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Wenn das Leben geht und die Liebe bleibt

„Der heutige Tag“ von Helga Schubert geht der Frage nach, was im hohen, gebrechlichen Alter von einer Ehe übrigbleibt

In der klösterlichen Tradition gliedern Gebete den gesamten Tag. Die Texte dieser Tageszeitliturgie finden sich im Stundenbuch. Den Betenden ist es darum zu tun, sich die Gegenwärtigkeit Gottes bewusst zu machen. Was aber ist damit gemeint, wenn die deutsche Schri stellerin Helga Schubert, Jahrgang 1940 und vor drei Jahren älteste Teilnehmerin und Gewinnerin des Klagenfurter Ingeborg BachmannWettlesens, ihrem neuen Buch „Der heutige Tag“ den Untertitel „Ein Stundenbuch der Liebe“ gibt? Geht es um die Gegenwärtigkeit eines geliebten Menschen? Um die Beschwörung seiner Anwesenheit?

Tatsächlich wird genau das thematisiert. Und zwar unter den prekären Bedingungen von Alter, Demenz und Todesnähe: „Wir sind seit 58 Jahren zusammen. Zwei alte Liebesleute.“ Helga Schuberts Mann ist seit Jahren ein multimorbider Pflegefall und zunehmend dement, sie selbst – bis auf gelegentliche Halbtage mit professioneller Hilfe – seine einzige Betreuerin. „Ich schlage sein Deckbett zurück, leere den Bettbeutel des Blasenkatheters, fühle, ob die Windel nass ist. Ich liebe ihn sehr.“ Das ist die Spannung, die hier ausgehalten werden muss.

„Der heutige Tag“ behandelt denn auch „das Absurde, das Erbarmungswürdige, das Rührende, das Furchterregende, das Komische, das Egoistische, das unmaskiert in mein

Leben einbrach“. Auch durch Sätze wie diesen, die ihr Mann mit steigender Häufigkeit zu ihr sagt: „Dann bist du meine Frau, aber wo sind die anderen beiden, die so aussehen wie du?“ Bald wird sie für ihren Mann „nur eine austauschbare Hilfe“ sein und „nicht mehr die Einzige, die unverwechselbare Geliebte“. Nacht für Nacht denkt sie beim Schreiben und Schlafen – mehrmals von der Babyphone-Verbindung mit ihrem Mann unterbrochen – darüber nach, wie dieses Loslassen, Annehmen und Friedenschließen gehen soll, wenn man immer damit befasst war, sich und das Leben ändern zu wollen.

In ihrem letzten Buch „Vom Aufstehen“ (2021) hat Helga Schubert das eigene, acht Jahrzehnte erlebte Zeitgeschichte umspannende Leben beschrieben; als Kriegswaise und Flüchtlingskind; als bespitzelte DDRAutorin; als hadernde Tochter einer von Krieg und Zwang hart geworden Mutter; schließlich das Ankommen in einem mecklenburg-vorpommerischen Dorf als Ort fürs Schreiben und das Leben in einer glücklichen Ehe.

Die symbiotisch-glückliche Ehe mit ihren wechselha en Anfangsjahren steht nun ganz im Mittelpunkt des neuen Buchs. Erneut erzählt Schubert in Vor- und Rückblenden, dieses Mal aber ganz besonders auch von ihrer Gegenwart und dem Rin- gen ums eigene Überleben und gleichzeitig dem tiefen Wunsch, ihrem Mann widrigen Umständen zum Trotz nahe zu sein, ihn ernst zu nehmen und die Würde zu lassen.

Das ist alles andere als leicht. Da sind das „Mitleid und Gesättigtsein vom Samariterleben“ und das „schlechte Gewissen, wenn ich an mich selbst denke“. Da sind die Gedanken, „dass eine Zeit kommen könnte, in der ich über mein Leben verfügen kann“ und zugleich das innere „Verbot, über positive Folgen seines Todes nachzudenken“. Da sind Erschöpfung und Groll, Verzweiflung und Selbstbeschwörung und vor allem die Einsicht, dass man niemals Herr über sein Leben ist, auch wenn man sich noch so sehr darum bemüht hat. Doch gelingt es der Autorin an hellen Tagen auch, sich vom „Fluch der falschen Harmonie“ zu lösen und immer wieder Momente der Ruhe zu finden in Gegenwart ihres Mannes, den sie beobachtet: „Ein bisschen Sahnejoghurt im Schatten, eine Amsel singt, Stille. So darf ein Leben doch ausatmen.“

Der Glaube an den Wert der Schöpfung besitzt in diesem Buch eine ziemlich selbstverständliche, allgegenwärtige Präsenz. So klingt es beinahe nach Erlösung, wenn Helga Schubert mit dem vertrauensvollen Satz schließt: „Und der morgende Tag wird für das Seine sorgen.“

JULIA KOSPACH

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