Rotwild: mehr Wildkälber bei hohen Wilddichten

Page 1

THEMATISIERT Rotwildforschung

Rotwild: mehr Wildkälber bei hohen Wilddichten

Sebastian G. Vetter, PhD & o. Univ.Prof. Dr. Walter Arnold

Ein hoher Anteil an weiblichen Kälbern kurbelt in vielen Revieren Niederösterreichs den Zuwachs beim Rotwild zusätzlich an. Ursache sind hohe Bestände mit einem hohen Anteil an Jungwild und zu wenig Ier-Hirschen.

D Auch beim nieder­ österreichischen Rotwild wächst mit dem Bestand auch das Zuwachspoten­ zial, das heißt, der Anteil weiblicher Stücke in der Population – ein Teufelskreis, der nur mit konsequenter Reduktion durch­ brochen werden kann.

Aus dem Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie der Vet.-Med. Univ. Wien

ie Rotwildjagdstrecken in Österreich, aber auch in Deutschland und der Schweiz sind während der letzten Jahrzehnte kontinuierlich angestiegen (siehe Abb. 1, Seite 13). Eine hohe Rotwilddichte birgt Risiken, wie vermehrte Wildschäden, zunehmende Wild­ unfälle im Straßenverkehr oder die Ausbreitung von Wildkrankheiten, die auch Haustierbestände bedrohen können. Jagdliche Maßnahmen zur Ein­ dämmung des Zuwachses sollten tunlichst so erfolgen, dass damit eine optimale Wirkung erzielt werden kann. In diesem Zusammenhang wird eine Besonderheit der Rotwildbiologie wichtig, nämlich ein potenzieller Einfluss der Dichte und der Altersstruktur eines Bestandes auf das Geschlechter­ ver­hältnis bei den Kälbern. Im ungünstigen Fall werden vermehrt Wildkälber geboren, wodurch sich das Wachstums­ potenzial des Bestandes erhöht. In weiten Teilen Niederösterreichs ist dies der Fall. Im Mittel beträgt der Anteil der Hirschkälber nur 44 % und ist damit für Rotwild­ verhältnisse außer­gewöhnlich gering! Im Auftrag des Niederösterreichischen Landesjagdverbandes unter­ suchten wir am Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie, ob diese Verschiebung des Geburts­ geschlechterverhältnisses hin zu weiblichen Tieren tatsächlich in Zu­ sammenhang mit der Rotwilddichte und -altersstruktur steht und welche Konse­quenzen für die Bejagung daraus abzuleiten sind.

Ausgewertetes Zahlenmaterial Jagdstrecken und Verkehrsfallwild­ zahlen, erhoben auf Revierebene in den Jahren 2004–2015, in den letzten drei Jahren auch mit Gewichtsangaben zu erlegten Stücken, bildeten die Datengrundlage für diese Untersuchung. Wir fassten die auf Revierebene erhobenen Daten so zusammen, dass Bezugs­ flächen mit statistisch aussagefähigen Zahlen entstanden (siehe Abb. 2, Seite 13). Jagd­ strecken lassen jedoch nur dann verlässliche Rückschlüsse auf die wirk­lichen Vorgänge in einem Bestand zu, wenn die Häufigkeit der Entnahmen in den einzelnen Alters- und Geschlechtsklassen zufällig ist. Gerade bei Rotwild ist dies jedoch aufgrund der Abschuss­planung zu hinterfragen. Wir bezogen deshalb auch Verkehrsfallwildzahlen in die Analysen mit ein und inter­pretierten gleichläufige Trends in den beiden Zahlenreihen als Hinweis darauf, dass diese Zahlen tatsächlich die Vorgänge im Bestand reflektierten. Bei Kälbern, Schmaltieren, Alttieren, IIIer-Hirschen und den Gesamtzahlen stimmten die Entwicklungen von Jagdstrecke und Verkehrsfallwild weit­ gehend überein, nicht aber bei den IIer- und Ier-Hirschen sowie den Schmal­ spießern. Für Ier- und IIerHirsche sowie Schmal­spießer verwendeten wir daher nicht die Jagdstrecken als Kennzahlen des tatsäch­ lichen Bestandes, sondern die Verkehrsfallwildzahlen, obwohl dadurch statistisch ge­sicherte Aus­sagen durch die gerin­ geren Stich­probengrößen schwieriger wurden.

12

WEIDWERK 5 | 2017

ww0517_1214.indd 12

20.04.2017 16:11:32


FOTOS WEIDWERK-ARCHIV/RADENBACH (L.), KARL-HEINZ VOLKMAR (R.)

Einflüsse der Populationsstruktur

Da Kälber nicht geschlechtsspezifisch bejagt wurden, kann auch auf das Geschlechterverhältnis der Kälber verlässlich aus der Jagdstrecke geschlossen werden. Die statistische Analyse möglicher Einflussfaktoren auf dieses Geschlechterverhältnis erwies einen starken Zusammenhang mit der Populationsdichte, das heißt der Gesamt­ strecke. Je höher die Gesamtstrecke auf einer Vergleichsfläche, desto geringer war der Anteil an Hirschkälbern (siehe Abb. 3a, Seite 14). Dieses Ergebnis steht im Einklang mit denen anderer Rotwild­studien aus Skandinavien und Schottland. Auch beim niederösterreichischen Rotwild wächst also mit dem Bestand auch sein Zuwachspotenzial, das heißt, der Anteil weiblicher Stücke in der Population – ein Teufelskreis, der nur mit konsequenter Reduktion durch­ brochen werden kann. Eine solche Reduktion würde sich unseren Analysen zufolge zudem positiv auf das Wildbretgewicht auswirken, und zwar in allen Alters- und Geschlechtsklassen (siehe Abb. 4, Seite 14).

Nach Ergebnissen aus langjährigen Studien an schottischem Rotwild sind es gut genährte, ranghohe ältere Tiere, die mit höherer Wahrscheinlichkeit Hirschkälber bekommen. Wenn sie einen hohen Anteil des weiblichen Wildes ausmachen, verschiebt sich das Geburtsgeschlechterverhältnis im Bestand in Richtung männliches Wild. Unsere Analysen bestätigen diesen Befund für die freie Wildbahn in Niederösterreich: Je höher der Anteil an Alttieren in einem Bestand war, desto höher war der Anteil der Hirsch­ kälber (siehe Abb. 3b, Seite 14). Neben den Muttertieren scheinen beim Rothirsch auch die Väter Einfluss auf das Geschlecht der von ihnen gezeugten Nachkommen zu haben. 

80

Jahresstrecke beim Rotwild (× 1.000)

Einflüsse der Populationsdichte

70

20 Österreich Deutschland Schweiz

18 16

60

14

50

12

40

10 8

30

6

20

4

10 0 1930

2 0 1950

1970

1990

2010

Jahr

ABBILDUNG 1: ROTWILDSTRECKEN. Entwicklung der jährlichen Rotwildstrecken (in Tausend) in Österreich (rot, linke Achse), Deutschland (schwarz, linke Achse) und der Schweiz (weiß, rechte Achse) während der letzten Jahrzehnte.

ABBILDUNG 2: KARTE. Die für die Analysen verwendeten 30 Gebiete in NÖ (farblich markiert). Sieben Gebiete, welche aufgrund der geringen Jagdstrecke (weniger als 50 Stück er­ legtes Rotwild pro Gebiet und Jahr) nicht verwendet wurden, sind dunkelgrau dargestellt. Die hellgrauen Flächen kennzeichnen Gebiete ohne Rotwildvorkommen oder mit unzureichender Datengrundlage (Zahlen zu Rotwildabschüssen in weniger als 5 Jahren zwischen 2004 und 2015 vorhanden). Schwarze Linien zeigen die politischen Bezirke.

13

WEIDWERK 5 | 2017

ww0517_1214.indd 13

20.04.2017 16:11:35


THEMATISIERT Rotwildforschung

a

a

90

80

80

70 60 50 40 30 20 10

60

2

3

4

5

4

5

6

160

Körpergewicht (kg)

180

70

0   0.2

0.4

0.6

0.8

1.0

Anzahl Alttiere/100 ha (Jagdstrecke) c 100

80

60

40

20

0 0

0,002

0.004

0.006

0.008

0.010

Anzahl Ier-Hirsche/100 ha (Verkehrsfallwild)

ABBILDUNG 3: HIRSCHKÄLBER. Der Anteil an Hirschkälbern je nach der Gesamtzahl des auf einer Vergleichsfläche pro Jahr erlegten Rotwildes a , der Anzahl erlegter Alttiere b und der Anzahl an Ier-Hirschen im Verkehrsfallwild c , jeweils auf 100 ha bezogen. Die Punkte sind die ein­ zelnen Werte pro Jahr und Vergleichsfläche, die grau schattierten Bereiche zeigen den Bereich an, in dem die berechnete mittlere Beziehung (gerade Linie) mit einer Wahr­ scheinlichkeit von 95 % liegt.

2

3

4

5

6

4

5

6

120

50

100

40 30 20

ALTTIERE.

80 60 40

Ier-HIRSCHE.

20 0

1

2

3

Populationsdichte

4

5

6

0

f

200

200

180

180

160

160

140

1

2

3

Populationsdichte

140

120

120

100

100

80 60 40

IIer-HIRSCHE.

80 60 40

IIIer-HIRSCHE.

20 0

1

2

3

Populationsdichte

0

1

Populationsdichte

140

60

0

20

SCHMALSPIESSER UND -TIERE. 0

d

0

40

20

200

20

60

30

80

e

b

40

90

0

Populationsdichte (Gesamtstrecke/100 ha)

80

3

0

6

100

2

Körpergewicht (kg)

1

1

Populationsdichte

10

0

50

100

Körpergewicht (kg)

0

Körpergewicht (kg)

Anteil Hirschkälber bei niederösterreichischem Rotwild (%)

20

60

0 0

40

70

10

0

c

ABB. 4: SINKENDES GEWICHT BEI HÖHERER DICHTE.

100

90

Körpergewicht (kg)

Körpergewicht (kg)

80

b

KÄLBER.

100

100

4

5

6

0

1

2

3

Populationsdichte

4

5

6

Zumindest ist dies aufgrund der klaren Befunde aus einer experimentellen Studie an spanischem Rotwild zu erwarten. Künstlich befruchtete Rotwildtiere bekamen umso wahrscheinlicher ein männliches Kalb, je stärker das Geweih des Hirsches war, von dem der Samen gewonnen wurde. Ähnliche väterliche Effekte auf das Geschlechter­ verhältnis der Nachkommen wurden auch von anderen Hirscharten, wie Elchen, Rentieren und Weißwedel­ hirschen, berichtet. Unsere Ergebnisse deuten erstmals darauf hin, dass ein solcher Effekt auch bei Rotwild in freier Wildbahn existiert, denn unabhängig vom Einfluss der Populations­ dichte und der Altersstruktur bei den weiblichen Stücken fanden wir in den niederösterreichischen Revieren einen umso höheren Anteil an männlichen Tieren unter den Kälbern, je mehr Ier-Hirsche in einem Bestand waren (Abb. 3c). Allerdings ist bei der Interpretation dieses Befundes noch Vorsicht angebracht. Die Wahrscheinlichkeit, dass uns hier der Zufall einen Zusammenhang vorgaukelt, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt, liegt immerhin noch bei 6 %.

Fazit Der ungewöhnlich geringe Anteil an Hirschkälbern in weiten Teilen Niederösterreichs führt zu einem stark erhöhten Anteil weiblicher Stücke im Bestand und fördert das Populations-

Einfluss der Populationsdichte (Gesamt­ strecke/100 ha) auf das Körpergewicht (auf­ gebrochen) von Kälbern a , Schmalspießern und -tieren b , Alttieren c , Ier-Hirschen d , IIer- e sowie von IIIer-Hirschen f . Die Linien spiegeln die mittleren Verläufe der Wildbret­ gewichte in Abhängigkeit von der Bestandes­ dichte wider. Bei den Kälbern a sowie den Schmalspießern und -tieren b zeigt die blaue Linie jeweils den Effekt bei männlichen Stücken und die rote Linie den bei weiblichen Stücken (einzelne Werte weiblicher Stücke als Kreise).

wachstum. Fatalerweise verstärkt sich der Effekt selbst, da mit steigender Dichte proportional noch mehr Wildkälber gesetzt werden, was wiederum zu noch mehr Zuwachs führt. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, das heißt, den Anteil an Hirschkälbern anzuheben und das Populationswachstum somit abzuschwächen, ist es er­ forderlich, die Rotwilddichte in den betroffenen Revieren und Hegeringen zu reduzieren und eine ausgewogene Alters- und Geschlechterstruktur zu erreichen. Solange das Geburts­ geschlechterverhältnis bei den Kälbern zum weib­lichen Wild verschoben ist, stimmt die jagdliche Entnahme nicht. Eine nachhaltige Bestandesreduktion kann nur über den Abschuss weiblichen Wildes erreicht werden. Damit der Anteil kräftiger Tiere in der Lebensmitte, die vermehrt Hirschkälber setzen, im verminderten Bestand hoch bleibt, müssen zusätzlich zur unbedingt erforderlichen Alttierreduktion ausreichend Schmaltiere und Kälber entnommen werden. Da offenbar auch das männliche Wild Einfluss auf das Geschlechterverhältnis bei den Kälbern hat, ist auf einen ausreichenden Anteil von älteren Hirschen in der Population zu achten, da diese vermutlich vermehrt Söhne zeugen. Es sollte so gejagt werden, dass eine ausreichend große Zahl starker Hirsche die Klasse I erreicht. Zurückhaltung ist daher bei der Bejagung der IIer-Hirsche geboten, obgleich diese selbst noch keinen nachweisbaren Einfluss auf das Geschlechter­ verhältnis bei den Kälbern hatten. Hinweis: Das Forschungsprojekt wurde vom NÖ Landesjagdverband und dem Verein „Grünes Kreuz“ finanziert.

14

WEIDWERK 5 | 2017

ww0517_1214.indd 14

20.04.2017 16:11:37


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.