Das Heft - Ausgabe 2-2019

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HEFT PH-Magazin Nr. 2 2019

Was macht uns stark? Ein Heft zum Thema Resilienz

«Wir brauchen pädagogische Lawinenverbauungen». Interview mit Resilienzforscher Wassilis Kassis. 8 Neue Blickwinkel im Klassenzimmer. Das Projekt SCALA untersucht soziale Ungerechtigkeit in der Schule. 28


Neue CD

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EDITORIAL

DAS HEFT Resilienz – was macht uns stark? Der Begriff Resilienz, die Frage «Was macht uns stark?», hat Konjunktur. Es gibt aktuell, dies vermutlich nicht zufällig, eine Fülle von populärwissenschaftlicher Ratgeberliteratur, die uns erklärt, wie wir, wie Schülerinnen und Schüler resilient werden können, das heisst, bei Niederlagen und Verletzungen wieder in die «ursprüngliche Form zurückfinden» – to bounce back anders formuliert. Verlockend, nun zu denken, jede und jeder sei mit einem gewissen Mass an Resilienz ausgestattet und dazu fähig, Hürden jederzeit zu überwinden und das Leben mit seinen Widrigkeiten erfolgreich zu meistern. Als wäre jede und jeder tatsächlich des Glückes eigener Schmied. Mit der zweiten Ausgabe von «das HEFT» greifen wir das Thema Resilienz auf und zeigen, dass es sich dabei nicht um ein individuelles, naturgegebenes Vermögen handelt, sondern dass Menschen erst durch soziale Faktoren überhaupt resilient werden können. Wichtig ist, dass bei der Förderung solcher Resilienzfaktoren der Schule, den Lehrerinnen und Lehrern, den Schulleitungen und pädagogischen Fachpersonen eine tragende Rolle zukommt. Im Interview erklärt der Resilienzforscher Wassilis Kassis, Leiter des Instituts Forschung und Entwicklung der PH FHNW, wie Resilienz entsteht, wie sie beforscht werden kann und warum sich die Schule als zentraler Ort des Lernens damit auseinandersetzen sollte. Wie Schule etwa als Ort sozialen Lernens gestaltet werden kann, zeigt eine Reportage aus IllnauEffretikon. Die Schule mit gewissem Brennpunktpotential hat zusammen mit der Pädagogischen Hochschule FHNW das Programm SOLE adaptiert und arbeitet an einer Schulkultur, in der Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler Probleme gezielt und gemeinsam angehen.

Mit ihrem Bemühen um chancengerechte Angebote ist die Schule für viele Kinder ein Ausgleichsraum, in dem sie bestätigt werden und sich in ihrer Vielfalt als eigenständige Persönlichkeiten entwickeln können. Trotzdem hat die Schule, wie andere Institutionen auch, ein Diskriminierungspotential und kann Stigmatisierungen verstärken. In einem Beitrag stellen wir die Interventionsstudie SCALA vor, in der die Effekte von Leistungserwartungen der Lehrpersonen an ihre Schülerinnen und Schüler untersucht wurden. Eine Forschungsgruppe unter der Leitung von Markus Neuenschwander, Leiter Zentrum Lernen und Sozialisation der PH, konnte nachweisen, dass diese Erwartungen abhängig sind von der sozialen Herkunft der Schülerinnen und Schüler und die Leistungen der Schülerinnen und Schüler beeinflussen. Ist dieser Mechanismus in Gang, laufen wir Gefahr, Chancengerechtigkeit zu gefährden. Ein eigens konzipiertes Weiterbildungsangebot sensibilisiert Lehrpersonen und zeigt, wie stereotype Erwartungen aufgebrochen werden können. «das HEFT» steht somit alles andere als im Zeichen einer Resilienz-Selbsthilfeliteratur. In allen Beiträgen wird der gemeinschaftliche Aspekt betont: Es sind starke und tragende Vertrauensbeziehungen, die uns resilient werden lassen. Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre! Sabina Larcher Direktorin der Pädagogischen Hochschule FHNW

Titelbild: Camille Scheidegger, Everyday Life / happiness

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INHALT

Resilienz – was macht uns stark?

3 Editorial von Sabina Larcher 6 Nachgefragt Was macht Sie stark?

FOKUS 8

«Wir brauchen pädagogische Lawinenverbauungen» – Interview mit Wassilis Kassis von Michael Hunziker

STANDPUNKTE 14

Was verstehen wir unter Gesundheit und Behinderung?

von Diana Sahrai

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Macht Musik! von Jürg Zurmühle

Soziales Lernen – ein gemeinschaftlicher Prozess Mit dem SOLE-Programm werden die personalen und sozialen Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen gefördert – mit vielen positiven Effekten für die gesamte Schule. Ein Besuch am «Schul-Entwicklungs-Tag» der Schule Hagen / Watt. SEITE 20

DOSSIER 20

Gemeinsam Probleme angehen, gemeinsam Erfolge ermöglichen

von Anna Miller

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Neue Blickwinkel im Klassenzimmer von Seraina Kobler

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Bildessay: Leichtigkeit und Last von Camille Scheidegger

AUS DER PH 40

Erzähl mir eine Geschichte von Virginia Nolan

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«Mit Verständnis und wenn nötig mit einem Dolmetscher»

von Michael Hunziker

48 Kommentar: Ressourcenförderung nicht als Selbstläufer inszenieren von Albert Düggeli 50

Spiel- und Lesetipps

52 Kolumne von Patti Basler

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Was bedeutet Resilienz? Ein Interview mit Resilienzforscher Wassilis Kassis über soziale Probleme in der Schule, die menschliche Verletzlichkeit und wie sich Resilienzfaktoren entwickeln können – ein paar verbreitete Missverständnisse werden dabei auch noch ausgeräumt. Seite 8


INHALT

Die Weichen für eine positive Entwicklung stellen Wie kann die Schule Bedingungen schaffen, damit Kindern aus schwierigen Verhältnissen der Aufstieg gelingt? Die SCALA-Studie erklärt, wie soziale Ungerechtigkeit in der Schule entsteht und wie die Chancengerechtigkeit im Unterricht erhöht werden kann. Seite 28

Asyl und Schule Mit Kindern zu arbeiten, die einen Fluchthintergrund haben, kann Lehrpersonen vor zusätzliche Herausforderungen stellen. Der unsichere Aufenthaltsstatus und traumatisierende Erlebnisse auf der Flucht beeinflussen die Kinder und somit die Klasse. Studierende setzen sich mit der Asylthematik aktiv im Studium auseinander und entwickeln Handlungsansätze für die eigene Berufspraxis. Seite 44

Vorlesen für die psychische Widerstandsfähigkeit Vorlesen tut gut: Als Ritual stärkt es die emotionale Bindung zwischen dem Kind und seiner Bezugsperson und setzt vielschichtige kognitive Prozesse in Gang. Studierende der PH engagieren sich am Schweizer Vorlesetag. Seite 40

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NACHGEFRAGT

«Was macht Sie stark?» Nachgefragt bei Persönlichkeiten aus dem Bildungsraum Nordwestschweiz.

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«Als Fussballtrainer und Schiedsrichter lernte ich, mich in der Erwachsenenwelt zu behaupten. Diese Erfahrung hilft mir im politischen Engagement. Immer dranbleiben! Etwas Eigenes auf die Beine stellen, das gibt mir Bestätigung.» KEVIN VIDAL, Mitglied des Organisationskollektivs Klimastreik Region Basel, auf die Frage, was ihn bestärkt. Er absolviert die FMS Pädagogik mit dem Ziel, Primarlehrer zu werden.

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«Meine Eltern haben mich nie eingeengt und mir immer viel zugetraut. Diese Unabhängigkeit konnte ich mir auch als Erwachsene bewahren – sie hilft mir, in stressigen Situationen gute Lösungen zu finden. Auch Lehrpersonen sollten solche Freiräume und eine fordernde, interessierte Beziehung zu ihren Schülerinnen und Schülern aufbauen können – dazu brauchen wir Ressourcen und entsprechende Strukturen!» DAGMAR RÖSLER, Zentralpräsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH, Gemeinderätin von Oberdorf SO und Primarlehrerin in Bellach SO, auf die Frage, was sie stark gemacht hat und was Lehrpersonen den Kindern weitergeben sollten.

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«Die nötige Kraft und Motivation, sowohl im Spitzensport als auch im Studium erfolgreich zu sein, schöpfe ich aus der Leidenschaft für die beiden Bereiche und aus klaren Zielen. Ich will bald als kompetente Lehrerin vor einer Schulklasse stehen können, aber auch gleichzeitig in meinen besten Athletenjahren den Schritt an die Weltspitze im Karate schaffen!» MAYA SCHÄRER, angehende Lehrerin auf Primarstufe und Vize-Europameisterin in Karate (U21), auf die Frage, wie sie Spitzensport und die Anforderungen des Studiums gleichzeitig bewältigen kann.


NACHGEFRAGT

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«Resilienz ist, ganz einfach erklärt, psychische Fitness. Eine positive Grundhaltung (zur Mitwelt und zu mir selbst), Bodenhaftung, aber auch die Fähigkeit und Freude an intellektueller und emotionaler Auseinandersetzung sind Ingredienzien, die dafür sorgen, dass meine Resilienz begünstigt und weiterentwickelt wird. Dazu hat mir die Schule eindeutig mehr gegeben als genommen – dank resilienter Lehrpersonen!» REMO ANKLI, Regierungsrat, Vorsteher des Departementes für Bildung und Kultur des Kantons Solothurn und promovierter Theologe, auf die Frage, was für ihn Resilienz ausmacht.

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«Als Schüler habe ich realisiert, dass es besser ist, mich auf meine Stärken zu konzentrieren statt auf die Schwächen. Das ist eine wichtige und gar nicht so profane Erkenntnis. In diesem Sinne sollte sich die Volksschule noch mehr in Richtung Lerncoaching und individuelle Förderung bewegen: Den Jugendlichen helfen, sich über ihre Stärken bewusst zu werden, und aufzeigen, wie sie diese zum Tragen bringen – elementar für die spätere Berufs- und Studienwahl.

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«Uns ist es wichtig, dass sich Schülerinnen und Schüler wahrgenommen und begleitet fühlen. Eine persönliche Betreuungsperson führt mit ihnen abseits des Leistungsdrucks Gespräche und wir stellen ihnen Räume zur Verfügung, in denen sie in Ruhe lernen können – gerade wenn zu Hause eine Krise herrscht oder das Bücherregal nicht vier Meter lang ist, ist das für sie wertvoll.»

PHILIPP GROLIMUND, Co-Präsident des Verbands Schulleiterinnen und Schulleiter des Kantons Aargau und Schulleiter von Laufenburg-Sulz, auf die Frage, worauf die Schule punkto Resilienz fokussieren sollte.

ARLETTE SCHNYDER, Konrektorin Gymnasium Leonhard Basel-Stadt, auf die Frage, was das Gymnasium zur Resilienzentwicklung von Schülerinnen und Schülern beitragen kann.

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FOKUS

«Wir wollen den Lehrpersonen und unseren Studierenden empirisch gestützte Empfehlungen anbieten, damit sie angemessen auf belastete Jugendliche zugehen können»: Wassilis Kassis.

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FOKUS

«Wir brauchen pädagogische Lawinenverbauungen»

Ein Interview mit dem Resilienzforscher Wassilis Kassis über die Verletzlichkeit des Individuums und die Rolle der Schule bei sozialen Herausforderungen. Von Michael Hunziker (Text), Barbara Keller (Foto)

Der Begriff Resilienz hat Hochkonjunktur und liegt in aller Munde. Was aber bedeutet er genau? WASSILIS KASSIS: Auf den kürzesten Nenner gebracht, bedeutet Resilienz Erfolg entgegen aller Erwartungen. Wir reden hier von Entwicklungswegen, die aller Wahrscheinlich nach auf Misserfolg «getrimmt» wären, auf die niemand «wetten» würde. Aber trotz den schwierigen Vorzeichen entwickeln sich gewisse Personen(gruppen) positiv. Die Frage ist nun: Wie kommt das zustande, was können Gesellschaft und Schule tun, um diese Erfolgswege zu fördern und zu stabilisieren. Wie muss man sich das auf individueller Ebene vorstellen. Wird man bereits resilient geboren? Resilienz ist nicht, wie noch vor 20 Jahren angenommen, bloss eine isolierte individuelle Eigenschaft. Man wird nicht resilient aufgrund eines Persönlichkeitszugs, sondern es braucht soziale wie auch gesellschaftliche Aspekte dafür. Die persönlichen Faktoren sind bloss ein Pfeiler von Resilienz. Ebenso wichtig sind Menschen – significant others, so der Fachterminus, die uns stützen und Halt bieten. Dann kommt noch der gesellschaftliche Pfeiler hinzu. Darunter verstehen wir demokratische Strukturen, Institutionen, die etwa verschiedene Ausbildungswege ermöglichen. Ohne diesen dritten Pfeiler würde alle individuelle Motivation verpuffen. Es ist also nicht jeder seines Glückes Schmied. Die individuellen Faktoren sind niemals ausreichend und entstehen auch nicht aus sich selbst heraus. Wie kann jemand Resilienz entwickeln, der keinen Gefahren und Verletzungen ausgesetzt ist? Der braucht sie nicht zu entwickeln! Das ist ja das

Schöne. Diejenigen, die nicht belastet sind, werden nie Resilienz ausbilden, weil sie sie nicht brauchen. Resilienz bedeutet, dass ich auf dem Weg der Wiedergenesung bin. Wenn ich oder das soziale System, in welchem ich mich bewege, nie besonders stark belastet waren, muss ich auch nicht genesen. Zudem ist Resilienz immer bereichsspezifisch. Es gibt keine generelle, keine Allround-Resilienz. Wenn jemand resilient ist, dann ist die Person nicht automatisch auch gewaltresilient. Resilienz ist also ein Verhältnis zu einer ganz spezifischen und existierenden Entwicklungsbelastung. Deshalb sage ich meinen Studierenden, dass sie sich freuen können, wenn sie nicht resilient werden müssen. Ohne Belastung keine Resilienz. Die Vorstellung ist weitverbreitet: Wer es früher schwerer hatte, der ist später härter. So à la «Was dich nicht umbringt, macht dich stärker» … Das ist empirisch gesehen, entschuldigen Sie die starke Formulierung, ein Humbug sondergleichen! Eine Wunschvorstellung, eine regelrechte Moralpredigt, die weitverbreitet ist. Der Mensch ist eben nicht unbesiegbar, sondern als Wesen hochgradig verletzlich, vulnerabel. Wir haben eine dünne Haut, wir scheitern und je nach Druck bricht jede und jeder ein. Niemand ist unzerstörbar, auch wenn uns die Filmindustrie mit Titeln wie «Unbreakable» und «Invictus» das glauben machen will. Gerade die Verletzlichkeit macht uns zu Menschen. Weil wir sterblich und verletzlich sind, können, ja müssen wir Gutes tun und auf uns gegenseitig achten. Die Schäden, die Wunden und Narben, die wir tragen, verheilen nie wirklich ganz. Versteckt sich in gewissen Resilienzverständnissen ein Imperativ, der Schwächen stigmatisiert? Im Sinne von: Mach was! Sei nicht schwach! Sie sprechen den sogenannten «Blaming the victim»Reflex an. Das ist ein Vorwurf an die Schwachen, sie würden sich nicht bewegen, nicht verändern. Eine alte

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FOKUS

Geschichte mit westlicher Tradition, die in unserem Bewusstsein stark verankert ist und sich im Alltag etwa in Slogans wie «Just do it» manifestiert. Unsere empirischen Studien zeigen aber, wie notwendig für die Überwindung individueller Probleme ein passendes soziales Angebot an Hilfestellung ist. Nicht irgendeine Unterstützung, sondern eine, die passt. Natürlich braucht es auf individueller Ebene den Willen, etwas zu ändern. Wir nennen das den Navigation-Aspekt, also dass sich jemand auf ein Ziel hin bewegt. Man kann niemanden gegen seinen Willen resilient «machen». Zu dieser Navigation, so die Studien Michael Ungars aus Kanada, gehört aber auch eine Negotiation, ein angemessenes, individuell ausgehandeltes Angebot. Ab der Stange läuft (fast) nichts. Ist diese Sichtweise nicht zu deterministisch? Es ist schon so, dass bei Individuen häufig Probleme sichtbar werden, die einen sozialen, ja gesellschaftlichen Ursprung haben. Trotzdem halte ich ganz klar fest: Es unterliegt auch (aber eben nicht einzig) unserer individuellen Verantwortung, das Beste, das Optimum, aus dem Leben machen zu wollen. Wir dürfen Selbstverantwortung nicht gering schätzen, die Freiheitsgrade dazu können aber je nach belastenden sozialen, gesellschaftlichen Bedingungen sehr reduziert sein. Wie entwickelt sich die Resilienz denn beim Menschen, wenn sie weder angeboren noch ein konstantes Persönlichkeitsmerkmal des Individuums ist? Diese individuellen Resilienzpotentiale hat der Mensch nicht einfach so. Man kann sie gezielt in der Gegenwart fördern – ohne Gewissheit, dass die auch künftig, bei anderen, neuen Belastungen, wieder abgerufen werden können. Das, was wir den Kern unserer Persönlichkeit bezeichnen, Affektkontrolle, Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeit, hat sich in der Interaktion mit uns nahestehenden Menschen entwickelt. Über soziale Anerkennung können die Potentiale gestärkt werden. Daher sind in der Schule auch die sogenannten «Teacherbeliefs» entscheidend. Es gibt Forschungsarbeiten, wie etwa das SCALA-Projekt (siehe S. 24, Anm. der Red.), die zeigen, dass die Einstellung der Lehrperson in Bezug auf ein Kind über dessen Schulerfolg massgeblich entscheidet. Fehlt der Glaube an das Förderpotential des Kindes, dann fallen seine Anstrengungen und sein Selbstbild wird schwächer. Die individuellen Faktoren sind also wechselseitig bedingt. Hier kommt die Schule auf den Plan. Wie kann sie diese Wechselseitigkeit, die Negotiation positiv gestalten?

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In einem ersten Schritt muss sie sich über die optimalen Ziele bewusst werden und identifizieren, worin genau die Belastung besteht, und dann entscheiden, was zu tun ist. Das bedeutet für die Lehrperson, ihre Schülerinnen und Schüler etwa zu fragen, wo sie ihre Hausaufgaben machen. Am Boden, am Küchentisch oder an ihrem eigenen Pult? Zudem bieten Elterngespräche Gelegenheit, nach Belastungen zu fragen. Inwiefern ist denn das Familiäre noch Zuständigkeitsbereich der Schule? So lange die sozialen Probleme in die Schule kommen, muss sie sich damit auch auseinandersetzen und Anpassungsstrategien dafür entwickeln, das ist ihre Aufgabe. Es sind jedoch Probleme, an die wir nicht direkt herankommen. Wir «installieren» also in der Schule, im übertragenen Sinne wie ein Bergdorf, pädagogische Lawinenverbauungen, damit die Lawinen nicht in die Klasse kommen. Dabei bleiben die eigentlichen Probleme, etwa dass abgeholzt, dass das Dorf am falschen Ort gebaut wurde, unbearbeitet. Die kann die Schule nicht beheben. Niemand kommt auf die Idee, zu sagen, dass wir in den Bergen keine Lawinenverbauungen brauchen. Aber bezogen auf die Schule strecken viele die Hände auf und sagen, dafür ist die Schule nicht zuständig. Da sage ich dezidiert: Nein, das ist falsch! Vielleicht sind die Lehrpersonen nicht alleine gefordert, sondern auch die Schulsozialarbeit, der schulpsychologische Dienst, aber wir brauchen pädagogische Lawinenverbauungen. Und vielleicht sollten wir uns auch fragen, was wir als Gesellschaft präventiv gegen die in der Gesellschaft entstandenen Probleme, die Lawinen, unternehmen können. Was könnten die Lehrpersonen konkret tun? Es ist ja nicht so, dass die Lehrperson mit dem Resilienzbegriff einen harrypotterschen Zauberstab in der Hand hält. Es wäre bestimmt nett, eine Handwerkswissenschaft mit pfannenfertigen Erfolgsrezepten zu haben. So einfach ist es leider nicht. Aber zentral für die Lehrpersonen ist sicher, eine fordernde und fördernde Beziehung zu ihren Schülerinnen und Schülern aufzubauen, die auf Anerkennung basiert. Es wäre wichtig, dass sie die soziale Integration, die Dynamiken in der Klasse, im Auge behält , und ihren Unterricht fachdidaktisch angemessen gestaltet. Und das ist eigentlich schon recht viel, wenn man bedenkt, in welcher Realität Lehrpersonen arbeiten. In jeder Klasse der Sekundarstufe gibt es rund 20% Jugendliche, die zu Hause physisch und psychisch misshandelt werden. Dann kann man sich als Physiklehrperson noch so vornehmen, die Lichtbrechung durchzunehmen; wenn vier Kinder der Klasse solche Erfahrung von Gewalt mit sich herumtragen, geht das einzig suboptimal.


FOKUS

«So wie die Kinder brauchen auch die Lehrpersonen ein tragendes soziales Netz von Schulleitungen, Eltern und Öffentlichkeit. Wenn die Lehrpersonen gestützt werden, werden auch die Kinder gestützt.» WASSILIS KASSIS

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FOKUS

Damit kommen wir auf die Resilienz der Lehrperson zu sprechen. Wie kann man unter diesen Bedingungen arbeiten? Der Lehrberuf ist ja grundsätzlich mit einer wunderbaren Zumutung verbunden, das macht ja den Beruf so anspruchsvoll und andererseits auch regelrecht grandios. Diese lautet, dass die Kinder unter anderem auch so gefördert werden, wie der Lehrplan es vorsieht. Wir sind aber keine Autohersteller, die, wenn es nicht funktioniert, einfach die Produktionsketten und Zulieferer ändern können. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir es mit Individuen zu tun haben, die von komplexen sozialen Strukturen umgeben sind. So wie die Kinder brauchen auch die Lehrpersonen ein tragendes soziales Netz von Schulleitungen, Eltern und Öffentlichkeit. Wenn die Lehrpersonen gestützt werden, werden auch die Kinder gestützt. Man kann es nicht häufig genug erwähnen, dass Lehrpersonen ein positives und ihnen zugeneigtes gesellschaftliches Umfeld benötigen, um ihre Arbeit angemessen tun zu können. Da sind wir alle als Bürgerinnen und Bürger gefragt, da braucht es eine kritische, aber grundsätzlich wohlwollende Aufmerksamkeit gegenüber diesem Berufsfeld. Wie beforscht man Resilienz? Auf zwei Projekte kann ich da hinweisen: In einem internationalen kooperativen Projekt versuchen wir, die Dynamik bestehender Diskriminierungen von Jugendlichen mit Flüchtlings- oder Migrationshintergrund in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt besser zu verstehen und andererseits Massnahmen zur Überwindung von Ungerechtigkeiten zu erarbeiten. Mit quantitativen Methoden wie standardisierten Fragebögen untersuchen wir Schulerfolg, Zufriedenheit, psychische Stabilität dieser Jugendlichen. Zudem starten wir demnächst ein Projekt, in dem wir physische Gewalt in der Familie untersuchen, die etwa ein Viertel bis ein Fünftel der Kinder erlebt, was massive Folgen für den Unterricht hat. Wir fragen auch nach den Risikofaktoren, die wir minimieren müssen, damit die Erfolgsfaktoren überhaupt zum Tragen kommen. Ist jemand zu stark belastet, nützen alle Schutzfaktoren nichts. Mit dem bereits eingeführten Lawinenverbauungsbild gesprochen: Ist die Lawine zu umfangreich, schützt uns fast keine Verbauung mehr. Erst wenn die Risikofaktoren auf ein bewältigbares Niveau reduziert worden sind, greifen die Schutzfaktoren. Und die Risikofaktoren können übrigens durchaus auch von der Schule aus kommen. Auch hier gibt es Diskriminierungstendenzen, für welche die Schule manchmal blind ist. Daher ist die Resilienzforschung so wichtig. Wir wollen den Lehrpersonen und unseren Studierenden empirisch gestützte Empfehlungen anbieten, damit sie angemessen auf belastete Jugendliche zugehen können.

Wie sind Sie überhaupt auf das Forschungsthema Resilienz gekommen? Mein damaliger Hochschullehrer Helmut Fend hat mir nahegelegt, mich mit den nicht erwarteten Sonderfällen auseinanderzusetzen. Es ging also nicht einzig um den Mittelwert, sondern um die Beachtung von «Standardabweichung», einem statistischen Kennwert, der grob formuliert darüber Auskunft gibt, wie unterschiedlich die Antworten bzw. die Erfahrungen Jugendlicher ausfallen. Wir hatten immer wieder Jugendliche in den erfolgreichen Gruppen, bei denen wir anfänglich gedacht haben, die kriegen’s nicht hin. Mit der Zeit wollte ich wissen, warum sie wider Erwarten die Ziele erreicht haben. Welchen Einfluss hatte dabei Ihre eigene Berufsbiografie? Die mag hintergründig schon mitgewirkt haben, sonst hätte ich mich vielleicht weniger für die Thematik begeistert. Möglicherweise hatte ich in meiner Berufsbiografie ebenfalls resiliente Momente, das sage ich nun mit aller gebotenen Vorsicht. Ich wollte beispielsweise nie ans Gymnasium, das schien mir zu langweilig. Im Nachhinein bedauere ich das ein bisschen, aber eben die Jugendsünden! Ich wollte dagegen in eine grosse Stadt, weg aus dem Appenzell, und fand dann eine Lehrstelle in Basel als Chemielaborant. Nach der Lehre habe ich aber gemerkt, dass das für mich noch unbefriedigend war, obwohl das berufliche Umfeld durchaus sehr ansprechend war. Ich war sehr motiviert, mit fünfundzwanzig ein Studium aufzugreifen, und habe die Maturität nachgeholt. Ohne die staatliche Hilfe in Form eines Stipendiums für das Pädagogikstudium an der Universität Zürich wäre diese Motivation aber versickert. Aber eigentlich ist das Thema Resilienz bereits selbst so interessant und vielseitig, da käme ich wohl auch ohne individuellen biografischen Bezug dazu.

WASSILIS K ASSIS ist Professor für Pädagogische Psychologie und Leiter des Instituts Forschung und Entwicklung an der Pädagogischen Hochschule FHNW. Er forscht zu sozialen Resilienzfaktoren, zu Jugendgewalt und Rechtsextremismus.

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STANDPUNKTE

Was verstehen wir unter Gesundheit und Behinderung? Das Konzept der Salutogenese – das vor etwa 40 Jahren von dem israelisch-amerikanischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky begründet wurde, gilt als ein Paradigmenwechsel in der Betrachtung von Gesundheit und Krankheit. Die Salutogenese liefert fruchtbare Impulse für die Sonderpädagogik und ist anschlussfähig an das neue Verständnis von Behinderung infolge der UN-Behindertenrechtskonvention. Von Diana Sahrai

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athogenetische Modelle transportieren in der Regel ein gegensätzliches Verständnis von Krankheit und Gesundheit: Gesundheit wird als Norm und Krankheit als eine Abweichung davon verstanden. Gesundheit ist aus dieser Perspektive mit der Erfüllung gesellschaftlicher Normen verbunden, Krankheit hingegen eine Funktionsstörung, die durch das medizinische System wieder behoben wird. Dieses Verständnis von Gesundheit und Krankheit ist noch immer dominant, gehen doch heute die meisten Bemühungen in die Richtung, Krankheitsrisiken zu verringern. Mit dem salutogenetischen Modell, das Antonovsky entwickelt hat, werden Krankheit und Gesundheit als zwei Pole eines Kontinuums betrachtet. Aus dieser Perspektive ist Krankheit keine Abweichung von der Norm, sondern ein normaler Bestandteil menschlichen Lebens. Menschen befinden sich in unterschiedlichen Lebensphasen in unterschiedlichen Punkten dieses Kontinuums und bewegen sich entweder in Richtung des kranken oder des gesunden Pols. Daraus folgt auch, dass Menschen mit Behinderungen / Einschränkungen immer zugleich auch gesund sind.

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Was erhält Menschen gesund? Die zentrale Frage von Antonovsky lautet nun, welches die Faktoren sind, die dazu führen, dass Menschen sich stärker in Richtung des gesunden Pols bewegen. Damit geht es nicht mehr um medizinische Risikofaktoren, sondern um «Gesundheitsfaktoren». Zentral dabei ist zudem, dass Gesundheit nicht mehr individuell, sondern gesellschaftlich verortet wird. Für die Bestimmung von Gesundheit sind also nicht allein die individuellen Faktoren, sondern auch und vor allem soziale, kulturelle und politische Faktoren von Bedeutung. Die oben genannte Frage hat bis heute in vielen anderen Bereichen Eingang gefunden, so auch in der Sonderpädagogik. Sie bildet hier den Hintergrund der Ressourcenorientierung. Salutogenese und das soziale Modell von Behinderung Das salutogenetische Verständnis von Gesundheit hat viele Gemeinsamkeiten mit den neueren Konzepten von Behinderung im Kontext mit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und dem sozialen Modell von Behinderung. So gilt nach der UN-BRK Behinderung


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Behinderung ist keine Störung des Normalen, sondern ein Aspekt menschlicher Vielfalt. Foto: Shutterstock.

nicht als etwas, das behoben werden muss, sondern als Teil menschlicher Vielfalt. Behinderung wie Krankheit werden als Normalität menschlichen Lebens und nicht als eine «Störung des Normalen» begriffen. Behinderung ist also nicht einfach ein individuelles Defizit, sondern das Resultat der Wechselwirkung zwischen Umwelt und Individuum. Interdisziplinarität in der Sonderpädagogik Mit unseren Studierenden thematisieren wir in unterschiedlichen Formaten Möglichkeiten der Stärkung von Life Skills und Sozialem Lernen, um für Gesundheitsfaktoren zu sensibilisieren. Ferner sind die Thematisierung von Menschenrechten, die Analyse von Strukturen und sozialen Faktoren von Gesundheit und Behinderung sowie die Resssourcenorientierung wichtige Aspekte in der sonderpädagogischen Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule FHNW. Damit erhoffen wir uns, gemeinsam mit den Studierenden und den Partnerinnen und Partnern im Berufsfeld einen Beitrag für das Recht auf Gesundheit und zur Abkehr von einem rein medizinisch individuellen Fokus auf Behinderung zu leisten.

DIANA SAHRAI leitet die Professur für Soziales Lernen unter erschwerten Bedingungen an der PH FHNW. Sie forscht unter anderem zu Ungleichheiten im Bildungssystem, Inklusion, Gesundheit, Frühe Kindheit und Heterogenität. Der Beitrag wurde gemeinsam mit Astrid Bieri und Johanna Hersberger verfasst.

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STANDPUNKTE

Macht Musik! Musik sollte in der Schule nicht vernachlässigt, sondern jeden Tag und immer wieder in vielfältiger Weise einfach «gemacht» werden – aus guten Gründen. von Jürg Zurmühle

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ie Schule ist ein Ort der kulturellen Bildung. Der Musikunterricht ermöglicht «das Bilden und Schärfen eines ästhetischen Urteils und den aktiven Umgang mit Musik», wie es im Lehrplan 21 formuliert ist. Die aktive Beschäftigung mit Musik ist eine sehr erfüllende und bis ins hohe Alter andauernde umfassende Bildungsmöglichkeit in einem spezifischen sinnlichen und sinnvollen Lebensfeld, welche durch nichts anderes zu ersetzen ist und welche von vielen Menschen als eine Ressource erlebt wird. Wenn beispielsweise die Kindergärtnerin am Ende eines Morgens mit einer Klarinette zu jedem Kind geht und ein kleines persönliches Motiv ins Ohr spielt, ein akustisches Zeichen für das Kind, den Kreis, in welchem alle mit geschlossenen Augen sitzen, zu verlassen, entsteht ein Moment von Kontakt, Kommunikation und Intimität. Um musikalische Fähigkeiten und Kenntnisse aufzubauen und zu festigen, die sich zum Beispiel in einem von einer dritten Klasse selbst zusammengestellten Musical zeigen, ist regelmässiges Üben notwendig. Alle Beteiligten

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sind stolz darauf, nach einer langen und anstrengenden Probephase mit vielen Herausforderungen ihr Werk mit Musik, Sprache, Bühnenbild und Tanz auf die Bühne zu bringen. Ein Erfolgserlebnis, welches das ganze Leben in Erinnerung bleiben wird. Musikmachen stärkt das soziale Miteinander Musik vermag uns innerlich und äusserlich zu bewegen, regt ein tiefes Verstehen und Erkennen von sich selbst und der Welt auf einzigartige Weise an, lässt uns selbst leiblich intensiver und bewusster wahrnehmen. Gemeinsames Musikmachen stärkt das soziale Miteinander und die Kommunikation, trainiert körperliche Koordinationsfähigkeiten und die Entwicklung neuronaler Netzwerke im Gehirn, weckt Kreativität und Produktivität. Die Beschäftigung mit Musik stärkt die Differenzierung der auditiven Wahrnehmung und vermag die Aufmerksamkeit zu fokussieren. Musiklernen benötigt Einlassung und Distanzierung, Erleben und Verstehen. Musiklernen ist handelndes Lernen, welches immer die ganze Person


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Musikmachen stärkt die Koordination und die Entwicklung neuronaler Netzwerke im Gehirn, weckt Kreativität und Produktivität. Foto: Adriana Bella.

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WIR BRINGEN SCHULEN IN DEN SCHNEE

Die Buchungsplattform gosnow.ch macht es für Lehrpersonen erheblich einfacher, Schneesportlager und -tage zu buchen: Alle Angebote auf einen Blick, alles wird organisiert; und Sie haben nur einen Ansprechpartner! Kommt dazu, dass wir dank breiter Abstützung äusserst attraktive Preise bieten können. So sorgen wir von der Schneesportinitiative Schweiz dafür, möglichst vielen Kindern und Jugendlichen das Erlebnis Schneesport zu ermöglichen! Wir freuen uns, auch Ihre Klasse auf die Piste zu bringen: gosnow.ch


STANDPUNKTE

mit ihrem Körper, ihrem Denken, ihrer Aufmerksamkeit und ihren Empfindungen einbezieht. Einige Resilienzfaktoren, die in vergleichbarer Weise im Lehrplan 21 als überfachliche Kompetenzen oder in den Lebenskompetenzen (Life Skills) der WHO formuliert sind, lassen sich sehr gut mit Situationen im schulischen Musikunterricht verbinden. Das Singen eines gemeinsamen gleichen Tons erfordert von den Kindern, dass sie diesen in einer komplexen Abstimmungsleistung mit dem eigenen Klang vergleichen und durch körperliche Veränderungen der Stimmbänder und der Vokalräume anpassen können. Das klingt einfacher, als es ist. Auch die Realisierung eines gemeinsamen Pulses, die Grundlage für gleichzeitiges gemeinsames Musizieren, erfordert, dass man sich einlassen muss, es selbst zu tun. Dabei wird der Körper mit koordinierten und synchronisierten Bewegungen unmittelbar einbezogen. Die Selbst- und Fremdwahrnehmung werden mit Erfahrungen von Selbstwirksamkeit und Selbststeuerung verbunden, es braucht Kommunikationsfähigkeiten und situative Problemlösefähigkeiten, um gemeinsam stimmig Musik machen zu können.

Die Schule ist der Ort, an dem alle Kinder unabhängig von ihrem Hintergrund und ihren Fähigkeiten Zugang zur Musik und zu sich selbst durch Musik erhalten können. Kinder sagen in einer Studie zum Musikunterricht aus Schülersicht, dass ihnen der Musikunterricht Freude macht, sie gerne mit anderen zusammen musizieren und dass er ein emotionaler Ausgleich zu anderen Fächern darstellt. Es kann durch guten Musikunterricht gelingen, bei den Kindern Freude an der Musik und Freude an sich als musizierende Menschen zu fördern. Und das ist schon sehr viel.

Emotionaler Ausgleich Beim Singen wird die eigene Atmung aktiviert und gestärkt und die Wahrnehmung der Körperhaltung und die Stimmkontrolle werden bewusster. Das Feedback erfolgt einerseits unmittelbar durch den entstehenden Klang und anderseits durch differenzierte fachlich präzise Rückmeldungen der Lehrperson.

JÜRG ZURMÜHLE leitet die Professur Musikpädagogik am Institut Primarstufe an der Pädagogischen Hochschule FHNW.

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DOSSIER

Gemeinsam Probleme angehen, gemeinsam Erfolge ermöglichen Das Programm SOLE (Soziales Lernen in der Schule) unterstützt Schulen dabei, eine transparente und nachhaltige Schulkultur zu entwickeln. Persönlichkeitsstärkung und soziales Miteinander stehen dabei im Fokus. Die Schule Hagen / Watt aus Illnau-Effretikon gewährt einen Einblick. Von Anna Miller (Text), Eleni Kougionis (Fotos)

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DOSSIER

Sek-Lehrerin Muriel Maglock behandelte mit ihren Schülerinnen und Schüler das Justizsystem, indem sie Gerichtsverandlungen nachspielte. Dabei kamen grosse Fragen nach Verantwortung und Schuld auf.

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DOSSIER

«Seit wir SOLE eingeführt haben, hat sich das Team sehr verändert. Wir haben eine positive Dynamik und viele neue Ideen im Team» Marianna Minder, Schulleiterin Hagen / Watt

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in Dienstag Mitte Juni, eine Waldlichtung bei Winterthur: Rund 40 Lehrpersonen der Schule Hagen / Watt von Illnau-Effretikon (ZH) haben sich eingefunden, um sich gegenseitig die Projekte vorzustellen, an denen sie mit ihren Schülerinnen und Schülern während des letzten Semesters gearbeitet haben. Der heutige «Schul-Entwicklungs-Tag» soll sichtbar machen, wie die Lehrpersonen den gesellschaftlichen Herausforderungen an ihrer Schule begegnen und wie sie das Programm SOLE (Soziales Lernen in der Schule) konkret umsetzen. Unter dem Jahresmotto «Erfolge ermöglichen» werden Theaterprojekte, Mathematikaufgaben und Schreibarbeiten vorgestellt. Es wird diskutiert und nachgefragt: Wie genau lief das ab? Welche Ideen hattet ihr als Lehrpersonen? Hat das Projekt Anklang gefunden? Und: Hat sich das Klassenklima verändert, wurde der Gemeinschaftssinn gefördert? Das Programm SOLE wurde 2013 entwickelt, seither haben es 23 Schulen übernommen, eine im Kanton Zürich, drei im Kanton Solothurn, 19 im Kanton Aargau. Die Kernidee: Die personale und soziale Kompetenz von Kindern und Jugendlichen fördern, ihnen vermitteln, wie sie sich

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konstruktiv mit den Zielen der Schule einerseits, eigenen Bedürfnissen und dem Verhalten anderer andererseits auseinandersetzen können. Auf der Seite der Lehrerinnen und Lehrer bedeutet SOLE auch, dass sie ihre Rolle als Vorbild bewusst gestalten, Unterrichtseinheiten und Projekte aufeinander abstimmen und ausrichten auf ein gemeinsames Ziel. Dies bringt mehr Kohärenz und Wirksamkeit. Das verlangt von den Lehrpersonen zwar mehr Austausch, verspricht aber auch mehr Unterstützung im Kollegium. SOLE orientiert sich dabei an drei Leitideen: Partizipation, Empowerment und Selbstwirksamkeit. Das Konzept ist stark alltagsbezogen. Mit diesem Programm können Schulen auch sozialen Problemen und Spannungen begegnen. Insbesondere dort, wo die kulturelle Diversität gross ist und Kinder und Jugendliche aus schwierigen sozialen Verhältnissen stammen, braucht es ein verlässliches Schulsystem, das mögliche Spannungen auffängt. Eine Schule mit gewissem Brennpunktpotential ist auch die Schule Hagen / Watt aus Illnau-Effretikon. Sie gilt deshalb im SOLE-Zusammenhang als Beispiel einer gelungenen Integration der Grundidee in einen praktikablen Alltag.


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Reflektieren und zusammenwachsen: Die Lehrpersonen der Schule Hagen / Watt stellen sich ihre SOLE-Projekte vor.

Diskussionen über richtiges und falsches Handeln Ein Beispiel, wie die Programminhalte konkret im Fachunterricht umgesetzt werden können, bietet Stefan Kneubühler (32). Er hat mit seiner Schulklasse Entscheidungsromane geschrieben und digital aufbereitet. In Gruppen haben sich die Schülerinnen und Schüler organisiert, Geschichten erdacht, gegengelesen, Feedback gegeben. Die Geschichten beinhalten an Zweigstellen Entscheidungen, die der Leser treffen muss; geht sie oder er diesen oder den anderen Weg? Je nachdem endet die Geschichte anders. Das förderte Diskussionen über Moral, über richtiges und falsches Handeln und ermöglichte den Jugendlichen, Entscheidungskompetenz aufzubauen. «Ich möchte die Jugendlichen stabilisieren, und sie für die Herausforderungen vorbereiten, denen sie heute und später begegnen. Sie sollen lernen, Vertrauen zu sich selbst und ihren Entscheidungen aufzubauen und Kompromisse eingehen zu können», sagt Kneubühler. Die 40 Lehrpersonen, die sich heute im Waldschulzimmer und im nahe gelegenen Waldstück angeregt unterhalten, miteinander lachen, ums Feuer stehen und ihre Projekte auf einem 90-minütigen Parcours selbstkritisch reflek-

tieren, sind als Team zusammengewachsen. Unter dem Jahresmotto «Erfolge ermöglichen» sind neue, kreative Ansätze entstanden, die zeigen, wie SOLE im Schulalltag aussehen kann. Was SOLE will und kann Muriel Maglock hat zusammen mit ihrer 1. Sek-A-Klasse eine Gerichtsverhandlung nachgespielt. Die Jugendlichen zeigten sehr viel Freude und machten mit, brachten eigene Ideen ein. Stolz präsentiert Maglock kurze Filmchen auf ihrem Tablet, wo man sieht, wie ihre Klasse die Verhandlungen führt. Es ging zum einen um Justizsysteme, die Schülerinnen und Schüler lasen Texte und schulten ihre Auftrittskompetenz, zum anderen ging es auch um Fragen der Verantwortung und der Schuld, um menschliche Dilemmata und um Urteilsfähigkeit. Was ist fair? Wann ist jemand wirklich kriminell? Wie würdest du handeln? Die 27-jährige Lehrerin sagt, die Ziele von SOLE seien für sie sehr natürlich, sie unterrichte sowieso bereits sehr nahe an der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler. Das Projekt vermöge viele Impulse zu geben. Dabei gibt Maglock aber auch zu bedenken, dass die Schule nicht

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«Die Jugendlichen sollen lernen, Vertrauen zu sich selbst und ihren Entscheidungen aufzubauen»: Stefan Kneubühler.

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«Gemeinsam getragene Verantwortung bringt Entlastung und schafft ein Gefühl der Kohärenz. Und erste Untersuchungen zeigen: Das Programm wirkt.» Karin Frey, Programmleiterin SOLE

die Antwort auf alle gesellschaftlichen Probleme zu sein habe, noch immer werde vieles in den Familien und im Freundeskreis geprägt. Das bestätigt auch Karin Frey, Programmleiterin SOLE und Dozentin für Pädagogik an der PH FHNW: SOLE kann nicht alle Probleme einer Schule lösen. «Bei eskalierenden Problemsituationen haben die Schulleitungen andere Ansprechpartner», sagt Frey. Das Programm sei dazu da, immer wieder auftretende Probleme anzugehen und vor allem Schulen dabei zu unterstützen, ihren Bildungs- und Erziehungsauftrag im Bereich überfachlicher Kompetenzen wahrzunehmen. Bekundet eine Schule Interesse an SOLE, klärt Karin Frey in ersten Gesprächen, was SOLE will und kann, dann entscheidet jede Schule individuell, wie sie die Programminhalte umsetzen will und welche spezifischen Ziele sie sich setzt. Unterstützt wird sie dabei von Fachberatungspersonen der PH FHNW. Ein «SOLE-Zyklus» dauert ungefähr vier Jahre. Denn Kulturwandel findet nicht über Nacht statt, wie auch die Schulleiterin in Illnau-Effretikon, Marianna Minder, erklärt: «Seit wir SOLE eingeführt haben, hat sich das Team sehr verändert.

Wir haben eine positive Dynamik und viele neue Ideen im Team», sagt die 57-Jährige. Der Erfolg von SOLE sei ihrer Erfahrung nach eng mit der intensiven Arbeit der Steuergruppe verbunden und mit der Zeit, die alles zeigen wird. «Wir haben mit SOLE jetzt den Boden für eine nachhaltige Entwicklung unserer Schulkultur gelegt und hoffen, dass das Projekt weiter Früchte trägt.» Soziales Lernen im Unterricht bedeutet, dass den Kindern und Jugendlichen mehr beigebracht wird als Rechnen, Schreiben und Lesen, Programmieren oder Turnen. Jede Unterrichtseinheit ist gleichzeitig eine Lebensschul-Einheit, die solche Fragen behandelt: Wie gehe ich mit anderen um? Wie mit meinen Bedürfnissen? Wie halte ich Konkurrenzdruck aus, wie gehe ich auf jemanden zu, wenn er einer anderen Religion angehört als ich? Weniger eskalierende Konflikte Mit dieser Art der Auseinandersetzung soll Resilienz gefördert werden aufseiten der Schülerinnen und Schüler, aber auch aufseiten der Lehrpersonen. Ursprünglich war SOLE als Projekt zur Gesundheitsförderung ge-

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Nives Widauer V I L L A N I X in Kooperation mit dem Centre culturel suisse. Paris Das Haus als Spiegel Werke aus der Sammlung 21. September bis 17. November 2019

IGHTS Au sg ew äh lte H I G H L de r Ku ns tve rm ittl un g ng en Ko mm en de Ve ran sta ltu

und an den , Nives Widauer arbeitet in 22. –27 .10 .: NIX IS FIX t sich über Räumen im Haus und freu Besuch Künstlerin ng der VIL LA NIX mit der ehu Beg r: Uh 15 19. , 22. 10. Ho use mit Gästen 27. 10. , 11– 17 Uh r: Op en ählt eflü ste r, Ines Henner erz 29. 10. ,19 .15 Uh r: Ha usg Geschichten itta g 45 Uh r: Kun st zum z‘M 9.1 0. ⁄ 6.11., 12. 15– 12. chtung hin ges cha ut, Werkbetra 24. 10. ⁄ 14. 11. , 18 Uh r: run g für Sen ior* inn en 3.1 0. ⁄ 7.11., 14 Uh r: Füh , , 10– 12 Uh r: Kun st-L upe 11. 26. 10. ⁄ 2.11. ⁄ 9.11. ⁄ 16. der Kin Veranstaltung für

rm ittl un gs an ge bo t PE RM AN EN TE S Ku ns tve n Ausstellungen Führungen in die aktuelle → Einführungen ⁄ interaktive n 21 angepasst stellungen, an den Lehrpla → Workshops zu den Aus stellt , individuell zusammenge → Projektwochen an Schulen hrtägig → Stop-Motion Projekte, me probieren iedene Drucktechniken aus → Druckwerkstatt, versch Atelier im r unter freiem Himmel ode → Offenes Atelier, malen

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DOSSIER

dacht. Etliche Lehrpersonen fühlen sich dem Druck vielfältiger Alltagserfordernisse, der Lernzielerreichung und eskalierenden Konflikten ausgeliefert – auf Dauer ein Zustand, der psychisch krank macht. «Das Gefühl, die Probleme nicht alleine angehen zu müssen, hilft», sagt Karin Frey. «Gemeinsam getragene Verantwortung bringt Entlastung und schafft ein Gefühl der Kohärenz. Und erste Untersuchungen zeigen: Das Programm wirkt.» Teilnehmende Schulen hätten deutlich weniger eskalierende Konflikte. Das liege daran, dass Kinder und Jugendliche sowie die Lehrpersonen kompetenter geworden seien, sowohl im Aushandeln von Regeln als auch im Umgang mit Konflikten. Früher sei der Lehrer ein Einzelgänger gewesen, sagt etwa Peach Humbel (57), Zeichnungslehrer an der Schule, jeder habe eigene Unterrichtsziele verfolgt. «Mit SOLE ist am Ende des Tages gar nicht vieles anders, aber die Stossrichtung ist klar, sie ist abgesprochen, transparent und für jeden nachvollziehbar. Und so merkt die Lehrperson: Ich bin nicht allein, wir sind ein Kollektiv, und diese Bewusstwerdung alleine macht einen riesigen Unterschied.» Anna Miller ist freie Journalistin

K ARIN FREY ist Dozentin für Pädagogik und leitet das Programm SOLE an der Pädagogischen Hochschule FHNW.

SOLE – SOZIALES LERNEN IN DER SCHULE, KURZ ERKLÄRT — Die Unterstützung der Kinder bei der Weiterentwicklung ihrer personalen und sozialen Kompetenzen ist eine zentrale Aufgabe der Schule. Diese Kompetenzen sind für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft von grosser Bedeutung und entscheiden auch über den Lernerfolg von Kindern und Jugendlichen. Soziales Lernen in der Schule geschieht zum einen im strukturierten Unterricht, zum anderen aber auch beiläufig, so etwa auf dem Pausenplatz. Auch kann unterschieden werden zwischen erwünschten und unerwünschten Lernprozessen. Prägend ist dabei die Kultur einer Schule. Das Programm SOLE trägt der Bedeutung des Umfeldes für das soziale Lernen Rechnung. Schulleitung und Lehrpersonen werden dabei unterstützt, die Schulkultur so zu gestalten, dass sie Schülerinnen und Schülern in der Entwicklung förderlicher Aspekte ihrer personalen und sozialen Kompetenzen dienen kann. Kinder und Jugendliche sollen sich jetzt und später als Erwachsene in der sozialen Umwelt kompetent verhalten und diese kritisch und selbstbewusst mitgestalten können. Handlungsebenen bilden Schulanlässe und Unterricht, die Zusammenarbeit im Kollegium und mit Eltern ebenso wie die Kommunikation nach aussen. SOLE fokussiert also nicht nur das Lernen im Unterricht, sondern es werden auch Möglichkeiten des beiläufigen sozialen Lernens im Schulleben gestaltet. Ziel ist eine Schulkultur, die das Lernen am Modell ermöglicht, Lehrpersonen und das weitere Umfeld also in ihrer Vorbildfunktion unterstützt. Von Karin Frey Weitere Informationen: www.fhnw.ch/ph/sole

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Neue Blickwinkel im Klassenzimmer Chancengleichheit ist kein illusorisches Ziel – eine Studie der Pädagogischen Hochschule FHNW zeigt, unter welchen Bedingungen Kindern aus schwierigen Verhältnissen der Aufstieg gelingt. Von Seraina Kobler (Text), Eleni Kougionis (Fotos)

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r taucht in vielen Biografien auf, der Satz: Das war schon früher in der Schule so. Als würden dort Weichen gestellt, die sich nicht mehr zurückstellen lassen. Dass dies nicht stimmen muss, zeigt die Geschichte von Daniel Hefti*. Anders zu sein als die anderen, gehörte zu seiner Kindheit, wie aufgeschürfte Knie. Er wuchs in einem wohlhabenden Dorf mit tiefem Steuerfuss am rechten Ufer des Zürichsees auf. Dort, wo die Sonne abends die Häuser in goldenes Licht taucht. Er war immer der, der die Kleider seines grösseren Bruders austrug. Weil seine Eltern sich keine neuen Markensachen leisten konnten. Manchmal nicht einmal die auswärtige Verpflegung auf der Klassenreise. Er war der mit dem vergessenen Turnbeutel oder den unvollständigen Hausaufgaben. Und noch viel schlimmer: der mit den gesundheitlich angeschlagenen Eltern, die nach ihrer Trennung nicht in der Lage waren, ihren Sohn zu unterstützen. Die Mutter kämpfte mit einer chronischen Depression, der Vater

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litt an einem Herzleiden und Diabetes. Für Daniel Hefti begann eine Reihe von schulischen und psychologischen Sondermassnahmen und eine Abwärtsspirale, an deren Ende die Frage stand, ob eine faire schulische Beurteilung überhaupt möglich sei. Einstellungen der Lehrpersonen sind zentral Chancengerechtigkeit ist zwar ein akzeptiertes Prinzip im Schulsystem, dennoch wird sie gemäss Bildungsbericht 2018 regelmässig verletzt. Dieser zeigt: Kinder aus Familien mit einem höheren sozio-ökonomischen Status erhalten bei gleichen Leistungen bessere Noten als solche aus tieferen sozialen Schichten und mit Migrationshintergrund und werden bei gleichen Leistungen eher in anspruchsvolle Schulniveaus der Sekundarstufe I zugeteilt. Am Zentrum Lernen und Sozialisation der Pädagogischen Hochschule FHNW initiierte Prof. Dr. Markus P. Neuenschwander deswegen im Jahr 2016 das SCALA-Forschungsprojekt.


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Oberstes Ziel, den intrinsischen Lernwillen des Kindes zu entdecken: Brigitte Simeon gestaltet den Unterricht binnendifferenziert.

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Er und sein Team untersuchten unter anderem die Frage, wie Bildungserwartungen und Zuschreibungen von Lehrpersonen verändert werden können. Denn die Erwartungen der Lehrpersonen an die Schülerinnen und Schüler sind für den Bildungserfolg zentral. Bei Schülerinnen und Schülern aus schwächeren sozialen Verhältnissen ist sie nachweislich tiefer, als ihre Leistungen dies nahelegen, und beeinflusst die effektiven schulischen Leistungen der Kinder und Jugendlichen negativ. Diese verinnerlichen diese Zuschreibung und bremsen sich. Der Studienleiter Markus Neuenschwander sagt: «Es hat sich in der Studie gezeigt, dass es möglich ist, die Überzeugungen und Einstellungen der Lehrpersonen im Hinblick auf die Leistungserwartungen von «gefährdeten» Schülerinnen und Schülern zu verändern, sodass die Kinder fair gefördert werden.» Darum habe man die Studie nun auch in ein Weiterbildungsangebot überführt. Dort werden Einzelpersonen oder ganze Kollegien darauf sensibilisiert, in heterogenen Schulklassen ausgewogen zu fördern und zu beurteilen. Personen, wie etwa Daniel Hefti, welche trotz schwierigen Verhältnissen eine erfolgreiche Bildungslaufbahn absolvierten, waren bei der Durchführung des Projekts beteiligt. Gute Beziehungen für eine bessere Resilienz So gewährte etwa Daniel Hefti den Projektmitarbeitenden Einblick in seine Biografie, damit diese sogenannte Resilienzfaktoren identifizieren konnten. Momente, die ihm geholfen haben, die sozialen Hindernisse zu meistern. Zudem nahm Hefti im Rahmen des Projektes an einem Weiterbildungstag für die Lehrpersonen teil. In Workshops und Gesprächen wurden Erkenntnisse aus der Forschung und individuelle Erfahrungen ausgetauscht und kritisch hinterfragt. Daniel Hefti erzählte aus seiner Schulzeit: «Die Lehrpersonen wollten in meinem Fall einen guten Job machen.» Aber letztlich sei die Arbeit mit verschiedensten Spezialisten und Psychologen für ihn eine komplette Überforderung gewesen, zielten diese doch auf das Kind mit Problemen und nicht auf die Probleme selbst ab. «Das vermittelte mir immer stärker das Gefühl, dass mit mir etwas nicht stimmt», sagt Hefti. «Dabei konnte man auch mit noch so ausgefeilten Sondermassnahmen nichts ändern. Die Familiensituation blieb schwierig und das wirkte sich auch auf die schulische Leistung aus.» Doch irgendwann hätte ihn ein Psychologe gefragt: Was willst du eigentlich? Da sei etwas zu ihm durchgedrungen. Das sei ein Schlüsselmoment gewesen,

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«Wie sollen alle das Gleiche leisten können bei der individuellen Verschiedenheit? Es ist doch unfair, wenn gewisse Kinder zuhause jemanden haben, der bei Aufgaben helfen kann, andere hingegen nicht einmal einen eigenen Arbeitsplatz haben.» Brigitte Simeon, Primarlehrerin

in dem er sich selbst bewusst wurde und merkte, er konnte etwas verändern. Vielleicht, weil er sich zum ersten Mal richtig wahrgenommen fühlte, als Mensch. Unabhängig von den erschwerenden Umständen. Dadurch schaffte er es, sich von diesen zu lösen. Er machte die Fachmatura, arbeitete mehrere Jahre in der Pflege und absolvierte daneben ein Studium in Psychologie. Als einer der wenigen begeisterte er sich von Beginn an für das Fach Statistik, was ihm anschliessend zu einer Forschungsstelle an der Eidgenössischen Technischen Hochschule und am Universitätsspital in Zürich verhalf. Was in Heftis Laufbahn die Kehrtwende brachte, ist auch eine Erkenntnis aus der Studie. Nämlich, dass die Beziehung zu einer Person oder einem fördernden Umfeld ein entscheidender Faktor für eine günstige Schullaufbahn ist. Den intrinsischen Lernwillen entdecken Brigitte Simeon ist Primarlehrerin an einer Schule in Zofingen (AG). Früher hat sie sich im Umgang mit Schülerinnen und Schülern oft gefragt: «Wie sollen alle das Gleiche leisten können bei der individuellen Verschiedenheit? Es ist doch unfair, wenn gewisse Kinder zu Hause jemanden haben, der bei Aufgaben helfen kann, der auch unsere

Sprache spricht, andere hingegen nicht einmal einen eigenen Arbeitsplatz haben, geschweige denn Eltern, die ihnen helfen können.» Nach Simeon sollte jedes Kind nicht nur in den schwachen Bereichen, sondern auch in seinen spezifischen Begabungen gefördert werden. Heute, nachdem Brigitte Simeon die SCALA-Weiterbildung abgeschlossen hat, handle sie viel mutiger und traue sich, auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Kinder einzugehen. Oberstes Ziel sei dabei immer, den intrinsischen Lernwillen des einzelnen Kindes zu entdecken, zu fördern und in diesem Sinne den Unterricht binnendifferenziert zu gestalten – also jedem Kind auf seine Art und Weise gerecht zu werden versuchen. Das Team der Primarstufe Zofingen hat entschieden, ab diesem Schuljahr auf der gesamten Stufe entsprechend zu unterrichten. So könne eben jene individuelle, fördernde und auch fordernde Beziehung aufgebaut werden, die für den Schulerfolg wichtig ist. «Angesichts der unterschiedlichen Voraussetzungen der Kinder ist dies für mich als Lehrperson eine Möglichkeit, meinen Teil zur Bildungsgerechtigkeit beizutragen.» Wie wichtig diese Beziehung sein kann, zeigt sich auch im Fall vom Azmi Kiliçaslan, der ebenfalls wie Hefti an

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Markus P. Neuenschwander untersuchte mit seinem Team, wie die Erwartungen und Zuschreibungen der Lehrpersonen die Leistungen der Schülerinnen und Schüler beieinflussen.

der Studie teilgenommen hatte. Er blickt auch auf eine schwierige Schulzeit zurück. Dennoch würde er sich heute bei seinen damaligen Lehrerinnen und Lehrern bedanken. Es sei zwar nicht immer leicht mit ihm gewesen, doch sie hätten nie die Motivation verloren, ihm den Stoff näherzubringen. Auch wenn er sich leicht ablenken liess und oft einige Wiederholungen mehr brauchte, bis er ein Thema verstanden hatte. Die Beharrlichkeit zahlte sich aus: Derzeit macht der gelernte Elektrozeichner und studierte Elektrotechniker ein Nachdiplom in Betriebswirtschaftslehre. Rückblickend kritisiert er am damaligen Bildungssystem den zeitlichen Druck und die Fehlerkultur, in der Fehler als etwas Negatives konnotiert sind statt als Chance angesehen werden, um

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etwas Neues zu lernen. Wäre dies umgekehrt geschehen, dann hätten gewisse positive Entwicklungen bestimmt schon früher eingesetzt. Gutgemeinte Entscheidungen mit ungerechten Folgen Die Oberstufenlehrerin und Erziehungswissenschaftlerin Dorothea Baumgartner hat im Rahmen des SCALA-Projekts Coachings mit Lehrpersonen durchgeführt. In den letzten Jahren hat sie immer wieder beobachtet, dass Überlegungen, die zwar gut gemeint sind, zu einer schlechteren Einstufung führen können. Etwa gerade dann, wenn die Deutschkenntnisse eines Kindes noch nicht so gut sind oder wenn ein Kind zu Hause nicht


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oder nur wenig unterstützt wird. «Das fängt schon im Kindergarten an und zieht sich dann durch alle Schulstufen», sagt Baumgartner. Im Zweifelsfall komme das Kind, welches weniger Unterstützung im Elternhaus erhält, in die tiefere Stufe. «Lehrpersonen fällen solche Entscheidungen mit guten Absichten. Sie wollen die Kinder nicht überfordern. Da passieren schon unbewusste Verzerrungen», sagt sie weiter. Schreibe etwa ein Mädchen mit Kopftuch unerwarteter Weise eine gute Note, dann sei die Reaktion vielleicht: Oh, diesmal hat sie aber Glück gehabt. Passiere das Gleiche bei einem Mädchen aus einer Akademikerfamilie, dann heisst es: Da zeigt sich möglicherweise schlummerndes Potential. Wichtig sei darum, alleine und im Team eine gemeinsame Förderkultur zu entwickeln, die solche ungerechten Mechanismen aufbreche. Viele Schulleitungen sind bereits auf das SCALA-Projekt aufmerksam geworden und integrieren die Weiterbildung in ihre Qualitätsentwicklung. Mit dieser Auseinandersetzung tragen sie einen wichtigen Teil zu einem gerechten Bildungssystem bei, indem Lehrpersonen helfen, die Weichen für eine positive Entwicklung zu stellen – unabhängig von der gesellschaftlichen Herkunft der Schülerinnen und Schüler. Sereina Kobler ist freie Journalistin

BILDUNGSGERECHTIGKEIT IN SOZIAL HETEROGENEN SCHULKLASSEN Das Forschungsprojekt SCALA hat sich zum Ziel gesetzt, soziale Ungerechtigkeiten im Klassenzimmer zu erklären und anhand einer Weiterbildung Möglichkeiten aufzuzeigen, wie die Chancengerechtigkeit im Unterricht erhöht werden kann. An der Studie nahmen rund 1200 Kinder vom 4. bis zum 6. Schuljahr in 75 Klassen mit ihren Eltern und Klassenlehrpersonen teil. Die Interventionsstudie umfasste eine Vorher-nachher-Messung (mit Vergleichsgruppe) mittels standardisierter Fragebögen und Leistungstests (Deutsch und Mathematik) für Schülerinnen und Schüler. Die Ergebnisse belegen, dass Erwartungen und Attributionen von Lehrpersonen in Deutsch und Mathematik von der sozialen Herkunft und dem Geschlecht der Kinder verzerrt sind. Die Erwartungen und Attributionen wirken sich aber deutlich auf die Motivations- und Leistungsentwicklung der Kinder aus. Waren die Erwartungen der Lehrpersonen an Leistung und Anstrengungsbereitschaft von bestimmten Kindern hoch, verbesserten sich die Leistungen und die Anstrengungsbereitschaft dieser Kinder. Erwarteten die Lehrpersonen häufige Unterrichtsstörungen, nahm das Störverhalten dieser Kinder im Unterricht während des Schuljahres zu. Das heisst, die Erwartungen der Lehrpersonen wirkten bei den Kindern im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung auf ihre Leistungen und ihr Verhalten. Analysen belegen die Wirksamkeit der Weiterbildung: Die Leistungserwartungen der Lehrpersonen, die an der Weiterbildung teilgenommen hatten, waren nachher im Unterschied zur Kontrollgruppe nicht mehr durch den Migrationshintergrund der Schülerinnen und Schüler verzerrt. Durch die Weiterbildung entwickelten die Lehrpersonen also fairere und leistungsangemessenere Erwartungen gegenüber Schülerinnen und Schülern mit einem Migrationshintergrund. Von Markus P. Neuenschwander, Leiter Zentrum Lernen und Sozialisation Die Weiterbildungsangebote können vorerst bis 2023 besucht werden. Für das laufende Jahr ist das Angebot allerdings stark belegt. www.fhnw.ch/ph/scala

*Name geändert

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BILDESSAY

Leichtigkeit und Last

Die Künstlerin Camille Scheidegger arbeitet mit verschiedenen Medien, um die vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten von Kunst und Gestaltung auszuloten. Für «das HEFT» hat sie eine Reihe von Bildern zu einem Bildessay zusammengestellt, der einen assoziativen Zugang zum Thema Resilienz eröffnet. Die hier einander gegenübergestellten Werke thematisieren und inszenieren den Raum und die Leerstellen einer Bildfläche. Durch die Reduktion der Bildelemente werden abstrakte Begriffe wie «Leichtigkeit, Schwung, Hoffnung, Ziel» und deren Gegenspieler «Schwere, Last, Resignation» illustriert. Camille Scheidegger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich der Ästhetischen Bildung der Pädagogischen Hochschule FHNW.

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Bild #02 Ausblick Weitblick Hürden


Bild #03 Last und Hoffnung


Bild #04 Schwebende Form


Bild #05 Everyday life/neue Wege


Henri Matisse, Jeannette III – IV (1910 / 11), Jeannette V (1916), Schenkung Madame Jean Matisse an den französischen Staat als Depositum im Musée Matisse, Nizza, 1978, Musée d’Orsay, Paris © Succession H. Matisse / 2019, ProLitteris, Zurich. Foto: François Fernandez EIDENBENZ / ZÜRCHER AG

K U N STH AUS ZÜRICH 30.8. – 8.12.19

Die Ausstellung entstand in Kooperation mit dem Musée Matisse, Nizza.

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AUS DER PH

Erzähl mir eine Geschichte Aus der Forschung wissen wir, wie wichtig Vorlesen für Kinder und Jugendliche ist. Es gibt gute Gründe, das Ritual häufiger zu pflegen: Beim Mithören festigen Kinder nicht nur ihre Sprachkompetenzen, sie profitieren auch in ihrer geistigen und sozialen Entwicklung. Von Virginia Nolan (Text), Eleni Kougionis (Foto)

S

chweinchen Eduard Speck ist überzeugt davon, es sei das schönste, klügste und stärkste Tier auf Erden, und das will es der Welt regelmässig beweisen. Leider gehen seine Unternehmungen dabei jedes Mal gründlich schief. Eduards tierische Mitbewohner nehmen es gelassen: Sie haben sich an die Aufschneidereien des Schweins gewöhnt, kontern sie mit Humor und helfen dem Ferkel auch mal aus der Patsche. In der Bibliothek der FHNW in Brugg-Windisch lauschen 60 Primarschüler John Saxbys Kurzgeschichten von Eduard. Es ist Schweizer Vorlesetag, den Studierende der Pädagogischen Hochschule FHNW in Solothurn, Muttenz und Brugg-Windisch mit unterschiedlichen Vorleseaktivitäten für Schulkinder begehen. Manchmal, da sind sich die jungen Zuhörer einig, sind wir alle wie Eduard: ungeduldig, masslos, eingebildet. Wie gut ist es doch, wenn wir dann Freunde haben, die uns zurück auf den Teppich holen – und uns trotz allem gernhaben. Es sind Episoden wie diese, die Vorlesen für Kinder

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wertvoll machen: Weil sie Themen aufgreifen, die uns umtreiben, die zuweilen widersprüchlichen Gefühle in uns greifbar machen und uns zeigen, dass wir damit nicht allein sind. «Beim Vorlesen geht es um mehr als Sprache allein. Es stärkt uns, indem es den Blick aufs Zwischenmenschliche und uns selbst schärft», sagt Primarlehrerin Emina Flückiger, die den Vorlesetag an der PH in Brugg Windisch gemeinsam mit ihrer Klasse besucht. Für die Fünftklässler aus Wohlen ist Vorlesen längst zum lieb gewonnenen Ritual geworden. «Ich nehme mir mindestens einmal pro Woche Zeit dafür», sagt Flückiger, die ihr Studium an der PH berufsbegleitend absolviert. Vorlesen macht schlau – und stark Nicht nur ein einladendes Setting, auch die Bücherwahl sei entscheidend, sagt Flückiger: «Wichtig ist mir, dass es Themen sind, die sich für beide Geschlechter eignen. Und sie müssen an den Alltag der Kinder anknüpfen.» So liest Flückiger mit ihrer Klasse, in der 70 Prozent der Kinder zu Hause kein Deutsch sprechen, derzeit


AUS DER PH

Kindergeschichten umkreisen Themen, welche die Kinder beschäftigen. Sie helfen, widersprüchliche Gefühle greifbar zu machen, und zeigen ihnen, dass sie damit nicht allein sind.

«Lippels Traum» von Paul Mahr. Das Buch aus dem Jahr 1984 gehörte zu den ersten Vertretern einer modernen Kinderliteratur, die pointiert aufgreift, was in unserer Gesellschaft mittlerweile normal ist: Dass Kinder unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Aussehens, Kinder, die verschiedene Sprachen sprechen und verschiedenen Glaubensrichtungen angehören, zusammenleben. Aus der Resilienzforschung ist bekannt, dass regelmässiges Vorlesen die psychische Widerstandsfähigkeit fördert. Etwa, weil es als Ritual die emotionale Bindung zwischen einem Kind und seiner Bezugsperson stärkt, aber auch, weil es vielschichtige kognitive Prozesse in Gang setzt: In andere Welten einzutauchen, sich in

Figuren und Situationen hineinzuversetzen, das bedeutet, die Perspektive anderer differenziert wahrzunehmen und verstehen zu lernen. So helfe Literatur, das eigene Blickfeld zu erweitern, spiele aber auch eine wichtige Rolle, wenn es darum gehe, eigene Problemlösungsstrategien zu entwickeln, sagt Nora Kernen, Dozentin für Deutschdidaktik an der PH: «Kinder durchleben mit den Protagonisten verschiedene, zuweilen auch schwierige Lebenssituationen, die den Erfahrungsschatz des Selbsterlebten erweitern und ihnen neue Handlungsmöglichkeiten aufzeigen können.» Die Jugendlichen nicht vergessen Gute Gründe fürs Vorlesen gibt es schliesslich auch im Hinblick auf sprachliche Kompetenzen. «Beim scheinbar

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AUS DER PH

«Beim Vorlesen geht es um mehr als Sprache allein. Es stärkt uns, indem es den Blick aufs Zwischenmenschliche und uns selbst schärft.» Emina Flückiger, Studentin an der PH

einfachen Mithören lernen Kinder und Jugendliche viel», sagt Kernen. Zum Beispiel erweitere es den rezeptiven Wortschatz – zu diesem zählen Wörter, die das Kind versteht, wenn es sie liest oder hört, die es aber nicht unbedingt von selbst anwenden kann. «Ausserdem vermittelt Vorlesen sprachliche Vorlagen für das Erzählen, die Kinder lernen Muster kennen, die sie beim eigenen Sprechen und Schreiben anwenden können», sagt Kernen. «Das geht von Phrasen wie ‹Es war einmal› bis hin zu Satzstrukturen, die man im normalen Gespräch nicht zu hören bekommt. Eines der wichtigsten Argumente fürs Vorlesen ist schliesslich, dass es Kinder zum Selberlesen animiert.» Kernen, die am Institut Sekundarstufe I und II lehrt, wünscht sich, dass auch Jugendliche öfter in den Genuss des Zuhörens kommen. «Die Schule behält Vorlesen oft den Kleinen vor», sagt sie. «Das ist schade, denn auch für die Älteren liegen die Vorteile auf der Hand. Gerade sprachlich schwächere Schülerinnen und Schüler profitieren, wenn durch Vorlesen Texte zum Erlebnis und Gesprächsgegenstand werden.» Virginia Nolan ist freie Journalistin

Emina Flückiger

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AUS DER PH

Durchs Vorlesen ins Erzählen kommen: Studierende gestalten eine Geschichten-Stunde.

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AUS DER PH

«Mit Verständnis und wenn nötig mit einem Dolmetscher»

Studierende der PH setzen sich mit der Asylthematik auseinander und entwickeln Handlungsansätze für die eigene Berufspraxis. Von Michael Hunziker (Text), Eleni Kougionis, André Albrecht (Fotos)

B

loss 300 Meter Luftlinie vom FHNW-Campus Muttenz entfernt befindet sich das Bundesasylzentrum (BAZ), und trotzdem liegen Welten zwischen den beiden Orten. «Wir sind uns räumlich so nah und haben doch kaum Berührungspunkte», bemerkt Dozentin Christiane Lubos zu den Studierenden, mit denen sie das öffentliche Asylkaffee besucht, das eine gemeinnützige Organisation direkt neben dem BAZ betreibt. In der Tat: Im Alltag der meisten Menschen finden kaum Begegnungen mit Personen im Asylprozess statt. Man liest von ihnen in Zeitungen, hat über die Einrichtungen gehört, fühlt sich vielleicht informiert, aber darüber hinaus? In der Schule sieht das etwas anders aus. Sie ist eine der wenigen Domänen, in denen alle zusammenkommen, und umso wichtiger ist es, angehende Lehrpersonen auf ihre Rolle in diesem Zusammenhang zu sensibilisieren. «Ich thematisiere mit den Studierenden ihre künftige

Branislav Joksic

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Verantwortung», sagt Lubos, «sie sollen die Situation für geflüchtete Familien und ihre Kinder in der Schweiz kritisch analysieren können und differenziert und professionell auf die unterschiedlichen Schülerinnen und Schüler mit ihrem teils unsicheren Aufenthaltsstatus eingehen.» Dass viele der Kinder und ihre Eltern durch ihre Fluchterfahrungen teilweise traumatisiert und durch die Lebensbedingungen und den unsicheren Status im Aufnahmeland stark belastet sind, stellt die Lehrpersonen zusätzlich vor besondere Herausforderungen. Die Studierenden besuchten im Rahmen des Kurses verschiedene soziale Einrichtungen im Asylbereich und versuchten so, die «andere Seite» kennenzulernen, sprich den ausserschulischen Kontext, in denen sich Personen mit Fluchthintergrund befinden, den die Studierenden durch ihre bisherigen Erfahrungen in Praktika oder in Teilzeitpensen als Lehrpersonen nur bedingt mitbekommen haben. Integration auf dem Dorf Um die gesamte Asyldebatte und ihre Prozeduren aus der Nähe zu erfahren, besuchte etwa Severin Guarda zwei syrische Familien, die mit Asylstatus in Wallbach BL leben. Die 1700-Seelen-Gemeinde hatte sich

Christina Schmid


AUS DER PH

«Als Lehrperson kann ich versuchen, solche Muster zu erkennen und dem Kind helfen, diese aufzulösen, etwa indem ich die systemischen Zusammenhänge beachte und schaue, was es mit seiner Familie alles erlebt hat und ihm Verhaltensoptionen aufzeige.» Branislav Joksic, Student der PH

vor rund vier Jahren entschieden, «nicht ganz ohne Vorbehalte», acht Asylsuchende aufzunehmen. Guarda, der selbst in Wallbach lebt, kennt die Diskussionen an der Gemeindeversammlung aus erster Hand und fand es bedauernswert, dass sich die Gemeinde erst nach einer Kostenrechnung entschloss, die Menschen aufzunehmen. «Mich interessierte, wie die Integration dieser Menschen vor diesem gemeindepolitischen Hintergrund überraschenderweise trotz der Skepsis gelang», erzählt Guarda. Er stellte fest, dass die Schule für die Integration der Familie eine zentrale Funktion einnahm und wie wichtig es ist, die Eltern von Beginn an stark in die Elternarbeit miteinzubeziehen: «Das ist etwas, das sie in ihren Herkunftsländern oft nicht kennengelernt haben – und es umso mehr schätzen.» Es sei zwar aufwendig, eine Dolmetscherin zu organisieren, doch es lohne sich. «Schliesslich muss ich als Lehrperson wissen, was zu Hause läuft», sagt er. Dies jedoch nicht etwa aus Kontrolle, sondern um zu verstehen, in welcher Situation das Kind

ist. «Oft ist die Schule der einzige Ort, an dem sich die Kinder sicher fühlen, gerade wenn die politische Situation der Herkunftsländer die Eltern absorbiert und die Familien auch im Exil indirekt verfolgt.» Guarda unterrichtet ein paar Dörfer weiter in einem Teilzeitpensum an einer Primarstufe. In diesen vielschichtigen Prozess der Flucht Einblick erhalten zu haben, hätte ihn nachhaltig beeinflusst: «Das Thema Flucht bleibt aktuell und geht uns alle an.» Und bei der ganzen Diskussion dürfe man sich ruhig mal fragen: «Was, wenn wir eines Tages fliehen müssten?» Kleine, aber wichtige Details Die angehende Primarlehrerin Christina Schmid hatte sich mit dem Basler «Gemeinsam Café» näher auseinandergesetzt, in welchem geflüchtete Frauen arbeiten und somit eigenes Geld verdienen können. In vielen Gesprächen mit den Angestellten erfuhr sie, wie wichtig eine solche Anstellung für die Frauen ist, um sich zu emanzipieren und um mit den hiesigen Werten vertraut zu werden. Schmid erachtet solche Integrationsangebote

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AUS DER PH

«Wenn ich die Eigenheiten anfänglich respektiere, entspannt sich die Situation und nach einer Weile verfliegt die Verunsicherung der Kinder von alleine.» Christina Schmid, Studentin

auch für die Schulen entlastend, «weil sie einerseits die Sprachbarrieren abzubauen helfen und andererseits durch den kulturellen Austausch bereits viele potentielle Missverständnisse gar nicht erst entstehen.» Schmid erzählt etwa, wie sie während einer Stellvertretung mit einer Mutter konfrontiert war, die sehr perplex reagiert habe, als sie bei einem Elterngespräch im Klassenzimmer den Namen ihres Sohnes auf einem Kärtchen entdeckte, das auf dem Boden klebte. Schmid hatte sich auf diese Weise alle Namen der Kinder gemerkt. Für die Mutter war das aber eine Beleidigung, weil so die Gefahr bestand, dass jemand mit den Füssen auf den Namen des Sohnes tritt – ein kleines Detail, mit dem verschiedene kulturelle Auffassungen deutlich werden und die eben Anlass für Missverständnisse sein können. Genauso wie das Händeschütteln, erzählt Schmid. «Wenn ich hier die Eigenheiten anfänglich respektiere, entspannt sich die Situation und nach einer Weile verfliegt die Verunsicherung der Kinder von alleine.» Christina Schmid kennt die Schwierigkeiten der Integration, weiss, wie es ist, wenn «die Grosseltern 1000 km

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weit weg wohnen». Ihre Mutter war als Arbeitsmigrantin in die Schweiz gekommen. Sie findet daher, dass in der Debatte das Gemeinsame, nicht die Unterschiede betont werden sollten. «Die meisten Schweizer haben in ihrer Familiengeschichte einen Migrationshintergrund. Wir Menschen wollen doch alle dasselbe, ein gutes Leben für uns und die Kinder.» Eltern nicht mit Normen überfordern Ähnlich wie Schmid argumentiert Branislav Joksic der neben dem Studium bereits als Lehrperson unterrichtet. Für ihn ist es klar, dass auch die Zusammenarbeit mit den Eltern zur Förderung der Kinder mit dazugehört: «Ich versuche, die Meinungen der Eltern einzubinden und sie nicht mit neuen Normen zu überfordern», sagt er, «dazu gehört, dass ich mit Verständnis für ihre Situation und wenn nötig mit einem Dolmetscher arbeite.» Joksic weiss aus eigener Erfahrung, wie wichtig diese Arbeit ist. Seine Eltern waren in seiner Schulzeit ebenfalls in die Schweiz zugewandert und nicht mit dem hiesigen Schulsystem vertraut gewesen.


AUS DER PH

Berührungspunkt Asyl-Kaffee: Studierende der PH setzen sich während eines Semesters intensiv mit der Fluchtthematik auseinander.

Im Rahmen einer Stellvertretung als DAZ-Lehrperson hatte Joksic mit Kindern mit Fluchthintergrund zu tun. «Wenn Kinder neu ankommen, muss man sprachlich beinahe bei null anfangen und mit Händen und Füssen kommunizieren,» erzählt er. Lieder und Kinderbücher würden helfen, eine erste Basis zu schaffen. Dass eine Flucht aber oft ein traumatisierender Prozess sei, der mit viel Stress und Unsicherheit für die Kinder verbunden ist, dürfe man als Lehrperson nicht einfach vom Tisch wischen. Im Rahmen des Studiums wollte sich Branislav Joksic daher zum Thema Trauma vertiefen und lernen, wie er als Lehrperson damit umgehen kann, wenn er betroffene Kinder in der Klasse hat.

das Gefühl, dass es die Situation kontrollieren kann, für Aussenstehende, wie die anderen Kinder und die Lehrperson, sei das Verhalten aber irritierend oder gar bedrohlich. «Als Lehrperson kann ich versuchen, solche Muster zu erkennen und dem Kind helfen, diese aufzulösen, etwa indem ich die systemischen Zusammenhänge beachte und schaue, was es mit seiner Familie alles erlebt hat, und ihm Verhaltensoptionen aufzeige.» Das Thema Flucht will Joksic auch mit seiner Klasse aufgreifen, etwa «mithilfe von Kinder- und Jugendbüchern aus dem Baobab-Verlag, die einen interkulturellen Ansatz verfolgen». Schliesslich hätten die Klasse und die Schule als System einen bedeutenden Einfluss auf die Integration und die gelingende Bewältigung von Flucht.

«Es war eindrücklich, zu erfahren, wie Trauma, das limbische System und Verhaltensweisen zusammenhängen», erzählt Branislav Joksic. Wenn ein Kind unter Stress oder in beängstigenden Situationen Adrenalin ausschüttet und «extrem» reagiert, gäbe ihm das zwar

Michael Hunziker ist Redaktor von «das HEFT»

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KOMMENTAR

Ressourcenförderung nicht als Selbstläufer inszenieren

Resilienz entwickeln Menschen selbst. Beim Aufbau von Resilienzressourcen helfen aber alle mit. Von Albert Düggeli

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risen sind belastende Lebensmomente. Sie treffen einen, weil man sich falsch entschieden oder weil man es in einer bestimmten Situation nicht geschafft hat, die nötige Balance zwischen Mut und Vorsicht zu finden. Krisen konfrontieren Menschen mit Unerwartetem, treten in unterschiedlichen Lebenszusammenhängen auf und sind mit Blick auf ihre Konsequenzen oft unabsehbar. Es sind Lebensereignisse, an denen Menschen scheitern und zerbrechen können, an denen aber auch Wachstum möglich ist. Wenn sie positive Wendungen schaffen, entwickeln sie Resilienz und stabilisieren damit ihre psychosoziale Entwicklung. Resilienz, oder vielleicht besser gesagt, die Fähigkeit, Resilienz zu entwickeln, hat in den vergangenen Jahren viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. So wurden beispielsweise verlässliche Beziehungserfahrungen oder die Überzeugung, fähig zu sein, ein angestrebtes Ziel aus eigener Kraft erreichen zu können, als zentrale Merkmale identifiziert, die Menschen davor bewahren, in herausfordernden Situationen aufzugeben und nicht mehr an einer produktiven Veränderung ihrer Situation zu arbeiten. Gefahr von Negativspiralen Beim näheren Hinschauen zeigt sich aber, dass eine Förderung von Resilienzressourcen keine einfache Aufgabe ist. Ressourcen zur psychischen Stärkung von Menschen zu fördern, muss unter den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen differenziert betrachtet werden. Es kann nämlich sein, dass erfahrene Risiken nicht von den Betroffenen selbst verursacht wurden. Gerade im Kontext von sozialen Ausschlussrisiken, die Menschen beispielsweise treffen können, wenn sie arbeitslos werden, spielen sozioökonomische Mechanismen eine wesentliche Rolle. Und auf diese haben die Menschen, die besonders darunter leiden, oft keinen Einfluss. So werden sie ohne ihr eigenes Dazutun von gesellschaftlichen Dynamiken erfasst, sozial entkoppelt und in Abwärtsspiralen der Ausgrenzung hineingezogen. Und ja, es gibt auch hier Beispiele für Resilienzentwicklungen. Es gibt Menschen, die es schaffen, sich in einem Leben voller Rückwei-

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sungserfahrungen durchzuwursteln, und das ist ganz besonders erstaunlich. Die wichtige Frage ist jedoch, ob ein solcher Aufbau von Resilienzressourcen nicht auch sozial getragen sein müsste. Zu verlangen, dass jemand eine missliche Lage balancierend aushält, die ihm durch gesamtgesellschaftlich verantwortete Prozesse zugeschanzt wurde, ist, wie gesagt, zwar möglich, ethisch aber problematisch. Ganz zu schweigen davon, dass betroffenen Menschen durch das erfahrene Risiko auch Möglichkeiten abhandenkommen können, Resilienzressourcen aufzubauen. Wer beispielsweise täglich damit beschäftigt ist, sich um eine Arbeitsstelle zu bemühen, hat meist keine Möglichkeit, sich gleichzeitig um den Aufbau eigener psychischer Ressourcen zu kümmern, weil nicht selten die Zeit fehlt, Ablehnungserfahrungen stabilisierend bewältigen zu können. Ohne dies lassen sich oft keine Verbesserungen erzielen, und das Risiko nimmt zu, immer wieder dieselben Fehler zu machen, kein schützendes Wissen und keine Ressourcen aufzubauen, sondern zunehmend Frustration und Entmutigung im Alltag zu entwickeln. Die Menschen geraten in eine Art Anti-Resilienzentwicklung. Auch die strukturellen Aspekte in den Blick nehmen Pädagogisches Handeln, das die Förderung von Resilienzressourcen in den Blick nimmt, weiss um diese Ausgangslage. Ressourcenförderung nimmt deshalb neben der individuellen Handlungsebene auch strukturelle Aspekte in den Blick. Konkret heisst dies, dass eine Ressourcenförderung nicht als Selbstläufer inszeniert werden darf, sondern zunächst ein differenzierter Blick auf die Risikolagen und die Risikobetroffenheit der Menschen zu richten ist. Nur wer gut versteht, wie die Ursachen bzw. Zusammenhangsmuster von erfahrenen Risikolagen spielen, ist in der Lage, zielführende und vor allem verantwortungsvolle Ressourcenförderung zu betreiben. Eine Möglichkeit, hier einen Weg zu finden, kann in Befähigungsmodellen gesehen werden. Diese betrachten es als gesellschaftliche Verpflichtung, Menschen so zu befähigen, dass sie freie Entscheidungen treffen können, die ihnen Wohlergehen ermöglichen. Der Aufbau von Resilienzressourcen wird somit zur Aufgabe aller. Sie fordert soziales Engagement und sollte Teil der schulischen Bildung werden, beispielsweise, indem die Förderung von Ressourcen integraler Bestandteil der täglichen Arbeit im Unterricht wird, mitsamt einer


KOMMENTAR

Gesellschaftliche Verhältnisse tragen dazu bei, dass Individuen Resilienz entwickeln können. Bild: Shuttershock.

Überprüfung, wo die Lernenden diesbezüglich stehen. Damit sollten nicht jene disqualifiziert werden, für die der Ressourcenaufbau schwierig ist, sondern gerade ihnen soll dadurch garantiert werden, dass sie während ihrer Schulzeit ein Grundmass an Ressourcen aufbauen können. Dies erfordert, um es nochmals zu unterstreichen, dass in die Ressourcenförderung Wissen einbezogen wird, wer, weshalb und in welchem Ausmass von Risiken betroffen ist. Je nachdem, wie sich die Sachlage hierzu zeigt, müssen andere Merkmale gefördert oder muss die Förderung institutionell anders, sprich umfassender, abgestützt werden. Und trotz alledem bleibt es eine Realität, dass Menschen weiterhin ungünstige Entscheidungen treffen oder in Situationen falsch handeln können. Die Förderung von Resilienzressourcen bedeutet nämlich weder Immunisierung noch Antifragilität, sondern unterstützt Adaptivität als Antwort auf menschliche Verletzlichkeit. Damit kann ein Leben unterstützt werden, in welchem unterschiedlichste Risiken auftauchen und balanciert werden müssen. Ein Leben, in welchem auch Herausforderungen gesucht oder Schicksalsschläge erfahren werden. Risikospezifischer und sozial angemessener Ressourcenaufbau ist eine stabilisierende Basis dafür, dass Menschen ein solches Leben gut leben können.

ALBERT DÜGGELI ist Professor für Pädagogische Psychologie an der Pädagogischen Hochschule FHNW.

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SPIEL- UND LESETIPPS

TRÜGERISCHE SCHATZSUCHE Mark Weisshaupt, Lernwerkstatt SPIEL

Ein dem Anschein nach zunächst wenig «pädagogisches», aber grossartiges Spiel mit emotionalem Spannungsbogen ist «Tempel des Schreckens». An sich nur ein kleines Spiel mit einem harmlosen Satz Karten: verteilte Schätze, Fallen und Rollen. Es spielt sich

gemeinsames Verlieren und Siegen in immer neuen Durchgängen und immer überraschenden Teams spielerisch zu durchleben und emotional zu verdauen.

SCHNELLE HELDEN HAATSCHI! – UND DAS MONSTER IST ABGELENKT

Ein App-Kleinod für iOSGeräte: Bei «Gesundheit!» geht es nicht wirklich um Gesundheit. Man steuert eine kleine Figur durch Antippen des Ziels durch verschiedene Levels, um Sterne aufzusammeln und den Ausgang zu erreichen. Die Monster, die ebenfalls dort herumlaufen oder schlafen, müssen abgelenkt werden, damit sie den süssen Helden nicht

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Gesundheit! Revolutionary Concepts, 2013

Tempel des Schreckens, Yusuke Sato, Schmidt Spiele, 2016

Mark Weisshaupt, Lernwerkstatt SPIEL

jedoch in den nur 10–15 min pro Durchgang ein Drama ab: Von den 3 bis 10 spielenden Abenteurern (ca. 9–100 Jahre) sind eine/-r oder mehrere verdeckt in Wirklichkeit Tempelwächter, die die Abenteurer in die Fallen zu locken versuchen. Natürlich geben auch diese Wächter vor, schatzsuchende Abenteurer zu sein. Das eigentliche Spiel besteht im Täuschen bzw. Enttarnen, im verdeckten Kommunizieren mit den eigenen, teilweise unbekannten Verbündeten, ja, es besteht in den schauspielerischen Leistungen beim Beugen der Wahrheit über die eigenen Karten, beim Dramatisieren und Durchhalten der eigenen Rolle («Glaub mir!»). Bei diesem Spiel kann man intensive Gespräche und dramatisch-detektivische Auseinandersetzungen lustvoll durchlaufen: Dabei lernt man, Verrat und Vertrauen, Show und Strategie,

man die eigene Figur eiligst ausser Nähe, Hörweite bzw. Sichtlinie (je nach Monster). Spannend, kognitiv anregend und gemeinsam sehr lustig.

auffressen. Das Spiel ist von einer besonderen grafischen Ästhetik und Geräuschkulisse geprägt, cartoonartig, pastellfarben, ein wenig gruselig und ein wenig kindlich zugleich und lädt Jung (ab ca. 8 Jahren) und Alt ein, gemeinsam zu rätseln, mit welcher Strategie man den nächsten Bildschirm schafft, was beide herausfordert. Meistens muss der kleine Held, strategische Punkte anzielend, geschickt ablenkende Pakete verschiessen (Haatschi – Gesundheit …), wobei die Steuerung hier ähnlich wie bei «Angry Birds» funktioniert (die Kraft des Schusses «ziehen» und zugleich zielen). Während die Monster dann mit der Beseitigung der Pakete beschäftigt sind, bringt

Maria Riss, Zentrum Lesen

Ghost ist der Spitzname eines etwa 12-jährigen Jungen. Er lebt zusammen mit seiner Mutter in einer dieser Siedlungen, wo niemand gern zu Hause ist. Geld ist absolute Mangelware. Etwas kann Ghost ganz besonders gut: davonrennen. Dies seit damals, als sein Vater ihn und seine Mutter mit der Pistole bedrohte. Durch Zufall kann Ghost am Training des besten Laufteams der Stadt teilnehmen und lernt dort den Trainer Brody kennen. Brody nimmt Anteil am Leben seiner so unterschiedlichen Teammitglieder, er setzt sich für sie ein und verlangt im Gegenzug absoluten Respekt. Bald stellt sich

heraus, dass Ghost nicht der einzige in dieser Truppe ist, der schlimme Erfahrungen mit sich herumträgt. Ganz langsam entwickelt sich aus


SPIEL UND LESETIPPS

diesem wilden Haufen ein Team, das sich gegenseitig vertraut, das zusammenhält, egal, was passiert. Nur so werden sie am grossen Wettrennen eine Chance haben. Trainer Brody gibt Ghost genau das, was er braucht: Er glaubt an Ghost, dass er es schaffen kann, und nimmt ihn ernst. «Ghost» ist der erste von vier Bänden. In jedem Band kommt ein anderes Mitglied des Laufteams zum Wort. Für Jugendliche ab etwa 13 Jahren. Jason Reynolds: Ghost. Jede Menge Leben. Aus dem Englischen von Anja HansenSchmidt. dtv, 2018

ZUSAMMEN UM(HER)ZIEHEN Maria Riss, Zentrum Lesen

«Unser Haus ist zu klein geworden», meint die Mutter, «wir ziehen um.» Häuser können nicht schrumpfen, denkt sich Hendrik, und umziehen, ans andere Ende der Stadt, das will er auf keinen Fall. Als sich die Umzugskartons zu stapeln beginnen, da packt er heimlich einen Koffer.

dieser Enge. Also ziehen die beiden gemeinsam los und schlagen sich durch. Als sie in einer Kirche einen Schlafplatz suchen, treffen sie auf Pia, ein kurdisches Mädchen, das mit ihrer Familie auf der Flucht ist. Pia ist es schon lange leid, mit all den fremden Leuten in der Kirche zu hausen. Darum schliesst sie sich den beiden kurzerhand an. Berkan spricht ja türkisch und kann sich deshalb mit Pia unterhalten. Jetzt sind sie also zu dritt, drei Kinder auf der Suche nach einem Schlafplatz in dieser riesengrossen Stadt, in deren Strassen sie sich bald hoffnungslos verlaufen haben … Diese Geschichte über Heimat und Freundschaft ist in einfacher Sprache aus der Kinderperspektive geschrieben. Die Illustrationen geben die verschiedenen Stimmungen der Geschichte eindrücklich wieder. Hendriks Geschichte eignet sich hervorragend zum Vorlesen für Kinder ab etwa 8 Jahren. Marian De Smet: Hendrik zieht nicht um. Mit Illustrationen von Mattias De Leeuw. Gerstenberg, 2019

Weitere Rezensionen zu Kinder- und Jugendbüchern finden sich auf dem Blog des Zentrums Lesen: blogs.fhnw.ch/zl/

IMPRESSUM «das HEFT» – das Magazin der Pädagogischen Hochschule FHNW – erscheint zweimal jährlich, 1. Jahrgang, Nr. 2, September 2019, www.fhnw.ch/ph Herausgeberin: Pädagogische Hochschule FHNW Verantwortlicher Redaktor: Michael Hunziker Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe: Sabina Larcher, Diana Sahrai, Jürg Zurmühle, Anna Miller, Seraina Kobler, Karin Frey, Markus Neuenschwander, Virginia Nolan, Albert Düggeli, Mark Weisshaupt, Maria Riss, Patti Basler Bildessay: Camille Scheidegger Fotografinnen und Fotografen dieser Ausgabe: Barbara Keller, Eleni Kougionis, André Albrecht, Valeriano di Domenico (Porträt Patti Basler) Gestaltung: HinderSchlatterFeuz, Zürich Druck: Sprüngli Druck AG, Villmergen AG Inserate: print-ad kretz gmbh, Austrasse 2, 8646 Wagen, Tel. 044 924 20 70, Fax 044 924 20 79, E-Mail: info@kretzgmbh.ch Abonnement: «das HEFT» kann kostenlos abonniert werden: dasheft.ph@fhnw.ch Postadresse: Pädagogische Hochschule FHNW, Kommunikation, Bahnhofstrasse 6, 5201 Windisch, 056 202 72 60 Auflage: 6000 Exemplare Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck von Artikeln nur mit Genehmigung der Redaktion. ISSN 2624-8824 (Print)

Er will bei Berkan einziehen, seinem allerbesten Freund. Bei Berkan allerdings herrscht absolute Platznot. Auch er will eigentlich weg aus

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KOLUMNE

«Richi! E ha gseit, söusch di hebä!»

Bauerntochter Patti Basler schreibt über die Kirschenernte und den richtigen Zeitpunkt, loszulassen ... Von Patti Basler

Der kleine Richi ist soeben vom Bagger gefallen. Ernsthaft verletzt hat er sich dabei nicht. Sein Vater, der in einem Zürcher Club problemlos als lumbersexueller, Baumwurzelmöbel entwerfender Innenarchitekt durchgehen würde, hat das Risiko gut kalkuliert (proximale Lernzone, konstatiert die Pädagogin). In der neuen kanadischen Heimat sieht es ohnehin niemand, wenn der ungehobelte Förster seinen Sohn nicht mit Samthandschuhen anfasst. Ausser es ist zufällig eine Filmequipe vom Schweizer Fernsehen dabei. Die ganze Internetwelt kennt nun Klein-Richi, der sich nicht genügend festgehalten hat. Und Klein-Richi kennt nun etwas von der Welt: Dass die Graviatation ihn nach unten zieht, wenn er sich nicht festhält. Dass der Vater recht hatte mit seiner Warnung. Dass er ihn aber nicht wirklich gefährdet hat. Dass man wieder aufstehen kann, wenn man fällt.

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Und dass ein Mensch nicht fliegen kann. Obwohl schon Goethe wusste: Kinder brauchen Wurzeln und Flügel. Flügel hätte ich mir damals auch gewünscht, als ich auf dem Kirschbaum festsass. Ich war auf den höchsten Ast geklettert. Zwar mochten wir Bauerntöchter die Kirschenernte nicht. Die anderen Kinder wurden mit dem Offroader zur Badeanstalt gefahren, wir pedalten offroad zur Obstanlage. Die anderen Kinder schleckten Sauerzungen, wir pflückten Sauerkirschen. Die anderen frohlockten im Becken mit viel Chlor, wir hockten in den Baumkronen mit Chlorophyll. Die anderen übten den Salto vom Sprungbrett und ich steckte auf dem obersten Ast fest, wie eine Katze, welche auf die vom Helikopter-Herrchen bestellte Feuerwehr wartet. Doch mein Vater rief weder die Feuerwehr noch holte er eine Leiter. Du musst dich nur gut festhalten, rief er mir zu, du bist schliesslich raufgekommen, dann kommst du auch wieder runter. Damit drehte er sich um und liess mich im Geäst hängen. Ich überlegte mir, ob ich etwas weinen sollte oder die exquisite Aussicht geniessen. Denn dafür stand der Baum günstig. Der Boden war zwar trocken und steinig, das Gelände steil. Nur dank der Pflege meiner Grosseltern und Eltern hatte der Baum tiefe, starke Wurzeln schlagen können, um dann seine Äste in den Himmel zu recken. Ich kam wieder runter. Aus eigener Kraft. Und mit etwas Gravitation. Stolz war ich. Gestärkt in meinem Selbstvertrauen. Ich sollte später noch vieles erreichen, Rückschläge aushalten, nach dem Fallen wieder aufstehen, selbstständig die Welt bereisen, als ich flügge wurde. Denn auch wenn sie nicht jeden Stein für mich wegräumten: Der Liebe meiner Eltern konnte ich gewiss sein. Kinder brauchen ein gutes Netz, auf das sie sich verlassen können. Ein familiäres Umfeld, das ihnen schon von klein auf Bindung und Bildung mit auf den Weg gibt. Onroad oder offroad. Es braucht Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit, Wurzeln und Flügel. Bei manchen reicht das Budget nicht ganz für Flügel. Dann tut’s zur Not auch ein Klavier. Oder ein Kirschbaum. Denn auch ohne Bagger müssen die Richis dieser Welt und ihre Eltern lernen, wann man sich festhalten muss. Und wann es Zeit ist, loszulassen.

PATTI BASLER ist Slampoetin, Moderatorin, Kabarettistin, Lehrerin und Erziehungswissenschafterin. Mit ihren Bühnenprogrammen «Frontalunterricht» und «Nachsitzen» hält sie sich strikt an den Lehrplan 21. Zudem ist sie Trägerin des Kabarettpreises Salzburger Stier 2019.


Bild #06 Alltag adieu


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WORLD NATURE FORUM EXPEDITION 2 GRAD wnf.ch

UNTERWEGS IM COOLSTEN KLASSENZIMMER DER SCHWEIZ Die interaktive Ausstellung im WNF bietet etwas für jede Altersstufe und ermöglicht Schülern einen umfangreichen Einblick in den Alpenraum und ins UNESCO-Welterbe Jungfrau-Aletsch. Aktuelles Thema ist auch der Klimawandel. Die Experten warnen schon lange: Bis Ende Jahrhundert werden die Gletscher der Schweiz praktisch verschwunden sein. Die Erwärmung ist nicht mehr zu stoppen, soll aber mit dem Übereinkommen von Paris auf deutlich unter 2 Grad begrenzt werden. Doch was bedeuten diese 2 Grad konkret? Was heisst das für Natur und Landschaft, und was bedeutet das für uns Menschen?

Bildung für Nachhaltige Entwicklung konkret: • Interaktive Ausstellung zum Alpenraum • Das Welterbe auf Exkursionen entdecken und erleben • Klimawandel in Virtual Reality: Expedition 2 Grad • Schulangebote für Klassen • Weiterbildungskurse Weitere Informationen finden Sie unter jungfraualetsch.ch/schulewnf jungfraualetsch.ch/2grad


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