FACES Deutschland, Oktoberausgabe 2023

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RUBY

10 2023 OKTOBER € 8.50
AVAILABLE IN STORE AND ON SAMSOE.COM AUTUMN WINTER 2023
Ama Lou with LOEWE Earth Photographed by Tyler Mitchell Botanical Rainbow Fragrances perfumesloewe.com

S.20

The Faces

Jeremy Allen White, Noah Lyles, Melanie Perkins, Lily Gladstone, Jorja Smith, Rick Astley, Lion Christ, Paris Hilton, Anna Weyant, Michael Miller

S.34

The Hype

Fashion, Beauty, Travel, Eat&Drink

S.48

Hi-D

Photography: Patrick Viebranz

S.58

Woodkid

Interview: Bianca Gerber, Les Bois

N°10/2023
Mode auf der Alm, im Stall und mitten im Grünen. S.48 Ikea hat ausgedient: Wir kaufen Schweizer Möbel von Les Bois. S.58
N°10 /  2023 9
Alles Neue fürs Badezimmer, den Kleiderschrank, den Tisch und die Bucket List. S.34

S.64

Pretty Hot

Beauty Report FW23

S.76

Art is Present

Interview: Marina Paulenka

S.80

A Love Supreme

Photography: Philip Arneill

S.92

Speedfight

Interview: Patrick Dempsey

S.94

Offshore Pearl

Musa

S.110

Street Ballet

Photography: Valérie Mathilde

Ein Tanz auf den Straßen von Paris. S.110 Community-Denken statt All-Inclusive-Urlaub an der mexikanischen Küste. S.94 N°10 /  2023 10
Die
heißesten Looks direkt vom Laufsteg auf deinen Tisch.
S.64
CERTIFIED PRE-OWNED AUTHENTICATED BY EXPERTS TWO-YEAR GUARANTEE BUY, SELL & TRADE

S.128

S.122

Baby Got Back

Text: Heather Radke

S.128

Early Days

Photography: Thomas Hoepker

S.140

Feeding the Future

Text: Christine Schäfer, Karin Frick & Johannes C. Bauer

S.150

S.150

Waiting for the Moment

Photography: Verena Knemeyer

S.160

Urban Retail

Photography: James & Karla Murray

S.14

COVER Photography: Launchmetrics SpotlightSM

Model: Jadi Wegener

Look von FERRAGAMO.

Impressum

S.16

Contributors

Thomas Hoepker war schon immer groß, auch damals, ganz zu Beginn. Ob Laufsteg oder Park: Tolle Outfits stehen überall im Mittelpunkt.
N°10 /  2023 12

IMPRESSUM

Herausgeber

Stefan Berger – berger@faces.ch

Patrick Pierazzoli – pierazzoli@faces.ch

CHEFREDAKTEUR

Patrick Pierazzoli

VERLAGSLEITUNG

Stefan Berger

CREATIVE CONSULTANTS

Florian Ribisch

Alex Wiederin

STV. CHEFREDAKTEURIN

Marina Warth – marina@faces.ch

GRAFIKLEITUNG

Joana Chopard – grafik@faces.ch

Redaktion FACES

Bertastrasse 1

CH-8003 Zürich

REDAKTION

Adrienne Meyer

DESIGN/LAYOUT

Lynn Zbinden

AUTORINNEN

Johannes C. Bauer, Karin Frick, Nadia Hartzer, Neda Hofer, Adrienne Meyer, Michael Rechsteiner, Christine Schäfer, Marina Warth

FOTOS & ILLUSTRATIONEN

Philip Arneill, Thomas Hoepker, Verena Knemeyer, Valérie Mathilde, James & Karla Murray, Patrick Viebranz, Launchmetrics SpotlightSM, pa picture alliance (dpa)

TYPEFACES

Synt (Dinamo)

Salt Lake (Florian Ribisch)

VERLAG

Fairlane Consulting GmbH

Bertastrasse 1

CH-8003 Zürich

ANZEIGEN & KOOPERATIONEN SCHWEIZ

Tel. +41 43 322 05 37

Stefan Berger – berger@faces.ch

Noelia Alfaro – alfaro@faces.ch

ANZEIGEN & KOOPERATIONEN DEUTSCHLAND UND INTERNATIONAL

FACES Deutschland

Straßburger Straße 6D

D-10405 Berlin

Tel. +49 30 552 02 383

Director: Julia Gelau – julia@faces.ch

ABONNEMENTSPREISE

FACES erscheint 8 Mal im Jahr.

Einzelverkaufspreis CHF 8.50 / € 8.50

Jahresabo CHF 54.– / € 54.–

© Copyright 2023 Fairlane Consulting GmbH

Der FACES-Schriftzug/-Stern sind eingetragene Markenzeichen der Fairlane Consulting GmbH und dürfen nicht ohne deren Zustimmung verwendet werden. Nachdrucke, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

PEFC/04-31-0714 PEFC-zertifiziert DiesesProdukt stammtaus nachhaltig bewirtschafteten Wäldernund kontrolliertenQuellen www.pefc.de N°10 /  2023 14

Patrick Viebranz

Das Gefühl ist Patrick Viebranz besonders wichtig. Bevor die Schmetterlinge nicht durch seine Adern flattern, drückt der Hamburger nicht auf den Auslöser. Diese Taktik hat sich bewährt, umgibt Viebranz’ Fotos doch stets diese Magie, die sich kaum in Worte fassen lässt. Seinen Blick geschärft haben wohl auch die Jahre in Übersee (Vancouver und New York) sowie die Zeit in Berlin, wo er stets auf der Suche war nach dem perfekten Moment.

MERCI

Details create the big picture.

Christian Olivier

Krass, was man mit Kamm, Pinsel und dem richtigen Handgriff schaffen kann.

Christian Olivier ist ein Meister seines Fachs, schließlich hat der Schweizer auch bei den ganz Großen gelernt.

Bobbi Brown, Laura Mercier, Burberry, dazu Ausbildungen in der Schweiz und in Deutschland, bevor es ihn nach London und Hongkong verschlug, wo er als Freelance Hair & Make-up Artist auf dem Beauty-Karussell seine Runden dreht und dazu am liebsten Zweifel-Chips knabbert und Bellini schlürft.

Verena Knemeyer

Wer die Fotografie im Herzen trägt, der ist nie ohne Kamera unterwegs. Deshalb lichtet Verena Knemeyer seit 2016 auf ihren Road Trips durch alle 50 US-Staaten auch jedes Rathaus ab, das ihr vor die Linse kommt. Gelernt hat sie ihr Handwerk in Bielefeld und Melbourne, zu dem sie sich im Herspective Collective nur zu gerne mit Gleichgesinnten austauscht. Dann spricht sie etwa über ihren Trick, auch noch so kleine Bewegungen ihrer Models abzulichten, diese Mikro-Momente, die ihren Fotos später die Authentizität verleihen, für die wir begeistert applaudieren.

Heike Heldsdörfer

Für andere ist Japan ein Sehnsuchtsziel, für Heike Heldsdörfer sowas wie ein zweites Zuhause. Schließlich hat die Freelance-Stylistin dort ein Auslandssemester verbracht – und sich so ganz nebenbei in Land und Leute verliebt. Zu lange bleibt die Deutsche allerdings selten an einem Ort, zieht es sie doch stets an fremde Orte – ob zu Fuß, mit dem Flugzeug oder ihrem Auto, mehr rollendem Styling-Mobil denn Fahrzeug zwar, aber dem besten Untersatz, um künftig auch ihr Surfboard mit in die Ferne zu nehmen.

N°10 /  2023 16

THE HAIR SPRAY INVISIBLE HOLD

Marie Revelut ist stets auf der Suche – nach neuen Inspirationen für ihre Arbeit als Stylistin und anderem Schönen, was den Pariser Alltag noch besser macht. In Nordfrankreich geboren, zog es sie bald in die Stadt der Lichter, wo sie als Designerin ihrer Leidenschaft für Mode nachging. Ihr Resumé liest sich wie das Who is Who der Branche, in der Marie bekannt ist für ihre stets gute Laune und ihr Lächeln, das selbst das härteste Shooting in ein Freudenfest verwandelt.

Valérie Mathilde

Während andere ihr Taschengeld für Süßkram auf den Kopf hauen, schlachtet Valérie Mathilde ihr Sparschwein und investiert ihr Erspartes in eine Kamera. Da ist die Pariserin gerade mal zwölf. Sie lernt ihr Handwerk bei großen Fotografen, gewinnt 1998 den PictoPreis für ihre Arbeit und reist für ihre Leidenschaft um die Welt. Mittlerweile ist ihr CV ausschweifender als die Spiegel-BestsellerListe und mit einer weiteren Arbeit für FACES direkt um eine Zeile reicher.

Wer seit über 20 Jahren auf dem Mode-Parkett tanzt, für den fühlt sich die Branche längst an wie eine familiäre Party. Und so bewegt sich Nadia Hartzer auch ganz geschmeidig durch die Massen, wenn sie für FACES die großen Modenschauen besucht, Trends recherchiert und Menschen trifft, die die Welt bewegen. Hartzer kommt aus Südafrika, hat in New York studiert und lebt seit 2004 in der Schweiz.

Zeit ist wie ein Becher Schokopudding. Ehe du dich versiehst, ist das Ding leer – oder du zehn Jahre älter. So ergeht es gerade unserer Stv. Chefredakteurin Marina Warth, die FACES von der Pubertät ins Erwachsenenalter begleitet hat. Wenn Marina auf unserer Redaktion nicht für Ordnung sorgt (oder für mehr Schönes in unserem Beauty Report), dann stöbert sie auf Flohmärkten und Onlinebörsen nach Möbelstücken mit Geschichte, trinkt Kaffee (schwarz natürlich) oder feilt an ihrer Bucket List.

Elevating one another, raising us all.
Marie Revelut Marina Warth Nadia Hartzer
N°10 /  2023 18
lalaberlin.com andy-wolf.com

THE FACES

„YOU WIN AGAIN.“

N°10 /  2023 20
Text:

JEREMY ALLEN WHITE

FIVE STAR SNACK

Lausige Tattoos, Gesichtsnarbe, fettverspritztes Shirt und Augenringe so groß wie zwei Kinderschlafsäcke: In der Hitserie „The Bear“ trägt Hauptdarsteller Jeremy Allen White das perfekte „Dude, in den ich mich auf keinen Fall verknallen sollte, aber verdammt, ich kann mir nicht helfen!“-Starter-Kit. Früher füllten solche Kerle in der CocaCola-Werbung den Bürokühlschrank auf, heute stehen sie am Herd und kochen dir das beste Essen der Welt. Appetit auf mehr? Bald schwitzt der New Yorker im Wrestling-Drama „The Iron Claw“ auf großer Leinwand.

© PICTURE ALLIANCE / BILLY BENNIGHT / ADMEDIA Heißes am Herd. N°10 /  2023 21

NOAH LYLES TEMPOMAD

Für seine Konkurrenten ist es zum Davonlaufen. Über 100 und 200 Meter ist der Sprinter Noah Lyles momentan kaum zu schlagen. Der Amerikaner bricht jahrzehntealte US-Rekorde und ist dabei, das legendäre Vermächtnis von Usain Bolt zu überflügeln. Doch sind es seine Auftritte abseits der Rennbahn, mit denen der charismatische Anime-Fan eine neue Generation von AnhängerInnen für Leichtathletik begeistert. In Interviews dribbelt er die NBA aus, feuert KollegInnen bei deren Jagd nach Bestzeiten an und verdient für seine Fits auf Insta ebenso eine Goldmedaille.

© PICTURE ALLIANCE / LACI PERENYI N°10 /  2023 22
Schnell, schneller, Noah!

MELANIE PERKINS YES WE CANVA

Danke, Melanie Perkins. In einer Tech-Welt, die jeden Tag Probleme löst, die es gar nicht gibt, ist die Erfindung der Australierin für Millionen von Menschen unverzichtbar geworden. Das Online-Grafikprogramm Canva macht selbst aus unserer Mama eine stilsichere Designerin, der wir sonst erklären müssen, wie man Memojis auf WhatsApp verschickt. Als Lehrerin stellte Perkins fest, wie herkömmliche Anwendungen ihre Klassen überforderten. Also entwickelte sie ein so simples wie effizientes Gratis-Tool und wurde so zum CEO einer 26-Milliarden-Dollar-Firma.

©
N°10 /  2023 23
Ohne sie wäre unser CV optisch ein Friedhof.
CANVA

LILY GLADSTONE

POW-WOW-FRAU

Amerika redet gerne über sich. Manche Dinge lässt es dabei aber ebenso gerne aus. Zum Beispiel, wenn es um die Behandlung seiner indigenen Bevölkerung geht. Doch langsam werden auch solche Geschichten einem größeren Publikum erzählt. Lily Gladstone ist dabei eine der fesselndsten und furchtlosesten Wortführerinnen. Die Schauspielerin aus den Stämmen der Blackfeet und Nimiipuu hinterlässt einen bleibenden Eindruck in TV-Serien wie „Reservation Dogs“ und hat demnächst ihren großen Auftritt im neuen Film von Martin Scorsese „Killers of the Flower Moon“.

© PICTURE ALLIANCE / ROCCO SPAZIANI N°10 /  2023 24
Neben ihr verblasst selbst Leo DiCaprio.
TIMELESS PIECES FOR A CURATED WARDROBE DOCUMENTED BY ALICIA DUBUIS TALENT: AYAKO YOSHIDA STYLING: HANNA RUECKERT, H&M: NICOLA FISCHER DESIGNED AND MADE IN SWITZERLAND CASAVAYU.CH

HEIMVORTEIL

Manchmal braucht es einen Schritt zurück, um voranzukommen. Mit 18 Jahren reiste Jorja Smith nach London, um ein Star zu werden. Drei Jahre später war die Sängerin am Ziel: gefeiertes Debütalbum, zwei Brit Awards, die neue Stimme der Black Music. In der großen Stadt wurde ihr Seelenfrieden aber immer kleiner. Die Welt lag Jorja zu Füßen, doch konnte sie den Himmel nicht mehr sehen. Deshalb mutig zurück auf „Start“. Jetzt lebt die 26-Jährige wieder im Dorf ihrer Kindheit und klingt auf dem Album „Falling or Flying“ noch besser. Und irgendwie freier.

JORJA SMITH
Zurück zuhause und doch ganz weit vorn. © PICTURE ALLIANCE / PHOTOSHOT / AVALON N°10 /  2023 26

RICK ASTLEY THE POPFATHER

In den 80ern machte er uns die großen Versprechen: „Together Forever“, „Never Gonna Give You Up“. Doch im Gegensatz zu all den absprunggeilen Boyfriends hat sich Rick Astley daran gehalten. Selbst als wir ihn zum Meme degradierten, genoss der Sänger seinen zweifelhaften Zweitfrühling mit Humor. Jetzt herrscht in seiner Karriere wieder Hochsommer, seit der Engländer am diesjährigen Glastonbury Festival auf einer Wolke aus Pastellstoff und Haarspray alle überschwebte. Auch sein neues Album beweist: Seine Worte sind federleicht – und dennoch Gold wert.

© PICTURE ALLIANCE / PHOTOSHOT / JUSTIN NG / AVALON N°10 /  2023 27
Die 80er sind zurück – und Rick ebenso.

LION CHRIST BRAVARIA

Das Schlimmste an Lion Christs Debütroman „Sauhund“ ist, dass Rainer Werner Fassbinder nicht mehr am Leben ist, um ihn zu verfilmen. Der junge Autor erinnert sich an eine Zeit, die er selbst nicht erlebt hat. Und wirbelt auf fesselnde Art den schwulen Flori vom tristen Dorf durch dekadente Hauptstadtnächte. In Freddie Mercurys München erhofft sich der Protagonist die Befreiung, bleibt jedoch zunächst gefangen im Bayern von Franz Josef Strauß und der grassierenden AIDS-Panik. Wir hoffen, hier brüllt ein zukünftiger Löwe der deutschen Literatur.

©
Schmaler Bursche, laute Stimme.
PETER-ANDREAS HASSIEPEN N°10 /  2023 28
HANSER

Plastikabfall verschmutzt die Meere. Unsere Ozeane drohen zu gigantischen Mülldeponien zu werden – mit tödlichen Folgen für die Meeresbewohner. Unterstützen Sie unsere Kampagne für saubere Meere: oceancare.org

SPINAS CIVIL VOICES
Pfui Hui

PARIS HILTON STILL IT

Fürs Navigieren in der modernen Promiwelt hat Paris Hilton die Landkarte gezeichnet. Inzwischen hat die Blaupause für das Geschäftsmodell „InfluencerInnen“ ihre rosa Sonnenbrille abgenommen. Die Memoiren „Paris“ sind keine Auflistung der prickelndsten Champagnersorten, sondern eine Abrechnung mit der troubled teen industry, wo Jugendliche bei geringsten Auffälligkeiten in Erziehungscamps gesperrt und dort oft Traumata und Missbrauch ausgesetzt werden. Diesen Albtraum durchzustehen und trotz Spott und Widerständen den Frieden zu finden? That’s hot.

Die OG aller InfluencerInnen. © PICTURE ALLIANCE / ROD LAMKEY / CNP / MEDIAPUNCH N°10 /  2023 30

ANNA WEYANT

DENKMALERIN

Es braucht keine Schönfärberei, um Anna Weyants steilen Aufstieg in der Kunstwelt zu beschreiben. Ihr Pinselstrich schafft Unsterblichkeit: „Now I will live forever“, kommentierte Venus Williams die Enthüllung ihres Portraits. Das Werk ist der jüngste Coup der Kanadierin, deren Gemälde für Millionen-Beträge versteigert werden. Unserem Scheckbuch fehlen einige Nullen, doch fesselt uns der Stil der 28-Jährigen: Feministische Motive werden mit der Coloration holländischer Barockmalerei inszeniert und wirken dadurch ebenso kraftvoll und zeitlos.

Ohne Zaster bleiben wir nur Publikum.
N°10 /  2023 32
© JEFF HENRIKSON / GAGOSIAN

UNION CHIC

Ohne Menschen wie Michael Miller würden Stars auf dem Roten Teppich aussehen wie wir auf dem Weg zum Briefkasten vor dem ersten Kaffee. Der Celebrity Stylist hat bereits Willem Dafoe und Cillian Murphy in Schale geworfen. Doch im Gegensatz zu deren Schuhspitzen sind die Arbeitsbedingungen in Millers Branche nicht glänzend. Höchste Zeit, dieses Unrecht auszubügeln. Also gründete der Londoner die erste Gewerkschaft für Promi-StylistInnen. Inspirierte US-KollegInnen könnten nachziehen, und Hollywoods Studiobosse zupfen sich genervt am Hemdkragen. Gut so.

MICHAEL MILLER
Einer für alle und alle für einen.
N°10 /  2023 33
© MICHAEL MILLER

THE HYPE

„GIVE IT AWAY NOW.“

Text: Marina Warth
N°10 /  2023 34

FASHION

Trend DEINE MASCHE

Ob wir unsere herbstlichen Nachmittage nun an der Nadel verbringen oder damit, im WWW nach den heißesten Strickteilen zu forsten: Hauptsache, wir räumen dem Strick seine Vormachtstellung ein. Off-White zeigt, dass selbst das biedere Strickjäckchen Potential hat.

N°10 /  2023 35
In a world of trends, be a classic.

Collaboration

MOUNTAIN HIGH

Woran erkennt man eine SchweizerIn am Berg? An den Teilen von Mammut, die mindestens genauso oft im eidgenössischen Kleiderschrank zu finden sind wie Aromat in der Küche. Gemeinsam mit Zalando und Hiking Patrol hat Mammut diesen Herbst einen Klassiker für die Bergtour neu aufgelegt, das Modell Sapuen Log GTX. In Schwarz und Savannah erhältlich, unterstützt der Schuh das natürliche Abrollen des Fußes und passt sich mit seiner 3D-Memo-FoamDämpfung zudem optimal an dessen Form an. Natürlich stimmen Grip und die Gore-TexMembran, damit selbst beim übelsten Wetter und auf dem steinigsten Grat nichts schief geht. Mammut X Zalando X Hiking Patrol, „Sapuen Low GTX“, unisex, ca. 220.– (Zalando.com)

N°10 /  2023 36

Was, wenn man nicht nur die Liebe füreinander teilt, sondern auch die gemeinsame Leidenschaft?

Helmut Newton und Alice Springs verband die Faszination für den

Menschen, für dessen offensichtlichen und die verborgenen Seiten, für Gesichtszüge und Silhouetten und nicht zuletzt die Kamera, die all die Eindrücke auf Film

bannt. Die beiden Großen der Fotografie haben sich stets beim Arbeiten über die Schulter geblickt und mehr als einmal gerade dann auf den Auslöser gedrückt, wenn der eine

ein Meisterwerk kreierte. Diese intimen Aufnahmen gepaart mit gegenseitig fotografierten Portraits und zahlreichen über die Jahre entstandenen Fotografien des Who-is-

Who Hollywoods finden sich säuberlich sortiert und schön gebunden im Buch „Us and Them“. Helmut Newton & Alice Springs, „Us and Them“, Taschen, ca. 20.– (taschen.com)

Book LOVE STORY
N°10 /  2023 37

We love FLUFF

Die Steigerungsform von flauschig? Die Kollektion von Tekla und Birkenstock, die nicht nur mit cozy Kaftanen, Shirts und Shorts auftrumpft, die fürs Bett fast zu schade sind, sondern auch mit plüschigen Sandalen. Während die Sleepwear aus Bio-Baumwolle in Monochrome Slate, Mauve Stripes und Wheat Stripes daherkommt, bleiben die Treter aus weichem Lammfell komplett monochrom in den vier Farben Schwarz, Lavendel, Grau und Kükengelb. Die Nagoya Slip-on-Clogs und die Uji-Sandalen lassen uns dank Lammfellfutter wie auf Wolken schweben, während wir über die Straße schlendern – oder einfach nur in Richtung Schlafzimmer. Birkenstock X Tekla, Sleepwear ab ca. 130.–, Nagoya Slip-OnClogs, ca. 450.– und Uji-Sandalen, ca. 420.–(1774.com und tekla.com)

N°10 /  2023 38

Nice to have KEEPER

Nun ja, da sind wir eben, mitten im Herbst und direkt im Kälteschock. Bikini weg, Handschuhe her. Unser liebstes Paar holen wir uns bei Hermès, das den liebevollen Namen

„Heart“ trägt und aus glänzend poliertem Lammleder in diesem wunderbar dunklen Rotton besteht, der den Saisonwechsel ein wenig mildert.

It-Piece DOUBLE TROUBLE

Dem klassischen Deux Piece hängt der Mief der Business-90er nach. Das ändern Labels wie Louis Vuitton gerade, zeigen sie doch Kombinationen aus Hose und Blazer, auf denen so gar kein 0815-Stempel zu finden ist. Egal, ob Bluse und Rock oder Jacke und Culotte: Wir wollen Teile aus demselben Stoff, die gemeinsam doppelt punkten.

„I change my style maybe every month. I’m, like, punk one month, ghetto fab the next, classy the next.“
Kylie Jenner
N°10 /  2023 39
Hermès, „Heart“, ca. 890.–

BEAUTY

Because you’re a masterpiece.

Make-up Trend GEDULDSPROBE

Zu viel Kaffee ist ungesund – und kontraproduktiv dafür, wenn wir uns mit stiller Hand ans Auge wagen. Entdeckt bei Elisabetta Franchi, verliebt in Sekunden und ausgeführt in mehrmaligem Anlauf. Das Fazit: Mit flüssigem Eyeliner erst die Eckpunkte markieren und dann mit Schmackes drauflosmalen.

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New Perfume

BOUQUET

Die Natur liefert uns Lebensraum, Nahrung, Erholung – und nicht zuletzt: Inspiration. Dort bedienen sich auch Jacques Cavallier Belletrud und Frank Gehry, beides Künstler, der eine in der Parfumerie, der andere in der Architektur. Gemeinsam entwickelten sie „Myriad“, den Neuzugang zu Louis Vuittons Parfum­Familie „Les Extrait Collection“. Myriad gründet auf dem als schwarzes Gold bekannten Oud, das dem Duft seine Wärme verleiht. Dazu gesellen sich im pinkfarbenen Flakon Safran, Kakao, Ambrette und weißer Moschus. Apropos Flakon: Für dessen Deckel hat Frank Gehry mit Aluminium experimentiert und sich von natürlichen fluiden Formen in der Natur inspirieren lassen.

Les Extrait Collection, 100 ml, ca. 655.–

Movie A LIFE IN BEAUTY

Hinter den Kulissen der Laufstege werkeln die wahren KünstlerInnen. In den 70ern und 80ern stets mit dabei: François Nars, Make­up­Künstler, Fotograf, Creative Director und Papa seines eigenen Beauty­Brands. Nars hat sie alle erlebt, von Naomi Campbell bis Christy Turlington, und

nicht zuletzt etwa mit seinem Blush „Orgasm“ die Beauty­Welt erobert. 30 Jahre feiert Nars Cosmetics in diesem Jahr – Grund genug, aus dem Leben des Patrons einen Film zu machen. Dieser Aufgabe angenommen hat sich Lisa Immardino Vreeland, die Filmmaterial

aus dem alten Hollywood bis in die Neuzeit mit Backstage­Auftritten

François Nars’ und Laufsteg­Clips kombiniert und daraus eine Dokumentation kreiert, die auf die Must­See­Liste jedes Beauty­Fans gehört.

„Unknown Beauty: François Nars“, 90 Minuten (narscosmetics.com)

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Unfuck the World SEIFENOPER

Man kann einiges tun, um die Welt ein bisschen besser zu machen.

Zum Beispiel Stückseife zu benutzen anstelle der in Plastik verpackten Alternative. Da kommen die rechteckigen Lieblinge des Schweizer Labels

The Soap and the Sea genau richtig, die ausschließlich aus natürlichen, zertifzierten Bio­Inhaltsstoffen wie Kokosöl und Sheabutter bestehen. Auch für deren Parfümierung kommen rein natürliche Düfte wie Zitrone, Eukalyptus, Rosmarin, Mandarine oder Ingwer zum Zug.

Alles umweltfreundlich, frei von Palmöl, Plastik und Tierversuchen, vegan und komplett ohne doppelten Boden.

The Soap and the Sea stellt seine Stückseifen in Spanien am Meer im traditionellen Kaltverseifungsverfahren her und spendet die Hälfte seiner Gewinne für den Meeresschutz.

The Soap and the Sea, handgemachte Stückseife, 100 g, ca. 11.–(thesoapandthesea.com)

N°10 /  2023 42

„Actually, I wear nail polish to hide how grubby my nails are.“

Caroline Corr

Nice to have THE RITUAL

Nicht immer steckt das Geheimnis in der Formulierung einer Creme. Tatsächlich hilft es, sich für deren Auftragen genügend Zeit zu nehmen –und ein passendes Tool zur Brust. Das Label Sorea versorgt uns deshalb nicht

nur mit BeautyProdukten, die auf der vietnamesischen Heilmethode Dien Chan basieren, sondern auch mit dem passenden Werkzeug, um diese ins Gesicht und auf den Körper zu bringen.

Der Yang Doppelroller erreicht beim Rollen ganze 300 Reflexpunkte im Gesicht, löst dabei Energieblockaden, aktiviert die Durchblutung der Haut und unterstützt deren Regeneration. Zudem gibt’s einfach kein

besseres Gefühl, als sich für seine BeautyRoutine richtig Zeit zu nehmen. Sorea, „kleiner Yang Doppelroller“, aus nachhaltigen Materialien und teils handgefertigt hergestellt, ca. 136.– (sorea.ch)

Hair Trend HEIDI

Hübsch, was sich mit ein bisschen Fingerfertigkeit und einem Eimer Geduld so alles anstellen lässt. Haben wir demnächst mal etwas Zeit, nehmen wir uns diese kecke GretchenFrisur von Akris vor, mit der wir jeden Tag Oktoberfest feiern.

N°10 /  2023 43

TRAVEL

Places KRÄUTERGARTEN

Als biete Marrakesch nicht genug, um eine Reise dorthin zu legitimieren, liefert uns der LifestyleBrand LRNCE (mit den schönsten Living-Teilen ever) gleich noch einen Grund mehr. Dessen Mutter, die belgische Designerin Laurence Leenaert, hat mitten in der Medina nämlich ein Mekka geschaffen, dem DesignliebhaberInnen genauso wenig widerstehen können wie Moskitos nackten TouristInnenbeinen. Wie für ein Riad

üblich, bietet auch das Rosemary nur wenige Zimmer, gerade mal fünf – jedes davon minimalistisch und doch mit denen für LRNCE üblichen Spielereien eingerichtet. Während des Konzeptualisierens stets vor Augen: die marokkanischen Traditionen, die Mauern, in denen Leben steckt, und die Idee, bereits Bestehendes noch besser zu machen. Maßgefertigte Möbel, bunte Glastüren, von Hand gelegte

Fliesenböden und in Handarbeit aus Sandstein geschnitzte Stühle sind nur einige der Details, die erahnen lassen, weshalb es von der Idee bis zur effektiven Eröffnungen ganze drei Jahre gedauert hat, bis hier direkt um die Ecke des BahiaPalastes diese DesignOase entstanden ist.

Rosemary Marrakech, 25, Rue de la Bahia, Marrakesch, Marokko, Doppelzimmer mit Frühstück ab ca. 250.–(rosemarymarrakech.com)

Find yourself in other places.
N°10 /  2023 44
Hübsch, charmant und ab sofort auf unserer Bucket List.

Unfuck the World MELTING POT

Die Gletscher schmelzen. Das ist schlimm, das ist Fakt, und das sollte uns alle zum Nachdenken animieren. Das Schmelzwasser macht bis zu drei Prozent des Anstiegs des globalen Meeresspiegels aus, wie ein Forschungsteam der Universität Zürich 2021 bestätigte. Und weil der Mensch nur begreift, was er sieht, dokumentiert der Fotograf Jürg Kaufmann in seinem Projekt „Glaciers.Today“ den Rückgang des Piz Palü und dessen Persgletschers als Exempel für den weltweiten Gletscherschwund. Unter Glaciers. Today veröffentlicht er alle 30 Minuten ein weiteres Bild in Echtzeit und sensibilisiert damit die ganze Welt für das Thema Klimawandel –wenn es dafür noch nicht zu spät ist. glaciers.today/engadin

a

AM ENDE DER WELT

Keine menschlichen Fußspuren, kein Handynetz. Dort wo All Inclusive nur für Stirnrunzeln sorgt, sind wir genau richtig. David De Vleeschauwer und Debbie Pappyn führen uns an Orte, die in keinem Marco-PoloReiseführer zu finden sind. In „Remote Experiences“ wandeln wir auf

unberührten Pfaden vom Himalaya übers ewige Eis bis in die italienische Pampa und verneigen uns vor der Natur, die hier noch das Zepter in der Hand hält. David De Vleeschauwer & Debbie Pappyn, „Remote Experiences“, Taschen, ca. 50.–(taschen.com)

„I love the ending of
movie where two people end up together at the airport.“
N°10 /  2023 45
Taylor Swift

EAT&DRINK

FORZA ITALIA!

Henkersmahlzeit?

Spaghetti mit Sugo. Dass wir immer und immer wieder bei der italienischen Küche landen, ist kein Zufall. Parmigiano, Radicchio, Prosciutto: Das klingt aus dem Mund mindestens so gut, wie es auf der Zunge schmeckt.

Mercedes Lauenstein und Juri Gottschall haben sich mit ihrem Splendido Magazin ganz der südlichen Versuchung verschrieben und informieren dazu täglich über Zutaten, Rezepte und Küchentricks, die alte italienische Nonnas aus dem Ärmel schütteln wie der Casino­Betrüger seine Asse. Print schlägt digital, sorry, und deshalb gibt’s der beiden gesam­

meltes Wissen nun auch in einem zweiten Buch: „Splendido. Italienische Produktkunde und Rezepte“ ist unser Anker nach dem Italien­Urlaub und in der Küche sowas wie die beste Freundin, die einem aufmunternd auf die Schulter klopft. Der Fokus liegt dabei auf dem, was in der mediterranen Küche am meisten zählt: den Zutaten. Gemüse, Kräuter, Käse, Fette – zu allem und jedem haben Lauenstein und Gottschall was zu sagen und liefern zudem zahlreiche Rezepte obendrauf.

Mercedes Lauenstein & Juri Gottschall, „Splendido. Italienische Produktkunde und Rezepte“, Dumont, ca. 46.–

Book
N°10 /  2023 46
Stay out of the way and compliment the chef.

MEATLOVER

Je älter du bist, desto mehr Fleisch isst du. Das ist Fakt, herausgefunden im Rahmen einer Schweizer Studie der ZHAW und V-Kitchen. Ebenfalls erstaunlich: Gerade mal sechs Prozent aller befragten KonsumentInnen ernähren sich vegan, vegetarisch oder pescetarisch. Wer weniger oder gar kein Fleisch isst, reduziert seinen ökologischen Fußabdruck erheblich, schont Wasserressourcen und trägt zu einer nachhaltigen Landwirtschaft bei.

Nice to have PLATES, PLEASE

Auf dem richtigen Teller wirkt selbst ordinäre Pasta wie ein Meisterwerk. Bei uns landen nicht zuletzt deshalb die Keramik­Werke der Zürcherin Amina Gianola auf dem Esstisch. Lokal punktet – in der Küche genauso wie auf dem Teller, weshalb die 37-Jährige den Ton für ihre Keramik wann immer möglich aus der Schweiz bezieht. Mal schmückt mehr, mal weniger Farbe

die Tassen, Schalen und Becher, für die sich Gianola in der Natur oder von Begegnungen auf ihren Reisen inspirieren lässt. Ihre mittlerweile zwölf Kollektionen leben von Kontrasten: raue Oberflächen treffen auf samtene Glasuren, organische Formen auf geometrische Muster. Amina Gianola Ceramics, Zypressenstrasse 78, 8004 Zürich (aminagianola.shop/shop)

language in itself.“

Nice to know
„Coffee is a
Jackie Chan
N°10 /  2023 47

Hi-D

GRAND ALPINE ALTITUDE EXTRAVAGANZA

Photography: Patrick Viebranz @ Birgit Stöver

Art Direction: Lars Eden Laemmerzahl

Styling: Monique Finster

Hair & Make-up: Christian Olivier

@ Uschi Rabe using Laura Mercier & ghd Hair

Model: Eliza Kallmann @ Munich Models

Styling Assistance: Victoria Jacobi

Hose von ACNE STUDIOS. Schuhe von SANITA. Kopfbedeckung von GIUSEPPE TELLA.
N°10 /  2023 48

Links: Look von HERMÈS. Handschuhe von THOMASINE.

Rechts: Jacke und Rock von FERRAGAMO. Schuhe von ALBERTA FERRETTI. Kopfbedeckung von EDUARDA METZGER.

N°10 /  2023 51

Links: Oberteil und Rock von LOUIS VUITTON. Socken von CALZEDONIA. Schuhe von ISABEL MARANT.

Rechts: Unterwäsche von DOLCE & GABBANA. Kleid von FENDI. Ohrringe von STYLISTS OWN.

N°10 /  2023 52
Kleid von PRADA. Ohrringe von STYLISTS OWN. 55

Links: Look von BOTTEGA VENETA. Socken von FALKE. Schuhe von BIRKENSTOCK.

Rechts: Look von MIU MIU.

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DESIGN

Interview: Neda Hofer

Fotos: Yves Bachmann, Cyrill Matter

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Ikea-Möbel findet man in Bianca Gerbers

Wohnzimmer keine – Teile aus ihrer eigenen Kollektion dagegen schon. Die Designerin und Gründerin des Schweizer Interieur-Brands Les Bois berichtet, wie sie Nägel mit Köpfen gemacht hat und jetzt den Traum des eigenen Unternehmens lebt.

Es braucht Mut, mit Mitte 30 alles hinzuschmeißen und nochmals neu durchzustarten. Zum Glück hat Bianca Gerber Nerven aus Drahtseil und den Schritt Richtung Selbständigkeit gewagt.
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FACES: Wie kam es dazu, dass du Möbel-Designerin geworden bist und schlussendlich ein eigenes Möbelunternehmen gegründet hast?

Bianca Gerber: Ich bin eines Tages aufgestanden und habe mich selbst gefragt, was mich eigentlich erfüllt. Ich bin zum Entschluss gekommen, dass ich nicht mein ganzes Leben als Angestellte verbringen möchte, sondern etwas Eigenes hervorzubringen und als Unternehmerin durchzustarten. Schon als Teenagerin war ich fasziniert von Architektur, Design, Mode und Pop Culture. Ich konnte damals Stunden in Möbelhäusern verbringen und mir die Statik der Möbel ansehen. Also habe ich mir gedacht: „Hey, stell doch einfach selbst Möbel her!“ Mit 35 hat es relativ lange gedauert, bis ich zu dieser Erkenntnis gelangt bin. In London habe ich schließlich ein Jahr am Central Saint Martins College of Art and Design studiert. Das ging alles ziemlich schnell – und das kam mir ganz gelegen, wollte ich doch zurück in der Schweiz bald meine eigene Firma gründen. Zurück zuhause ging es dann direkt an die Planung: Ich erstellte den Businessplan, das Logo, den Namen und machte mir Gedanken zum Marketing, alles ganz alleine. Mein Ziel war es schon immer, etwas Eigenes aufzubauen und irgendwann mein eigener Boss sein zu können.

F: Warst du schon immer handwerklich begabt?

BG: Ich war schon früher in der Werkklasse ein fingerfertiges Kind und habe zuhause selbst Dinge gebaut. Wir hatten lange keinen Fernseher, stattdessen hat uns meine Mutter zum Kneten und Malen animiert. Mein Vater ist Kunstmaler und meine Mutter Psychologin, Designerin und Schneiderin. Ich glaube, die Kreativität wurde mir etwas in die Wiege gelegt – aber nicht nur. Ich habe so viele Facetten, und das ist nur eine davon.

F: Hattest du beim Aufbauprozess von Les Bois helfende Hände, oder hast du alles alleine gestemmt?

BG: Ich habe so viel wie möglich alleine gemacht – um das Logo zu gestalten, hätte mich eine Grafikerin beispielsweise einige Tausend Franken gekostet, und das konnte ich mir als Start-up zu Beginn nicht leisten. Also habe ich mich einen Tag lang hingesetzt und das Logo selbst skizziert. Bei komplexeren Themen wie etwa dem Business-Plan oder operativen Thematiken half mir ein guter Freund, der ein wichtiger Bestandteil beim Aufbau meines Brands war. Ohne InvestorInnen und einem großen Team im Rücken muss man etwas geduldiger sein. Das Gute dabei ist, dass alles organisch wächst und die Unabhängigkeit nicht verloren geht.

F: Was war auf deinem Weg als Unternehmerin und beim Aufbau von Les Bois bisher der größte Stolperstein, und wie hast du diesen überwunden?

BG: Eigentlich gab es nie einen Punkt, an dem ich komplett überfordert war. Immer, wenn ich an meine Grenzen gekommen bin, habe ich mir eine SpezialistIn an Bord geholt. Zum Beispiel war bei der Webseite von Anfang an klar, dass ich externe Hilfe brauchen würde. Ich habe aber auch die Einstellung, dass es für jedes Problem eine Lösung gibt. Der Start ins Unternehmertum ist aber auf jeden Fall nicht zu unterschätzen und bringt neben ersten Erfolgserlebnissen auch zahlreiche Hindernisse mit sich. Doch ich bin sehr ehrgeizig, und wenn ich etwas will, ziehe ich das auch durch.

F: Was war dein größter Meilenstein?

BG: Eine meiner jüngsten Errungenschaften ist die Zusammenarbeit mit dem internationalen Nachrichten- und Lifestylemagazin Monocle von Tylor Brûlé, worauf ich sehr stolz bin.

F: Gibt es etwas, was du bei der Gründung eines neuen Unternehmens heute anders machen würdest?

BG: Eigentlich nicht. Einzig würde ich an meinen perfektionistischen Zügen arbeiten und versuchen, mich weniger in Details zu verlieren.

F: Wenn Les Bois eine Person wäre, wie würdest du dir diese vorstellen?

BG: Ich würde sagen, bodenständig, bescheiden und zurückhaltend. Wahrscheinlich wohnhaft in den Schweizer Bergen und verwurzelt und im Einklang mit der Natur. Les Bois wäre definitiv eine Person, die zukunftsorientiert ist.

F: Was muss ein gutes Möbelstück alles können, und welche Ansprüche hast du mit Les Bois daran?

BG: Meine Möbel müssen funktional sein und dürfen nicht einfach nur gut aussehen. Sie sollten aus Materialien bestehen, hinter denen ich auch stehen kann: richtig deklariertes Holz, von dem ich weiß, woher es kommt. Dabei muss ich den Überblick und die komplette Kontrolle innehaben. Wo und wie das Material verarbeitet wird, ist besonders wichtig. Es sollte in einem Land produziert werden, in dem ArbeitnehmerInnen nicht nur für einen Hungerlohn und ohne Pipipause stundenlang arbeiten. Aufgrund dessen, dass meine Möbel in der Schweiz von Hand produziert werden, haben sie aber auch einen gewissen Preis. Ich würde jedoch nie Möbel auf den Markt bringen, die diesen Ansprüchen nicht gerecht werden.

F: Welches heimische Schweizer Holz ist dein Favorit?

BG: Momentan bin ich ein riesiger Fan der Räucher-Eiche. Die Eiche wird dabei durch Ammoniak natürlich verdunkelt. Das Holz bleibt jedoch nicht so wie bei anderen Lackierungen offenporig – das finde ich genial. Ich wollte unbedingt dunkles Holz anbieten, da ich den Schwarz-Faktor in Kombination mit minimalistischer Einrichtung so gut finde.

F: Wie sieht deine Zusammenarbeit mit Schweizer SchreinerInnen aus?

BG: Man sitzt zum Teil stundenlang zusammen und entwickelt das Produkt und die Statik und mehrere Prototypen, bis man den einen gefunden hat. Wir sind ein sehr eingefleischtes Team, und Vertrauen ist sehr wichtig für unsere Zusammenarbeit. Es war nicht einfach, die richtigen ProduzentInnen zu finden. Es hat auch Momente gegeben, in denen ich eine Zusammenarbeit abbrechen musste, weil es an Qualität oder Vertrauen gefehlt hat. Man muss hinter seinem Produkt stehen können – das Zwischenmenschliche ist dabei sehr wichtig. Aktuell bin ich jedoch sehr glücklich mit meinem Produzenten.

F: Was hebt Massivholz von verarbeitetem Holz ab?

BG: Das Spezielle am Massivholz ist, dass es offenporig ist und atmen kann. Wenn man es in ein Schlafzimmer stellt, reguliert es das Klima. Wenn es kälter wird, zieht sich das Material zusammen, und wird es wärmer, dehnt es sich aus – das fand ich bei meiner Recherche sehr interessant. Die Schweiz besteht zu 30 Prozent aus Wald. Da muss man kein Holz aus China importieren, damit es hier verarbeitet werden kann. Massivholz hat einen gewissen Charme, da es lebendig und individuell

LES BOIS

Möbel begleiten uns im besten Fall ein ganzes Leben lang. Mit ein Grund für die minimalistischen Designs, die Bianca Gerber für ihr eigenes Label Les Bois designt. Inspiriert wird sie dazu von der großen weiten Welt, wobei im Anschluss auf die Werkbank ihrer Schweizer ProduzentInnen ausschließlich naturbelassene heimische Hölzer kommen. Dass diese Sideboards und Regale die billigen IkeaGenossen um Längen überdauern, versteht sich da von selbst. shoplesbois.ch

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„Für mich war ein Nein immer ein Ja.“

ist und über eine gewisse Struktur verfügt.

F: Würdest du deine KundInnen eher als alte DesignHasen oder neumodische Hipster bezeichnen?

BG: Ich würde sagen, quer durchs Band. Ich schlage die Brücke zwischen Hippie und Banker. Unter meinen KundInnen sind alle möglichen Leute, was ich super interessant finde. Obwohl der alte Hase eher kritischer ist und auch höhere Ansprüche hat als der Hipster.

F: Welche ökologischen Praktiken fließen in die Produktion deiner Möbel?

BG: Einer der wohl wichtigsten Schritte in der Markenbildung und -entwicklung ist die Identität der Marke selbst, deshalb wollte ich meine Möbel nicht irgendwo auf der Welt herstellen, sondern lokal in Schweizer Schreinereien und ausschließlich aus heimischen Hölzern. Meine Zielsetzung war, so nachhaltig wie möglich meine Möbelmarke aufzubauen und zu vertreiben. Ich bin sehr stolz darauf, dass ich meinen Brand nachhaltig und ehrlich kultivieren kann und nicht einfach Greenwashing zu Werbezwecken betreibe.

F: Aus jedem Baum entsteht eine einzigartige Marmorierung; macht das den Charme von Massivholz aus?

BG: Genau! Wir Menschen sind auch nicht perfekt, wir alle haben unsere Macken und Eigenheiten. Beim Baum ist es genau so: Jede Maserung ist individuell und erzählt eine eigene Geschichte. So gibt es Risse und Macken. Meine Zielgruppe ist umweltbewusst und anspruchsvoll. Wer bei Les Bois ein Möbel kauft, schätzt die Qualität und kauft bewusst ein Unikat und kein Massenprodukt.

F: Deine Designs sind minimalistisch und haben keine Schnörkel. Welcher Gedanke steckt dahinter?

BG: Ich bin in meinem Leben viel gereist und von verschiedenen Orten inspiriert worden – am meisten jedoch von Tokyo. Die japanische Architektur mit hartem Beton und minimalistischen Holzmöbeln hat mich schon immer fasziniert. Sogar meine Visitenkarte ist von der japanischen Metro inspiriert. Jedenfalls wollte ich das Rad nicht neu erfinden und lieber etwas kreieren, das zeitlos ist und überall reinpasst. Meine Möbel finden überall Platz – sei es nun in einer modernen Wohnung, einem Geschäftsgebäude, Loft oder Chalet.

F: Wie nehmen Schweizerinnen und Schweizer Möbel wahr im Vergleich zum Ausland? Sind wir dazu bereit, mehr Geld für nachhaltige Möbel zu bezahlen?

BG: Ich bin nur im lokalen Markt und habe keinen großen Vergleich. Ich habe zwar in London gelebt und bin mit großem Herzschmerz zurückgekommen, aber für ein Start-up ist die Schweiz ideal. Meine Target-Customers sind SchweizerInnen, die sich meine nachhaltigen Möbel auch ohne Augenzwinkern leisten können.

F: Was bereitet dir am meisten Freude, wenn du morgens aufstehst und an deine Arbeit denkst?

BG: Ich freue mich jeden Tag auf eine neue Challenge. Es gibt fast täglich etwas Neues, das ich mit Les Bois bewältigen muss – das treibt mich an und jagt mich morgens aus dem Bett. Aktuell bin ich in einer Phase, in der ich viel Resonanz bekomme, und da muss man perfektionistisch sein. Aber genau diese Passion ist der Grund, weshalb ich ein Start-up gegründet habe.

F: Gibt es bei dir zuhause auch Ikea-Möbel? Und was hältst du allgemein von Ikea-Möbeln?

BG: Bei mir zuhause stehen zurzeit keine Ikea-Möbel, in meinen jüngeren Jahren sah das allerdings anders aus.

Das Grundkonzept von Ikea ist schon ziemlich cool, Einzelteile zu verpacken und sie dann als einfach transportierbare Do-it-yourself-Artikel zu verkaufen. Ikea bietet teilweise echt schöne Designs an. Die aktuelle VarmblixtKollektion von Sabine Marcelis finde ich brillant.

F: Mal angenommen, du dürftest das Wohnzimmer deines größten Idols mit Les-Bois-Möbeln ausstatten, wessen Wohnzimmer wäre das?

BG: Wahrscheinlich Steve Jobs – er lebt zwar nicht mehr, aber ich bewundere ihn als Visionär, und es wäre eine riesige Challenge gewesen, sein Haus einzurichten. Er hatte ein riesiges Anliegen und war so perfektionistisch, dass er dieses nie richtig möbliert hat. Es existieren Bilder von ihm, wie er mitten in einem leeren Wohnzimmer allein mit einer einzigen Lampe sitzt. Solche Challenges liebe ich.

F: Du hast einmal erwähnt, dass deine rebellische Seite auch in deine Möbel fließt. Wie schlägt sich dieser Rebellionsdrang in deinen Möbeln nieder?

BG: Ich glaube, ich bin eine Mischung aus Punk und Spießerin. Ich liebe einen gewissen Grad an Luxus, verreise gerne, mag schöne Dinge, aber wenn man ein Start-up aufzieht, ist man automatisch auch ein Punk: Man betritt ein Feld des Unbekannten und braucht viel Power, um sein Ding auch bei einem Nein durchzuziehen. Für mich war ein Nein immer ein Ja – in dieser Hinsicht bin ich eine kleine Rebellin.

F: Gibt es bestimmte Möbelstücke aus deiner Kollektion, auf die du besonders stolz bist?

BG: Ich habe kein spezifisches Lieblingsstück; das Sideboard war jedoch mein erstes Möbel, das ich ins Leben gerufen habe, quasi der goldene Schnitt, der natürlich einen emotionalen Wert hat. Das Sideboard steht immer noch in meinem Wohnzimmer und stellt für mich den Beweis dar, dass ich an einem Punkt die Flagge eingeschlagen habe.

F: Hat sich deine Sichtweise auf Führungspositionen dadurch verändert, dass du nun dein eigener Boss bist?

BG: Meine Sichtweise hat sich mit mehr Verantwortung sicherlich verändert. Man muss viele Entscheidungen treffen – klar kann man sich andere Meinungen und Expertisen einholen, doch im Endeffekt muss man viel alleine erledigen. Das ist manchmal nicht ohne. Meine Philosophie war dabei stets: learning by doing.

F: Gibt es ein spezielles Feedback von deinen KundInnen, das dir besonders in Erinnerung geblieben ist?

BG: Ich liefere meine Möbel immer noch selbst aus, was die KundInnen sehr schätzen. Einer der schönsten Momente war für mich, als ich kürzlich ein Möbelstück an eine Käuferin ausgeliefert habe: Sie hat sich so darüber gefreut, dass sie mir anschließend eine herzliche Mail mit Fotos ihres dekorierten Wohnzimmers zukommen ließ. Ich glaube, das sind die Momente, an denen ich festhalten muss.

F: Gibt es bestimmte Projekte oder Kooperationen, die du mit Les Bois gerne noch realisieren würdest?

BG: Es laufen gerade mehrere Projekte parallel. Ein eigener Showroom zu bewirtschaften, steht sicherlich ganz oben auf meiner Liste. Außerdem bin ich schon in der Startposition für eine neue Kollektion; Tische, Betten und Stühle werden in die nächste Produktentwicklungsphase gebracht. Auch den Wiederverkauf meiner bestehenden Kollektion treibe ich voran.

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„Ich schlage die Brücke zwischen Hippie und Banker.“
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Schweizer Design, Schweizer Holz: Les Bois gestaltet minimalistische Möbel für Menschen, die Wert auf Individualität und Nachhaltigkeit legen.

BEAUTY REPORT Fall/Winter 2023

Schönheit ist relativ. Was wir dagegen suchen wie die Motten das Licht: den Mut, über Grenzen hinaus zu malen. Deshalb heben wir den Daumen für jene Looks, für die unsere Kinnlade ins Bodenlose fällt, für Make-up, das auf die Leinwand gehört, und für Gesichter, die wir einmal gesehen, nicht mehr aus dem Gedächtnis streichen.

Redaktion: Marina Warth – Fotos: Launchmetrics SpotlightSM

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BEST COLOR

Der Winter ist so düster, dass wir so laut nach Farbe schreien, bis sich diese zwischen den Wolken hervortraut.

RICHARD QUINN

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BEST BANGS

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Ohne Vorhang ist die Bühne bloß ein Brett. Deshalb gehört ein Pony jetzt in jedes Gesicht, damit auf den gekonnten Augenaufschlag direkt die Standing Ovations folgen. GIVENCHY

BEST BROWS

Tatsächlich hat die Braue mehr im Köcher als man ihr zugestehen würde. Bei Off-White kommt Farbe ins Spiel, die den Look aufs Treppchen hebt.

OFF-WHITE

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BEST ACCESSORY

Manchmal wird das Gesicht zur Leinwand und die Brille zur Protagonistin. Dann lehnen wir uns zurück und gönnen dem Accessoire die Aufmerksamkeit.

OTTOLINGER

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BEST HAIR

Ob Diebesgut oder Erbvorbezug: Wir schmücken unsere Federn mit allem, was blitzt und glänzt, und sparen uns damit das Aufräumen der Schmuckschatulle.

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BEST NAILS

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Wir legen den dicken Pinsel beiseite und lassen den kleinen ans Werk. Das braucht Geduld und etwas Fingerfertigkeit – lohnt sich aber. ANIYE RECORDS

BEST EYES

Der Balzakt der Texturen ist ein gefährliches Spiel und dessen Resultat stets ungewiss. Bei Roberto Cavalli gewinnt der Wet-Look allerdings mit zehn Metern Vorsprung.

ROBERTO CAVALLI

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BEST SKIN

Genügend Schlaf, ausreichend Wasser und dazu keine Sorgen: Wer die Grundlagen beherzigt, der schafft mit Foundation, Puder und Pinsel ein Kunstwerk, MAX MARA

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BEST LIPS

Sie ist eine gefährliche Gegnerin, die Venusfliegenfalle. So hübsch anzusehen und doch so tödlich, dass wir es kaum wagen, diesen Vergleich weiter auszuführen. BUERLANGMA

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Nicht jeder hat ihn, diesen Glow, auf den sich die Aufmerksamkeit stürzt wie ausgehungerte Paparazzi auf den spazierenden Alt-Star.

BALMAIN

BEST GLOW
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BEST LOOK

Wer sich selbst die Krone aufsetzt, sitzt unweigerlich auf dem Thron. Nun, wenn vom Teint über die Lippe bis zu den Lidern alles passt, haben wir gar nichts einzuwenden. DIOR

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ART IS PRESENT EXPERT

Wer Kunst kuratiert, braucht ein gutes Auge. Und den Mut, auch einmal bestimmt Nein zu sagen. Attribute, die Marina Paulenka als Director of Exhibitions in der Fotografiska Berlin allemal mitbringt.

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Redaktion: Adrienne Meyer, Marina Warth Foto: Fotografiska Berlin

FACES: Du bist Director of Exhibitions bei der Fotografiska Berlin, einem Museum, das sich ganz der Kunst verschrieben hat. Wie muss man sich deinen Alltag vorstellen?

Marina Paulenka: Als Ausstellungsleiterin bin ich verantwortlich für die gesamte Ausstellungsstrategie sowie die künstlerische Leitung der Fotografiska. Ich habe das Vergnügen, die Ausstellungen lokaler und internationaler KünstlerInnen zu kuratieren und als Mitglied des Ausstellungskomitees mit meinen großartigen KollegInnen auf lokaler und internationaler Ebene zusammenzuarbeiten. Ich betrachte die Fotografiska als einen bedeutenden Ort für Fotografie und zeitgenössische Kultur, der KünstlerInnen eine Plattform bietet, sich auszudrücken. Wir zeigen die Werke etablierter genauso wie aufstrebender KünstlerInnen, und es ist uns besonders wichtig, Arbeiten aus ganz verschiedenen Karrierestadien zu zeigen – von StudentInnen bis hin zu anerkannten Profis.

F: Was ist die wichtigste Fähigkeit, die du für deine Arbeit brauchst?

MP: Die wichtigste Fähigkeit, die ich für meine Rolle bei der Fotografiska Berlin benötige, ist natürlich das Wissen über die Geschichte der Kunst und der zeitgenössischen Kunst sowie über zeitgenössische Fotografie. Da ich selbst auch Künstlerin bin, verstehe ich den Prozess auf beiden Seiten. Daneben ist es auch wichtig, die Kunst des aufmerksamen Zuhörens gegenüber KünstlerInnen zu beherrschen. In diesem dynamischen Umfeld liegt die Grundlage des Erfolgs in der Fähigkeit, wirklich zuzuhören und zu verstehen, was die KünstlerInnen ernsthaft zu vermitteln versuchen, und gleichzeitig auch die Erwartungen unseres Publikums zu verstehen.

F: Wie ist es, in der Kunstbranche zu arbeiten?

MP: Es inspiriert mich sehr, mit KünstlerInnen, Kulturschaffenden und Kreativen zu arbeiten – es ist nie langweilig, sondern sehr bereichernd. Kunst ist entscheidend für unsere Kultur sowie unser persönliches und gesellschaftliches Wachstum. Ich stehe auch in Kontakt mit ExpertInnen aus verschiedenen Bereichen, um Verbindungen zu knüpfen. Sich in der Kunstindustrie zu engagieren, ist eine unglaublich inspirierende Erfahrung. Die Zusammenarbeit mit Menschen, die in der Welt der Kunst zuhause sind, beflügelt nicht nur meine Kreativität, sondern bietet auch eine einzigartige Perspektive. Mein Engagement geht jedoch über den Kunstsektor hinaus; ich pflege aktiv Verbindungen zu verschiedenen Branchen. Dieser vielseitige Ansatz ermöglicht es mir, Brücken zwischen unterschiedlichen Bereichen zu errichten, die die Entdeckung neuer Ideen, innovativer

Lösungen und noch nie dagewesener Wachstumschancen erleichtern.

F: Welche Klischees über die Kunstbranche sind wahr und welche sind falsch?

MP: Es ist wahr, dass die Menschen in der Kunstbranche unglaublich vielfältig und aufgeschlossen sind. Diese Vielfalt ist für mich eine Quelle der Inspiration, denn sie führt zu einer reichen Mischung von Perspektiven und kreativen Ansätzen. In der Kunstszene finden sich oft Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund zusammen, was ein Umfeld schafft, in dem sich ganz viele verschiedene Stimmen und Ansichten entfalten können. Die Bereitschaft, unkonventionelle Ideen zu erforschen und den Status quo in Frage zu stellen, ist ein Markenzeichen derjenigen, die in der Kunstbranche tätig sind. Ein Vorurteil, das nicht stimmt, ist, dass die Menschen in dieser Branche Snobs sind. Natürlich gibt es, wie übrigens in jeder Branche, auch elitäre Personen, aber es wäre falsch, die gesamte Szene in einen Topf zu werfen.

F: Was ist der beste Ratschlag, den du während deiner 15-jährigen Karriere in der Kunstszene erhalten hast, und was ist dein wertvollster Ratschlag, den du gerne weitergeben würdest?

MP: Sei nett und fair zu den Menschen. Wenn du eine Vision hast und hart daran arbeitest, zu deinen Entscheidungen stehst und Risiken eingehst, ist absolut nichts unmöglich.

F: Was gefällt dir an deiner Arbeit am besten, und was ist die größte Herausforderung?

MP: Was ich an meiner Arbeit am meisten schätze, ist die Unvorhersehbarkeit, die jeder Tag mit sich bringt. Die Vielfalt und Einzigartigkeit eines jeden Tages mit seinen besonderen Herausforderungen und Möglichkeiten ist das, was ich besonders mag. Andererseits kann genau diese Unvorhersehbarkeit auch die größte Herausforderung darstellen. Die Anpassung an die sich stetig wandelnde Umgebung ist zwar belebend, erfordert aber auch die ständige Bereitschaft, sich dem Unbekannten zu stellen und innovative Lösungen zu finden.

F: Du arbeitest mit vielen KünstlerInnen zusammen. Was macht eine gute FotografIn aus?

MP: Gute FotografInnen sind authentisch, ehrlich und nutzen die Kraft der Kunst, um positive Veränderungen zu bewirken.

F: Woran erkennst du ein gelungenes Foto?

MP: Für mich geht es bei der Fotografie, wie bei jedem anderen Medium auch, nicht um Stil oder Ästhetik, sondern vielmehr um die Botschaft, die Idee, das Konzept, den Gedanken, die Geschichte und die Absicht dahinter.

Kunst hat viele Gesichter. Als Director of Exhibitions entscheidet Marina Paulenka, welche Werke in der Fotografiska Berlin ausgestellt werden – und definiert damit Kunst jeden Tag neu. Was es braucht, um in dieser Szene zu bestehen und weshalb KI nicht zwingend den Untergang der Kreativität bedeutet? Nun, einfach weiterlesen.
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Aktualität und Relevanz sind mir wichtig, wenn ich Fotografien betrachte. Das bedeutet nicht, dass ich nicht von der brillanten Technik und Bildsprache einer FotografIn beeindruckt bin. Beide Aspekte sind wichtig.

F: Nach welchen Kriterien wählst du die Werke aus, die in der Fotografiska Berlin ausgestellt werden?

MP: Unsere Kriterien entwickeln sich ständig weiter, um sicherzustellen, dass wir dynamisch und innovativ bleiben. Wir stehen im ständigen Austausch, um diese Kriterien neu zu definieren und sicherzustellen, dass sie mit unserem Engagement für Frische und Neuartigkeit in Einklang stehen.

F: Was muss eine KünstlerIn unternehmen, um ihre Werke bei euch ausstellen zu können?

MP: Entscheidend ist, dass man seine Arbeit als KünstlerIn nicht versteckt, sondern sie mit unerschütterlichem Selbstbewusstsein präsentiert. Unser angeborenes Gespür für die Entdeckung bemerkenswerter Kreationen entfaltet sich mit der Zeit ganz natürlich, also sollte man seine künstlerische Stimme ohne Vorbehalt erklingen lassen.

F: Woran erkennst du Talent?

MP: Talent zeigt sich, wenn es jemandem gelingt, nicht nur mich selbst, sondern auch andere um sich herum zu inspirieren.

F: Welche Art von Kunst wird in der Fotografiska Berlin nie ausgestellt werden?

MP: In der Fotografiska Berlin verfolgen wir einen integrativen Ansatz, der eine breite Palette von Kunstformen umfasst, darunter Video, Performances und verschiedene kreative Ausdrucksformen. Unsere Mission ist es, Brücken zu bauen und nicht zu spalten. Daher sind wir verpflichtet, jegliche Kunst zu vermeiden, die unser Ziel untergräbt, die Verbindung und das Verständnis zwischen verschiedenen Zielgruppen zu fördern.

F: Welche Art von Kunst hängt bei dir zuhause an den Wänden?

MP: Ich besitze die Werke von befreundeten KünstlerInnen, die sich im Laufe der Jahre angesammelt haben. Jedes einzelne Stück ist mit einer Erinnerung verbunden, das gefällt mir.

F: Wie wird der monetäre Wert von Kunst bestimmt?

MP: Das ist eine Frage für den Kunstmarkt. Es gibt viele Kriterien, und ich denke, dass dies ein separates Thema ist. Bei Fotografiska kaufen oder verkaufen wir keine Kunst.

F: Kann man Kunst lernen, sowohl in ihrer Bewertung als auch in ihrer Schaffung?

MP: Auf jeden Fall. Ich bin der Überzeugung, dass jeder Mensch einen latent kreativen und inspirierenden Aspekt in sich trägt. Durch Lernen und Erforschen sowohl in Bezug auf die Bewertung von Kunst als auch auf das aktive Schaffen von Kunst kann diese angeborene künstlerische Fähigkeit durchaus noch mehr gefördert und entwickelt werden.

F: Lässt sich Kunst überhaupt konstruktiv kritisieren?

MP: Selbstverständlich ist jegliche Kunst offen für konstruktive Kritik, da sie als Ausgangspunkt für bedeutungsvolle Gespräche dient. Diskussionen, die sich mit den Nuancen des künstlerischen Ausdrucks befassen, ermöglichen ein tieferes Verständnis und eine größere Wertschätzung des Werks und fördern einen reichhaltigen Austausch von Perspektiven.

F: Wie formulierst du deine Absagen an eine KünstlerIn, wenn ihr euch dazu entschlossen habt, deren Werke nicht bei euch zu zeigen?

MP: Ich denke, die Höflichkeit bei einer Ablehnung liegt in der Aufrichtigkeit der Worte, der professionellen Wertschätzung und dem Respekt vor der gesamten Interaktion mit der betreffenden Person. Im beruflichen Kontext können Absagen Wachstum auslösen, was ein äußerst wertvoller Gewinn ist, auch wenn eine Ablehnung für uns Menschen nie angenehm ist. Im Grunde geht es darum, sich in die andere Person hineinzuversetzen, deren Perspektive einzunehmen und entsprechend Einfühlungsvermögen zu zeigen.

F: Welches sind die Top drei Museen, die man unbedingt besuchen sollte, und welches kann man auslassen?

MP: Da beschränke ich mich der Einfachheit halber auf Berlin: Gerne schaue ich mir an, was in der C/O Berlin, im Gropius Bau, im Hamburger Bahnhof und in den vielen interessanten kleinen, unabhängigen Kunsträumen in Neukölln passiert. Im Currywurst­Museum würde man mich nicht finden, obwohl… vielleicht macht das ja Spaß!

F: Was sind die Schattenseiten der Digitalisierung und der sozialen Medien für Künstschaffende, und worin bestehen deren Chancen?

MARINA PAULENKA

15 Jahre Kunstbranche hat Marina Paulenka bereits auf dem Buckel. So war die Position als Director of Exhibitions bei Fotografiska Berlin eine logische Konsequenz. Ihre Sporen hat sich Paulenka etwa bei der UNSEEN Foundation in Amsterdam verdient oder als künstlerische Leitung des Internationalen Fotofestivals Organ Vida in Zagreb. Das ruft BewundererInnen auf den Plan – und Preise, wie etwa den Lucie Award als beste Kuratorin, den sie 2018 für ihre Arbeit einsacken konnte. Seit Mitte September 2023 ist die Fotografiska Berlin in der deutschen Hauptstadt der neue Ort für Kunst­Fans und jene, die nicht nur einen verregneten Nachmittag mit Kultur füllen wollen, sondern auch einen ganzen Abend. Das Museum hat jeden Tag bis 23 Uhr geöffnet.

Fotografiska Berlin –

The Contemporary Museum of Photography, Art and Culture Oranienburger Straße 54, Berlin fotografiska.com/berlin

MP: Soziale Medien im Allgemeinen verdeutlichen mir eines ganz klar: Visualität ist einer der tiefgreifendsten Akteure unserer Zeit und ein Ort der wichtigsten Fragen. Bilder umgeben uns, wir nehmen die Welt durch sie wahr. Wir haben Erinnerungen, die auf Bildern basieren. Das alles führt unweigerlich dazu, dass die visuelle Kultur viel Kritik einstecken muss. Die Frage ist, wie man sie kontextualisieren und Wissen schaffen kann. Im Kunstbereich herrscht eine Atmosphäre des transdisziplinären Experimentierens über Bereiche und Sektoren hinweg vor. Was wir jedoch brauchen, ist eine neue kulturelle Kompetenz, die es KünstlerInnen ermöglicht, über mögliche Zukunftsszenarien zu berichten und zu spekulieren – wie bei jeder Technologie.

F: Ist KI-generierte Kunst genauso zu bewerten wie Kunst, die ohne deren Hilfe entsteht?

MP: Es handelt sich um einen neuen Bereich, der sich sehr schnell entwickelt und immer besser wird. Aber inspiriert uns KI auch? Vielleicht, ich bin offen dafür, denn dahinter stehen ja auch Menschen, die die Maschine oder die Software mit Informationen füttern müssen. Aber ich bin sicher, dass diese KünstlerInnen und FotografInnen nicht überflüssig machen wird. Die Fotografie als Medium war schon immer eng mit dem technologischen Fortschritt verwoben. Das Aufkommen der KI fügt dieser Dynamik eine neue Ebene hinzu. KIgenerierte Bilder können zwar mit bemerkenswerten technischen Fähigkeiten glänzen, entscheidend ist jedoch die emotionale und konzeptionelle Resonanz, die sie hervorrufen. Das schließt jedoch nicht aus, dass KI den KünstlerInnen auch als Werkzeug dienen kann, das ihren kreativen Prozess unterstützt, anstatt ihn zu ersetzen. KI fügt der Kunst eine weitere Ebene hinzu, allerdings müssen wir mit diesem Werkzeug sehr vorsichtig sein.

F: Von welcher Art von Fotografie kannst du nie genug bekommen?

MP: Bilder von Katzen in meinem Instagram­Feed. (lacht)

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JAZZ
80 N°10 /  2023
Fotos: Philip Arneill
Jericho, Sapporo N°10 /  2023 81
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Corner Pocket, Shinjuku-ku, Tokyo (mittlerweile geschlossen)

Eigentlich geht’s um die Liebe. Die Liebe zu Plattenspielern und Bierflaschen, zu Holzhockern und Zigarettenrauch und zu diesen Bars, mehr Schuhschachtel denn Großraum, die Japans Straßen ihr Gesicht geben. Mehr und mehr jedoch verschwinden die charmanten Jazz-Kneipen, denen Philip Arneill und James Catchpole mit ihrem Buch „Tokyo Jazz Joints“ für immer ein Zuhause geben.

83 N°10 /  2023

Links oben: Miles, Setagaya-ku, Tokyo

Rechts oben: Narcissus, Shinjuku-ku, Tokyo

Links unten: Samurai, Shinjuku-ku, Tokyo

Rechts unten: Pithecanthropus Erectus, Ota-ku, Tokyo

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86 N°10 /  2023
Majorica, Kyoto N°10 /  2023 87

Links oben: Fuudo, Kitakyushu

Rechts oben: Pithecanthropus Erectus, Ota-ku, Tokyo

Links unten: Coltrane Coltrane, Tosu

Rechts unten: „Freedom and Jazz go hand in hand quotation.“

Zitat von Thelonius Monk auf Toilettentür Pithecanthropus Erectus, Ota-ku, Tokyo

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N°10 /  2023 89
Minton House, Yokohama N°10 /  2023 90

TOKYO JAZZ JOINTS

Geteilte Leidenschaft ist doppelte Leidenschaft. Kein Wunder, mündet die Begegnung des nordirischen Fotografen Philip Arneill und des amerikanischen Radiomoderatoren James Catchpole in einem Buch. Die Liebe zu Japan und zur schwindenden Kultur der Jazz-Bars in dessen Gassen schweißt die beiden aneinander wie den Trinker an den Barhocker. 190 Bars hat Arneill abgelichtet, gemeinsam mit Catchpole 56 PodcastFolgen dazu produziert und mit dem Werk „Tokyo Jazz Joints“ dem Freundschaftsprojekt mitunter die Krone aufgesetzt.

Philip Arneill mit James Catchpole, „Tokyo Jazz Joints“, 129 Farbfotografien, Kehrer, ca. 45.–(tokyojazzjoints.com und @tokyojazzjoints / philiparneill.com und @philiparneill)

91 N°10 /  2023

SPEEDFIGHT

FACES: Du betreibst seit vielen Jahren Motorsport. Was treibt dich dazu an, jedes Mal aufs Neue auf der Rennstrecke dein Leben zu riskieren?

Patrick Dempsey: Darüber denke ich ehrlich gesagt gar nicht zu viel nach. Ich bin mir natürlich der Gefahren bewusst, aber der Rennsport hilft mir auch dabei, mich mental zu verlangsamen. Diese komplette Konzentration und Fokussierung ist das, was mir so gut gefällt. Man könnte fast sagen: Das schnelle Fahren beruhigt mich.

F: Dennoch hast du 2015 eine Pause eingelegt, richtig?

PD: Ja, das habe ich. Damals hatte ich all meine Ziele erreicht und mich dazu entschlossen, wieder mehr Zeit in meine Familie zu investieren und für meine Kinder da zu sein. Sie wachsen, werden älter und brauchen uns als Eltern nicht mehr so sehr wie früher. Sie machen also ihr eigenes Ding – genauso wie ich es tue. Der Rennsport ist gut für meine Seele und für meinen Kopf – es macht mich einfach glücklich. Natürlich hält mich der

x Porsche

Interview: Nadia Hartzer

Fotos: TAG Heuer

Sport auch in Form, aber ich liebe auch die Kameradschaft, die Zusammenarbeit im Team und den Nervenkitzel des Wettbewerbs.

F: Betreibst du noch andere Extremsportarten?

PD: Die Frage ist doch, wie man extrem definiert. (lacht) Ich fahre Ski, wenn man das ebenfalls zu Extremsportarten zählen mag. Ansonsten bin ich mit dem Rennsport gut ausgelastet.

F: Das glaube ich! Du bist schließlich auch das 24-Stunden-Rennen in Le Mans gefahren – und das nicht zum ersten Mal. Wie hast du dich darauf vorbereitet?

PD: Tatsächlich hatte ich bereits vier Mal die Gelegenheit, in Le Mans an den Start zu gehen. Mittlerweile bin ich schon so viele Rennen gefahren, dass ich sie gar nicht alle zählen kann. 2004 und 2005, als ich damals mit dem Rennsport begann, war es eines meiner größten Ziele, nach Le Mans zu kommen. Und ich habe es geschafft!

F: Wie hast du dein Ziel visualisiert?

Patrick Dempsey gibt nicht nur auf der Leinwand Vollgas, sondern auch auf der Rennstrecke. Begeisterung ist ansteckend – und so ist Dempsey genau der Richtige, um als Geschwindigkeitsfanatiker und Ambassador von TAG Heuer über die neue TAG Heuer Carrera Chronosprint
zu sprechen.
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RACE

PD: Es war mein Ziel, in Le Mans auf dem Treppchen zu stehen. Als ich 2006 zum ersten Mal in Le Mans war, bin ich nach dem ersten Training die leere Rennstrecke und die Boxengasse entlang spaziert und auf das Podium zu. Und da habe ich zu mir gesagt: Da musst du hin! 2009 bin ich dann zum ersten Mal in Le Mans gefahren, bevor ich während einigen Jahren aussetzen musste. Ab 2013 war ich dann wieder mit dabei und habe mich tatsächlich von ganz unten nach oben in die Garage von Porsche gearbeitet.

F: Erinnerst du dich daran, was dir bei deinem ersten Mal auf der Strecke durch den Kopf ging?

PD: Bevor ich mich damals ins Auto setzte, haben mich alle total besorgt gefragt: Hast du Angst? Bist du nervös? Dabei gab es zu dieser Annahme gar keinen Grund. Ich fühlte mich wohl, weil ich emotional nicht überwältigt war, sondern einfach bereit dafür, dieses Rennen zu fahren.

F: Scheint fast so, als wärst du ein Geschwindigkeitsjunkie! Gilt das auch für dein Privatleben?

PD: Ich gehe heute anders ans Leben heran als noch vor einigen Jahren. Während ich für die Arbeit in Rom war, habe ich mir die römische Geschichte zu Gemüte geführt und entdeckte zufälligerweise Marcus Aurelius beim Meditieren. Diese Art von Stoizismus und diese Philosophie haben mich sofort beeindruckt, und seitdem gehört die Meditation jeden Morgen zu meinem Ritual. Es braucht nicht einmal mehr als zwei oder drei Minuten, um sich auf sich selbst zu fokussieren, runterzukommen und bei sich anzukommen. Das hat mir übrigens auch auf der Strecke geholfen, um meine eigenen Emotionen besser verstehen sowie meine Atmung steuern zu können. Da ich viel unterwegs bin, fällt es mir schwer, mich an einen Trainingsplan zu halten und auf dem Niveau zu trainieren, das ich gerne hätte. Durch die Meditation gehe ich damit nun aber viel entspannter um.

F: Tatsächlich hast du ja auch deinen eigenen Rennstall, Dempsey Racing, gegründet!

PD: Nun ja, das stimmt nicht ganz, ich habe ein Team gekauft, das dabei war, bankrott zu gehen. (lacht) Nachdem ich es gekauft hatte, wurde mir langsam klar, weshalb es pleite ging. Aber das gehörte mit zum Spiel, denn ich wollte mein eigenes Team haben, über das ich die Kontrolle habe und in dem ich die Dynamik bestimmen kann. Dadurch habe ich heute viel mehr Respekt vor solchen BesitzerInnen, habe ich doch gelernt, was es bedeutet, zu führen.

F: Welches Konzept verfolgst du mit Dempsey Racing?

PD: Mein Geld dafür auszugeben. (lacht) Nein, Spaß beiseite. Es geht mir einfach um den Rennsport und darum, meiner Leidenschaft zu frönen.

F: Luxus kann ein Porsche sein, eine Uhr von TAG Heuer oder die Möglichkeit, Motorsport zu betreiben. Wie definierst du Luxus für dich?

PD: Meiner Ansicht nach dreht sich alles um die Produktion und die Herkunft eines Gegenstandes. Ich mag Dinge, die handgefertigt sind und aus guten, langlebigen Materialien bestehen. Ich fahre da das Prinzip, etwas Teureres zu kaufen, damit ich nicht fünf oder sechs Stück davon erwerben muss, sondern nur eines, das mir dann für eine möglichst lange Zeit Freude bereitet. Für mich bedeutet Luxus, etwas zu erwerben, das mit Bedacht hergestellt wurde. Kürzlich war ich auf

der Geburtstagsfeier von Brunello Cucinelli. Er ist ein bemerkenswerter Mann, ein großartiger Unternehmer und ein riesiger Menschenfreund. Bei ihm und seinem Label zeigt sich der Luxus in der Handwerkskunst, der Nachhaltigkeit und der Art und Weise, wie er seine MitarbeiterInnen behandelt.

F: Und seine Mode ist natürlich toll!

PD: Es ist doch bemerkenswert, dass er sein Unternehmen in dem Dorf gegründet hat, in dem er aufgewachsen ist. Die Prinzipien sind es auch, die mich von einem Label überzeugen – das gilt übrigens auch für TAG Heuer und LVMH, mit denen ich aktuell sehr eng zusammenarbeite. Bescheidenheit, Selbstvertrauen und Einfühlungsvermögen sind Werte, die ich bei einer Marke suche.

F: Waren diese Werte der ausschlaggebende Grund, mit TAG Heuer und Porsche zusammen zu arbeiten?

PD: Ich bin gerne kreativ, ich liebe es, etwas zu entwerfen, und ich stehe total auf Architektur. Klar, habe ich da nicht nein gesagt, für Porsche Design etwa zwei Sonnenbrillengestelle zu entwerfen. Solche Prozesse sind das, wofür ich brenne. Auch die Uhrmacherei interessiert und fasziniert mich sehr. Ich kriege Gänsehaut dabei, wenn ich mir vorstelle, wie viel Energie, Sorgfalt, Liebe und Zeit in diesem Objekt stecken.

F: Wie wichtig ist dir eine Armbanduhr, und welche Rolle spielt sie für dich während deines Rennens?

PD: Kürzlich habe ich bei meinem Test auf der Strecke die neue TAG Heuer Monza getragen. Diese war für mich sehr wichtig, da ich darauf ablesen konnte, wie weit im Rennen ich schon war und wie viel Zeit mir noch blieb. Natürlich ist es auch ein optisch schönes Accessoire, aber für mich ist eine solche Uhr auch stets sowas wie ein Eisbrecher. Es ist, als würde man einen Oldtimer fahren: Die Menschen schauen dir aufs Handgelenk, freuen sich und schwupps hast du ein gemeinsames Gesprächsthema.

TAG HEUER CARRERA

CHRONOSPRINT

X PORSCHE

Weg mit der Torte und her mit der Uhr! TAG Heuer und Porsche schenken sich zum jeweiligen Jubiläum – 60 Jahre TAG Heuer Carrera Collection und 60 Jahre Porsche 911 – eine gemeinsame limited Edition. Die TAG Heuer Carrera Chronosprint x Porsche ist als reine Stahl­ sowie als Gold­Version erhältlich und verbindet Motorsport und Uhrenhandwerk. Schließlich war es das Autorennen Carrera Panamericana, das Jack Heuer bereits 1963 zur Kreation des Modells Carrera inspirierte. Besonders: Die neue Uhr punktet mit dem Automatikkaliber TH20-08, das im Frühjahr während der Messe Watches & Wonders erstmals vorgestellt wurde. tagheuer.com

F: Das Uhrenmodell TAG Heuer Carrera Chronosprint x Porsche ist das Ergebnis der Zusammenarbeit von TAG Heuer und Porsche anlässlich des 60. Geburtstags des 911 und des 60. Jubiläums der Carrera von TAG Heuer. Inwiefern repräsentiert dieser Zeitmesser den Motorsport?

PD: Motorsport ist ein Teil seiner DNA: Jack Heuer hat seine Leidenschaft für die Zeitmessung bei Rallye­Rennen entdeckt. Er verbesserte diese ständig, weil er bei seiner eigenen Messung mehr Klarheit haben wollte. Eines der ersten Autos, das er je kaufte, war dann auch noch ein Porsche 911. Ich glaube, es war sogar eines der ersten Modelle.

F: Nicht nur die Optik der beiden Modelle aus Stahl und Gold ist einzigartig, sondern auch das neue Uhrwerk. Was kannst du uns darüber erzählen?

PD: Das neue Uhrwerk ist eine absolute Revolution und super cool. Das Prinzip ist dasselbe wie beim Porsche 911, der es von 0 auf 60 Stundenkilometer schaffte und zwar in nur 9.1 Sekunden. Das Werk in der Uhr funktioniert genauso: Es beschleunigt bis auf 60 Sekunden und wird danach langsamer.

F: Wo findet sich diese Inspiration des Porsche 911 sonst noch in der Uhr?

PD: Auf dem Armband, auch wenn das sehr subtil gehalten ist. Da gibt es diesen einen Aufdruck, auf dem die Zahlen 911 zu lesen sind.

„Für mich bedeutet Luxus, etwas zu erwerben, das mit Bedacht hergestellt wurde.“
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Die minimalistische Architektur bietet den optimalen Kontrast zur wilden Schönheit der Natur. N°10 /  2023 94

COMMUNITY

OFFSHORE PEARL

Surfen, tauchen, schnorcheln oder einfach die Zeit in der Gemeinschaft genießen.

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Hotels sind mehr als reine Unterkünfte.

An der mexikanischen Küste in Zihuatanejo leben

Tara Medine und Andrés Saavadera Benitez

deshalb den Traum einer Gemeinschaft, die Reisen und Erleben neu definiert. Das Musa ist eine Begegnungszone für jene, deren Kreativität keine Grenzen kennt, und Gäste, die verstehen, dass die wahren

Perlen der Hotellerie stets die Menschen sind.

Interview: Marina Warth Fotos: Lover Lover für Musa
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Keine Lust, nach Hause zu fliegen? Die sogenannten Hideaways bieten dir private Unterkünfte und in der Ferne ein neues Zuhause.

MUSA

Es war das Wasser, das Andrés Saavadera Benitez und Tara Medina zusammengeführt hat. Seitdem reiten sie dieselbe Welle und tun dies am Strand von Mexiko, wo sie in Zihuatanejo ihre Residenz Musa eröffnet haben. Musa ist Hotel und Gemeinschaft, eine Symbiose von Unterkunft und Zufluchtsort und ein Platz für alle, in deren Kopf bunte Gedanken kreisen. Der Name der Residenz ist die Abkürzung des Claims Modern Utopian Society of Adventures. 13 Zimmer beheimaten Gäste, die während des Aufenthalts zu FreundInnen werden, die minimalistisches Design genauso schätzen wie die tropische Lage und die Möglichkeit, an diesem Ort auf Menschen aus aller Herren Länder zu treffen. Dabei legen Benitez und Medina Wert auf einen bewussten und nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen. So schafft ein künstliches Riff etwa neuen Lebensraum für Meerestiere, während Pflanzen auf den Dächern die Residenz ganz ohne Strom kühlen. Musa, Zihuatanejo, Guerrero, Mexiko, stayatmusa.mx

FACES: Wie seid ihr zur Hotellerie gekommen und dazu, mit dem Musa ein eigenes Hotel in Mexiko zu eröffnen?

Tara Medina & Andrés Saavedra Benitez: 2013 haben wir gemeinsam den Lifestyle-Brand Loot ins Leben gerufen. Loot war für uns die Möglichkeit, mit Dingen zu experimentieren, die so gar nichts mit unserem damaligen Arbeitsalltag zu tun hatten. Damals bauten wir mit unserem Architektur- und Designbüro eine Reihe von Wohnanlagen, hatten aber Lust, mit Dingen wie Musik, Kunst, Kultur, Food oder Festivals zu experimentieren. Loot war für uns eine experimentelle Spielwiese und eine tolle Plattform, um Menschen kennen zu lernen sowie unseren individuellen Interessen nachzugehen. Es war toll, mit Loot diese fabelhaften Veranstaltungen auf die Beine stellen zu können und eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten aufzubauen. Wir befanden uns damals in Zihuatanejo, dieser hübschen Hafenstadt in Mexiko, wo es für unsere Zielgruppe und Community-Mitglieder leider so gar keine tollen Orte gab, an denen sie sich treffen oder übernachten konnten. Kurzerhand haben wir dann unser Pop-up-Hotel La Casa MX eröffnet, für das wir ein verlassenes Haus übernahmen, das der Dschungel komplett verschlungen hatte. Den Charme dieses Gebäudes kann man sich kaum vorstellen! Leider war der Mietvertrag auf sechs Monate befristet, und man musste erst 200 Stufen erklimmen, um das Hotel zu erreichen – dennoch war es ein unglaubliches Projekt, und wir hatten so viel Spaß dabei zu erforschen, was Gastfreundschaft eigentlich bedeutet. Schnell war uns klar, dass das das sein sollte, womit wir unseren Alltag verbringen wollten. Unser Architekturbüro war allerdings auf große private Wohnhäuser und Eigentumswohnungen spezialisiert, mit denen wir eine deutlich ältere Zielgruppe ansprachen als jene, die wir in unseren Projekten in Zihuatanejo im Kopf hatten. Gastfreundschaft schlägt die Brücke zwischen dem Errichten und dem Erleben schöner Räume. Indem wir jedes Projekt angenommen haben, das uns in die Finger kam – den Bau des Thompsons, des Los Serenos, des Troncones –, konnten wir lernen, was Gastronomie und Gastfreundschaft tatsächlich bedeuten. Es geht nicht einfach nur um schöne Räume, sondern auch um guten Service und darum, diese Magie entfachen zu können, die die Menschen nachhaltig verzaubert.

F: Wie beschreibt ihr euer Hotel in einem Satz?

TM & ASB: Das Musa bietet Komfort und hochwertiges Design in einer tropischen Umgebung. Es ist ein Ort zum Abschalten und ein Treffpunkt, um Kontakte zu knüpfen. Eines garantiere ich: Am Ende des Tages wirst du dich verlieben – in die anderen Gäste genauso wie in unsere MitarbeiterInnen, denn hier kannst du genau so sein, wie du willst.

F: Beschreibt uns den Weg von der Idee bis zum fertigen Hotel!

TM & ASB: Wir sind mehr als ein Hotel, verstehen wir uns doch viel mehr als Service-Gemeinschaft und als einen Raum für kreative Köpfe und innovative Gedanken. Das Musa befindet sich gerade mal 35 Minuten südlich des internationalen Flughafens, und dennoch fühlt man sich hier wie in ein unberührtes Paradies teleportiert. Wir wollen mehr schaffen als eine Übernachtungsmöglichkeit – hier findest du alles, was du brauchst, um wirklich frei zu sein.

F: Weshalb sollten wir unbedingt bei euch absteigen?

TM & ASB: Das Musa ist einfach etwas ganz Besonderes. Die Schönheit und der Zauber dieses Ortes lassen sich nur sehr schwer in Worte fassen. Es ist real und doch wieder nicht, rau und schön und lässt einen Mal für Mal von neuem staunen. Dieser Ort ist mit nichts zu vergleichen, was wir bereits gesehen haben.

F: Was macht den Alltag als Hoteliers so spannend, und welche Aspekte gehen euch auf die Nerven?

TM & ASB: Am aufregendsten finden wir, dass wir uns in einer wirklich ländlichen Umgebung befinden. Dadurch sind wir mit der lokalen Gemeinschaft und unseren Arbeitskräften verbunden und haben zudem einen positiven Einfluss auf die Region und die Menschen hier, die für uns mittlerweile zur Familie geworden sind. Wir versuchen, jede Erfahrung persönlich zu machen und die Art und Weise zu überdenken, wie wir heute leben und reisen. Stehenbleiben ist nicht – bei uns kommt ständig Neues dazu. Täglich kommen neue, interessante und teils auch verrückte Menschen zu uns, mit denen wir neue Freundschaften schließen, uns austauschen und alle möglichen kreativen Dinge tun. Die Gäste und unsere MitarbeiterInnen verschmelzen zu dieser wunderbaren Gemeinschaft, die sich gegenseitig unterstützt – das finden wir großartig!

F: Woran muss man als Hotelier denken, über das sich andere keine Sorgen machen müssen?

TM & ASB: Wir sind keine typischen Hoteliers, deshalb ist unser Blick auf diese Frage besonders individuell. In unserer Region ist der Umgang mit Nachhaltigkeit besonders wichtig, und wir müssen uns den Auswirkungen auf unsere Umwelt und die Menschen enorm bewusst sein. Abfallmanagement und soziale Nachhaltigkeit sind für uns wahnsinnig wichtig, und wir versuchen immer wieder, kreative Lösungen zu finden, etwa für die Abfallproblematik. Was das Gastgewerbe anbelangt, versuchen wir, die Beziehung zu unseren Gästen neu zu definieren. Für uns ist diese Interaktion ein Geben und Nehmen – die Gäste kommen, zahlen und erleben, aber wir fordern sie auch heraus, die Auswirkungen ihrer Reisen zu verstehen und zu begreifen, was es bedeutet, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Wir denken viel darüber nach, wie wir Verbindungen

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„UNSER ENTWICKLUNGSPROZESS IST WIE EIN GUTER WEIN, DER MIT ZUNEHMENDEM ALTER IMMER BESSER WIRD.“

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Die Natur umgibt dich im
von allen Seiten.
Musa
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Hier kannst du sein, wie du bist.

„HIER FÜHLT MAN SICH WIE IN EIN UNBERÜHRTES PARADIES TELEPORTIERT.“

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An der Küste Mexikos treffen sich Menschen aus aller Herren Länder.

knüpfen und Aufklärung schaffen können. Wir wollen, dass die Menschen sich Gedanken dazu machen, wie sie ihre Mitmenschen und die Umwelt behandeln und freundlich zueinander sind.

F: Worüber zerbrecht ihr euch den Kopf?

TM & ASB: Wir machen uns eigentlich nicht allzu viele Sorgen, sondern gehen methodisch und sehr bewusst an die Dinge heran. Wir sprechen deshalb nicht von Sorgen, sondern davon, überlegt zu handeln und einem Plan zu folgen, ohne darüber den Kopf zu verlieren.

F: Wie seid ihr als Chefs?

TM & ASB: Wir versuchen, fair, verständnisvoll und unterstützend zu sein. Letztendlich ist unser Team der Kern dessen, was diesen Ort so magisch und besonders macht. Unsere Mitarbeitenden sind hinsichtlich ihres sozioökonomischen Hintergrunds sowie ihrer Herkunft sehr divers und stammen aus allen Teilen der Welt. Es ist uns ein Anliegen, ständig besser zu werden, neue Wege zu finden und noch mehr Möglichkeiten zu schaffen, um unsere MitarbeiterInnen zu unterstützen. Wo wir sein wollen und wo wir sind, liegt im Moment noch weit auseinander. Dennoch ist es unser Ziel, unsere Mitarbeitenden stets an erste Stelle zu setzen. Dafür haben wir etwa einen Verhaltenskodex entworfen. Wir dulden kein schlechtes Verhalten von Gästen gegenüber unseren MitarbeiterInnen, was wir überall deutlich kommunizieren. Unser Team ist absolut entscheidend für die Magie dieses Ortes, und nicht zuletzt deshalb versuchen wir, fair zu sein.

F: Was macht gute GastgeberInnen aus?

TM & ASB: Eine gute GastgeberIn ist jemand, der den Raum lesen kann und wirklich versteht, was die Menschen brauchen, ohne überwältigend oder unterwältigend zu sein. Es ist wichtig, Menschen beurteilen zu können und zu verstehen, was sie brauchen, selbst wenn sie selbst noch nicht richtig wissen, was sie benötigen. Gute GastgeberInnen wissen, wann es Zeit ist, aufzudrehen oder zu gehen, sie verstehen, wie man Privatsphäre und Intimität schafft, Einfühlungsvermögen und Verständnis beweist und dabei dennoch klare Grenzen setzt.

F: Welche Gäste mögt ihr am meisten?

TM & ASB: Die seltsamen wahrscheinlich. (lacht) Wir meinen diejenigen, die unseren Horizont und unsere Denkweise erweitern, mit denen wir gute Gespräche führen, Menschen, die gerne teilen und ein großes Herz haben. Es sind diese außerordentlich kreativen und vielleicht auch etwas verrückten Menschen, die voller Leidenschaft unglaubliche Dinge leisten und diese Freude mit anderen teilen wollen, die uns am meisten beeindrucken.

F: Welches Verhalten von Gästen macht euch wütend?

TM & ASB: Unser Projekt trifft nicht jedermanns Geschmack. Du musst diesen Gemeinschaftsgedanken verstehen, familien- und umweltorientiert leben und zu

uns kommen, um im Team eine gute Zeit zu haben. Wer diese Philosophie nicht versteht, der ist bei uns falsch. Wir mögen keine Gäste, die schlechte Vibes verbreiten, herablassend oder unhöflich sind oder jemanden erniedrigen. Solche Menschen haben bei uns nichts verloren.

F: Welche Erwartungen habt ihr an euer Hotel?

TM & ASB: Wir sehen unser Hotel als einen kleinen Mikrokosmos der Gesellschaft. Uns ist bewusst, dass es eine gewisse Zeit braucht, bis wir dort sind, wo wir hinwollen. Genau diesen Prozess genießen wir allerdings, können wir dabei doch so viel experimentieren und uns überlegen, wie wir Gastronomie, Wellness, Entertainment, Abenteuer und das Reisen an sich für uns neu definieren. Dieser Entwicklungsprozess ist wie ein guter Wein, der mit zunehmendem Alter immer besser wird.

F: Welche Geschichte aus eurem Alltag als Hotelier müsst ihr uns unbedingt erzählen?

TM & ASB: Sagen wir so: „White Lotus“ ist kein Witz. (lacht) Es ist so interessant, Menschen aus der ganzen Welt an einem so traumhaften und magischen Ort zu versammeln und zu sehen, wie unterschiedlich sie mit dem umgehen, was wir ihnen bieten.

F: Worauf achtet ihr, wenn ihr selbst auswärts übernachtet?

TM & ASB: Auf die Liebe zum Detail. Wir schätzen Menschen, die den Mut haben, die Dinge anders zu machen. Dabei achten wir auf großartige Speisen und Getränke sowie exzellenten Service. Man kann am schönsten Ort der Welt sein, aber wenn der Service nicht stimmt, hat das alles keinen Wert. Jede und jeder einzelne ist wichtig – die Person, die den Kaffee bringt, jene, die das Essen kocht, und auch diejenigen, die die Zimmer reinigen. Fühlen sich die Mitarbeitenden nicht wertgeschätzt, dann beinträchtigt das die Seele des Erlebnisses, davon sind wir überzeugt. Für uns sind Orte voller positiver Energie und mit guter Stimmung enorm wichtig.

F: Was unterscheidet ein gutes von einem großartigen Hotel?

TM & ASB: Die Liebe zum Detail. Großartigkeit hat nichts mit einem Stempel, einem Siegel oder einem Stern zu tun oder mit dem perfekten Instagram-Moment. Es geht darum, dass die Atmosphäre, der Service, die Essenz des Ortes und jegliche Details zu diesem einzigartigen Erlebnis verschmelzen, das die Gäste mit nach Hause nehmen und für immer im Herzen halten.

F: Wo steht euer eigenes Bett?

TM & ASB: Wir leben und atmen Musa und erfreuen uns täglich an den tollen Menschen, die uns hier besuchen. Viele unserer Gäste entscheiden sich während ihres Aufenthalts dazu, dauerhaft zu bleiben – das ist mit ein Grund, weshalb wir ein spezielles Modell entwickeln, bei dem die Menschen Teil unseres Projektes werden und hier in einem Hideaway ein privates Zuhause finden können.

Das halten Tara Medina & Andrés Saavedra Benitez von…

KREUZFAHRTSCHIFFEN: erinnern uns irgendwie an ein schwimmendes Einkaufszentrum.

BUFFET-ESSEN: Blutbad.

ALL-INCLUSIVE:

Wir schätzen die Vielfalt.

TRINKGELD: ist eine Form der Wertschätzung. HUNDEN IM RESTAURANT UND IM HOTEL: Freiheit.

KINDERN IM RESTAURANT UND IM HOTEL: Dafür gibt’s den perfekten Ort und die richtige Zeit.

ANIMATEURINNEN:

Bei uns nennen wir sie Wrangler, die ein echtes Partyleben führen, unseren Gästen das Surfen beibringen oder bei Gelegenheit auch ein Krokodil verscheuchen können.

DRESSCODES:

Pyjamas aus Seide oder Leinen.

TRIPADVISOR:

Old-School-Plattform für Leute, die sich beschweren wollen.

ONLINE-REISEBÜROS:

Wir kommen gut ohne sie aus.

SHARING ECONOMY: So wie die Welt sein sollte.

NACHHALTIGKEIT: ist eine Selbstverständlichkeit.

FACHKRAEFTEMANGEL: fühlt sich an wie Perlentauchen.

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„UNSER TEAM IST ABSOLUT ENTSCHEIDEND FÜR DIE MAGIE DIESES ORTES.“

Wer einmal hier war, will so schnell nicht wieder weg.

N°10 /  2023 103

THE QUEST OF

LAURENCE LABOIRE

Kontraste sind das, was uns zwei Mal hinsehen lässt. Deshalb spielte die Französin Laurence Laboire mit Gegensätzen und bannte die Anziehungskraft weiblicher Schönheit inmitten der rauen Landschaft der Insel Lanzarote auf Film.

PROMOTION N°10 /  2023 104

Fünf FotografInnen, ein Auftraggeber und dasselbe Ziel: Peugeots Claim „Allure“ auf die Leinwand zu bringen. Wie unterschiedlich die KünstlerInnen bei ihren Reisen durch die Linsen blickten, zeigen

die finalen Foto-Serien, die ab Oktober 2023 bei YellowKorner erhältlich sind.

Fotos: Peugeot X YellowKorner

ALLURE

Ein blankpoliertes Heck sorgt genauso für Entzückung wie eine gerahmte Fotografie. Um Peugeots Claim „Allure“ ein Gesicht zu geben, spannt die Automarke mit YellowKorner zusammen. Gemeinsam schicken sie fünf Profis ihres Faches auf eine fotografische Entdeckungsreise um die Welt. Ob Marokko, Paris oder Lanzarote: Die fünf FotografInnen geben an Orten ihrer Wahl dem Begriff der Anziehung ein Gesicht. Das Ergebnis sind fünf Serien à je 15 Fotografien, die ab Oktober 2023 in den Galerien von YellowKorner sowie online auf yellowkorner.com erhältlich sind. yellowkorner.com & peugeot.ch

PROMOTION 105 N°10 /  2023

TERESA FREITAS

Wer reist, findet Inspiration –und was eignet sich da besser als ein Road Trip? Deshalb fuhr die Fotografin Teresa Freitas mit dem Auto durch Marokko, wo sie auf den Spuren von RosenpflückerInnen wandelte und die Magie der blauen Stadt Chefchaouen einfing.

PROMOTION N°10 /  2023 106

Der Mensch trifft auf die Natur und tut dies dank Oliviero Toscani im Val d’Orcia. Hier beschäftigte sich der Italiener mit unserem Umgang zur Umwelt und erforschte in den Tiefen der Toskana die Möglichkeiten, beider Anziehung in Einklang zu bringen.

So majestätisch, so stolz, so unbezwingbar: Kein Wunder, ist der Löwe das Zugtier der Automarke Peugeot und für den französischen Fotografen Laurent Baheux der Inbegriff von Ausstrahlung und Anziehung.

LAURENT BAHEUX OLIVIERO TOSCANI
PROMOTION N°10 /  2023 107

MR FIFOU

Schönheit kennt viele Gesichter. Der Franzose Mr Fifou fand starke, charismatische und stolze Persönlichkeiten in den Vororten von Paris und fotografierte dort seine Interpretation unkonventioneller Schönheit.

PROMOTION 108 N°10 /  2023
PROMOTION N°10 /  2023 109

Photography: Valérie Mathilde

Styling: Marie Revelut

Hair: Martine Peguet

Make-up: Raphael Pita

Model: Elle @ CITY Models

Assistance: Alan Marty

Post Production: Olaf Wisser

CASUAL BALLERINA DANCE MIX

N°10 /  2023 110
Jacke und Hose
von
von ANTHOLOGY PARIS.
von Y’S. Schuhe
MAJE. Tasche
Overall von ISSEY MIYAKE. Schuhe von VICTORIA BECKHAM. 112
Look von CHANEL. 113
Body von ERES. Oberteil und Shorts von MAJE. Schuhe von CHRISTIAN LOUBOUTIN. Top von VERSACE. Hose von ALEXANDER WANG. Sonnenbrille von OAKLEY. Body von ERES. Schuhe von VICTORIA BECKHAM.
Kleid von PHEME. Schuhe von MAJE. 116
117
Look von CHANEL.
Mantel von RAINKISS. Schuhe von VICTORIA BECKHAM.
120
Jacke und Schuhe von PATRICK CHURCHY. Oberteil von KARL LAGERFELD. Body von ERES.
121
Korsett von GILLSASQ. Rock von ESTHER BENCEL. Hose von MARLEA. Schuhe von CHRISTIAN LOUBOUTIN. Handschuhe von CAUSSE. Kette von PATRICK CHUCHNY.

POPO

BABY GOT BACK

N°10 /  2023 122

„Oh. Mein. Gott. Becky, schau dir diesen Hintern an.“ Wir schreiben das Jahr 1992, und Becky und ihre Freundin –zwei weiße Frauen in Jeansjacke und Valleyspeak – beäugen durch einen Türbogen eine schwarze Frau in einem engen gelben Kleid, die auf einem Podest steht. Die Frau scheint nicht zu merken, dass sie dabei beobachtet wird, wie sie sich nach vorne beugt und sich mit den Händen über Po und Oberschenkel streicht. Beckys Freundin gibt ein abfälliges Geräusch von sich und sagt: „Der ist so fett! Sie sieht aus wie die Freundin von einem dieser Rap-Typen. Wer kann die schon verstehn. Die reden eh nur mit ihr, weil sie wie ’ne Nutte aussieht.“ Über das Gespräch legt sich eine mitreißende Basslinie; das Podest unter der Frau mit dem gelben Kleid beginnt sich langsam zu drehen. „Ich meine, ihr Hintern ist einfach so fett. Ich glaub’s gar nicht, wie rund der ist. Der schreit einen ja förmlich an. Voll eklig!“ Die Mädels können die Größe dieses Frauenpos kaum fassen; ihnen ist unbegreiflich, wie irgendwer ihn attraktiv finden kann und wie die Frau ihn mit Vergnügen in der Öffentlichkeit zeigt. Eine der beiden fasst diese Verwirrung und Abscheu in vier kurzen Worten zusammen: „Die ist so… schwarz.“ Plötzlich taucht Sir Mix-A-Lot in Lederjacke und Fedora auf einem gigantisch großen, goldgelben Hintern ohne Körper auf, der sich vom Boden emporwölbt. Seine Füße stehen auf den Gesäßbacken, zu beiden Seiten der Ritze. Kaum ein Atemzug vergeht zwischen dem Monolog von Beckys Freundin, in dem sie dicke Hintern mit Prostitution und Schwarzsein gleichsetzt, und dem begeisterten, inzwischen legendären Konter des Musikers: „I like big butts, and I cannot lie!“ Die nächsten vier Minuten lang rappt er mit Schmackes, während Frauen in hautengen goldenen Outfits mit ihren Hintern in die Kamera wackeln und dabei vom oberen Bildrahmen enthauptet werden. An einer Stelle werden fünf Tänzerinnen von oben gefilmt, wie sie mit ihren herausgestreckten Pos einen wabernden Kreis à la Busby Berkeley bilden. Währenddessen scratcht der DJ mit einer Plattennadel, auf der ein kleiner Plastik-Po sitzt. Zwischendurch tauchen Bananen, Pfirsiche, Zitronen, Mandarinen und Tomaten stolz unsubtil als Stellvertreter für Pos und Brüste und Penisse kurz auf dem Bildschirm auf.

AN ALLE BECKYS DIESER WELT

Sir Mix-A-Lot hat eine klare Botschaft in „Baby Got Back“, und alle Beckys und die ganze Welt sollen sie hören: Ihm gefallen dicke Hintern, und anderen Männern geht es angeblich ganz genauso. Heucheln kommt dabei nicht infrage. Was die Beckys bei anderen Frauenkörpern, und vielleicht auch dem eigenen, „eklig“ finden, feiert Sir MixA-Lot und objektifiziert es voll Stolz. Was sie mit Grauen erfüllt, findet er extrem reizvoll. Trotz der witzigen Bilder und des hüpfenden Beats ist „Baby Got Back“ nicht als Kuriositäten-Song und nicht als Scherz gemeint, das hat Sir Mix-A-Lot in Interviews stets betont. Tatsächlich steckt dahinter eine Mission, auf die ihn seine damalige Freundin Amylia Dorsey-Rivas gebracht hat, eine Frau mit gemischter ethnischer Herkunft und dickem Hintern. „Da war eine Sache, die mich hammermäßig aufgeregt hat“, erzählte er 2013 dem Onlinemagazin Vulture zur Entstehung von „Baby Got Back“. „Amy und ich waren auf Tournee in einem Hotel, als wir im Fernsehen beim Superbowl einen der SpudsMacKenzie-Werbespots für Budweiser sahen. Alle Mädels in dem Spot sahen aus wie Stoppschilder, mit ihrer wuchtigen Frisur und ihren kerzengeraden Vogelstelzen.“ Dieser

Stoppschild-Look, ein Überbleibsel aus den 1980ern, kam Sir Mix-A-Lot komplett lächerlich vor. „Wenn kurvige Frauen ihre Hood verließen“, sagte er, „hängten sie sich ein Sweatshirt über die Hüften – und ich rede hier nicht von Frauen, die meine Figur mit Bierbauch haben, sondern von Frauen, die jeden Tag zehn Kilometer laufen gingen, die einen Waschbrettbauch und einen schönen runden, geschmeidigen Hintern hatten!“ Die wuchtig frisierten, staksigen Frauen im Fernsehen fanden weder er noch seine Freunde sexy. Doch genau diese Art von Frauen dominierten zur damaligen Zeit die popkulturelle Landschaft, weshalb Dorsey-Rivas kaum Aufträge als Schauspielerin oder Stimmkünstlerin erhielt. „Am Stadtrand von Seattle, wo ich aufgewachsen bin, bist du früher nicht gut angekommen, wenn du nicht die Figur von Paris Hilton hattest“, erzählte sie Vulture. „Deine Wangenknochen konnten so hoch sein, wie sie wollten – wenn du an den Hüften etwas breiter warst, hattest du keine Chance.“ Als sie von Mix, wie Dorsey-Rivas ihn nennt, gefragt wurde, warum sie keine Aufträge an Land ziehe, erwiderte sie: „Schau hinter mich.“ „Ich weiß aus erster Hand, dass viele Musiker das Gefühl hatten, ihr Song würde vom amerikanischen Mainstream abgelehnt, wenn sie keine magermodelmäßigen Frauen im Video zeigten“, erklärt Mix im Vulture. Das wollte er ändern. Frauen mit dickem Hintern sollten stolz auf ihre Kehrseite sein und die Chance haben, sich in den Medien zu zeigen. Deshalb beschloss er, ein Loblied auf den seiner Meinung nach typischen Körper schwarzer Frauen zu schreiben. Einen Song, der den Teil von Dorsey-Rivas Figur feierte, der ihm am besten gefiel. Insofern handelte es sich dabei sowohl um ein politisches als auch ein persönliches Statement. Die Mitwirkenden bei der Produktion von Song und Video interpretierten „Baby Got Back“ von Anfang an ganz unterschiedlich: Manche fanden den Song saukomisch, andere unangenehm und objektifizierend, und wieder andere empfanden ihn als selbstermächtigend. DorseyRivas sprach das Spoken-Word-Intro ein, bei dem sie Stimmen weißer Frauen imitierte, die Hintern wie ihren für „eklig“ erachten. Sie mochte den Song, erzählte sie Vulture. Für sie war er tiefgründig, und er sorgte für Sichtbarkeit. „Manche behaupteten, [„Baby Got Back“] sei abwertend“, sagte sie. „Aber meiner Meinung nach finden die Leute, denen es geht wie mir, an dem Song rein gar nichts Abwertendes.“ Dem Regisseur des Videos, Adam Bernstein –bekannt für seine Zusammenarbeit mit den Beastie Boys, den B-52s und They Might Be Giants –, ging es anfangs anders: „Als ich den Song zum ersten Mal hörte, fand ich, dass er Frauen zu Objekten degradierte“, meinte er. „Aber er brachte mich zum Lachen.“

MEHR ALS EIN SONG

Diese Unterschiede spiegelten sich auch in den Kostümen wider: Mix wollte die Tänzerinnen eher sportlich als sexy angezogen sehen, doch als er am Set auftauchte, hatte die Frau auf dem Podest eine blonde Perücke, Hotpants mit Leoprint und Goldketten an. „Der Song heißt ‚Baby Got Back‘, nicht ‚Baby’s a Ho‘“, knallte er Bernstein wütend vor den Bug. Dan Charnas, Vizepräsident der A&R-Abteilung bei Def American Recordings, erklärte das folgendermaßen: „Die Girls in dem Video waren von Leuten gecastet worden, denen die kulturellen Implikationen nicht ganz klar waren.“ Wie es schien, konnten sich viele der weißen Beteiligten – inklusive Bernstein – nicht vorstellen, dass

Ein Körperteil, vier Buchstaben und so viele Meinungen dazu. Sir Mix-A-Lot hat’s gewagt und über die schönste Kehrseite der Welt ein Lied verfasst, dessen Lyrics zu mehr Kontroversen führten als die Diskussion um Silikon im Po.
Linke Seite: 1992 war „Baby Got Back“ der zweiterfolgreichste Song in den USA.
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Text: Heather Radke Fotos: Baby Got Back

Frauen mit dickem Hintern eine Anziehungskraft besitzen können, ohne auf groteske Art sexualisiert zu werden. Und eine zweite unausweichliche Hürde musste für die Videoproduktion genommen werden: Dem Publikum musste klargemacht werden, dass es bei dem Song um die Gesäßbacken und nicht um das Loch ging, dass es also nicht um Analsex oder die Tabus bezüglich Fäkalien ging, eine wichtige Unterscheidung. Als Mix in einem braunen Anzug gekleidet am Set erschien und vorschlug, aus der Ritze des 15 Meter hohen, goldenen Hinterns emporzusteigen, wurde ihm beides sofort ausgeredet. Als das fertige Video bei MTV eingereicht wurde, berief sich der Sender auf eine neue interne Richtlinie, der zufolge solche Musikvideos nicht ausgestrahlt würden, in denen irgendwelche Körperteile von Frauen ohne ihre Gesichter gezeigt würden. MTV hatte also beschlossen, Frauen nicht mehr von der Kamera „zerstückeln“ zu lassen, und setzte einen ganz niedrigen feministischen Standard an: Frauen wortwörtlich als ganze Menschen darstellen. Sie als Menschen mit Hoffnungen und Träumen und Beruf zu porträtieren, erachtete der Sender nicht als notwendig. Ihr Kopf genügte. Patti Galluzzi, die damalige Senior-Vizepräsidentin bei MTV, erklärte bei Vulture: „Wir wollten davon wegkommen, dass rund um die Uhr Videos ausgestrahlt werden, in denen Kuchenstücke in den Schoß einer Frau fallen, so wie in ‚Cherry Pie‘ von Warrant.“ Diese Videos sind ihr zufolge sexistisch und voller Sex, wogegen sich sowohl konservative Gruppierungen wie Tipper Gores Parents Music Resource Center als auch feministische Organisationen wie Women Against Pornography gewandt hätten. Für einen bestimmten Feminismus Zweig mag es ein symbolischer Sieg gewesen sein, dass MTV proaktiv die Ausstrahlung von „Baby Got Back“ ablehnte, doch dieser Entschluss warf schon die Frage auf, ob es dabei weniger um Sexismus und die Objektifizierung von Frauen als um eine Haltung ging, die zu stark pro-Hintern und pro-Schwarz war. Laut Sir Mix-A-Lot unterschieden sich sein Song und sein Video ganz klar von Warrants „Cherry Pie“. Mix verstand seine Werke als Kritik an dieser Objektifizierung und an den vorherrschenden weißen Schönheitsidealen. In den meisten Rockvideos schrie der Sexismus zum Himmel, und in „Baby Got Back“ ging es dem Urheber zufolge genau um diesen Sexismus, oder zumindest um Rassismus. Wenn die kurvige schwarze Frauenfigur gefeiert wird, sollte das nicht mit den übelsten Vertretern von Frauenhass in den popkulturellen Auswüchsen der frühen Neunziger in einen Topf geworfen werden.

VON SCHÖNHEITSIDEALEN UND SANDUHRFIGUREN

Obwohl Mix eine Veränderung der Schönheitsideale beabsichtigte, ist in dem Video klar ersichtlich, dass es ihm keinesfalls um ein Ausmerzen von Schönheitsidealen ging. Die Frauen im Bild waren zwar nicht ausnahmslos Stoppschilder, doch sie waren ausnahmslos etwas anderes – nämlich Sanduhren. „Schmal in der Mitte, aber eine Menge ganz hinten“, so sollten sie sein. „Rumpfbeugen und Sit-ups“ sollten sie machen, auch wenn sie für ein Fettpolster an einer bestimmten anderen Stelle gelobt wurden. Mix schreibt uns also vor, wie ein „richtiger“ Körper auszusehen hat, auch wenn er die Definition von „richtig“ ein wenig verändert. Und er verstärkt den Stereotyp, dass schwarze Frauen per Definition einen dicken Hintern haben, was selbstverständlich nicht der Wahrheit entspricht. Außerdem wäre da die Frau, deren Körper von Becky beschämt wird. Zu Beginn

des Videos wurde sie wortwörtlich auf ein Podest gestellt. Ihr Gesicht ist nie klar zu sehen; ihre körperliche Existenz wird von ihrem Hintern bestimmt. Es wirkt, als wäre sie eine im Museum oder sonst wo ausgestellte Skulptur – was unangenehm und wahrscheinlich unbeabsichtigt an Sarah Baartmans Zurschaustellung erinnert. Und auch wenn sich die Art der Zurschaustellung in mancher Hinsicht stark verändert hat – vielleicht am stärksten dadurch, dass Mix das große Gesäß entmystifizieren, es salonfähig und bewunderungswürdig machen möchte –, wird dadurch dennoch eine schwarze Frau wortwörtlich zum Gegenstand degradiert. Und wie so oft kann der Körper einer Frau nur dann als normal und zulässig gelten, wenn er zunächst im Reich der männlichen Begierde funktioniert. Mix sexualisiert den Hintern offensiv. Er beteuert, dass dieser Körperteil, der von der weißen Mainstream-Kultur als „eklig“ empfunden wird, in Wahrheit etwas Gutes sei – nicht, weil alle Körper schön oder wenigstens akzeptabel sind, sondern weil: „Ein Girl mit winziger Taille und einem runden auffälligen Ding verdreht dir sofort den Kopf.“ In diesem Song haben weibliche Körper dann ihre Daseinsberechtigung, wenn sie Männern visuelles Vergnügen bereiten. Und Männer sind diejenigen, die bestimmen, was zulässig und attraktiv ist. „Dieses Video fällt beim Bechdel-Test gnadenlos durch“, bekomme ich von Dr. Kyra D. Gaunt, Musik- und Theater-Dozentin an der State University of New York in Albany, ohne Umschweife zu hören. Bei diesem Text wird mithilfe von drei simplen Fragen die Darstellung von Frauen bewertet. Trotz Sir Mix-A-Lots Behauptung, der Song sei selbstermächtigend, wird in Song und Video laut Gaunt mit rassistischen und fetischisierenden Klischees gespielt. Selbst wenn einige Frauen derselben Meinung wie Sir Mix-A-Lot sind, ist Gaunt zufolge die Art von Macht, um die es hier geht, im besten Fall etwas, das sie „ermächtigte Misogynie“ nennt, wobei politische Macht durch Spektakel und Fetisch ersetzt werden. Um das näher zu erläutern, verweist sie darauf, wie schwer es schwarzen Frauen in den frühen Neunzigern gemacht wurde, handfeste politische oder ökonomische Macht zu erlangen. Wie wahr: Als Anita Hill 1991 einen zum Richter des Obersten Gerichtshofs nominierten Mann der sexuellen Belästigung beschuldigte, wurde sie letztlich der Falschaussage bezichtigt. In den Fragen, mit denen sie während ihrer Anhörung im Kongress von einer Gruppe weißer Männer in die Mangel genommen wurde, sowie in der Medienberichterstattung zu ihrem Fall kam wieder häufig das Stereotyp der sexbesessenen schwarzen Frau zum Vorschein. Zudem war die Politikwelt in den 1990ern schwer damit beschäftigt, Gesetze zu verabschieden, die überproportional stark zulasten schwarzer Frauen gingen und auf rassistischen Klischees von „Welfare Queens“ fußten, wie etwa die Sozialhilfereform im Jahr 1996. Im selben Jahr wurden schwarzen Frauen durchschnittlich 34 Prozent weniger gezahlt als weißen Männern, und im selben Jahrzehnt war die Anzahl derjenigen schwarzen Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen waren, um 35 Prozent höher als bei weißen Frauen. Was für eine Art „Ermächtigung“ also in einem Video wie „Baby Got Back“ offeriert worden sein mag – Gaunt zufolge tat sie herzlich wenig, um den strukturellen Rassismus zu bekämpfen, mit dem die Frauen konfrontiert waren, die das Video angeblich feierte. Der Ethnomusikologe Christopher Smith hingegen, der auch ein Buch namens Dancing Revolution geschrieben hat, findet das zu kurz gegriffen. Die tänzeri-

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„Irgendwas haben Hintern an sich, dass sich die Leute aufregen.“
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schen Darbietungen in „Baby Got Back“ seien der damaligen Tradition von Hip-Hop-Videos entsprungen (insbesondere dem West Coast Crunk), in denen die Tanzenden „einen starken körperlichen, sichtbaren und unabhängigen rhythmischen Ausdruck“ praktizierten, ganz anders als die emotionslosen herumwirbelnden Puppen in Videos wie dem zu „Cherry Pie“. Smith betont außerdem, dass sie an einigen Stellen zum Freestylen aufgefordert worden waren und sich ihre eigenen improvisierten Choreografien ausdachten, was eine gewisse Handlungsmacht nahelegt. Laut Smith stellen die Frauen kein reines Beiwerk da, sondern bilden das Zentrum dessen, was „Baby Got Back“ ausmacht. Ihr Hintern ist frei und ungezügelt, ohne Mieder und Tournüre, die ihn kontrolliert. 1992 redete Mix mit Galluzzi auf einer Radiokonferenz in Seattle und versuchte, sie zu überreden, sein Video nicht zu zensieren. Er sagte, „seine Botschaft sei, dass Frauen im Fernsehen und in Zeitschriften ständig mit Bildern von superdünnen Models bombardiert werden, und dass Frauen und Mädchen unbedingt hören müssen, dass nicht jeder darauf steht.“ Davon fühlte sich Galluzzi gleich angesprochen, denn sie war zwar weiß, hatte aber eine kurvige Figur. „Ich war vorne und hinten gut bestückt, damals wie heute“, sagt sie. Also ging sie zu MTV und setzte sich bei den hohen Tieren für die Ausstrahlung des Videos ein. Sie lenkten ein und ließen es fortan nach 21 Uhr senden.

WIE EIN HARMLOSER WITZ

„Baby Got Back“ war (und ist) vieles – albern, schräg, eingängig und auch ein bisschen peinlich. Es lässt sich gut darauf tanzen, und das Lied ist zweifellos witzig. Auch wenn sich Mix dagegen wehrt, halten die meisten den Song für nicht ganz ernst gemeint, wahrscheinlich weil das Wort „Hintern“ so oft darin vorkommt. Er ist nicht sonderlich aggressiv oder obszön, sondern vermittelt seine Botschaft auf eine warme und witzige Art und Weise. Mix ruft wieder und wieder „butt“, und obwohl er jede Menge anderer beschönigender Ausdrücke verwendet – am meisten „back“ und „booty“ –, gibt seine Verwendung des Worts „butt“ dem Song etwas Kindliches, als handelte es sich um den Witz eines Achtjährigen. Der Song scheint uns einzuladen, mit ihm zu lachen, zu singen und zu tanzen. Auf Hochzeiten, Bar-Mizwas und Abschlussbällen überall in den USA sangen die weißen Jungs und die Beckys fröhlich mit, vermutlich ohne zu merken, dass sie die Bösen darin waren. Er war außerdem sehr, sehr erfolgreich. 1992 stand „Baby Got Back“ fünf Wochen lang auf Platz eins der US-Charts und hielt sich sieben Monate lang in den Top 100. Die Platte war in diesem Jahr die am zweitmeisten verkaufte, nur einer der größten Verkaufsschlager aller Zeiten, Whitney Houstons „I Will Always Love You“, konnte ihn überholen. Nach drei Monaten auf dem Markt erhielt er Doppel-Platin und 1992 einen Grammy für die beste Solo-Rap-Performance. Bis heute hat der Song hundert Millionen US-Dollar eingespielt. Ich war noch auf der Grundschule, als „Baby Got Back“ herauskam, das heißt, bis es so weit war, dass ich mich für Partys an der Schule interessierte, gehörte der Song schon zum Inventar jeder DJ-Liste im Mittleren Westen. Wenn ich auf dem Linoleumboden am Rand der Cafeteria stand, wurde das Licht heruntergedimmt, und die ersten Takte und die legendären ersten Worte erfüllten mich mit Grauen: „Oh – my – God, Becky, look at her butt.“ Zwar hatte ich einen dicken Hintern, aber irgendwie

wusste ich, dass es dabei nicht um mich ging. Ich wusste sogar, dass sich der Song über die weißen Frauen mit dem flachen Hintern lustig machte, die die Cover meiner Jugendmagazine zierten. Trotzdem fühlte ich mich davon gedemütigt, weil er so sehr die Aufmerksamkeit auf den Unterschied zwischen meinem echten Aussehen und meinem Traum-Aussehen lenkte. Was auch immer Mix damit Wichtiges kommunizieren wollte – es war nicht wirklich durch die Wände meiner Highschool gedrungen. Schön und gut, dass ihm dicke Hintern gefielen – mir jedenfalls gefielen sie nicht, und scheinbar auch keiner anderen Person, die ich kannte. „Er wirkt wie ein harmloser Witz“, sagt Kyra Gaunt „Genau wie Blondinen-Witze und Twerk-Witze.“ Und doch formen genau diese Witze die Stereotype und das Selbstbild in unseren Köpfen. Sie schleichen sich ins Unterbewusstsein, weil wir nie dazu aufgefordert werden, uns damit näher zu beschäftigen. „Soweit ich das beurteilen kann, geht es bei sämtlichen Novelty-Songs um solche Stereotypen. Es geht um etwas, das ernst und wichtig ist, und dann machen wir daraus ganz leichte Kost. Wir reden uns ein, dass wir ernsthaft über etwas nachdenken und reden, aber in Wahrheit tun wir das nicht.“ Gaunt beschreibt, auf welch heimtückische Weise ein Song wie „Baby Got Back“ Schaden anrichten kann, und verweist auf den wohl berühmtesten Teil: ganz am Anfang, wenn die beiden Beckys die Frau mit dem großen Hintern als „eklig“ und als „Prostituierte“ bezeichnen. „Alle kennen diese Stelle auswendig“, führt sie aus, „und beim Mitsingen oder -sprechen trainierst du deinen Verstand darauf, sie zu tolerieren.“ In der Highschool standen wir alle auf der Tanzfläche, warteten auf den Beat und sangen im Valleyspeak mit: „She looks like a total prostitute… I mean, gross… She’s just so black.“ Und obwohl wir spöttelten, obwohl wir herumalberten, obwohl es „doch bloß ein Song ist, bloß ein Witz“, sprachen wir diese Worte laut aus, meißelten sie uns in den Kopf, infizierten uns mit diesen Stereotypen oder verstärkten sie sogar. Für Gaunt ist das eine Art Epigenetik, bei der wir uns unbewusst rassistische Gedanken über schwarze Frauen einprogrammieren. Was es ihrer Meinung nach tendenziell sogar noch schlimmer macht: Trotzdem wird der Song so hingestellt, als überbringe er eine positive Botschaft, sodass die Leute auch noch denken, sie täten mit dem Zuhören etwas Gutes. „Du wirst glauben gemacht, du unterstützt einen schwarzen Rapper, der etwas für schwarze Frauen tun will. Aber kein Mensch hat je schwarze Frauen gefragt, was sie davon halten.“

EIN SONG ÜBER HINTERN

„Baby Got Back“ ist natürlich nicht der einzige Song über Hintern. Er war nicht einmal der einzige beliebte Song über Hintern im Jahr 1992. Im selben Jahr kam auch „Rump Shaker“ von Wreckx-n-Effect heraus, der auf Platz zwei der Billboard-Charts kletterte. (Auch hier durchkreuzte Whitney Houstons „I Will Always Love You“ die Pläne von der Nummer eins, denn dieser allmächtige Titel hielt sich 14 Wochen an der Spitze, ein Rekord.) Das Video besteht beinahe ausschließlich aus schwarzen Frauen, die im Bikini am Virginia Beach tanzen. An der einen oder anderen Stelle spielt eine von ihnen Saxofon, doch der Fokus liegt auf herumwirbelnden Körpern und, wie der Name schon sagt, auf wackelnden Hinterteilen. Erneut bekam das Video Sendeverbot von MTV. „Hinterteile sind doch nichts Schmutziges“, sagte Teddy Riley, der an der

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„Überall sangen die weißen Jungs und Beckys fröhlich mit, vermutlich ohne zu merken, dass sie die Bösen darin waren.“

Single mitgeschrieben und sie produziert hat, 1992 der Los Angeles Times. Er erinnerte sich noch, wie frustriert er gewesen war, dass andere Musiker wie Prince in ihren Videos sehr wohl über sogenannte schmutzige Dinge singen durften, ohne dass sie von MTV geahndet wurden, dass aber Videos mit Hintern verboten waren. „Sie sind nicht schmutzig. Sie wackeln nur ein bisschen. Es ist einfach ein harmloser Spaß, der die Frauen durchaus respektvoll behandelt und sich nicht über sie lustig macht“, erklärte er. „Irgendetwas haben Hintern an sich, dass sich die Leute aufregen.“ Das Album, das die Leute richtig auf die Palme brachte, war „As Nasty As They Wanna Be“ von 2 Live Crew. Es war eines der am kontroversesten diskutierten Alben der späten 1980er und frühen 1990er und ein weiteres hinternzentriertes Unterfangen: Auf dem Cover waren vier Frauen im Stringtanga am Strand zu sehen, Hintern in die Kamera gestreckt, Gesichter abgewendet, quasi nackt. Ihre gesamte Musikerlaufbahn über haben 2 Live Crew einen Haufen Songs über Hintern aufgenommen, darunter „Face Down, Ass Up“ von 1990. Sie gehörten zum Sub-Genre Miami Bass, auch „Booty Music“ genannt, das tiefe, satte Bässe mit zischenden Beckenklängen und reichlich hinternbezogeneTexten kombinierte. 2 Live Crew waren unflätig, wenn nicht sogar derb, und sie waren stolz darauf. In ihrer Hitsingle „Me So Horny“ sampelten sie den von einer vietnamesischen Sexarbeiterin gesprochenen Satz aus dem Film „Full Metal Jacket“ und machten daraus einen wiederkehrenden Refrain im Sprechgesang. Ihr Song enthielt Textzeilen wie: „Put your lips on my dick, and suck my asshole, too/I’m a freak in heat, a dog without warning/My appetite is sex, ’cause me so horny.“ Daher ist es wohl kaum verwunderlich, dass konservative Gruppierungen an die Decke gingen, als das Album 1989 erschien. Tipper Gore und das Parents Music Resource Center hatten es zwar geschafft, die Musikindustrie zu Aufklebern mit „Hinweisen für Erziehungsberechtigte“ auf den Alben zu bewegen, mit denen vor gewalttätigem oder „anstößigem“

Inhalt gewarnt wurde. Anfang der Neunziger war jedoch bereits klar, dass ein simpler Aufkleber die jungen Leute nicht davon abhielt, umstrittene Platten zu kaufen. Obwohl die meisten US-Radiosender „As Nasty As They Wanna Be“ aus ihrem Programm verbannten, war das Album extrem erfolgreich und landete auf Platz 13 der Wochencharts. In einigen Staaten wurden Händler sogar gerichtlich belangt, wenn sie das Album verkauften, weil es dort als „obszön“ eingestuft wurde, und einige Bandmitglieder sind verhaftet worden, nachdem sie in Florida ihre Songs auf der Bühne gespielt hatten. Der darauffolgende Prozess brachte den Kampf vor Gericht, der in den 1990ern zwischen Meinungsfreiheit und Vulgarität ablief, sowie die wachsende Besorgnis der weißen Mittelschicht darüber, dass sich schwarze Kultur bei der weißen Jugend großer Beliebtheit erfreute. Ein breites Aufgebot an MusikkritikerInnen sagte zugunsten von 2 Live Crew aus, und der viel gepriesene Historiker Henry Louis Gates Jr verfasste einen Kommentar in der New York Times, in dem er auf ein grundlegendes Missverständnis hinwies. „2 Live Crew betreiben plumpe Parodie, bei der sie die Stereotype schwarzer und weißer US-amerikanischer Kultur auf den Kopf stellen. Die jungen Künstler agieren zu lebhafter Musik eine parodistische Überspitzung der uralten Klischees des sexbesessenen schwarzen Mannes und der sexbesessenen schwarzen Frau aus. Ihre übermäßige Verwen-

dung von Hyperbeln (zum Beispiel phantasmagorische Geschlechtsorgane) untergräbt – für jeden, der sich mit schwarzen kulturellen Codes auskennt – eine zu wörtliche Lesart der Liedtexte.“ Trotz dieser Verteidigung erteilt Gates der Vulgarität von 2 Live Crew keinen Freifahrtschein. „Viel besorgniserregender als die sogenannte Obszönität ist hingegen der offene Sexismus der Band“, fügt er noch hinzu, bevor er die Leserschaft auffordert, den Sexismus von 2 Live Crew im größeren Zusammenhang zu sehen. Seiner Meinung nach hebt er sich nämlich womöglich wieder auf, weil er sich extremer Übertreibung bedient. Gleichzeitig warnt Gates: „Wir dürfen jedoch nicht der Versuchung erliegen, die Street Culture zu sentimentalisieren: Die Würdigung verbaler Virtuosität schmälert nicht unsere Verantwortung, Voreingenommenheit in all ihren bösartigen Auswüchsen zu sezieren.“

MUSIKALISCHE UND OPTISCHE WIRKUNG

VOM HINTERN

Nicht nur Hymnen werden auf unser rundestes Körperteil verfasst, sondern auch Bücher.

Heather Radke widmet sich unseren kleinen großen vier Buchstaben und auf dessen Wahrnehmung über die vergangenen Jahre. Das bringt Themen wie Sex, Begehren, Unterhaltung und Scham genauso hervor wie Objektivizierung und Kritik.

Heather Radke, „Vom Hintern. Die Geschichte einer Rundung“, Piper, ca. 30.–

Die Hintern-Hymnen von 2 Live Crew sowie „Baby Got Back“, „Rump Shaker“ und sogar „Big Ole Butt“ von LL Cool J – eine frühere Single mit demselben Thema, die in den Charts nicht ganz so hoch kletterte – wirkten nicht nur musikalisch, sondern auch optisch. In den späten 1980ern war MTV auf dem Gipfel seines Erfolgs, und obwohl Hip-Hop ursprünglich nicht in den Zuständigkeitsbereich des Senders fiel (er bezeichnete sich als Rocksender), hatten Michael Jackson und Run-DMC jeweils die Farb- und Musiktrennung durchbrochen, die MTV in den Anfangsjahren zu einem de facto weißen Sender gemacht hatte. Ab 1988 strahlte der Sender Yo! MTV Raps aus, eine Countdown-Show mit Hip-Hop-Videos. Sie war außerordentlich erfolgreich, die Einschaltquoten gingen schon in der ersten Woche derart nach oben, dass die Show bald jeden Nachmittag lief und die beliebtesten HipHop-Songs der USA spielte. Dank Yo! MTV Raps konnten Hip-Hop-Musikerinnen und -Musiker aus weit entfernten Teilen des Landes viel leichter die Arbeit der anderen sehen und hören und kreativ miteinander interagieren. Außerdem schuf die Sendung ein Publikum für Hip-Hop und entwickelte sich zu seinem Medium. Snoop Dogg formulierte es in einem Interview für das Buch MTV Uncensored folgendermaßen: „Das hat uns auf das gleiche Level wie Rock ’n’ Roll und Musik allgemein gehoben… das war ein Ort, an dem alle zusammenkamen, um ihr neues Video zu zeigen.“ Der Rapper und Videojournalist Ed Lover führte aus: „Yo! MTV Raps hat Hip-Hop der Masse nahegebracht. Wenn du im kalifornischen Comptom wohntest, wusstest du, was in New York abging, und umgekehrt.“ Das Stammpublikum, das sich MTV in den weißen US-amerikanischen Vorstädten aufgebaut hatte, war durch die Sendung Yo! MTV Raps zum ersten Mal mit Hip-Hop in Berührung gekommen, und das mit beispiellosem Erfolg. Diese Tatsache jagte einigen Eltern Angst ein, was wiederum Gerichtsverfahren wie das gegen 2 Live Crew zur Folge hatte. Konservative Gruppierungen fürchteten, die freimütige Sexualität, der allgegenwärtige Sexismus und die angebliche Obszönität würden die weiße Jugend verderben. Vordergründig ging es dabei um die freizügige Sprache und Bildwelt, doch oft schwangen auch rassistische Untertöne mit. Sie fürchteten sich davor, dass Sir Mix-A-Lot genau das bekam, worauf er aus war: in der weißen Jugend eine Vorliebe für wackelnde schwarze Hintern zu wecken.

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PAST EARLY DAYS

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Chinatown, Neujahrsfest,
Brasilia, Brasilien, 1968 130

Jedes Genie beginnt als Greenhorn. Auch Thomas Hoepker, Koryphäe von Magnum Photos, hat irgendwann zum ersten Mal auf den Auslöser gedrückt. Dabei ist der Deutsche durch die halbe Welt gereist, ohne Korsett, ohne Druck, dafür mit einem Kopf voller Flausen. Das Ergebnis ist nicht minder genial als das, was Hoepker später so groß machen wird und ist nicht zuletzt deshalb bis Mitte Januar in Berlin zu sehen.

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Fotos: Thomas Hoepker / Magnum Photos, courtesy Galerie Buchkunst Berlin
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THOMAS HOEPKER: ALL AROUND THE WORLD

Von Rio de Janeiro nach Hong Kong, New York, Neapel und Paris: Das ist Jetset vom Feinsten. Thomas Hoepker reist ab 1959 durch die ganze Welt und setzt mit seinen Fotografien den Grundstein für seine spätere Karriere, die ihn bis zum Präsidenten der Fotoagentur Magnum Photos bringen soll. In der Buchkunst Berlin sind bis 13. Januar 2024 diejenigen Schnappschüsse des jungen Hoepker zu sehen, die beinahe Gefahr liefen, im Archiv zu verstauben.

Thomas Hoepker: All Around the World – unseen color & early black and white Buchkunst Berlin, Oranienburger Straße 27, 10117 Berlin 30. September 2023 bis 13. Januar 2024

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FEEDING HOPE

Essen
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Text: Christine Schäfer Karin Frick Johannes C. Bauer Foto: pa picture alliance
verbindet – schon immer. Heute dokumentieren wir unser Menü auf Instagram, damals taten es Maler wie Abraham Mignon in Öl auf Eichenholz (Stilleben mit Früchten, 17. Jh).

FUTURE THE

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Die Erde wird zur Sauna, unser Kühlschrank immer eintöniger und sowieso stehen wir kurz vor dem Abgrund.

Schwarzmalerei hilft uns allen nicht –deshalb blickt das Gottlieb Duttweiler Institut in die Zukunft und präsentiert uns die Chancen für ein nachhaltiges Ernährungssystem quasi auf dem Silbertablett. Zuhören und mitmachen, denn eines ist klar: Weitermachen wie bisher ist nicht.

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Im Frontend des Ernährungssystems geben die KonsumentInnen den Takt an. Hier dreht sich alles um neue Ernährungsgewohnheiten und Veränderungen im Konsumverhalten. Wie entscheiden die KonsumentInnen, was wissen sie über das Foodsystem, was beeinflusst ihr Verhalten? KonsumentInnen werden zur entscheidenden Instanz, die das Tempo des Wandels und die Richtung von Innovationen vorgeben. Bei den KonsumentInnen wächst langsam das Bewusstsein für Purpose – dem Sinn hinter dem eigenen Handeln – und für die eigene Gesundheit. Die Nachfrage nach nachhaltig produzierten, gesunden Lebensmitteln steigt. So beeinflussen die KonsumentInnen das Angebot in Handel und Gastronomie. E- und M-Commerce bieten neue Vertriebskanäle. Dank Creator Economy – auch Influencer Economy genannt – tritt neue Konkurrenz in den Markt ein und sorgt für Dynamik. Dies sorgt auch für neue Chancen in Landwirtschaft und Industrie, wo das neue KonsumentInnenbewusstsein Innovation und die Umstellung auf nachhaltige Praktiken fördert.

AKTIVISTISCHER KONSUM

Was? – Unter aktivistischem oder Purpose-driven Konsum versteht man die Entscheidung von KonsumentInnen für Produkte und Dienstleistungen auf der Grundlage eines Purpose – also auf Basis ihrer Werte und Überzeugungen. Oft sind es auch Erkenntnisse über die sozialen oder ökologischen Folgen von Entscheidungen, die das Konsumverhalten verändern. Purpose-orientierter Konsum kurbelt die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen an, die mit den Werten der KonsumentInnen übereinstimmen. Dies ermutigt Unternehmen, nachhaltigere und ethischere Praktiken entlang der gesamten Lieferkette einzuführen, von der Rohstoffbeschaffung bis zu Verpackung und Transport. Der aktivistische Konsum schafft einen Markt für nachhaltigere und ethischere Lebensmittelprodukte, Innovationen und Investitionen in diesen Bereichen werden wahrscheinlicher.

Initiativen & Innovationen – Das US-amerikanische Startup Cluey Consumer ermöglicht es KonsumentInnen, den Einfluss ihrer Entscheidungen besser zu verstehen. Auf einer Plattform kann jeder die Werte seiner Lieblingsmarken überprüfen. Denn allzu oft wird Greenwashing betrieben: Marken betonen gern wie nachhaltig ihre Produkte und Dienstleistungen in diesem oder jenem Punkt sind, verschweigen aber, wo sie es nicht sind. Cluey hilft, solche Marketingpraktiken zu durchschauen. Die Plattform zeigt auf, welchen Einfluss die Unternehmen auf Menschen und Planeten haben und welche politische Partei sie (finanziell) unterstützen. So können KonsumentInnen leichter Anbieter identifizieren, deren Werte wirklich mit ihren eigenen übereinstimmen.

Transformationschancen – Purpose-orientierter Konsum bietet einerseits neue Chancen für Unternehmen und Organisationen, die Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit oder Tierschutz statt Profit als übergeordnetes Ziel definieren. Durch die Wahl von Produkten und Dienstleistungen, die mit ihren Werten übereinstimmen, können andererseits die KonsumentInnen Unternehmen und politischen EntscheidungsträgerInnen signalisieren, dass Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit wichtige Themen sind. Investitionen in dieses Feld loh-

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„46 Prozent der Erwachsenen in den USA sagen, der hohe Preis halte sie vom Kauf gesunder Lebensmittel ab.“

nen sich. Purpose-orientierter Konsum kann so helfen, eine Kultur der Nachhaltigkeit und der sozialen Verantwortung im Ernährungssystem zu schaffen. Das Bewusstsein für Themen wie Foodwaste, Verlust der Artenvielfalt und Tierschutz wird geschärft, andere KonsumentInnen werden inspiriert nachzuziehen, Unternehmen und Politik ermutigt, Rahmenbedingungen für ein nachhaltiges Ernährungssystem festzulegen.

GESUNDHEITSBEWUSSTER KONSUM

Was? – KonsumentInnen werden gesundheitsbewusst und suchen nach Lebensmitteln, die nicht nur gut schmecken, sondern auch eine Reihe von Gesundheitsvorteilen bieten. Nach Angaben des Marktforschungsinstituts Statista Consumer Insights bemühen sich 50 Prozent der US-AmerikanerInnen aktiv um eine gesunde Ernährung. Gleichzeitig ist Fast Food weiterhin fester Bestandteil des amerikanischen Lifestyles. Jeden Tag isst etwa ein Drittel der Bevölkerung in einem Fast-Food-Restaurant. 46 Prozent der Erwachsenen in den USA sagen, der hohe Preis halte sie davon ab, gesunde Lebensmittel zu kaufen. Das Bewusstsein für gesunde Ernährung ist nicht auf die Industrieländer beschränkt. Auch in den Schwellenländern wächst die Nachfrage nach gesunden Lebensmitteln. Nach Einschätzung des Forschungsunternehmens Data Bridge Market Research wird der globale Markt für Gesundheits- und Wellness-Food zwischen 2022 und 2029 jährlich um etwa 9,3 Prozent wachsen.

Initiativen & Innovationen – Auf Initiative der Supermarktkette Spar Österreich wurde im April 2019 die Allianz gegen zu viel Zucker gegründet. Die Allianz ist ein Zusammenschluss von Unternehmen aus Lebensmittelindustrie und -handel, um gegen versteckten Zucker in vielen Lebensmitteln vorzugehen. Er steckt sogar in vermeintlich gesunden Produkten wie Joghurt oder Müsli. Die Initiative hat zwei Ziele: Erstens Produkte mit weniger Zucker auf den Markt zu bringen, zweitens KonsumentInnen über die gesundheitlichen Risiken eines zu hohen Zuckerkonsums aufzuklären. Spar selbst hat seit Lancierung der Initiative den Zuckeranteil in seinen Eigenmarken um mehr als 2'500 Tonnen reduziert – und nicht etwa durch künstliche Süßstoffe ersetzt. Mittlerweile hat die Initiative mehr als 50 Mitglieder.

Transformationschancen – Durch das neue Gesundheitsbewusstsein wächst die Nachfrage nach gesünderen Lebensmitteln. Der Trend: weniger Zucker, Salz und ungesunde Fette, mehr Proteine, Ballaststoffe, Vitamine, Mineralien. Die HerstellerInnen reagieren und bieten mehr Produkte an, die zu diesen Vorstellungen passen. Eine Studie der Columbia University in New York schätzt, dass eine 15-prozentige Reduktion des Konsums von zuckergesüßten Getränken 2,4 Millionen Diabetes-Personenjahre, 95'000 Herzinfarkte, 8'000 Schlaganfälle und 26'000 vorzeitige Todesfälle verhindern und gleichzeitig medizinische Kosten in Höhe von über 17 Milliarden US-Dollar vermeiden könnte.

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„Eine 15-prozentige Reduktion des Konsums von zuckergesüßten Getränken verhindert 26'000 vorzeitige Todesfälle.“

ERNÄHRUNG ALS MEDIZIN

Was? – Für die Food-as-Medicine-Bewegung ist Ernährung integraler Bestandteil des Wohlbefindens. Sie steht damit in einer langen Tradition. Schon im antiken Griechenland galt Nahrung als Medizin. Ein gesunder Lifestyle ist die Basis für Krankheitsprävention und ein langes Leben. In der Gesundheitsvorsorge werden daher heute zunehmend medizinisch maßgeschneiderte Ernährungspläne zur Vorbeugung, Kontrolle und Behandlung von Krankheiten eingesetzt. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt die New Science of Wellness. Der Forschungsbereich wächst derzeit massiv. Er kombiniert Erkenntnisse aus Psychologie, Medizin und Neurowissenschaften und erforscht die komplexen Beziehungen zwischen Ernährung, Lebensstil und allgemeinem Wohlbefinden. Ziel ist es, den Schwerpunkt des Gesundheitssystems zu verlagern. Well-Care statt Health-Care – von der Versorgung zur Vorsorge. Krankheiten sollen erkannt und präventiv behandelt werden. Auch die Mikrobiomforschung zeigt die Zusammenhänge zwischen Ernährung und dem physischen sowie psychischen Wohlbefinden von Menschen auf. Wie es uns geht, was wir fühlen und wie wir handeln, hängt nicht zuletzt von unserem Darmmikrobiom ab. Dessen Vielfalt und individuelle Zusammensetzung wird dadurch beeinflusst, wie wir uns und damit unsere Mikroorganismen ernähren. Dieses aufstrebende Forschungsgebiet weist einerseits den Weg zu neuen Formen der personalisierten Ernährung und zeigt andererseits, wie wichtig die Ernährung für die mentale Gesundheit ist.

Initiativen & Innovationen – Das Londoner Startup ZOE24 gibt KonsumentInnen ein Gefühl dafür, wie ihr Körper auf Lebensmittel reagiert. Das gelingt mithilfe personalisierter Tests und künstlicher Intelligenz. Zudem hat das Unternehmen in Zusammenarbeit mit dem Mass General Hospital, Stanford Medicine und dem King’s College London die bislang größte Ernährungsstudie weltweit durchgeführt. ZOE bietet personalisierte Ernährungsprogramme an. In einem Heimtest werden erst Blutzucker, Blutfette und das Darmmikrobiom analysiert. Die Ergebnisse gleicht eine künstliche Intelligenz mit den Daten von firmeneigenen Studien ab. Auf dieser Basis wird genau aufgeschlüsselt, welchen Nutzen ein Lebensmittel für die betreffende Person hat. Fertig ist der individuelle Food-Check. Mit In-App-Tools, kleinen Food-Tipps und der Unterstützung von ErnährungsexpertInnen lernen die AnwenderInnen dann, gesündere, nachhaltigere Gewohnheiten zu entwickeln. Dabei steht der Genuss, nicht der Verzicht im Vordergrund.

Transformationschancen – Interdisziplinäre Forschung kann die Entwicklung von funktionellen Lebensmitteln wesentlich vorantreiben. Das sind Lebensmittel, die Nährstoffe und bioaktive Substanzen enthalten, die besonders gesundheitsförderlich sein sollen. Individuelle Ernährungspläne und Produkte lassen sich leichter herstellen denn je. Health-Apps, Wearables und Smartwatches mit Sensoren, die Gesundheitsdaten aufzeichnen, sind weit verbreitet. So werden riesige Datenmengen generiert, die Einblick in den Gesundheitszustand der KonsumentInnen geben. Mithilfe dieser personalisierten Gesundheitsfürsorge kann man frühe Anzeichen von Krankheiten erkennen,

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beispielsweise ein erhöhter Blutzucker oder ein Gen für Krebs. Wer diese Risiken kennt, kann vorbeugen – mit einer anderen Ernährung, neuen Medikamenten, mehr Sport. Das spart auch Kosten im Gesundheitssystem.

ESSKULTUR

Was? – Essen ist mehr als nur Nährstoffaufnahme – es ist Genuss, Kultur, Wohlfühlmoment, Kindheitserinnerung und ein Teil unserer Identität. Unsere Esskultur prägt unsere Einstellungen zu Essen und Ernährung. Erziehung, Traditionen, Werte und erlernte Zubereitungstechniken beeinflussen, wie wir Lebensmittel produzieren, verarbeiten und konsumieren. Essen wir lieber zusammen am Tisch oder allein? Kochen wir lieber selbst oder schnappen wir uns Fertiggerichte? Das beeinflusst unsere Konsumentscheidungen. Wo es Tradition ist, frische, lokal angebaute Zutaten zu verwenden, selbst zu schnippeln und zu braten, führt das vermutlich eher zu gesünderen Konsumentscheidungen. Auch werden wir wohl eher die lokale Landwirtschaft unterstützen. Wo es Tradition ist, Lebensmittel zu teilen und gemeinsam zu essen, wird das zudem den sozialen Zusammenhalt fördern und Foodwaste verringern.

Initiativen & Innovationen – In Colorado, USA, startete die Foodbank of the Rockies 2020 die Culturally Responsive Food Initiative (CRFI). Die CRFI sammelte Informationen über Lebensmittelpräferenzen von mehr als 700 KundInnen, 111 PartnerInnen und 12 kulturellen Gemeinschaftsorganisationen. Auf Basis dieser Daten erstellte sie Listen mit Lebensmitteln, die den Vorlieben und typischen ernährungsbedingten Regeln der sieben meistvertretenen Kulturen entsprechen, die im Einzugsgebiet der Food Bank leben. Die Idee: Empfänger von Nahrungsmittelhilfe sollen nicht „einfach nur froh sein, dass sie etwas zu essen bekommen, es ist ja umsonst!“ Die Initiative will den Menschen mehr geben: „Kulturell bedeutsame Lebensmittel bringen den Menschen Geborgenheit und geben ihnen das Gefühl, zu Hause zu sein.“

Daten

Fleisch

vielfältigen

Transformationschancen – Die meisten Kulturen – von Asien und Afrika über Europa bis Nord- und Südamerika – pflegen eine traditionelle Ernährungsweise, die reich an pflanzlichen Lebensmitteln ist. Fleisch war früher nicht immer verfügbar, aufwendig zu beschaffen oder sehr teuer. Eine Rückbesinnung auf diese Esskultur mit ihren vielfältigen pflanzlichen Zutaten mindert das Risiko für chronische Erkrankungen und schont die Umwelt. Auch kann die Integration traditioneller Praktiken zur Lebensmittelkonservierung und Zubereitung, wie beispielsweise Fermentation, in moderne Ernährungssysteme Foodwaste verringern. Lokale und saisonale Zutaten werden vermutlich wieder mehr genutzt, was die lokale Landwirtschaft und KleinproduzentInnen unterstützt. So individuell und persönlich die Esskultur sein mag, sie kann auch auf die gesellschaftlich-politische Ebene überschwappen. Italien beispielsweise möchte die zelluläre Landwirtschaft verbieten, um die Tradition und das kulturelle Erbe zu schützen.

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PLANETARY HEALTH

Was? – Das Konzept der Planetary Health – der planetaren Gesundheit – bringt auf den Punkt, dass die Gesundheit des Menschen und die Gesundheit des Planeten untrennbar miteinander verbunden sind. Nur wenn die Natur gedeiht und wir verantwortungsvoll mit den natürlichen Ressourcen umgehen, bleiben auch die Menschen gesund. Die EAT-Lancet Commission on Food, Planet, and Health, eine Gruppe multidisziplinärer, internationaler ExpertInnen, hat sich intensiv mit den Wechselwirkungen zwischen menschlicher und planetarer Gesundheit befasst. Wichtiges Fazit: Mangelernährung und Fettleibigkeit sind eine ernsthafte Bedrohung für die menschliche Gesundheit – und dieser Trend steht in direktem Zusammenhang mit dem Klimawandel. Daher lassen sich diese drei Probleme nur gemeinsam lösen.

Initiativen & Innovationen – Die Planetary Health Diet ist ein Fahrplan für ein nachhaltigeres und gesünderes Ernährungssystem. Die EAT-Lancet Commission hat die Formel dazu entwickelt. Sie basiert auf wissenschaftlichen Untersuchungen und empfiehlt eine pflanzenbasierte Ernährung mit viel Obst, Gemüse, Vollkornprodukten, Hülsenfrüchten, Nüssen und Samen. Auch tierische Produkte gehören auf den Speisezettel – aber in viel kleineren Mengen als sie heute im Durchschnitt Standard sind. Pro Woche stehen jeder Person knapp 100 Gramm rotes Fleisch und je ungefähr 200 Gramm Fisch und Geflügel zu.

Transformationschancen – Wer sich an die Planetary Health Diet hält, reduziert das Risiko für chronische Krankheiten ebenso wie die Belastung der Umwelt. Die Mengenangaben in der Planetary Health Diet beziehen sich auf Nahrungsmittelgruppen, nicht auf einzelne Produkte. Das bietet Raum für einen Speiseplan, zugeschnitten auf den individuellen Geschmack und die kulturell geprägten Ernährungsgewohnheiten.

NACHHALTIGE HAUSTIERNAHRUNG

Was? – Allein in den USA gibt es mehr als 163 Millionen Hunde und Katzen. Ihre Ernährung besteht zu einem großen Teil aus tierischen Produkten, die einen beträchtlichen ökologischen Fußabdruck hinterlassen. Etwa 25 bis 30 Prozent der Umweltauswirkungen der tierischen Landwirtschaft entstehen durch das Futter für Hunde und Katzen, von der Landnutzung über den Verbrauch von Wasser und fossilen Brennstoffen bis zu Phosphat und Bioziden. Die AmerikanerInnen sind die größten HaustierbesitzerInnen der Welt. Doch andere ziehen nach. Die Zahl der Haustiere nimmt weltweit zu, vor allem in Ländern wie China. Gleichzeitig steigt der Fleischanteil in der Tiernahrung kontinuierlich, auch wandert zunehmend edleres Fleisch in die Futternäpfe. Die Auswirkung dieses Verbrauchs auf die Umwelt wird daher weiter wachsen. Weniger Hunde und Katzen in den Haushalten, vielleicht zugunsten anderer Haustiere, würde das ändern.

Initiativen & Innovationen Das US-amerikanische Startup Bond Pet Foods produziert nachhaltige, nährstoffreiche Proteine. Sie werden

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„Wo es Tradition ist, gemeinsam zu essen, wird Foodwaste verhindert.“

gebraut und nicht gezüchtet und können im großen Stil hergestellt werden. Bekannt für seine pflanzenbasierten Leckerlis für Haustiere, verlagert das Unternehmen nun seinen Schwerpunkt auf Zutaten für Haustierfutter. Mithilfe von Präzisionsfermentation stellt es naturidentische Hühnchen-, Rindfleisch-, Fisch- und andere Fleischproteine her.

Transformationschancen – Durch die Verwendung alternativer Proteinquellen für das Tierfutter wie Insekten, Algen, Fleisch und Fisch auf Zellbasis oder pflanzliche Zutaten verringern Hersteller ihre Abhängigkeit von konventionellem Fleisch. Sie tragen dazu bei, die Umweltauswirkungen der Produktion von Haustiernahrung zu reduzieren. Wenn statt Premiumfleisch Nebenprodukte aus der Lebensmittelindustrie verwendet werden, entsteht eine Kreislaufwirtschaft, die Foodwaste reduziert.

VIRTUELLE ABSATZKANÄLE

Was? – Online-Handel, E-Commerce und M-Commerce werden für Verkauf und Vertrieb von Lebensmitteln immer wichtiger. Über diese Kanäle kann der Handel ein breiteres Publikum erreichen und Menschen den Zugang zu Lebensmitteln verschaffen, die in Gegenden ohne traditionelle Vertriebswege leben. Online-Plattformen und Webseiten eröffnen KonsumentInnen den Zugang zu einer breiten Palette von Lebensmitteln, darunter auch Spezialitäten und Nischenprodukte, die in ihrer Region nicht erhältlich sind. Lieferdienste für Lebensmittel und fertige Menüs werden seit einigen Jahren beliebter. Mehr Menschen bestellen online. Diese Dienste erleichtern Menschen, die wenig Zeit haben, den Zugang zu Lebensmitteln. Sie können häufiger selbst kochen, wenn sie nicht erst einkaufen müssen. Und sie haben eine größere Auswahl an gesunden und frisch gekochten Delivery-Menüs, die über Pizza, Burger und Pommes hinausgehen.

Initiativen & Innovationen – Dagangan ist ein indonesisches E-Commerce-Startup, das sich auf die Versorgung ländlicher Gebiete konzentriert. Es beliefert die Menschen mit einer Vielzahl an Artikeln – von Lebensmitteln über Alltagsgegenstände bis zu Kleidung. Die ländlichen Gemeinden Indonesiens werden derzeit von EinzelhändlerInnen nur unzureichend versorgt. Die durchschnittliche KonsumentIn auf dem Land muss bis zu 35 Prozent mehr bezahlen als eine BewohnerIn der Hauptstadt. Dagangan will nun den größten Retail- und E-CommerceMarktplatz Indonesiens aufbauen, der mehr als 90'000 Dörfer versorgen soll. Dort leben etwa 80 Prozent der Bevölkerung.

Transformationschancen – Der Online-Handel kann dazu beitragen, dass Lebensmittel schneller und leichter zu ihren KundInnen kommen. Es sind weniger ZwischenhändlerInnen nötig und direkte Transaktionen zwischen ProduzentInnen und KonsumentInnen möglich. Dies senkt die Kosten, verringert Foodwaste und sorgt für mehr Effizienz und Convenience im Ernährungssystem. Der mobile Handel (M-Commerce) ist vor allem für Schwellenländer eine große Chance. Oft sind mobile Geräte verbreitet, der Zugang zum traditionellen Einzelhandel hingegen ist begrenzt. E- und M-Commerce generieren zudem riesige Datenmengen. Ihre Analyse treibt die Personalisierung

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„Mangelernährung und Fettleibigkeit sind eine ernsthafte Bedrohung für die menschliche Gesundheit.“

von Lebensmitteln voran. Wenn LebensmittelherstellerInnen und -händlerInnen die Daten der KonsumentInnen auswerten, können sie leichter passende Angebote machen. Von personalisierter Essensplanung und Rezeptvorschlägen bis hin zu maßgeschneiderten Verpackungsgrößen. Damit kann eine gesunde Ernährung gefördert und Foodwaste reduziert werden.

CREATOR ECONOMY

Was? – Laut einem Report des australischen Startups Linktree versuchen etwa 200 Millionen NutzerInnen, ihre Follower zu Geld zu machen. Längst haben sich die sozialen Medien von einem Zeitvertreib zu einer eigenständigen Wirtschaft entwickelt. Innerhalb der nächsten fünf Jahre werden schätzungsweise eine Milliarde Menschen als Content Creators tätig sein. Die Creator Economy beschreibt einen Trend: KonsumentInnen erstellen und vermarkten ihre eigenen (digitalen) Inhalte. Sie werden zu ProduzentInnen. KöchInnen und Food-BloggerInnen können so Einfluss und Reichweite nutzen, um das Bewusstsein für Themen wie Foodwaste, nachhaltige Landwirtschaft und gesunde Ernährungsgewohnheiten zu schärfen und die KonsumentInnen zu ermutigen, nachhaltige Ernährungsentscheidungen zu treffen.

Initiativen & Innovationen – MrBeast – mit bürgerlichem Namen Jimmy Donaldson – ist ein amerikanischer YouTuber und Wohltäter. Er ist bekannt für seine aufwendigen Stunt-Videos und hat mehr als 150 Millionen Follower auf der Plattform. Im November 2020 startete der Creator in North Carolina seine eigene Fast-Food-Marke MrBeast Burger. Der Ansturm seiner Fans war riesig, die Warteschlange kilometerlang. Kurz darauf eröffnete der YouTuber in Kooperation mit Virtual Dining Concepts 300 virtuelle Delivery-Only-Restaurants, die in bestehenden Restaurantküchen kochen und ihre Menüs ausliefern. Im Frühjahr 2021 ging die Kette ins Ausland: MrBeast Burger eröffnete virtuelle Restaurants in Kanada und in Großbritannien. Seit Herbst 2022 kann man die Restaurants auch vor Ort besuchen, nicht nur online bestellen. Die Eröffnung der ersten Filiale in New Jersey lockte mehr als 10'000 Menschen an.

Transformationschancen – Die Creator Economy kann die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen vorantreiben. Essenslieferdienste oder Online-Marktplätze für lokale und nachhaltige Lebensmittelprodukte entstehen, die Lebensmittelindustrie wird zunehmend demokratisiert. Es entwickelt sich eine neue Dynamik im Wertschöpfungsnetzwerk. Über ihre digitalen Plattformen können

Creators die ProduzentInnen und KonsumentInnen auf innovative Weise miteinander vernetzen. So machen sie das Ernährungssystem effizienter und nachhaltiger. Die Creators inspirieren mit neuen Ideen, Groß- und Einzelhandel stellen die notwendigen Zutaten bereit. Die Creator Economy ist eine Chance für KleinproduzentInnen und Entrepreneure. Sie können in die Lebensmittelbranche einsteigen und neue Märkte erschließen. Allerdings wird die Creator Economy nur erfolgreich sein, wenn es ihr gelingt, die Sicherheit ihrer Lebensmittel zu garantieren, die Privatsphäre der KonsumentInnen zu schützen und ökologisch und sozial nachhaltig zu arbeiten.

GOTTLIEB DUTTWEILER INSTITUT: EUROPEAN FOOD TRENDS REPORT

Das Gottlieb Duttweiler Institut (GDI) ist der älteste Think-Tank der Schweiz. Es erforscht die Zukunft mit Trend-Studien und internationalen Konferenzen, entwickelt Innovationsstrategien und bildet die Führungskräfte von Morgen aus. Seine Schwerpunktbereiche sind Handel, Ernährung und Gesundheit. Darüber hinaus ist das GDI mit Sitz in Rüschlikon auch eine Event-Location für geschäftliche oder private Anlässe. Das unabhängige Institut wird vom MigrosKulturprozent unterstützt.

In seinem European Food Trends Report beleuchtet das GDI die Chancen eines nachhaltigen Ernährungssystems und zeigt, was bei uns künftig auf den Tisch kommen wird. gdi.ch/eftr23

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WAITING FOR THE MOMENT FORMAL AMBITION VALIANT ENERGY

Photography: Verena Knemeyer @ Double-T-Photographers

Direction of Photography: Boie Baumann

Styling: Heike Held

Hair & Make-up: Eva-Maria Pilartz @ 21 Agency using Charlotte Tilbury & Aveda

Model: Jayne Baily @ PMA Digital Work: Freya Hinrichs

Kleid von BARBOUR. Anzug von JOSEPH. Tuch von WEAT. Schuhe von

FURLA.
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Look von FERRAGAMO.
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Links: Anzug von BRUNELLO CUCINELLI. Schuhe von FURLA.
FEMALE.
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Blazer von SECOND
Rock von BARBOUR.
Hemd von COS. Hosen von JOSEPH. Jacke von MAX MARA. Socken von KUNERT. Schuhe von UNISA.
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Rechts: Kleid von BAUM UND PFERDGARTEN. Jacke von SECOND FEMALE. Socken von KUNERT. Schuhe von UNISA. Mantel von BELSTAFF. Body von GUESS. Hose von WOOLRICH.
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Links: Bluse von PIALEA. Mantel von CALVIN KLEIN. Rock von GESTUZ.
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Village Cigars, 7th Av South at Christopher St, Greenwich Village, 2010 SHOP URBAN RETAIL
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Fotos: James & Karla Murray

Die Großen zertrampeln die Kleinen, und der Online-Handel macht Geschäften mit Charme komplett den Garaus. Doch es gibt einige, die ihre Theke täglich blank polieren, ihr Schaufenster vom Staub befreien und den Großverteilern frech den Finger zeigen. New York City ist voll davon, von diesen Rebellen des Konsums, deren Fassaden im Buch „Store Front NYC“ für immer ein Zuhause finden.

es

Katy’s Candy Store, Tompkins Av near Vernon Av, Bedford-Stuyvesant, 2004 Search & Destroy, St Marks Place near 2nd Av, East Village, 2013
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M&G Diner, West 125th St at Morningside Av, Harlem, 2007 N°10 /  2023 165
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Richard’s Barber Shop, Nostrand Av near Park Place, Crown Heights, 2004
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D. D’Auria & Sons Pork Store, East 187th St near Cambreleng Av, Belmont, 2004
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STORE FRONT NYC

Wo Aldi und Lidl das Stadtbild prägen, sind Geschäfte wie jene verschwunden, denen James und Karla Murray mit ihrem Buch „Store Front NYC“ eine Liebeserklärung machen. Das Duo, dessen Herz für Fotografie seit über einer Dekade mindestens genauso schnell schlägt wie für New York City, lichtet im Big Apple die kleinen Geschäfte ab, die den Großverteilern Paroli bieten. Und ja, da leuchten die Buchstaben neonfarben über dem Schaufenster, und dort untermalt die Türklingel das Shopping-Erlebnis.

James & Karla Murray, „Store Front NYC“, Prestel, ca. 53.–

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Ralph’s, Cambers St near Church St, TriBeCa, 2004

FACES’ FAVOURITES

FREEDOM

Freiheit ist ein großes Wort. Dessen Definition? Ansichtssache. Liisa Kessler, Creative Director von Filippa K, versteht darunter dieses Gefühl, aus voller Lunge durchzuatmen und in seinem Outfit durch den Alltag fliegen zu können. Diese Inspiration findet sich auch in den Teilen der Winterkollektion von Filippa K: Viele unterschiedliche, schlau designte Einzelstücke bieten Träger und Trägerin die Freiheit, sich ganz nach eigenem Gusto das Liebste herauszupicken und damit einen eigenen Look zu kreieren. Skisprunganzüge aus den 70ern beeinflussten die

Silhouetten, Prints und Stoffe aus demselben Jahrzehnt die Haptik. Lederstiefel, Loafers und Pumps sorgen mit Schlangenhautmuster für Aufmerksamkeit, Waffelstrick aus dem Archiv, nachhaltige Pelzimitate und kuschelige Stoffe für Komfort und das gewisse Etwas, das die Kollektionen von Filippa K so beliebt macht. Besonders schön: Filippa K setzt wo immer möglich auf zertifizierte, wiederverwendete und rückverfolgbare Materialien, auf biologische Baumwolle und zertifizierte oder recycelte Denimstoffe. filippa-k.com

Can’t take my eyes off you.

INTO THE WILD

Camouflage und Schlammfarben haben ausgedient. Zumindest bei jenen, die draußen höchstens auf die Jagd nach Abenteuern gehen. Für seine Herbstkollektion hat sich Nobis deshalb von den 80ern und 90ern inspirieren lassen und farbenfrohe Outerwear­Teile kreiert, die den Vibe und die Nostalgie farbenfroher Retro­Parkas versprühen. So macht das Entdecken der Natur gleich doppelt Freude! In der Kollektion befinden sich hier etwa coole Daunenjacken, deren Prints dem besten LSD-Trip Konkurrenz

machen, oder Mäntel in Farben, die unsere Begeisterung in luftige Höhen katapultieren. In Sachen Schnitt haben die DesignerInnen ganze Arbeit geleistet und punkten etwa mit gecroppten oder kurzärmeligen Daunenjacken, die Style und Funktionalität miteinander verschmelzen lassen. Ein spannender Materialmix durchzieht die gesamte Kollektion, die es uns schwer macht, uns beim OutdoorSpaziergang für ein Outfit zu entscheiden. nobis.com

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A STAR IS BORN

Die Hände frei und den vollen Sound im Ohr: Die Gründe für kabellose Kopf hörer sind so offensichtlich wie ein guter Look. Montblanc bringt mit seinen MTB 03 In­Ear­Kopfhörern beides zusammen: Das tiefschwarze Edelharz erinnert an Montblancs berühmtes Schreibgerät, auf dem das weiße Emblem der Marke besonders gut zur Geltung kommt. Dank der ergonomischen Passform liegen die Kopfhörer wunderbar im Ohr, was auch Morgan Mesple zu schätzen weiß. Der Influencer hat für FACES die MTB 03 In­EarKopfhörer auf Herz und Nieren getestet und ist nicht nur von der Optik hellauf begeistert: „Als DJ und großer Musik­Fan hänge ich locker vier bis fünf Stunden pro Tag am Sound. Die Kopfhörer von Montblanc machen

während bis zu sechs Stunden nicht schlapp, und dank des zugehörigen Ladeetuis aus Aluminium –das ich übrigens klasse finde, weil es komplett auf Plastik verzichtet –genieße ich Autonomie während ungefähr

22 Stunden.“ Klar, empfiehlt Mesple sein neues Lieblings­Accessoire auch seinen FreundInnen.

„Abgesehen vom extrem hohen Niveau der Klangqualität empfehle ich sie auch, weil sie enorm praktisch und stylisch sind. Ich trage sie oft zum Sport, weil sie so klein sind und direkt im Ohr sitzen und sich dadurch anfühlen, als würde ich gar keine Kopfhörer tragen.“ Auch ein schweißtreibendes Workout kann den MTB 03 von Montblanc nichts anhaben, sind die Kopfhörer doch wasserdicht. Zudem hilft die aktive Geräuschunterdrückung mit

Live­Modus dabei, sich ganz auf den Moment zu konzentrieren. Personalisiert wird das Erlebnis über die zugehörige Montblanc Sound App, mit der sich basierend auf dem jeweiligen Hörvermögen ein individuelles Hörprofil erstellen lässt. Dank der Zusammenarbeit mit dem Tontechniker Axel Grell, der mehr als drei Jahrzehnte Erfahrung bei Sennheiser buckelt, ist Montblanc diese ausgewogene Klangabstimmung gelungen, die Montblanc Sound Signature, die nicht zuletzt dafür sorgt, dass Morgan Mesple seine MTB 03 so schnell nicht wieder hergibt. Noch mehr Informationen zu den MTB 03 In­EarKopfhörern und den ganzen Erfahrungsbericht von Morgan Mesple findest du unter faces.ch.

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30.8.–9.9.23, CARTIER CELEBRATION 80TH VENICE INTERNATIONAL FILM FESTIVAL –BIENNALE

CINEMA 2023

LIDO DI VENEZIA

GLITZ’N’GLAM

Text: Adrienne Meyer

Fotos: Cartier

„Film ab“ hieß es bis zum 9. September einmal mehr in Italiens Lagunenstadt. Es war das 80. Mal, dass die Internationalen Filmfestspiele von Venedig stattfanden. Und auch dieses Jahr funkelten die Sternchen der Filmszene auf dem roten Teppich im Blitzlichtgewitter der FotografInnen, bevor sie sich bei Cartiers Afterparty den Champagner schmecken ließen. Cartier, Hauptsponsor des Events, versammelte die Crème de la Crème der Leinwand auf der Lido di Venezia. Die Gästeliste? Ein absolutes

Who’s Who: Emma Corrin von „The Crown“, Maude Apatow aus der Hit­Serie „Euphoria“ und Luca Guadagnino, der Direktor von „Call Me by Your Name“, waren unter anderem dabei – nur so als kleine Kostprobe. Mit viel Stil und guter Stimmung wurde auf die Kunst der Filmemacherei angestoßen, während die Schmuckstücke von Cartier mit ihren prominenten TrägerInnen um die Wette strahlten.

Highlight: Die Gästeliste natürlich.

Fazit: Truman Capote hatte sowas von recht, als er meinte: „Venedig ist, als würde man eine ganze Schachtel Likörpralinen auf einmal aufessen.“

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1 Paul Mescal 2 George & Amal Clooney 3 Beatrice Grannò 4 Boran Kuzum 5 Yalitza Aparicio 6 Maude Apatow 7 Emma Corrin 8 Isabelle Huppert 9 Caterina Murino mit Begleitung 10 Amazonica 11 Emma Corrin & Paul Mescal 12 Khatia Buniatishvili
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13 Hafsanur Sancaktutan

12.8., A.E. KÖCHERT SCHMUCKBRUNCH 2023, ST.PETER STIFTSKULINARIUM, SALZBURG

BRUNCH UND BIJOUX

Text: Adrienne Meyer

Fotos: Wildbild

Ob der Kaiser wohl brunchte? Wenn ja, dann sicher im Stil der Juweliere A. E. Köchert: in guter Gesellschaft und mit viel Bling-Bling. „Schmuckbrunch“ nennt sich das jährliche Gaudi, an dem die neuesten Schmuckstücke gezeigt werden und das im Rahmen der Salzburger Festspiele stattfindet. Dass das österreichische Familienunternehmen kaiserlich zu zelebrieren versteht, ist kein Zufall, zählte doch einst der Kaiser selbst zur Kundschaft der Juweliere. Wie sich am diesjährigen Festspielbrunch zeigte, versteht sich das Label aufs Feiern mindestens so gut wie aufs Schmuck machen: In den Arkaden des St. Peter Stiftskulinariums in Salzburg, dem ältesten urkundlich genannten Restaurant Europas, wurden den Gästen am 12. August die neuesten Schmuckkreationen des Hauses präsentiert. Deutlich wurde dabei vor allem eines: Mit Brunch den Tag zu beginnen, ist gut. Mit Brunch und Bijoux ins Wochenende zu starten, ist aber noch viel besser.

Highlight: Die funkelnden Klunker natürlich.

Fazit: Brunch without champagne – and jewelry – is just a sad breakfast.

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1 Klaus Mathis & Christian Kern

2 Rechts: Christine Eder

3 Florian Köchert & Valerie Pachner

4 Wolfgang Putz & Suzanne Harf

5 Schöner und bunter als jeder Blumenstrauß.

6 Claus Haslauer & Veronika Kirchmair

7 Claudia Reiterer & Helga Rabl-Stadler

8 Zu zweit bereitet Feiern doppelt Freude.

9 Das Sortiment von A.E. Köchert hält für jede und jeden was bereit.

10 Was die Damen freut, macht auch den Herren Spaß.

11 Eva Maria von Schilgen & Klaus Mathis

12 Hübsche Mama, hübsche Tochter.

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7.9., RIMOWA VIP OPENING PARTY, SEIT 1898,

TRAVEL IN STYLE

Ob im Flugzeug, per Schiff oder einfach zu Fuß: Am 7. September 2023 pilgerten Rimowa-Fans und -Freunde in die Chelsea Factory nach New York, wo Rimowa im Rahmen einer großen Sause seine WanderAusstellung „Seit 1898“ im Big Apple willkommen hieß. Rimowa-Ambassador Rosé zerschnitt symbolisch das Band und eröffnete damit die Show, die bis Mitte September für die Öffentlichkeit zu sehen war, bevor das deutsche Label abermals seine Koffer packte und weiterzog. Zuerst wurde allerdings in vollen Zügen gefeiert und auf 125 Jahre Unternehmensgeschichte angestoßen. Damals legte Rimowa in Köln den Grundstein für seine Koffer, die mittlerweile in der ganzen Welt zuhause sind und auch Celebs wie Spike Lee, Justin Theroux, Adwoa Aboah oder Dr. Woo auf ihren Reisen begleiten. Klarer Fall, waren letztere auf der illustren Geburtstagsparty zu Gast und nahmen ihre liebsten Reisebegleiter kurzum mit.

Highlights: Die Patina der Alu-Koffer. Fazit: Home is where your suitcase is.

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NEW YORK Text: Marina Warth Fotos: Rimowa
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1 SG Lewis, Eric Nam & Wisdom Kaye

2 Leigh Lezark

3 Samira Ahmed & Isan Elba

4 Annie Bernstein & Ned Rossman

5 Chelsea Factory, New York City

6 Moon Choi

7 Moses Sumney & Hayley Williams

8 Martha Stewart

9 Spike Lee

10 Emelie De Vitis

11 Darren Star mit Begleitung

12 Hugo Takacs & Adwoa Aboah

13 Dr. Woo

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WTF 500

Eine Standard-E-Mail erzeugt etwa vier Gramm CO2 – mit Anhang sogar bis zu 50. Zum Vergleich: Ein klassischer Brief per Post verursacht zwischen 20 und 25 Gramm CO2. Die Hauptquelle der CO2-Emissionen beim E-MailVersand sind nicht die Rechenzentren, sondern die Herstellung der Geräte, die schiere Menge an E-Mails und der damit verbundene Energieaufwand: Jedes MB zählt, jede EmpfängerIn, jedes gesendete, empfangene und gespeicherte Mail. Bei 347,3 Milliarden E-Mails pro Tag ergibt das mehr als 500 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr.

Und das sind nur die Emails – auch jede andere Aktivität im Internet, in Streaming-Diensten und auf Social Media verursacht CO2-Emissionen.

Wer jeden Tag je fünf Minuten auf zehn Social-Media-Plattformen verbringt, verursacht ca. 20 kg CO2 pro Jahr. Geht noch? Sind halt inzwischen 5,3 Milliarden InternetnutzerInnen weltweit, und 4,7 Milliarden davon nutzen Social Media.

Wir alle leben in dem Land, welches Platz sechs unter den größten VerursacherInnen von Kohlenstoffdioxid weltweit einnimmt. Das Internet ist für rund vier Prozent aller CO2-Emissionen verantwortlich – doppelt so viel wie der gesamte Flugverkehr. Schuld daran sind nicht die Big Data Player und die Serverfarmen, Schuld daran sind ganz einfach wir, die BewohnerInnen des Internets und unser Konsum.

N°10 /  2023 178

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