von sich erzählen (was eher mehrheitlich der Fall ist), kommt es drauf an, sich darauf einzulassen und Aspekte zu erkennen. Denn eigene Inputs der Jugendlichen sind nicht nur wichtige Basis für Gespräche, sondern auch für die künstlerische Arbeit. So kommt es durchaus vor, dass Jugendliche nicht wissen, was sie nun als nächstes bauen könnten. Wenn Kai Wolf sie aber durch Austausch schon etwas kennt, kann er beim Unterstützen umso besser ganz sachte in Richtungen lenken, die für die Jugendlichen nicht aufgesetzt wirken, sondern stimmig sind.
Und wenn nix kommt? Auch das gibt es. Manche/r Jugendliche hatte einfach noch nie besonderen Bezug zu künstlerischen Themen. Andere haben keine Idee oder einfach keine Lust. Dann ist es selbstverständlich, dass die Mitarbeiter*innen das Lenkrad einmal übernehmen, aber nur gerade so lange, bis eine Richtung ermittelt ist. Dazu stöbert Kai Wolf mit dem/der Jugendlichen zum Beispiel im riesigen Materialfundus aus Metallteilen, Holzstücken oder unterschiedlichsten Steinen. »Oft gibt die Form schon eine Idee« – mit diesem Ansatz wird aus einer verbogenen Metallstange der Hals eines Schwans oder aus einem Holzklotz mit Astloch der Kopf eines einäugigen Fantasiewesens. Und selbst, wenn die/der Jugendliche trotz ersten Impulsen von außen noch immer keine richtige Lust hat, so hat sie/er doch eines: einen Anfang. 41
Der Ort macht die Musik: Die vielen Gesichter der Bildhauerhalle Die Bildhauerwerkstatt ist in einer großen Doppelhalle zu Hause. Dazu gehört die eigentliche Werkstatthalle sowie die Lagerhalle der Kunstwerke. Die Decken sind mehrere Meter hoch, überall erzählen skurrile technische Relikte von der einstigen Hallennutzung im letzten Jahrhundert. Heute gibt es hier Holz-, Stein- und Metallmaterial in Hülle und Fülle, dazu die entsprechend eingerichteten Werkbänke und Arbeitsbereiche. Überall stehen, hängen und liegen Werkzeuge und Arbeitsgeräte akkurat an ihren Plätzen bereit. Es ist ein Ort, der so besonders ist wie seine Bedeutung für die Arbeit mit straffälligen Jugendlichen. Die Anzahl und Gruppenzusammensetzung der Jugendlichen wechselt täglich. Und so wechselt auch die Halle täglich ihr Gesicht, oder treffender gesagt: ihre Atmosphäre. Die vier EULENGASSEKünstler*innen haben während ihrer Kunstprojekte nahezu jeden ›Gemütszustand‹ der Halle miterleben können.
Wie Aufbruch in die Zukunft Es gibt Tage, an denen ist die Halle wie eine emsige Manufaktur, ein elektrisiertes Start-Up, eine vibrierende KreativSchmiede. Aus jedem Winkel ist Hämmern, Bohren, Schleifen zu hören. Dazu Lachen, Unterhaltung, Energie: ›Könnt Ihr mal mit an dem Brett halten!‹, ›Wo sind die Schleifpapiere für die Steinsachen!‹, ›Wir schweißen jetzt das Oberteil auf den Roboter!‹. Kai Wolf wird von allen Jugendlichen fast gleichzeitig gebraucht, Kathrin Jubileum koordiniert per Telefon schon eifrig Termine für die Jugendlichen der Folgetage und der/ die EULENGASSE-Künstler*in unterstützt die Jugendlichen im jeweiligen Kunstprojekt. Es riecht nach Holz und Schweißgerät, die Luft ist aufgeladen von Arbeit, Konzentration und Spaß. Alles ist im Flow. Dazu läuft Musik von den Handys der Jugendlichen über die Stereoanlage: neuste Tracks, die wir Erwachsenen nicht kennen – vielversprechende ›Vibes‹ aus der Welt von morgen, die hier gerade erschaffen wird.
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Und manchmal ist es totenstill Leere. Schweigen. Aushalten. Auch solche Tage gab es. Tage, an denen schon nach zwei Stunden nur noch ein/e Jugendliche/r da ist. Andere sind krank, haben sich abgemeldet oder mussten früher gehen. Die/ der letzte Jugendliche ist dann vielleicht nicht die/der kommunikativste, arbeitet selbständig an einer Werkbank am anderen Ende der Halle, braucht niemanden. Kai Wolf sortiert nebenan Material in Schränke. Kathrin Jubileum sitzt am Tisch über Unterlagen. Die Musikanlage ist aus. Nichts weiter. Nur dann und wann ein fernes Hämmern, leise, unregelmäßig, das sich irgendwo in der weiten Halle verliert. Und die Uhr tickt gnadenlos – langsam.
Jede Stimmung hat ihr Gutes Egal ob Zukunfts-Sound oder gefühlter Stillstand: Bewegung gab und gibt es in der Bildhauerwerkstatt immer. Manchmal ist sie regelrecht zu spüren, zu riechen, zu greifen. Und manchmal ist sie eben etwas subtiler und bewegt mehr im Inneren. Beides – und alles dazwischen – bietet sowohl fürs Innen als auch fürs Außen großes Potenzial für Veränderung, Entwicklung, Wachstum.
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Krass: Klischees! Vorstellungen von Sachverhalten entstehen schnell und festigen sich schnell, verändern sich jedoch im Allgemeinen nur sehr langsam. Wenn überhaupt. Kein Wunder: Was einen Menschen seit Jahren oder Jahrzehnten geprägt hat, kann er nicht einfach innerhalb weniger Wochen abschütteln. Dass es Klischees gibt, ist nicht verwerflich: Es ist menschlich. Deshalb wirkten sie natürlicherweise auch im Kontext der Kunstkooperation. Die Klischees, die sich zeigten, werden nachfolgend beschrieben, auseinandergenommen und für alle Zeiten ausgemerzt. Naja, wenigstens die ersten beiden Punkte könnten hier annähernd thematisiert werden.
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Klischee 1: Jugendliche Straftäter sind gemeingefährlich Wenn Jugendliche Straftaten begehen, sind das selbstverständlich schlimme Taten: Die oft zitierten hilflosen Omis werden wegen ein paar Euro brutal zusammengeschlagen, wehrlose Passanten wegen Geld für Drogen überfallen. Wenn also Jugendliche über ›alltägliche Raufereien‹ hinaus offiziell straffällig wurden, müssen sie schließlich schon richtig etwas auf dem Kerbholz haben. Müssen sie wirklich? Natürlich nicht. Wie bereits beschrieben, sind unter den Jugendlichen auch solche, die ›lediglich‹ Schule geschwänzt haben. ›Straffällig‹ wird man im deutschen Rechtssystem im Gegensatz zum deutschen Alltagsglauben eben auch durch vergleichsweise harmlose Dinge, die bereits Verstöße gegen geltende Rechtsnormen darstellen. Die vier EULENGASSE-Künstler*innen waren während ihrer Projekte also nicht Schwerkriminellen hilflos ausgeliefert, sondern haben einfach mit Jugendlichen zusammengearbeitet, die mehr oder weniger offen waren, die mehr oder weniger Lust hatten und dies auf mehr oder weniger konkrete Art zum Ausdruck brachten. Klischee 2: Straffällige Jugendliche sind nur Jungs Es scheint verbreitet, dass Kriminalität, Vergehen, Straftaten, Delikte und ähnliche Begrifflichkeiten sowie entsprechende Taten eher mit Männern als mit Frauen assoziiert werden. Medial transportierte Rollenbilder haben dabei sicherlich keinen unerheblichen Anteil. Zwar zeigen statistische Auswertungen beispielsweise bezüglich Art, Schwere oder Häufigkeit von Taten Unterschiede bei Geschlechtern, doch die verbreiteten Vorstellungen gehen weit darüber hinaus. Hatten es die vier EULENGASSE-Künstler*innen also hauptsächlich mit Jungs zu tun? Natürlich nicht. Die Publikation beschreibt dies bereits durchgehend. Wie Kathrin Jubileum und Kai Wolf aus langjähriger Erfahrung berichten können, ist das Geschlechterverhältnis unter den Jugendlichen in der Bildhauerwerkstatt ausgewogen. Jungs sind also nicht die ›böseren‹ Jugendlichen und Mädchen sind nicht die ›lieberen‹. Es gibt schlichtweg bei Jugendlichen jeden Geschlechts Hintergründe, die dazu führen, dass manchmal ein Rechtsvergehen der einzige Ausweg scheint. Oder es sind einfach nur ›dumme Zufälle‹, die gänzlich ohne böse Absicht den Verstoß gegen eine Rechtsnorm zur Folge haben.
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Klischee 3: Das sind doch keine Straftäter*innen. Delikte merkt man niemandem an Man erkennt sie unter anderen Jugendlichen sofort: diejenigen Jugendlichen, die höchst offiziell straffällig sind, kriminell gar, womöglich gefährlich. Und woran erkennt man sie? Was sind die Anzeichen für Straffälligkeit? Ganz genau: Es gibt keine. Straffällig kann jede*r werden, ob mutwillig oder unwissentlich. So kommt es, dass in der Bildhauerwerkstatt interessanterweise auch solche Jugendlichen ihre Sozialstunden ableisten, die gar nicht ›straffällig wirken‹. Etwa das große schlankeMädchen,sehrelegantgekleidetundsehrgepflegtaussehend, das still und konzentriert an einem Werkstück arbeitet. Sonderbar: Wer ordentlich und gut aussieht und sich ruhig verhält, müsste doch auch ein tadelloser Mensch sein, eine weiße Weste haben… Oder der Jugendliche, der seine Kunstwerke ganz bewusst gestaltet, mit allen höflich umgeht; der eine Fremdsprachenschule besucht, sich reflektiert ausdrückt – mitten im Leben steht: Solch ein Eindruck will sich einfach nicht mit dem Begriff ›straffällig‹ vertragen. Oder die Jugendliche, die erzählt, dass sie beruflich mit Kindern arbeite: Kann das sein? Wer im sozialen Bereich tätig ist, kann doch niemandem ein Haar krümmen oder etwas Unerlaubtes tun... Und trotzdem ist all das möglich. Denn die ganz persönlichen Gründe, die zu Straffälligkeit führen können, trägt eben kaum jemand vor sich her.
generell? – ist immer noch etwas, das auffällt. Sonst wäre es alltäglich und nicht einer Erwähnung wert. Zeichnen scheint noch immer eher als Mädchentätigkeit wahrgenommen zu werden. Gründe dafür lassen sich bekannterweise etwa in weitergegebenen Erziehungsansichten, täglichem Erleben und Medieneinflüssen finden. Trotzdem zeichneten einige Jungs mit. Auch sie sind sich Geschlechterklischees bewusst, haben sich offensichtlich jedoch weder untereinander für das ›schwache‹ Medium Zeichnen geschämt noch gegenüber der bereits zeichnenden Gruppe der Mädchen. Sehr gut. Die weiße Leinwand – für Jungs ein rotes Tuch? In einem anderen der Kunstprojekte war es ähnlich: Bei den meisten Jungs war kaum an eine Teilnahme am Malen oder bei Collage zu denken. Aber warum eigentlich nicht? Weil es in der Natur von Klischees liegt: Die inneren Schubladen sind schneller offen als die reflektierte innere Haltung. Leider deckten sich beim Projekt ›Malen/Collage‹ Klischee-Vorstellung und Realität weitestgehend: Lediglich ein Junge malte bzw. zeichnete auf Leinwand. ›Geschlechtsuntypisch‹ – sehr erfreulich Klischees wurden jedoch auch ausgehebelt: Als eine Jugendliche gefragt wurde, ob sie beim Malen mitmachen wolle, antwortete sie: »Nein, ich will schweißen, das interessiert mich mehr«. Schade für das Kunstprojekt, aber umso besser für eine neue Selbstverständlichkeit von Geschlecht.
Klischee 4: Buben bauen, Mädchen malen Es ist immer und überall zu sehen: Männer sind fürs Grobe, Frauen sind Feingeister. Männer schlachten Mammuts, Frauen zaubern Soufflé daraus. Männer bauen Häuser, Frauen machen sie schön. Diese Reihe ließe sich ewig fortsetzen. Die ein oder andere Baumarktkette etwa, aber auch andere Akteure, weichen Geschlechterklischees glücklicherweiseseiteinigenJahrenmedialauf.ImwahrenLebenhinktmenschlich subjektive ›Aktualisierung‹ den Realitäten jedoch in der Regel hinterher. Auch in den Projekten der vier EULENGASSE-Künstler*innen zeigten sich Klischees zum Thema ›Geschlecht und künstlerisches Medium‹. »Sogar die Jungs waren dabei« Diese erfreute Aussage aus dem Kontext eines der Kunstprojekte zeigt: ›Jungs und Zeichnen‹ – oder vielleicht sogar ›Jungs und Kunst‹ 47
Kai Wolf weiß zu dieser Thematik aus Erfahrung: »Mädchen arbeiten in der Bildhauerwerkstatt genauso gern mit Metall oder Stein wie die Jungs. Da gibt es hier kaum einen Unterschied zwischen den Geschlechtern«.
Klischee 5: Das Gute an der Kunst finden alle gut Für Künstler*innen sämtlicher Medien gibt es vielfältigste Einsatzbereiche, gerade in sozialen Feldern. Das Potenzial solchen künstlerischen Arbeitens wurde in den letzten Jahr(zehnt)en mehr und mehr erkannt und befürwortet. Nicht immer allerdings von ganz zentralen Personen: den Zielgruppen. Was heißt das für das Thema Klischees? Künstler*innen lieben ihre Arbeit. Mit dem Kunstschaffen verbinden sie von ästhetischen Erfahrungen über Sinnfindung bis zum politischen Wachrütteln ein großes Spektrum positiver Aspekte. Und genauso begeistert von künstlerischen Gelegenheiten sind ausnahmslos auch all diejenigen, mit denen dann – etwa in sozialen Kontexten – künstlerisch gearbeitet wird. Ganz klar. Wie könnte es auch anders sein? Natürlich, es ist anders. Denn die zumindest Klischee-ähnliche Annahme, dass sich für Kunst und ihre Potenziale jede/r begeistert, ist (leider?) nicht zutreffend, in Zwangskontexten unter Umständen noch weniger. Zu solchen gehört eine Schulprojektwoche genauso wie die JKWF-Bildhauerwerkstatt. Ein Beispiel aus der Kunstkooperation Dass die positive Überzeugung von Künstler*innen nicht einfach bei den Jugendlichen erwartet oder gar vorausgesetzt werden kann, zeigt auf charmante Weise ein kurzer Austausch in der Bildhauerwerkstatt zwischen einem Künstler (K) und einem neuen Jugendlichen (J). Es lief in etwa so ab: J (leicht genervt): Statt der Sozialstunden hier könnt‘ ich viel sinnvollere Sachen machen. K (begeistert): Aber hier hast Du eine seltene Gelegenheit, die andere nicht haben: Du kannst besondere künstlerische Medien ausprobieren und erlernen, das ist doch toll! J (völlig gelangweilt): Ja. Ganz toll. Perspektivenwechsel macht's Ganz generell – und ganz egal, in welchem Kontext – verstellt die begeisterte Außenwahrnehmung der einen oft den Blick auf die Realität der anderen. Aber so etwas ist, wie an anderer Stelle bereits ähnlich erwähnt, zunächst nicht verwerflich, sondern menschlich. Am Beispiel der Bildhauerwerkstatt erklärt: Für Mitarbeiter*innen, Besucher*innen, Kunstkäufer*innen und die vier EULENGASSE-Künstler*innen sowie manch andere Personen ist die Halle wahrscheinlich das wahre Eldorado für kreative Möglichkeiten und Entfaltung. Für manche der hier arbeitenden straffälligen Jugendlichen ist sie einfach nur ätzend. Solche Aspekte machen deutlich, dass es wichtig ist, sich des Kontextes und der eigenen diesbezüglichen Wahrnehmung bewusst zu sein. Dies macht Zugänge oft leichter, Begegnungen gelingender. Heimliche Begleiter, unheimlich wertvolle Erkenntnisse Klischees bilden sich unbemerkt, schleichen sich ein, machen sich leise breit. Wer genau in sich hineinhört, kann ihnen auf die Spur kommen. Und ist die Spur erst einmal aufgenommen, führt sie idealerweise zu fruchtbaren Erkenntnissen. Wie drückte es Kathrin Jubileum einmal ganz passend aus: »Man lernt hier jeden Tag Neues« – nicht nur Neues über die Jugendlichen, sondern auch über sich selbst. 48
Ein Satz sagt mehr als tausend Bücher. Sinngemäß jedenfalls Allmählich endet die Publikation. Manche denken nun vielleicht: ›Gerade zur künstlerischen Arbeit mit Jugendlichen hätte hier so viel an kunst- und kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen ergänzt werden können. Oder zu Theorien aus der Jugendarbeit. Und dazu, warum in ästhetischer Praxis bzw. Kultureller Bildung so viel Potenzial steckt‹. Stimmt. Doch entsprechende Fachliteratur gibt es ausreichend. Eine ausführlichere Einbindung dessen hätte diese Publikation nicht leisten können. Ihr Ziel war die Projektdokumentation aus primär persönlichen Perspektiven Beteiligter. Darüber hinaus haben wir mit den Jugendlichen nicht vorrangig als Pädagog*innen gearbeitet, sondern als Künstler*innen. Als solche entwickeln wir nicht spezielle Konzepte dafür, dass aus neuen Erfahrungen neue Erkenntnisse erwachsen, dass Scheitern zu Erfolgen führt oder dass ein Gruppenprozess Entwicklungsmöglichkeiten freisetzt. Wir machen es einfach. Aus Künstler*innen-Position. Mit künstlerischen Mitteln. Jede Fachdisziplin hat ihr eigenes ›Erfolgsrezept‹, ihre ganz eigenen fundierten Sichtweisen und Herangehensweisen. Und diese sind jeweils das Plus. Daran erleben Jugendliche die Diversität verschiedener Metiers. Dies soll den hohen Stellenwert der wissenschaftlichtheoretischen Fundierung und Erkenntnisse für künstlerische Arbeit in sozialen Feldern jedoch in keinster Weise schmälern. Im Gegenteil. Die damit verbundenen Wissenschaften und Theorien sind und bleiben von größtem Wert. Ob für die Arbeit mit Jugendlichen oder jeder anderen Zielgruppe. Stellvertretend dafür soll hier ein einziger Satz stehen. Er drückt den Kern dessen aus, was die künstlerische Arbeit mit straffällig gewordenen Jugendlichen ermöglichen kann. Gesagt hat ihn Jürgen Fröhlich, Jugendrichter a.D., anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der Bildhauerwerkstatt Gallus im Jahr 2012: »Künstlerische Arbeit im Rahmen jugendgerichtlicher Weisungen stellt mithin eine hervorragende Möglichkeit dar, erzieherisch so auf jugendliche Straftäter einzuwirken, dass sie durch Reflexion ihrer Lebenssituation und ihrer Persönlichkeit motiviert werden, sich an einem neuen Lebensentwurf zu versuchen«. 49
Alles Gute! In diesem Sinne wünschen wir vom Kunstverein und Ausstellungsraum EULENGASSE den Jugendlichen für ihre Zukunft alles Gute. Denjenigen Jugendlichen, die wir in der Bildhauerwerkstatt kennenlernen und auf ihrem Weg ein kleines Stück begleiten durften. Und genauso all jenen Jugendlichen, die ihren Weg noch vor sich haben. Ebenso wünschen wir der Bildhauerwerkstatt viel Erfolg für ihre wichtige Arbeit. Dafür, dass sie die Jugendlichen auch künftig so unvoreingenommen und offen aufnimmt, und dafür, dass sie ihnen auch weiterhin durch Erfahrungen, Impulse und Zutrauen gutes Rüstzeug mit auf den Weg geben kann.
Schlussbemerkung Die Publikation erscheint zur Dokumentation der Kunstkooperation – doch ziemlich früh wurde deutlich, dass eine bloße Dokumentation den gemachten Erfahrungen nicht gerecht wird. Dafür hatte sich durch und um die Projekte der vier EULENGASSE-Künstler*innen herum schlichtweg zu viel Weiteres von Bedeutung eröffnet. Somit werden in der Publikation im begrenzten Maße des Möglichen auch Hintergründe, Umstände und Strukturen aufgegriffen, Dynamiken einbezogen, Haltungen angesprochen, Schicksale angedeutet. Dadurch erhält der vielschichtige und anspruchsvolle Kontext, in welchem die vier Kunstprojekte stattfanden, den Raum, der ihm und damit der Arbeit der JKWF gebührt. 50
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Impressum Herausgeber Jugend-Kultur-Werkstatt Falkenheim Gallus e.V. www.jkwf.de EULENGASSE Verein zur Förderung zeitgenössischer Kunst und Kultur e.V. www.eulengasse.de Idee und Projektentwicklung Petra Väth, Harald Etzemüller und Vládmir Combre de Sena Kuratierung Vládmir Combre de Sena Grafikdesign zukunftssysteme, Frankfurt am Main Text Daniel Scheffel Fotografie Sabine Imhof Ausstellungsgestaltung Harald Etzemüller Druck unitedprint.com Deutschland GmbH Offsetpapier 120 g Schrift Cantiga Auflage 500
Dank an alle, die dieses Projekt mit ermöglicht haben – allen voran die Jugendlichen. Diese Publikation erscheint anlässlich des künstlerischen Kooperationsprojektes »Verurteilt zu Leinwand, Stiften, Holz und Wort« von der Jugend-Kultur-Werkstatt Falkenheim Gallus e.V. und dem Kunstverein EULENGASSE e.V., das von September bis Oktober 2020 in der JKWFBildhauerwerkstatt in Frankfurt am Main durchgeführt wurde. Das Projekt wird mit einer Ausstellung der von den Jugendlichen geschaffenen Werke abgeschlossen, die im März 2021 im Ausstellungsraum EULENGASSE stattfindet. Die Verwendung oder Vervielfältigung der Texte und Bilder in anderen elektronischen oder gedruckten Publikationen ist ohne ausdrückliche Zustimmung nicht gestattet. © Daniel Scheffel © Sabine Imhof © Jugend-Kultur-Werkstatt Falkenheim Gallus e.V., Frankfurt am Main © EULENGASSE e.V., Frankfurt am Main Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany ISBN 978-3-9820588-5-6 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Mit freundlicher Unterstützung durch Stadt Frankfurt am Main Gefördert vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst