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Abschied ohne Trauer

Sozialgeschichte: Ewald Frie erzählt am Beispiel seiner Großfamilie vom Verschwinden der bäuerlichen Welt seiner Kindheit

Wenn anlässlich von Namenstagen, die im katholischen Münsterland wichtiger waren als Geburtstage, die Geschwister von Ewald Fries Eltern auf Besuch kamen, gingen die Männer nach dem Kaffee in den für diese Anlässe blitzblank hergerichteten Stall oder auf die Wiese, um dort aus Züchtersicht über Rinder und Kälber zu fachsimpeln. Die Frauen gingen derweil in den Garten, der die Familie zu einem Gutteil ernährte, und in den Keller, wo sie Apfel- und Kartoffelvorräte sowie alles in Gläsern Eingekochte in Augenschein nahmen. Sie tranken Wein und Likör nach dem Essen, das über Tage von vielen Händen vorbereitet worden war. Die Männer spielten bei Bier und Schnaps das Kartenspiel Doppelkopf, und zwar stets um Geld. Denn ohne Geld, so Ewald Fries Vater, fehle dem Spiel die „Andacht“.

Hoch ritualisiert, nach Geschlechtern in Zuständigkeitsbereiche geschieden, tief religiös, im Familienverband mit Eltern, Kindern und Hilfskrä en, tagein, tagaus im Feldanbau, in Haus und Hof und mit Pferden, Rindern, Schweinen und Hühnern am Arbeiten: So lebte die Bauernscha jahrhundertelang und noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein. Auch auf dem wohlhabenden Hof im Münsterland, wo Ewald Frie als neuntes von elf Kindern einer alteingesessenen katholischen Bauernfamilie aufwuchs. In seinem neuen Buch nach dem Bestseller „Die Geschichte der Welt“ erzählt der Historiker und Professor in Tübingen die Geschichte seiner Herkun sfamilie als „Tor zu einer Geschichte der Bundesrepublik“. „Ein Hof und elf Geschwister“ heißt der schmale Band, in dem Frie aus vielen Szenen nicht nur bäuerlichen Alltag mit Hofarbeit, Großfamilie und All-

Bodo Hell Begabte Bäume

»Bodo Hell ist ein Chronist, ein Sammler, ein Aufzeichner, ein Bewahrer von Belebtem und Unbelebtem, das ohne ihn vielleicht dem Vergessen anheimfallen würde. Bodos Texte sind ausnahmslos Liebeserklärungen, gelegentlich an Menschen, oft an Flora, Fauna, Dinge, Namen: Es gibt wohl nichts, das seiner literarischen Sammelleidenschaft entkommen kann.«

(Wolfgang Kühn, Wiener Zeitung)

Mit 23 Zeichnungen von Linda Wolfsgruber gebunden, mit Lesebändchen

216 Seiten, 25 € tagsreligiosität modelliert, sondern entlang der unterschiedlichen Erfahrungsräume von Eltern und Kindern auch im Kleinen den großen gesellscha lichen Wandel sichtbar macht.

Vor allem aus den Erinnerungen seiner zehn Geschwister, die der Historiker für sein Buch interviewt hat, werden die gewaltigen Umbrüche anschaulich. Während der älteste Bruder und Hoferbe noch im Zweiten Weltkrieg auf die Welt kommt, wird die jüngste Schwester mitten ins bewegte Ende der 1960er- Jahre hineingeboren. Eindrucksvoll schildert Frie, wie sich in dem Vierteljahrhundert dazwischen praktisch alles ändert: Die „knochenbiegende Landarbeit“, die den Vater schon mit 50 zum gebeugten Mann gemacht hat, geht mit Traktor und Landmaschinen langsam zu Ende. Zwischen 1949 und 1960 verschwindet die Häl e der Pferde von den westfälischen Bauernhöfen, während sich die Zahl der Traktoren verzehnfacht. Parallel dazu geht mit den Wirtscha swunderjahren und ihren wachsenden Löhnen und Jobmöglichkeiten auch die Zeit der Mägde und Knechte zu Ende. Deren Arbeitskra müssen Eltern und Kinder durch Mehrarbeit ersetzen. „Arbeit war immer“, sagt eine der mittleren Schwestern.

Ewald Frie beschreibt, wie trotz Hofmodernisierungen die einst selbstbewusste Bauernscha mit Ansehensverlusten kämp . In den Gemeinderäten drängt der aufstrebende Mittelstand die Bauernscha in den Hintergrund. Die jüngeren Kinder schielen in Richtung Dorfleben mit seinen Freizeitangeboten. Geldmangel wird ein Thema. In der Schule schämen sich die jüngeren Kinder plötzlich ihres kärglichen Taschengelds.

Zugleich ermöglicht eine sich nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil öff- nende Kirche eine individuellere Religiosität, während die neue katholische Jugendarbeit für einige Geschwister Perspektiven jenseits der bäuerlichen Welt eröffnet. Auch erleichtert der Sozialstaat mit seinen neuen Leistungen und Förderungen nicht nur die Hofübergabe, sondern auch den Zugang zu höherer Bildung.

„Die immer weiter auseinander klaffenden Welten von Zuhause und Draußen“ musste jedes Kind für sich in Einklang bringen. Das spiegelt sich auch in ihren Erzählungen wider, die Frie mit viel Feingefühl verwebt. Ebenso ordnet er sie auf sehr kluge Weise in die Zeitläu e ein, spielt sie aber nie gegeneinander aus. Diejenigen seiner Geschwister, die die bäuerliche Welt hinter sich gelassen haben, wissen bis heute das Mehr an Freiheit zu schätzen, das damit einherging, ohne ihre Herkun missen zu wollen. Dass sich alle elf Frie-Kinder seit frühester Jugend stets in Gruppen bewegten, ließ sie sich in den neuen Umfeldern schnell zurechtfinden und aktive Rollen einnehmen. Frie beschreibt das als einen der Vorteile seiner Herkun . Auch sonst ist er ohne Bedauern. „Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben war für uns kein trauriger Abschied. Er bot Chancen, die meine Mutter nicht hatte und mein Vater wahrscheinlich nicht hätte haben wollen.“

JULIA KOSPACH

Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben. C.H.Beck, 191 S., € 23,70

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