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Lügen haben starke Beine

Drei Frauenschicksale aus der Nachkriegszeit stehen im Zentrum des jüngsten Romans von Gudrun Seidenauer

Der Zweite Weltkrieg ist zu Ende. Drei junge, knapp zwanzigjährige Frauen haben ihn überlebt: Mali flieht aus ihrer Heimat, kurz bevor die deutschsprachige Bevölkerung vertrieben wurde, mit einem Kind im Bauch; Vera geht vom Land in die Stadt, nachdem ein amerikanischer GI versucht hatte, sie zu vergewaltigen; Grete stellt sich mit den Besatzern gut und träumt sich aus dem grauen Nachkriegs-Wien nach New York. „Die amerikanischen Soldaten sind noch jung. Nicht so kaputt vom Krieg.“

Erst allmählich beginnt sich die Literatur mit jener Generation zu befassen, die zu jung war, um sich wirklich schuldig zu machen, aber nicht jung genug, um Gewalt und Verfolgung nicht mitzubekommen, kurz: die um eine unbeschwerte Jugend gebracht wurde und damit ein Leben lang zu kämpfen hatte.

2022 schloss Ralf Rothmann die Roman-Trilogie über seine Eltern als junge Erwachsene im Finale des Zweiten Weltkriegs mit „Die Nacht unterm Schnee“ ab. Gudrun Seidenauers Roman „Libellen im Winter“ gehört ebenfalls in diesen Kontext. Seine Protagonistinnen haben im Vergleich zu ehemals politisch aktiven Nationalsozialisten wenig zu bereuen, tragen aber trotzdem schwer an der Vergangenheit.

„Manches kann man keinem erklären, egal, wie wahr es ist“, denkt Vera und versucht, „darum herum zu leben“. Alle drei Frauen fühlen sich „wie auf Eis“. Trotzdem unterstützen und vertrauen sie sich zumindest gegenseitig.

Im kleinen Österreich gibt es eine Viertelmillion mehr Frauen als Männer, versucht Tante Ada Mali einzuschärfen, als diese die Ehe mit einem Briten ausschlägt. Die drei Freundinnen kommen gut ohne Männer aus. Nicht nur weil die Kriegsheimkehrer im Schlaf vor Angst schreien und tagsüber Frau und Kinder herumkommandieren, hin- und hergerissen zwischen jäher Wut und tagelangem Brüten.

Auch eine vierte junge Frau, die Mali erst an ihrem Lebensende im Pflegeheim mit über 90 Jahren kennen lernt, vertraut ihren Freundinnen mehr als den Männern.

Auch in ihrem fün en Roman erweist sich Gudrun Seidenauer als herausragende, feinsinnige Erzählerin. Sie beherrscht die Kunst, menschliche Dramen ohne Pathos darzustellen, dafür aber mit einer wohldosierten Portion philosophischer Reflexion zu unterfüttern. Die bedächtige Mali, die schweigsame und praktische Vera und die lebenslustige, scharfsinnige Grete, die sich aus allem herauszuhalten versucht, „sogar aus sich selbst“, sind komplex herausgearbeitet. Wien in der zweiten Häl e der 1940er- und in den 1950er-Jahren, „ein kaputtes Drecksloch“, bleibt keine schablonenha e Kulisse, sondern erwacht zum Leben.

Malis Sohn Robert, der, umsorgt von „drei Müttern“, nicht ohne Schwierigkeiten zum Mann heranrei , gewinnt mit der Zeit ebenfalls Konturen. Auch in die Männerschicksale haben sich Krieg und NS-Zeit eingeschrieben, auch sie müssen einen Modus finden, damit umzugehen. Roberts Verhältnis zum Vater lässt sich nicht mehr wiederherstellen. Und das zu seiner Mutter? „Dass sie und ihr Sohn einander verstehen, wäre zu viel gesagt. Aber sie verständigen sich. Und sie wissen voneinander, worüber sie hinweggekommen sind und worüber nicht. Das genügt, findet Mali.“

Die Autorin misstraut Binsenweisheiten wie der, dass Reden die Dinge erträglicher macht. „Ich würde so gerne nie mehr lügen“, sagt Grete. „Vergiss das schnell wieder“, meint Mali: „Die Wahrheit vertragen die wenigsten. Egal, um was es geht.“ Manchmal müsse man eben vergessen – oder auch lügen. „Lügen machen manches erst erträglich.“

Die Vergangenheit bleibt ohnedies aufdringlich genug. Und sie ist längst nicht vorbei, wie Grete bitter erfahren muss, als sie ihr lesbisches Begehren entdeckt und sich im intoleranten Klima der Nachkriegszeit Hass und Häme ausgesetzt sieht. „Libellen im Winter“ lässt sich als Hommage an die stille Kra und Solidarität von Frauen lesen – sowie an kreative, offene Formen von Familie und Zusammenleben. Die Vergangenheit ist nie vorbei, aber es gibt eine Möglichkeit, mit ihr umzugehen, sagt dieses kluge und, ja, auch tröstliche Buch.

KIRSTIN BREITENFELLNER

Erwin Einzinger: Ein Rucksack voller Steigeisen. Jung und Jung, 328 S., € 24,–

Als sie aus ihrer Heimat, dem Irak, ausreist, ist Manal so alt wie seinerzeit Mali. Die Jesidin, die von den Milizen des IS entführt und missbraucht wurde, spiegelt das Universale dieser Frauenschicksale – eine überraschende, gelungene erzählerische Wendung, die eigentlich eine Wiederholungsschleife darstellt: Die Gewalt – gegen Frauen – stirbt nie aus.

Gudrun

Seide nauer: Libellen im Winter. Roman. Jung und Jung, 434 S., € 24,–

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