Das Heft – PH-Magazin Nr. 1 / 2019: Mehrsprachigkeit macht Schule

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HEFT PH-Magazin Nr. 1 2019

Mehrsprachigkeit macht Schule Personen, Projekte, Perspektiven

Im Zeitalter digitaler Ăœbersetzungshilfen: Sinn und Zweck des Sprachenlernens. 8 Besuch im Fremdsprachenunterricht: Wie Mehrsprachigkeitsdidaktik funktioniert. 26


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EDITORIAL

DAS HEFT Mehrsprachigkeit macht Schule Liebe Leserin, lieber Leser Das Thema «Mehrsprachigkeit» hält und bringt die Schule seit Langem in Bewegung. Der Blick darauf hat sich zwar über die Jahre verändert, die Debatten jedoch bleiben kontrovers. Eine Spannung, die Lehrerinnen und Lehrer und pädagogische Fachpersonen immer wieder als Herausforderung, als Bedrängnis, aber auch als Aufforderung zu pädagogischer Kreativität und didaktischer Innovation in ihrem Schulalltag empfinden. Mehrsprachigkeit in der Schule zu thematisieren, zu berücksichtigen und pädagogisch weiterzuentwickeln, ist deshalb für die Schule wie auch für die Pädagogische Hochschule nach wie vor ein hoher Anspruch und gleichzeitig «work in progress». In diesem Spannungsfeld sind die Beiträge dieses «Heftes» angesiedelt und zu verstehen. Wir porträtieren das Projekt «Melifa», das zeigt, wie Lehrpersonen mit den verschiedenen Herkunftssprachen ihrer Schülerinnen und Schüler im Alltag umgehen – denn wie wir aus zahlreichen Unterrichts- und Schulprojekten verlässlich wissen, ist eine gut entwickelte Erstsprache entscheidend für den Lernerfolg und die schulische Laufbahn. Das Wissen darum und die Umsetzung im Unterricht machen hier einen wesentlichen Unterschied für die Schülerinnen und Schüler. Das legt auch das Interview mit Sprachexperte Giuseppe Manno nahe, der darüber spricht, wie Sprachen unsere Wahrnehmung prägen. Ein weiterer Beitrag widmet sich der Mehrsprachigkeitsdidaktik, die aktuell in der Deutschschweiz

im Zentrum vieler Diskussionen steht: Auch wenn Mehrsprachigkeit zum schulischen Alltag gehört, geben Fragen der Vermittlung jedoch nach wie vor Anlass zu Kontroversen. Wir meinen: Diese Fragen sind nicht nur für die schulische Praxis wichtig, sondern auch für die Aus- und Weiterbildung an der Pädagogischen Hochschule. Gemeinsam zeigen wir, wie die Sprachen – für viele Kinder neben Deutsch die zweite oder dritte Fremdsprache – altersgemäss und spielerisch gelehrt und gelernt werden können: Sprache(n) als Grundlage der Bildung und Wertschätzung der Kinder und Jugendlichen. Liebe Leserin, lieber Leser – Sie halten die erste Ausgabe des Magazins «das Heft» der Pädagogischen Hochschule FHNW in der Hand. Wir möchten Ihnen, die Sie sich im vierkantonalen Bildungsraum Nordwestschweiz für Fragen zu Schule, Unterricht und Aus- und Weiterbildung interessieren und engagieren, damit zweimal jährlich interessante Zugänge zu aktuellen Diskussionen rund um die Themen Lernen, Lehren und Aufwachsen bieten. Wir freuen uns, wenn Sie «das Heft» weiterempfehlen und es kostenlos abonnieren (unter www.dasheft.ch). Und nun wünschen wir Ihnen eine spannende Lektüre! Sabina Larcher Direktorin Pädagogische Hochschule FHNW PS: Das Titelbild wurde von Jonas Studer geschaffen. Er hat zum Thema «Mehrsprachigkeit» einen Bildessay erstellt unter dem Motto: «Just when I found the meaning of life, they changed it.»

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INHALT

Mehrsprachigkeit macht Schule

3 Editorial von Sabina Larcher 6 Nachgefragt Was sagen Sie zur Mehrsprachigkeitsdebatte?

FOKUS 8

«Maschinen können vielleicht übersetzen, aber nur die halbe Wahrheit» – Interview mit Giuseppe Manno von Michael Hunziker

STANDPUNKTE 13

Auf dem Weg zur Einigung zwischen Sprachenpolitik und Mehrsprachigkeitsdidaktik? von Mirjam Egli Cuenat

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«Ein Bild sagt mehr als tausend Worte» von Nicole Berner

DOSSIER

Die Erstsprache als Chance nutzen. Wenn in einer Klasse mehr als zehn Sprachen gesprochen werden, ist das für die Lehrperson eine grosse Herausforderung – aber auch eine Ressource. Ein Besuch im Schulhaus Thierstein BS zeigt, wie die Erstsprachen der Kinder integriert und als Erfahrungsschatz für weiteres Lernen genutzt werden können. SEITE 18

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Chance statt Hindernis: Die Erstsprache als Ressource

von Virginia Nolan

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«Heute streichen wir an, was ­r ichtig ist»

von Anna Miller

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Bildessay: «Just when I found the meaning of life, they changed it» von Jonas Studer

AUS DER PH 38

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«Integration? Das ist eine Frage der Haltung» Porträt von Angela Meier von Michael Hunziker Deutsch@PH: Ein Programm von Studierenden für Migrantinnen und Migranten von Irène Dietschi Einladung zum Schattentheater im hängenden Garten von Irène Dietschi

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Kommentar: Verstehensprobleme in der multilingualen Gegenwart von Marko Demantowsky

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Spiel- und Lesetipps

48 Kolumne von Patti Basler

Warum neue Sprachen lernen, wenn das Internet so gut übersetzen kann? Ein Interview mit Linguist und Romanist Giuseppe Manno über die Grenzen maschineller Übersetzungen und darüber, auf welche Weise uns das Lernen einer neuen Sprache bereichert. SEITE 8

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INHALT

Mehrsprachigkeitsdidaktik: Das Fremdsprachenlernen hat sich gewandelt. Heute lernen Kinder bereits auf der Primarstufe eine Fremdsprache. Die Mehrsprachigkeitsdidaktik versucht, spielerisches Sprachenlernen stärker zu gewichten und das Erlebnis in den Vordergrund zu rücken. Ein Besuch in Solothurn zeigt, wie ein solcher Ansatz in der Praxis funktioniert. SEITE 26

Translanguaging: Masterarbeit zu einem noch wenig bekannten Ansatz – Angela Meier erhob die sprachlichen Kenntnisse von Lehrpersonen und Schülern/-innen. Bei den vielen verschiedenen Sprachen, die in den Klassenzimmern gesprochen werden, könnte der Translanguaging-Ansatz zur Integration beitragen. Im Porträt erklärt Meier, worum es dabei geht. SEITE 38 Eine Nacht im Zeichen der Kunst. An der Pädagogischen Hochschule FHNW in Solothurn sind über 600 Menschen für einen Abend zusammengekommen, um gemeinsam kleine und grosse Kunstwerke zu erschaffen und das Gestalten als eine spezielle Ausdrucksform zu erfahren. SEITE 42

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NACHGEFRAGT

«Was sagen Sie zur Mehr­­spra­chigkeits­debatte?» Nachgefragt bei Persönlichkeiten aus den Bereichen Bildung, Wirtschaft und Integration aus der Nordwestschweiz

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«Damit neue Erkenntnisse der Sprachdidaktik den Weg in die Schulen finden können, braucht es neben entsprechenden Lehrmitteln auch attraktive Weiterbildungsangebote, die den Lehrpersonen zu guten Bedingungen zur Verfügung gestellt werden können.» ELISABETH ABBASSI, Präsidentin des Aargauischen Lehrerinnen- und Lehrerverbands, zu den Bedingungen guten Sprachunterrichts.

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«Vielfalt ist immer besser als Einfalt. Das gilt auch für die Familiensprachen unserer Schulkinder. Kinder mit Migrationshintergrund müssen natürlich Deutsch lernen – aber nicht auf Kosten ihrer Muttersprache.» DIETER BAUR, Leiter Volksschulen, Erziehungsdepartement Basel-Stadt, zur Frage nach dem Verhältnis von Schulsprache und Herkunftssprache.

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NACHGEFRAGT

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«Mit dem ‹Forum Sprache› bieten wir eine Plattform, auf der Beispiele guter Praxis ausgetauscht werden können – damit lokale, innovative Projekte über institutionelle und politische Grenzen hinweg Aufmerksamkeit erhalten. Indirekt stärken wir so auch die Motivation der Schüler und Schülerinnen sowie der Lehrpersonen.»

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«Sobald ein Lehrbetrieb international ausgerichtet ist, sind sehr gute Englischkenntnisse unabdingbar. Aber auch Französisch ist eine wichtige Ressource. Die schweizerischen Schulen sind mit der Orientierung am traditionellen Sprachenkanon gut aufgestellt.»

RETO FURTER, Leiter Koordinationsbereich Obligatorische Schule, Kultur und Sport bei der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), auf die Frage, was die EDK punkto Mehrsprachigkeit bietet.

URS BERGER, Leiter Berufsbildung Wirtschaftskammer Baselland, zur Frage, was der Lehrstellenmarkt von den Jugendlichen an Sprachkenntnissen fordert.

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«Farsi, Tigrinya, Englisch und Albanisch: Sprachen sind eine Form von Kapital. Sie lassen Menschen in Varianten denken. Mit dem Fokus auf umfassende Mehrsprachigkeit steigt die Chancengleichheit. Auch in dieser Frage gilt: Act local – think global!» Leila Hunziker, Geschäftsführerin Integration Aargau und Delegierte des Städteverbands im Kongress der Gemeinden und Regionen im Europarat, zur Frage, welche Bedeutung die Herkunftssprachen in der Schule erhalten sollen.

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«Die Sprache ist die Brücke zur beruflichen und zur gesellschaftlichen Integration. Durch sie erlangt man Selbstständigkeit und Unabhängigkeit im Leben. Wir arbeiten mit unseren Schülerinnen und Schülern daran, dass aus Hürden Brücken werden.» JÜRG MOLLET, Bereichsleiter Integrationsjahr der Gewerblich-Industriellen Berufsfachschule Solothurn, zum Stellenwert der Sprache in der Berufsvorbereitung neu eingereister Jugendlicher.

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FOKUS

«Kommt die Botschaft an, ist das Gold wert»: Giuseppe Manno über die neuen Ansätze der Fremdsprachendidaktik.

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FOKUS

«Maschinen können vielleicht übersetzen, aber nur die halbe Wahrheit»

Programme übersetzen uns in Sekunden komplexe Texte, in Zukunft dolmetschen unsere Handys simultan. Eine Frage drängt sich auf: Warum dann noch Fremdsprachen lernen? Ein Interview mit Sprachexperte Giuseppe Manno. Von Michael Hunziker (Text), Eleni Kougionis (Foto)

Elektronische Übersetzungshilfen sind heute so weit entwickelt, dass sie die Fremdsprachenkenntnisse von den meisten Menschen bei Weitem überschreiten. Warum sollen wir uns noch die Mühe machen, Vokabeln einer anderen Sprache zu pauken? GIUSEPPE MANNO: Beim Sprachenlernen geht es ja nicht nur um die Fähigkeit, Wörter übersetzen zu können. Eine Fremdsprache in realen Situationen sinnvoll anwenden, ist ein komplexer kommunikativer Akt, der sprachinterne wie lexikalische und syntaktische sowie sprachexterne wie kontextuelle, psychosoziale und kulturelle Aspekte voraussetzt. All dies ist machbar für Menschen, aber schwierig für Maschinen. Indem man andere Sprachen erwirbt und einsetzt, nimmt man eine andere Perspektive ein. Man lernt unterschiedliche Denkweisen kennen, hat lebendigen Einblick in ein anderes Weltverständnis. Maschinen können vielleicht übersetzen, es ist aber nur die halbe Wahrheit.

und unsere Realität mitgestalten. Die Sprache ist mit der Gesellschaft, die sie spricht, und ihrer Geschichte verbunden. Eine Übersetzung hilft vielleicht oberflächlich, an die Tiefe der menschlichen Kommunikation mit ihren sozialen und historischen Dimensionen kommt sie aber nicht heran. Das sage ich heute. Vielleicht gibt es irgendwann Maschinen, die das können. Das ist aber Zukunftsmusik. Die Frage stellt sich dann aber, ob wir eine solche Intelligenz überhaupt wollen können. Humanisten wie ich sind natürlich skeptisch gegenüber solchen Szenarien eingestellt. Was gewinnt jemand, der sich auf eine neue Sprache einlässt? Sprachenlernen führt einfach gesagt zu einer Horizonterweiterung. Man merkt dabei immer wieder, egal, in welchem Alter, dass man nicht im Zentrum der Welt steht und die eigene Sprache nicht naturgegeben ist. Eine bisweilen überraschende bis schmerzhafte, pädagogisch gesehen aber eine sehr wertvolle Erfahrung (lacht). Neben der kognitiven Aktivierung werde ich beim Sprachenlernen auch emotional angesprochen und motiviert. Alles in allem ist Sprachenlernen also nicht nur ein nützliches Mittel zum Zweck der Verständigung, sondern in sich eine wunderbare Bildungsangelegenheit.

Warum? Es gibt doch beinahe für jedes Wort ein Äquivalent in einer anderen Sprache.

Fremdsprachen in der Schule lösen aber selten Euphorie aus. Wie erklären Sie sich diese Fremdsprachenmüdigkeit?

Eben nicht. Die Polysemie der Wörter zeigt, dass die Sprachen die Bedeutungen und die Welt unterschiedlich aufteilen. Das italienische Wort scala etwa entspricht je nach Kontext den deutschen Wörtern Treppe, Leiter, Skala, Massstab. Sprachen passen sich an die Lebenswelt an. Bei den Inuits gibt es beispielsweise über 40 Begriffe für Schnee, während bei uns bloss einer und ein paar Komposita-Begriffe dafür existieren. Das zeigt, dass sich Sprache und Kognition gegenseitig beeinflussen

Das beobachte ich hauptsächlich bei Französisch. Die Sprache hat einen schweren Stand in der Deutschschweiz gegenüber dem Englischen. Ich stelle fest, dass die Sprachregionen auseinanderdriften. Institutionell gesehen möchte man zwar an den vier Landessprachen festhalten und das gegenseitige Verständnis fördern, auf der individuellen Ebene eher nicht – da ist leider wenig Feuer für diese Sprachen. Gleichzeitig zeigen die Volksabstimmungen in der Deutschschweiz, dass

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FOKUS

«Bei den Inuits gibt es beispielsweise über 40 Begriffe für Schnee, während bei uns bloss einer und ein paar KompositaBegriffe dafür existieren.» Giuseppe Manno

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FOKUS

die Mehrheit die Landessprachen doch unterstützt. Der Verdruss hängt vielleicht mit der Art und Weise zusammen, wie früher Sprachen unterrichtet wurden. Hier muss unsere Didaktik einen positiven Beitrag leisten, was wir auch mit der neuen Konzeption von Fremdsprachenunterricht und Lehrerpersonenbildung versuchen: Der Unterricht sollte mit Erfolgserlebnissen verbunden werden, die den Lernenden aufzeigen, wie sie ihre Fremdsprachenkenntnisse sinnvoll einsetzen können. Wenn wir es nicht schaffen, solche Erlebnisse zu ermöglichen, dann haben wir einen schweren Stand. Und wie können solche Erfolge erzielt werden? Wir wollen mit authentischem Material arbeiten, um wirkliche Berührungen mit der Sprache zu schaffen. Diesen Ansatz verfolgen ja auch «Mille feuilles» und «Clin d’œil», die neuen Französischlehrmittel, die das Passepartout-Projekt hervorgebracht hat. Um die Sprache zu lehren, setzen wir heute auf einen Methodenmix. Wir lösen uns mehr von der Form und legen den Fokus mehr auf die Funktion, also auf die Entwicklung der kommunikativen Kompetenz sowie auf die Handlungsorientierung. Das heisst aber nicht, dass die Grammatik verschwindet, sie ist einfach kein Selbstzweck mehr: Sie steht im Dienst der Kommunikation. Damit einhergehen auch eine gewisse Fehlertoleranz und der Abbau von Hemmungen beim Sprechen. Welche Auswirkungen hat dieser Ansatz auf die Didaktik? Wir gehen vom kommunikativen Bedürfnis in der Fremdsprache aus, wie etwas in einem Blog oder eine E-Mail zu schreiben, über das Essen zu reden, jemanden nach dem Weg zum Arzt zu fragen oder seine Meinung zu vertreten. Davon ausgehend fragen wir uns, welche sprachlichen Mittel dafür erforderlich sind – ein Zugang im Dienste der kommunikativen Handlungsfähigkeit. Früher hat man hauptsächlich formale Fehler korrigiert. Heute wird grosser Wert darauf gelegt, ob die Intention der Sprechenden klar ist, ob der Inhalt angemessen ist; denn kommt die Botschaft an, ist das Gold wert. Wie beurteilen Sie denn die technischen Hilfsmittel, wie Online-Kurse und digitale Tests? Die Entwicklung neuer Angebote ist in der Tat rasant. Unsere Studierenden sind da mehr auf dem Laufenden als ich. Ihre Hinweise bringen mich immer wieder zum Staunen. Oft unterstützen solche Angebote die Autonomieförderung und die Binnendifferenzierung. Sie helfen den Lehrpersonen, den Lernprozess in Gang zu setzen. Das Ziel ist ja, dass sich bei den Schülerinnen und Schülern ein metakognitives Bewusstsein und eine

Methodenkompetenz entwickelt. Die Schülerinnen und Schüler wissen dann über den eigenen Stand Bescheid und sind motiviert, dranzubleiben. Zurück zur Zukunftsmusik: Wie beurteilen Sie als Linguist das Potenzial der künstlichen Intelligenz in Bezug auf Sprache? Computerlinguistik hat bestimmt eine grosse Zukunft. Die Sprache ist formalisierbar, das haben uns die Arbeiten von Noam Chomsky und anderen schon ab 1957 aufgezeigt. Heute überrascht es uns nicht, wenn künstliche Intelligenz mit uns spricht und interagiert. Daraus würde ich aber nicht folgern, dass der Code von Sprache geknackt ist. Die Maschinen folgen einem probabilistischen Ansatz. Deep Learning arbeitet mit Wahrscheinlichkeiten, die von Algorithmen berechnet werden, wenn es um die Beziehungen von sprachlichen Aussagen geht. Es gibt nach wie vor kein definitives linguistisches Modell, das uns sagt, was Sprache ist und wie sie funktioniert, denn variable kontext- und sprechsituationsabhängige Bedeutungen von Wörtern und Sätzen können schwer mathematisch adäquat modelliert werden. Das Geheimnis ist nicht gelüftet. Registerunterschiede, Ironie, Anspielungen usw. bleiben Maschinen vorerst verschlossen. Und sollte dies trotzdem in einer fernen Zukunft eintreten, dann frage ich mich, ob autonome Menschen sich damit begnügen können, dass die Kommunikation an ihren Köpfen vorbeiläuft. Hand aufs Herz, benutzen Sie nie digitale Übersetzungsprogramme? Nein, mein Motto ist, selbst ist der Mann(o)! Was ich aber zugeben muss, ich kontrolliere manchmal im Internet, wie häufig meine beabsichtigten Formulierungen vorkommen, um meine Texte allenfalls zu optimieren. PROF. DR. GIUSEPPE MANNO leitet die Professur Didaktik der romanischen Sprachen und ihre Disziplinen an der Pädagogischen Hochschule FHNW. Er hat zuvor an den Universitäten Zürich, Neuchâtel, Fribourg und Bern Linguistik gelehrt. Zu seinen aktuellen Forschungsthemen gehören: Mehrsprachigkeit, Soziolinguistik und Sprachpolitik. Kürzlich hat er das vom Schweizerischen Nationalfonds geförderte Forschungsprojekt «schulischer Mehrsprachenerwerb am Übergang zwischen Primarstufe und Sekundarstufe I» abgeschlossen.

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FOKUS

FREMDSPRACHENLERNEN MIT DIGITALER UNTERSTÜTZUNG Ein Interview mit Detmar Meurers über Möglichkeiten und Grenzen der Technologie beim Sprachenlernen. Interview von Michael Hunziker

Worin bestehen die Vorzüge des digitalen Lernens im Bereich des Fremdspracherwerbs? DETMAR MEURERS: Digitales Lernen kann adaptiv und interaktiv sein – das Material und die Aufgaben können sich also an den individuellen Lernstand anpassen und die Lernenden schrittweise durch Feedback unterstützen. Feedback hat einen sehr starken Einfluss auf das Lernen – das haben unter anderem John Hatties Analysen gut dokumentiert. Im Fremdspracherwerb sind dabei auch Rückmeldungen zum Sprachsystem wichtig, denn anders als die Muttersprache können Fremdsprachen nicht implizit, nur durch die Sprachverwendung, erworben werden. Mit formativem Feedback können Lernende Aufgaben bearbeiten, zu deren Lösung sie alleine noch nicht in der Lage wären, und sich dadurch erschliessen, wie man sich in der Fremdsprache ausdrücken kann. In der Schulrealität gibt es aber kaum Zeit für solche individuelle Rückmeldungen durch die Lehrpersonen. An dieser Problemstelle könnten digitale, interaktive Hilfsmittel wie intelligente Tutorsysteme besonders hilfreich sein.

Wo steht die Forschung und Entwicklung bei den digitalen Lehrmitteln für Fremdsprachen? Die Entwicklung von Tutorsystemen für den Fremdspracherwerb ist bislang weniger fortgeschritten als etwa für die Mathematik. Die benötigte Modellierung und die automatische Analyse von Sprache haben sich in der Computerlinguistik in den letzten Jahren aber stark entwickelt und ermöglichen prinzipiell eine Umsetzung von Erkenntnissen aus der Zweitspracherwerbsforschung. In einem Forschungstransferprojekt haben wir beispielsweise einen Prototyp eines Tutorsystems entwickelt, das «FeedBook», das bereits verschiedene Aufgabenformate umfasst und Schülern/-innen in der siebten Klasse individuelle, interaktive Rückmeldungen geben kann und derzeit in 14 Klassen getestet wird. Für die effektive Entwicklung einer digitalen Vision für die Bildung fehlt es bislang aber an einer Forschungslandschaft mit Interesse an der Bildungsrealität und einer nachhaltigen Förderung der Entwicklung und Evaluation von interaktiver, adaptiver Software durch die politischen Entscheidungsträger und Bildungsverlage. Da scheinen viele immer noch zu glauben, dass sich das Potenzial der Digitalisierung für die Bildung durch das Hochladen von Material in die viel gepriesene «Bildungscloud» erschliessen lässt – Interaktivität und Adaptivität stellen sich aber nicht von selber ein.

Wird dabei nicht eine zentrale Aufgabe der Lehrperson an ein Computerprogramm delegiert? Lehrpersonen bleiben absolut zentral – ihre Zeit ist aber sehr begrenzt, sodass man sich fragen muss, worauf sie diese am sinnvollsten verwenden. Für den Fremdspracherwerb ist es wichtig, in der Klasse Gelegenheit zur Kommunikation zu bieten – das können Menschen am besten. Damit das aber funktionieren kann, müssen die Schüler Wörter, Formen und Konstruktionen gelernt und eingeübt haben. Das soll meist durch die Hausaufgaben passieren, wo Schüler/-innen aber höchstens von den Eltern Unterstützung bekommen, was auch mit Blick auf Bildungsgerechtigkeit suboptimal ist. Mit einem Tutorsystem lassen sich die Aufgaben hingegen individuell und interaktiv erarbeiten, sodass die Lehrperson in der Klasse dann auf einer breiteren gemeinsamen Basis sprachlicher Fähigkeiten aufbauen kann. Anhand der Daten im System kann die Lehrperson aber auch typische Probleme der Gruppe oder von Einzelpersonen identifizieren und darauf in der Klasse oder durch spezifische Aufgaben reagieren.

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PROF. DR. DETMAR MEURERS ist Computerlinguist und leitet die ICALL Research Group am Seminar für Sprachwissenschaft der Universität Tübingen. In der LEAD Graduate School and Research Network arbeitet er seit 2012 mit empirischen Bildungsforschern zusammen. Er forscht zu Grundlagenfragen im (Fremd-)Spracherwerb in Verbindung mit der Entwicklung digitaler Anwendungen wie dem «FeedBook» oder den sprachaffinen Suchmaschinen «FLAIR» und «KANSAS». Weitere Infos: icall-research.de


STANDPUNKTE

Auf dem Weg zur Einigung zwischen Sprachenpolitik und Mehrsprachigkeitsdidaktik?

Ob, welche und ab wann Fremdsprachen in der Schweiz obligatorisch gelernt werden, entscheidet die Politik. Welche sprachpolitischen Entschei­ dungen auch immer getroffen werden, die schulische Förderung des frühen Fremdsprachen­ lernens und die Mehrsprachigkeitsdidaktik für alle erscheinen als sinnvolle Möglichkeit der Bewältigung steigender gesellschaftlicher Anforderungen im Zuge der Globalisierung. von Mirjam Egli Cuenat

W

elche Sprachen jemand spricht und lernt, ist bekanntlich nicht nur Privatsache, sondern oft Gegenstand kontroverser politischer Aushandlungsprozesse. In der Schweiz haben die Tradition des Föderalismus sowie gegenseitige wirtschaftliche und politische Interessen dazu geführt, dass gegenläufig zur im Europa des 19. Jahrhunderts dominanten Position «eine Sprache – eine Nation» das Territorialitätsprinzip (eine Sprachregion – eine offizielle Sprache) für relativ stabile Verhältnisse zwischen sprachlichen Mehr- und Minderheiten sorgt, aber auch dafür, dass die lokale Bevölkerung tendenziell einsprachig bleibt. Zur Förderung der Verständigung und des Austausches zwischen den Landesteilen werden auf Bundesebene in neuerer Zeit beträchtliche finanzielle Mittel vorgesehen, so im Zuge des 2007 erlassenen Sprachengesetzes. In diesem ist auch festgeschrieben, dass alle Schülerinnen und Schüler am Ende der obligatorischen Schulzeit über Kenntnisse in zwei Fremdsprachen, darunter eine zweite Landessprache, verfügen müssen. Wie der Sprachenunterricht zu gestalten sei, liegt aber in der Kompetenz der Kantone. Heisse politische Debatten – historischer Kompromiss Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren EDK verfolgt seit den 1970er-Jahren die Strategie des Erwerbs einer zweiten Landessprache für alle Schülerinnen und Schüler. Anfang des 21. Jahrhunderts kam Englisch als Sprache der Wirtschaft und Selbstverständliche Mehrsprachigkeit...

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STANDPUNKTE

der globalen Verständigung als zweite Fremdsprache ab der Sekundarstufe I dazu. Durch die Entscheidung des Kantons Zürich, Englisch im Alleingang auf der Primarstufe einzuführen, geriet das föderale Bildungssystem unter Druck, eine neue, konsensfähige Lösung zu finden. Nach jahrelangem, zähem Ringen einigten sich die Kantone 2004 schliesslich darauf, dass alle Schülerinnen und Schüler während der obligatorischen Schulzeit spätestens ab der dritten Klasse eine erste und ab der fünften Klasse eine zweite Fremdsprache erwerben sollen, davon eine Landesssprache. Die Wahl der Sprachenreihenfolge bleibt den Kantonen überlassen, jedoch sollen am Ende der obligatorischen Schulzeit vergleichbare Kompetenzen in beiden Sprachen vorhanden sein. Studien entkräften «Überforderungsargument» Dieser historische Kompromiss sorgte vor allem in der Deutschschweiz für heisse politische Debatten und zahlreiche kantonale Abstimmungen, die vordergründig meist rund um das Argument kreisten, dass zwei Fremdsprachen ab der Primarschule eine Überforderung für die Schülerinnen und Schüler darstellen. Alle Abstimmungen wurden bislang zugunsten von zwei Fremdsprachen ab der Primarstufe entschieden. Das Überforderungsargument wurde von mehreren Schweizer Evaluationsstudien entkräftet. Es gibt auch Hinweise darauf, dass sich die verlängerte Lernzeit vor allem bei Lernenden, die keine weiterführenden Schulen auf der Sekundarstufe II besuchen, günstig auswirkt, ebenso die Anzahl Sprachlektionen ab der Primarstufe, und dass die vorgängig gelernte erste Fremdsprache, zumindest kurzfristig, den Lernerfolg der zweiten Fremdsprache positiv verstärkt. Bildungspolitischer Entscheid mit weitreichenden Konzequenzen Aus meiner Sicht ist der politisch ausgehandelte Ansatz einer möglichst frühzeitigen gestaffelten Einführung einer Landessprache und von Englisch sinnvoll. Denn sie bedeutet, dass im Sinne einer Demokratisierung alle Lernenden in den Genuss eines strukturierten Umgangs mit schulischer Mehrsprachigkeit kommen. Zunehmend können die Kinder im Rahmen von Austauschaktivitäten auch die Chance authentischer Begegnungen mit gleichaltrigen Sprecherinnen und Sprechern der Fremdsprache nutzen. Wenn auf der Sekundarstufe I leichter Dispense vom Fremdsprachenunterricht gewährt werden und dies häufiger die Landessprache betrifft, bleibt der Französischunterricht auf der Primarstufe für viele Lernende der einzige Kontakt mit der anderen Landessprache. Der Deutschschweizer Entscheid, Französisch auf der Primarstufe beizubehalten, hat auch weitreichende bildungssystemische und gesellschaftliche Konsequenzen. Dadurch, dass Französisch überall bereits

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auf der Primarstufe unterrichtet wird, werden in der Deutschschweiz Hunderte von Primarlehrpersonen für Französisch ausgebildet. Das bedeutet in der Regel, dass sie eine hohe Sprachkompetenz erwerben, den Kontakt mit dem anderen Landesteil pflegen und damit eine Sensibilisierung für dessen Belange herstellen könnten. Welche politischen Prioritäten auch in Zukunft in der Schweiz gesetzt werden, gesellschaftliche Mehrsprachigkeit gehört zur Condition humaine. Individuelle Mehrsprachigkeit, die Fähigkeit, mehrere Sprachen zu erlernen, wird im Zeitalter von Globalisierung und wachsender Mobilität immer selbstverständlicher. Das Paradigma der Mehrsprachigkeitsdidaktik im Sinne eines möglichst frühzeitigen, bewussten, vernetzenden und positiven Umgangs mit individueller Mehrsprachigkeit bedeutet einen entscheidenden Fortschritt und ist somit weiterzuverfolgen.

MIRJAM EGLI CUENAT ist Professorin für Französischdidaktik und Expertin für den Europarat


STANDPUNKTE

Französisch für die Wirtschaft und den nationalen Zusammenhalt – eine historische Betrachtung des Fremdsprachendiskurses Sandra Grizelj und Anja Giudici

Am Beispiel der «Fremdsprache» Französisch kann gezeigt werden, wie sich die Legitimation für den Fremdsprachenunterricht an Schweizer Volksschulen in den letzten 150 Jahren gewandelt hat. Vom 19. bis ins 20. Jahrhundert hinein lernte die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler der deutschsprachigen Kantone keine Fremdsprache und damit auch kein Französisch in der Schule. Damals wurde das Fach fast ausschliesslich in Schultypen mit erweiterten Leistungsansprüchen wie in Sekundar- oder Bezirksschulen unterrichtet. Von einem Fach für wenige hat sich der Französischunterricht im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem Fach für fast alle entwickelt. Ab den 1960er-Jahren begann allmählich die Ausweitung des Französischunterrichts auf alle Schultypen der Sekundarstufe I und ab den 1980er- und 90er-Jahren in der Primarstufe. Im Fremdsprachendiskurs zeigen sich drei wichtige Argumentationslinien, mit denen die (Nicht-)Einführung von Französisch in den verschiedenen Schultypen legitimiert wurde: wirtschaftliche, pädagogische und nationalpolitische Argumente. Wichtig für Handel und Gewerbe Im 19. und bis ins 20. Jahrhundert war Französisch eine der wichtigsten Handels- und Weltsprachen. Für Kantone, die stark von Handel und Gewerbe geprägt waren, waren Französischkenntnisse wichtig. Deshalb setzten sich damals viele Politiker für die Einführung des Faches ein, und zwar vor allem in Schultypen, die auf höhere (technische) Berufe sowie auf Tätigkeiten in Handel und Gewerbe vorbereiteten. Für die anderen, allgemeinbildenden Schultypen der Volksschulen wurde das Argument hingegen negativ angewendet: Für die Abgängerinnen und Abgänger dieser Schultypen seien Französischkenntnisse aus einer wirtschaftlichen Perspektive weniger relevant.

Ab den 1960er-Jahren führten neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu einem pädagogischen Umdenken. Nach Versuchen mit Französischunterricht für «alle Intelligenzgruppen» wurde das Fach deshalb allmählich in allen Schultypen der Sekundarstufe I eingeführt. Der frühere Beginn in der Primarschule wurde auch mit Erkenntnissen aus Entwicklungspsychologie und Linguistik legitimiert, die fortan ein Je-früher-desto-besser für das Fremdsprachenlernen proklamierten. Französisch ist eine Landessprache Im Kontext der Weltkriege gewann das nationalpolitische Argument an Gewicht und Französisch wurde zunehmend als eine der nunmehr vier Landessprachen wahrgenommen. Aufgrund der Angst vor dem Auseinanderbrechen bzw. -leben in der Schweiz wurde im Französischunterricht immer stärker ein Instrument gesehen, das die gegenseitige Verständigung zwischen den Landesteilen fördern und so den nationalen Zusammenhalt stärken könne. Die institutionelle Vielsprachigkeit der Schweiz wurde insbesondere während des Zweiten Weltkriegs zu einem Prinzip, dem auch jeder Schweizer und jede Schweizerin als Individuum entsprechen sollte. Welche Fremdsprache zuerst und ab wann? Seit den 2000er-Jahren werden in den meisten Kantonen zwei Fremdsprachen mit Beginn in der Primarschule unterrichtet, i.d.R. eine Landessprache und Englisch. Das ist bis heute nicht unumstritten. Zwei Fragen sorgen für kontroverse Debatten: Welche Fremdsprache soll zuerst gelernt werden? Soll die zweite Fremdsprache bereits in der Primarschule oder erst auf der Sekundarstufe I unterrichtet werden? Wie die historische Betrachtung des Fremdsprachendiskurses zeigt, gibt es hierfür keine richtigen oder falschen Antworten. Vielmehr ist entscheidend, wie die wirtschaftlichen, nationalpolitischen und pädagogischen Argumente gewichtet werden. Die Erziehungswissenschaftlerinnen Sandra Grizelj und Anja Giudici forschen zum Diskurs über den Fremdsprachenunterricht in den Schweizer Volksschulen.

Pädagogische Bedenken und Zusprüche Gegen die Einführung von Französisch in die allgemeinbildenden Schultypen wurde oft mit pädagogischen Bedenken argumentiert: Wissenschaft und Erfahrung hätten gezeigt, dass nicht alle Kinder fähig seien, eine Fremdsprache zu lernen. Der frühe Beginn in der Primarschule überfordere die Schüler und Schülerinnen.

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STANDPUNKTE

Kritisch mit Bildern umgehen lernen: In gestalterischen Fächern können sich Schülerinnen und Schüler eine «Visual Literacy» aneignen. Foto: Christoph Hasenfratz

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STANDPUNKTE

«Ein Bild sagt mehr als tausend Worte»

Im Gestalten den bildnerischen Ausdruck stärken und Kommunikation fördern. von Nicole Berner

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ilder umgeben uns tagtäglich und wir gehen selbstverständlich mit ihnen um. Ob gedruckt in der Tageszeitung oder in Zeitschriften, digital im Internet und in sozialen Netzwerken oder selbst erstellt mit Smartphone oder Tablet – das Bild stellt neben der Sprache ein zentrales Kommunikationsund Dokumentationsmittel dar. Das «Bild» ist dabei vielfältig zu verstehen. Mit Bezug zum Lehrplan 21 und dem erweiterten Bildbegriff sind mit dem Bild neben flächigen Darstellungen, wie Fotografien, Malereien, Zeichnungen oder Illustrationen, auch bewegte Bilder wie Animationen und Filme sowie dreidimensionale Objekte zu verstehen. Das Bild bietet dabei – anders als die Sprache – über sprachliche Grenzen hinweg die Möglichkeit zur Verständigung, kann aber auch durch eher verborgene Bildbotschaften manipulierend wirken, ohne dass wir dies überhaupt bemerken. Ein Sachverhalt, der uns täglich in der Werbung und in den Medien begegnet. Der kompetente Umgang mit dem Bild ist daher entscheidend, um sich in der heutigen Welt selbstbestimmt und erfolgreich orientieren und verständigen zu können. Bilder als Kommunikationsmittel aneignen Die Entwicklung von Bildkompetenzen – oder «Visual Literacy»– stellt im Schulfach Bildnerisches Gestalten mit Bezug auf den Lehrplan 21 und den Europäischen Referenzrahmen für visual literacy eines der zentralen Lernziele dar. Darunter ist einerseits zu verstehen, dass Bilder vertieft und reflektiert wahrgenommen und gedeutet werden können. Andererseits wird damit auch ein produktiver Bildumgang verstanden, d.h., im Herstellen eigener Bilder können wir individuelle Aussagen und Botschaften formulieren und uns so das Bild als Kommunikationsmittel aneignen. Bildaussagen werden formuliert durch Form- und Farbgebung, Komposition sowie über Darstellungsinhalte und Motive. Bilder werden oft bewusst gestaltet und eingesetzt

und können damit bestimmte Aussagen betonen oder aber auch infrage stellen. Dabei geht es nicht immer um die einzig richtige Aussage eines Bildes, sondern vielmehr um eine kontextbezogene und individuelle Auslegung. In der Kunst beispielsweise sind dabei immer auch Bedingungen, unter denen ein Künstler lebt und arbeitet, verbunden. Hierzu können historische, gesellschaftliche und politische Verhältnisse, aber auch kulturelle Strömungen und Errungenschaften zählen sowie deren individuelle Sichtweisen. Jedes Bild wird von uns aber auch ganz individuell wahrgenommen. Vorstellungen, Erfahrungen und Erinnerungen sowie Bildvorlieben prägen unser Verhältnis zum Bild sowie unser Bildverständnis. Bildkompetenzen fördern Ein Bild beinhaltet also viele unterschiedliche Aspekte, stellt damit eine komprimierte Form dar. Wird dies in der Sprache im gesprochenen Wort oder als Text linear dargestellt, so werden Inhalte im Bild gleichzeitig wiedergegeben. Wir müssen daher die einzelnen Bildinhalte wahrnehmen und aufeinander beziehen, um hieraus deren Deutung erschliessen zu können. Gerade da wir im digitalen Zeitalter einen sehr schnellen und teilweise sorglosen Umgang mit Bildern haben, ist es wichtig, dass wir mit den Schülerinnen und Schülern einen vertieften und bewussten Umgang mit dem Bild als Träger vielfältiger Botschaften üben und ihre Bildkompetenzen entwickeln. In der Bildrezeption, also der intensiven Auseinandersetzung und Deutung von Bildern, werden auch sprachliche Kompetenzen mit gefördert. Gerade das Sprechen über Bilder kann den Schülerinnen und Schülern zu einer vertieften Bildwahrnehmung verhelfen und individuelle Sichtweisen vergegenwärtigen. Eine darüber hinausgehende praktische Auseinandersetzung fördert die eigene Bildsprache und kann zu einem selbstbestimmten und kritischen Umgang mit Bildern beitragen. Im Sinne des Sprichworts «Ein Bild sagt mehr als tausend Worte» ist es für Schülerinnen und Schüler elementar, Bildkompetenzen zu entwickeln, um kompetent in der multimedialen Gegenwart zu kommunizieren, zu verstehen und verstanden zu werden – das Bildnerische Gestalten unterstützt sie dabei.

NICOLE BERNER ist Professorin für Didaktik in Kunst & Design

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DOSSIER

Eltern werden bekräftigt, zu Hause mit den Kindern in der Muttersprache zu sprechen. Deutsch, Englisch und Französisch sollen die Kinder in der Schule lernen, wenn ihre Eltern nicht über genügend Sprachkenntnisse verfügen.

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DOSSIER

Chance statt Hindernis: Die Erstsprache als Ressource

An Schweizer Schulen haben immer mehr Kinder einen Migrationshintergrund. Die daraus resultierende Sprachenvielfalt nehmen Lehrpersonen vor allem als Herausforderung wahr – sie können sie aber auch als Ressource nutzen. Wie das geht, zeigt das an der Pädagogischen Hochschule FHNW entwickelte Projekt Melifa. Von Virginia Nolan (Text), Simon Ziffermayer (Fotos)

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n der Wandtafel hängen farbige Zettel. «Thailändisch», steht darauf geschrieben, «Suaheli» oder «Portugiesisch». Es sind Sprachen, welche die Kinder einer sechsten Klasse im Stadtbasler Schulhaus Thierstein zu Hause sprechen. Elf verschiedene seien es, sagt Lehrerin Nesrin Okumus. Schweizerdeutsch ist bei den 20 Schülerinnen und Schülern lediglich zweimal vertreten. Im Englischunterricht steht ein Quiz an. Jedes Kind umschreibt ein Kleidungsstück, ohne es zu benennen. Etwas Wärmendes, das über dem Pullover getragen wird? «Jackett», notiert ein Mädchen. Dann gibt sie ihrem Banknachbar den Stift: «Schreib auf, was Jacke auf Albanisch heisst.» Gesagt, getan. Jetzt will der Bub von seiner Mitschülerin die tamilische Version hören. Er ist überrascht, dass diese fast gleich tönt wie die englische. Das gilt nicht für die Schrift, wie schnell deutlich wird, als das Mädchen zu Zeichen ansetzt, die wie Ornamente anmuten. Nach der Pause feiert Kevin Geburtstag. Er darf wählen, in welcher Sprache für ihn gesungen wird. Englisch soll es sein. Die Zugaben wünscht sich der Bub auf Albanisch und Türkisch. Mehrsprachigkeit ist in der Klasse von Nesrin Okumus eine soziale Realität, die zu vielen Gelegenheiten Eingang in den Unterricht findet. «Die Muttersprache ist für jedes Kind ein wichtiges Stück Identität, das auch in der Schule seinen Platz haben soll», findet Okumus. «Dafür ist viel Vorarbeit nötig, was respektvollen Umgang miteinander betrifft. Sagt ein Kind etwas in seiner Sprache und die anderen lachen, geht der Schuss nach hinten los.» Geschichten als Anker in der Fremde Dass ihre Herkunftssprache kein Hindernis, sondern eine Ressource ist, will Okumus nicht nur ihren Schülern, sondern auch deren Eltern vermitteln. Gemeinsam mit einer Kollegin betreut die Primarlehrerin an der Schule

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Thierstein das Projekt Melifa (mehrsprachige literale Förderung für die ganze Familie), in dessen Entwicklung sie bereits als Studentin an der Pädagogischen Hochschule FHNW involviert war. Melifa setzt auf Family Literacy, ein Konzept zur Lese- und Schreibförderung, das Kindern und Eltern gemeinsame Erlebnisse rund um Bücher ermöglicht. Unter der Leitung von Katja Schnitzer und Trix Bürki, Dozentinnen für Deutschdidaktik an der FHNW und Expertinnen für Deutsch als Zweitsprache, startete Melifa 2014 als schweizweit erstes Pilotprojekt für Family-Literacy-Anlässe auf der Kindergarten- und Primarstufe. Die Schule Thierstein war während des zweijährigen Versuchs Projektpartner. Eltern besuchten Klassen, um Kindern Geschichten zu erzählen – und zwar in ihrer Muttersprache. «Geschichten sind ein kulturübergreifendes Phänomen, das verbindet», sagt Bürki. Die Muttersprache als Lernressource Warum sollte die Schule Sprachen, die nicht im Lehrplan stehen, Bedeutung schenken? Auf diese Frage hat die Forschung überzeugende Antworten. «Wir wissen, dass ein Kind gut ausgebaute Kenntnisse in seiner Erstsprache auf die Zweitsprache übertragen kann, vor allem im Schriftlichen», sagt Schnitzer. Je besser also ein Kind seine Muttersprache beherrscht, desto einfacher lernt es eine Zweitsprache wie Deutsch. Einen frühen Beleg hierfür lieferte 1976 die von der UNESCO mitfinanzierte Studie von Tove Skutnabb-Kangas und Pertti Toukomaa. Die Wissenschaftler untersuchten während sechs Jahren die schulische Entwicklung von finnischen Migrantenkindern, die nach Schweden übersiedelt waren und dort die Schule besuchten. Die Studie zeigte, dass Kinder, die vor der Auswanderung nach Schweden in ihrem Heimatland während mindestens dreier Jahre die Schule besucht hatten, nicht nur in


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«Muttersprache ist für jedes Kind ein wichtiges Stück Identität, das auch in der Schule seinen Platz haben soll»: Die Lehrerin Nesrin Okumus engagiert sich im Projekt Melifa.

ihrer Muttersprache Finnisch, sondern am Ende auch in Schwedisch bessere Leistungen erzielten als jene, die in Schweden eingeschult worden waren. Später erkannten weitere Forscher wie der Kanadier Jim Cummins, wie stark uns die Erstsprache beim Lernen einer Zweitsprache beeinflusst. Kinder in ihrer literalen Entwicklung zu fördern, gehört seit je zum Hauptauftrag der Volksschule. Gemeinhin versteht man unter Literalität die Lese- und Schreibfähigkeit. Das greife zu kurz, sagt Deutschdidaktikerin Schnitzer: «Literalität bedeutet viel mehr als die Möglichkeit, sich schriftlich mitzuteilen. Es handelt sich um eine kulturelle und soziale Kommunikationspraxis.» Gleich sieht es Helmuth Feilke, Professor für Deutschdidaktik an der Justus-Liebig-Universität Giessen. «Eine literale Gesellschaft erkennt man daran, dass sie ihr Wissen vor allem in Texten niederlegt und es aus Texten bezieht», schreibt er. «Literale Kompetenz umfasst entsprechend die sozialen, emotionalen, kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten, die zur Kommunikation mit Texten benötigt werden. Ihr Erwerb verändert das Verhältnis der Menschen

zur Sprache, zu sich selbst und zur Gesellschaft.» Die Entwicklung dieser Fähigkeiten beginnt gemäss Feilke im frühen Kindesalter: «Im gemeinsamen Konstruieren von Geschichten, beim Betrachten von Bilderbüchern, beim Vorlesen oder auch beim Rollenspiel. Kinder spielen das Lesen und Schreiben, bevor sie lesen und schreiben können.» Mit Familiengeschichten die Leselust wecken «Auf diese Erfahrungen, die wir in unserer Erstsprache machen, bauen wir später auf», sagt Schnitzer. An sie müsse die Schule anknüpfen, damit ein Kind dieses Fundament nutzen könne. «Dazu gehört, bei Kindern mit Migrationsbiografie ihre mehrsprachliche Lebenswelt miteinzubeziehen», sagt Schnitzer. «Jedoch kommt Lese- und Schreibförderung an den meisten Schweizer Schulen einsprachig daher.» Entsprechend benachteiligt seien jene, die zu Hause keine offizielle Landessprache sprächen. «Dabei geht vergessen, dass diese Kinder zwei oder gar mehrere Sprachen sprechen, dass sie dadurch über Sprachlernstrategien und eine hohe Sprachauf-

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merksamkeit verfügen», sagt Schnitzer. «Es stellt sich die Frage nach Programmen, die es ihnen ermöglichen, ihren Erfahrungsschatz für weiteres Lernen zu nutzen.» Eine Möglichkeit, ein Kind in seiner Erstsprache zu fördern, bietet der Unterricht in heimatlicher Sprache und Kultur (HSK). Da die Kurse freiwillig sind und die Freizeit der Kinder beanspruchen, nutzen sie längst nicht alle. An diesem Punkt kommt Melifa ins Spiel. In der Familiensprache erzählte Geschichten seien ein wichtiges Instrument zur schriftsprachlichen Förderung, weiss Schnitzer. Sie würden zwar mündlich vermittelt, verfügten aber meist über einen konzeptuell schriftlichen Charakter. «Das heisst», sagt Schnitzer, «ihre Sprache unterscheidet sich von jener, die wir im direkten Umgang miteinander gebrauchen. Durch die Geborgenheit, die ein Kind beim Vorlesen empfindet, erlebt es Schriftlichkeit zudem als etwas Positives und wird später eher am Lesen interessiert sein.» Die Annahme, dass Eltern mit Migrationshintergrund mit ihren Kindern Deutsch sprechen sollten, ist widerlegt, hält sich aber hartnäckig. «Ich erlebe viele Eltern, die mit ihrem Kind gebrochenes Deutsch sprechen», sagt Karin Vaneck, Schulleiterin im Thierstein. «Von der Überzeugung, dem Nachwuchs damit einen Gefallen zu tun, sind sie fast nicht abzubringen.» Auch deshalb setzt Melifa auf die Eltern und bezieht sie in den Bildungsprozess ihrer Kinder aktiv mit ein – als Experten für ihre Familiensprache. Vernetzung von Hochschule und Praxis Die Grundlage für entsprechende Veranstaltungen bilden Materialkisten, welche Studierende der Pädagogischen Hochschule FHNW entwickelt haben. Darin befinden sich mehrsprachige Bücher für Kindergarten, Unter- und Mittelstufe sowie didaktische Vorschläge für deren Einsatz. In der Pilotphase von Melifa hatten die Studierenden Gelegenheit, das Material zuvor in Spielgruppen, Familien- und Flüchtlingszentren zu

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testen. Es gab Familien-Cafés mit Bücherecke, mehrsprachige Märchenstunden, eine Müttergruppe, die mit den Kindern eine Geschichtensammlung gestaltete, wobei Frauen, die nicht schreiben konnten, sich mit Zeichnungen behalfen. «Es gab oft Unvorhergesehenes», sagt Primarlehrerin Okumus. «Das war herausfordernd, aber lehrreich.» Was auf dem Papier einfach klinge, gestalte sich in der Realität nicht immer so: «Eltern, die nicht lesen können, kannst du nicht einfach auffordern, eine Geschichte zu erzählen. Viele wissen nicht, worauf sie zurückgreifen sollten.» Die grösste Schwierigkeit liege bei Melifa darin, die Eltern ins Boot zu holen, weiss auch Schnitzer: «Jene, die mitmachen, haben meist einen bildungsnahen Hintergrund. Bei den anderen ist es schwierig. Viele wollen sich aus Unsicherheit nicht exponieren.» Wo steht Melifa heute? «Die Materialkisten sind bereit», sagt Bürki, «jetzt geht es darum, sie unter die Lehrpersonen zu bringen.» Zudem habe man sich mit dem Projekt Bibliobus im Welschland vernetzt. Die Bibliothek auf Rädern hat zum Ziel, Familien zentrumsferner Gegenden mit Lesestoff zu versorgen. «Es böte sich an, dies mit mehrsprachigen Leseanimationen zu verbinden», sagt Bürki. Die Erfahrungen aus Melifa nutzen die Studierenden der Pädagogischen Hochschule FHNW auch für weiterführende Projekte wie SAMS (vgl. Box 3). «Wir wollen die Studierenden durch intensive Vernetzung von Hochschulunterricht und Praxis zur aktiven Auseinandersetzung mit der Theorie anregen», sagt Bürki, «und sie in ihrem Bewusstsein stärken, dass sie als künftige Lehrpersonen Schulentwicklungsprozesse mitgestalten können.» Was haben Schweizer Kinder davon? Auch im Schulhaus Thierstein lebt Melifa weiter, «wobei wir darauf achten müssen, dass die guten Vorsätze im Alltag nicht untergehen», wie Schulleiterin Karin Vaneck sagt. Deshalb habe man das Programm in die


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«Kinder, die zwei oder gar mehrere Sprachen sprechen, verfügen über Sprachlernstrategien und eine hohe Sprachaufmerksamkeit. Es stellt sich die Frage nach Programmen, die es ihnen ermöglichen, ihren Erfahrungsschatz für weiteres Lernen zu nutzen.» Katja Schnitzer, Dozentin an der PH FHNW

Jahresplanung integriert, so, dass mindestens einmal pro Jahr ein Family-Literacy-Anlass stattfinde. Das Interesse der Lehrpersonen am Thema sei gross. «Dank Melifa», sagt Vaneck, «haben sie auch geeignete Hilfsmittel zur Hand.» Für die sechste Klasse eigneten sich diese allerdings nur bedingt, sagt Lehrerin Okumus: «Jugendliche sind nicht so empfänglich für klassische Vorlesegeschichten, und viele wollen auch nicht, dass ihre Eltern in die Schule kommen.» An der Pädagogischen Hochschule FHNW arbeiteten Studierende daran, für Jugendliche geeignetere Inhalte zu entwickeln, sagt Schnitzer: «Wir planen einen Versuch mit mehrsprachigen Comics.» Lehrerin Okumus freut sich darauf, das Material mit ihrer Klasse zu testen. Derweil wirken ihre Sechstklässler mitunter bei Leseanimationen für die unteren Klassen mit, denen sie in ihrer Familiensprache vorlesen. «Wir machen das spielerisch», sagt Okumus. «Die Grossen verraten den Kleinen etwa Schlüsselwörter, die sie heraushören und dann aufspringen sollen.» Kritische Stimmen mögen sich fragen, was Schweizer Kinder davon haben, wenn sie sich mit den Herkunftssprachen ihrer ausländischen Mitschüler beschäftigen. «Vielfalt erweitert den Horizont und sollte in einem Land wie der Schweiz selbstverständlich sein», findet Schnitzer. Ausserdem steigere die Auseinandersetzung mit verschiedenen Sprachen die Sprachaufmerksamkeit, was sich positiv aufs Lernen auswirke. Wissenschaftliche Argumente wie dieses entkräften nicht bei allen die Befürchtung, dass die Lernkurve Schweizerdeutscher Muttersprachler einknickt, wenn sie in der Klassenminderheit sind. «Ich halte diese Sorge für unbegründet», sagt Lehrerin Okumus. Dass Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf – der längst nicht immer Sprachliches betreffe – im Klassenverband unterrichtet würden, sei heute der Regelfall. «Dafür werden wir geschult und mit Ressourcen ausgestattet», sagt Okumus. In ihrer Klasse sei die Heilpädagogin während sieben Lektionen pro Woche anwesend. «Solche Strukturen ermöglichen

uns, individueller auf Kinder einzugehen. Dazu gehört auch, jene mit Zusatzstoff zu versorgen, die schnell vorankommen – sei es die Schweizer Muttersprachlerin in Deutsch oder der türkische Zahlenkünstler in Mathe.» Virginia Nolan ist freie Journalistin

WANDERAUSSTELLUNG ZUR SPRACHENVIELFALT — Wozu brauchen wir die Schrift? Welche Sprachen gehören zu mir? Wie klingen Sprachen im Vergleich? Diesen und weiteren Fragen gehen Kinder nach, wenn an ihrer Schule ein SAMS-Tag stattfindet. Im Mittelpunkt der Sprachenausstellung zur Mehrsprachigkeit in der Schweiz (SAMS) stehen verschiedene, auf Roll-up-Postern dokumentierte Praxismodule, die Lehrpersonen aufzeigen, wie sie die Sprachen ihrer Schülerinnen und Schüler gewinnbringend in den Unterricht integrieren können. Zu einem SAMS-Tag gehören ein Mitmachtheater rund um die Figur SAMS aus dem Kinderbuch «Eine Woche voller Samstage» von Paul Maar sowie Workshops und Kunstprojekte. Die an der Pädagogischen Hochschule FHNW entwickelte Ausstellung gastierte bereits an verschiedenen Schweizer Schulen und wird künftig durch das ganze Land wandern. Mehr Informationen: www.fhnw.ch/ph/sams

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«ES HAT SICH VIEL GETAN» Silvia Hüsler gilt als Pionierin für interkulturelle Pädagogik. Seit 40 Jahren berät sie Lehrpersonen auf dem Gebiet und zeigt in ihren Kinderbüchern, wie die Erstsprachen von Schülerinnen und Schülern im Unterricht einen Platz finden. Interview von Virginia Nolan

Vor über 40 Jahren haben Sie angefangen, Kinderverse aus aller Welt zu sammeln. Was hat Sie dazu bewogen? SILVIA HÜSLER: Ich hatte in meinen jungen Jahren als Kindergärtnerin gemerkt, dass Verse eine besondere Faszination auf Kinder ausüben. Manche haben eine geradezu magische Wirkung. «Heile, heile, Segen» etwa, der Klassiker, wenn es darum geht, ein Kind zu trösten. Diese Art von Sprechgesang, irgendwo zwischen Lied und Vers, zu dem wir das Kind in den Armen wiegen – Sie finden ihn in allen Kulturen. Verse kommen überall auf der Welt ähnlich daher. Fingerreime zum Beispiel scheinen etwas Universales zu sein. Bei uns beginnt man sie mit dem Daumen, in anderen Ländern mit dem kleinen Finger.

konfrontiert waren, die kein Deutsch sprachen. Das Thema beschäftigte junge Kindergärtnerinnen damals sehr. Einerseits ging es darum, den Kindern schnell Deutsch zu lehren, andererseits war es mir wichtig, dass diese Kinder nicht als Problemfälle taxiert wurden. So dachte ich mir Geschichten aus, die auch Kinder mit Migrationshintergrund ansprechen. In «Wer hilft dem Osterhasen» zum Beispiel fliegen Tauben rund um die Welt und rufen in allen Sprachen nach Hasen, die kommen, um dem verletzten Osterhasen zu helfen. Ihre ersten mehrsprachigen Kinderbücher für Schule und Elternhaus erschienen in den frühen 1980er-Jahren. Wie war die Resonanz darauf? Sehr gut– die Kollegen an den pädagogischen Seminaren hatten den Handlungsbedarf erkannt. Uns hatte man in der Ausbildung noch beigebracht, mit fremdsprachigen Kindern ausschliesslich Deutsch zu sprechen, weil sie es sonst nicht lernten. Heute weiss man, dass die Muttersprache zur Identität eines Menschen gehört und nicht missachtet werden darf. Und: Kinder, die ihre Muttersprache richtig beherrschen, lernen besser Deutsch. Die Schule hat allen Grund, ihre Herkunftssprache miteinzubeziehen. Wie beurteilen Sie dabei das Engagement der Volksschule?

Verse nehmen in Ihren Werken einen wichtigen Platz ein. Warum eignet sich diese Textform für die Schreib- und Leseförderung und zur Integration von Kindern mit Migrationshintergrund? Kinderverse sind die erste Literatur, mit der kleine Kinder in Kontakt kommen, und das in fast allen Kulturen. Kinder werden mit Liedchen und Versen geschaukelt und gewiegt, später sind die Reime mehr zum Spass, zum Necken oder zum Auszählen beim Fangenspielen. Verse ermöglichen Kindern einen lustvollen Zugang zur Sprache, animieren sie durch Rhythmus und Wiederholungen, Reime und Wortspiele. Selbst kleine Kinder, die noch nicht sprechen können, haben Freude daran. Wird im Kindergarten oder in der Primarschule mit einem albanischen Kinderreim ausgezählt, so erleben die albanischsprachigen Kinder ihre Sprache als akzeptiert und dazugehörend. Oft helfen solche Reime, Brücken zu bauen zu den Eltern, die dadurch leichter Zugang zur Lehrperson finden. Sie sind Expertin auf dem Gebiet der interkulturellen Pädagogik. Was hat Sie auf diesen Weg gebracht? Anfang der 1980er-Jahre war ich in der Ausbildung von Kindergärtnerinnen tätig. Es war die Zeit, als die Schweiz Zugewanderten den Familiennachzug erleichterte und Schulen mit vielen Migrantenkindern

Vor 10, 20 Jahren traf ich immer wieder Lehrpersonen, die nicht wussten, welche Sprache ihre Schulkinder zu Hause sprechen. Heute heissen manche Schulen Besucher bereits am Eingang in allen Sprachen der Kinder willkommen, und in vielen Kindergärten lernen Kinder, in der Herkunftssprache ihrer Mitschüler auf zehn zu zählen oder Lieder zu singen. Ich finde das ein starkes Zeichen, weil es signalisiert: Ihr gehört zu uns.

SILVIA HÜSLER war Kindergärtnerin und wirkte später als Fachdidaktiklehrerin am Seminar für Lehrkräfte in Brugg. Seit 1984 ist sie freischaffende Fachfrau für interkulturelle Pädagogik. Sie wirkt in der Aus- und Fortbildung von Pädagogen und schreibt und illustriert mehrsprachige Kinder-, Vers- und Liederbücher. Informationen: www.silviahuesler.ch

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Die Schülerinnen und Schüler lernen, die Synergien zwischen den Sprachen zu nutzen.

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«Heute streichen wir an, was r­ ichtig ist» Der Fremdsprachenunterricht in der Schweiz hat sich gewandelt. Bereits in der Primarschule lernen Kinder zwei Sprachen. Die neue Fremdsprachendidaktik legt höheres Gewicht auf spielerisches Sprachenlernen statt auf grammatikalische Korrektheit. Mit Erfolg? Ein Schulbesuch im Kanton Solothurn. Von Anna Miller (Text), André Albrecht (Fotos)

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ienstag, 8.30 Uhr, die kühle Nacht liegt noch in der Luft, draussen alles still. Drinnen, in einem der Schulzimmer des Schulhauses in Stüsslingen SO, sitzen sechs Kinder aus der 6. Primarschule auf ihren kleinen Stühlen und reden vor sich hin. Über Kopfhörer hören sie sich in Ruhe die englischen und französischen Sätze an und sprechen sie nach, einer nach dem anderen, jeder für sich. Look at this beautiful girl. She is wearing a brown bag. Regardez cette belle fille. Elle porte un sac à main brun. Die Sätze haben die Kinder selber aufgeschrieben, am Tag davor, im Rahmen eines kleinen Modeschau-Projekts. Bald wird die Aufführung sein, mit Kleidern aus der Kleiderkiste. Die Lehrerin, Susanne Siegrist Roth, läuft umher und hört aufmerksam zu, korrigiert bei Bedarf. Seit 40 Jahren ist Siegrist Lehrerin, sie hat schon viele didaktische Konzepte kennengelernt. Das neue Fremdsprachenkonzept, das mit «Passepartout» auf den Plan kam, findet sie, sei mit Abstand das beste. Seit August 2011 lernen die Schülerinnen und Schüler in den Kantonen BL, BS, BE, FR, SO und VS ab der 3. Klasse Französisch und ab der 5. Klasse Englisch. Das Projekt nennt sich «Passepartout». Die teilnehmenden Schulen arbeiten in den sechs Kantonen bis zum Ende der Volksschule mit den Lehrmitteln, «Mille feuilles» (Primarstufe) und «Clin d’œil» (Sekundarstufe I) für Französisch, «New World» für Englisch. Ziel ist die funktionale Mehrsprachigkeit: Schülerinnen und Schüler sollen am Ende ihrer obligatorischen Schulzeit selbstbewusst und mit Freude in Französisch und Englisch kommunizieren können. Situativ und natürlich 9 Uhr, nun klatscht Frau Siegrist in die Hände, aufstehen, allez, c’est parti, come on, let’s go, Übungsrunde für den Laufsteg, etwas verlegen, aber auch stolz schreitet das erste Mädchen die paar Meter von der einen Wandtafelecke zur anderen auf und ab, während zwei Kinder aus dem Off kommentieren und die Sätze lesen, die sie zuvor über Kopfhörer gelernt haben. Der eine auf Französisch, die andere auf Englisch. The belt buckle is decorated with diamonds! La boucle est décorée avec des diamants! Seit zwei Tagen nun kombinieren die Kinder Englisch und Französisch innerhalb des Unterrichts – situativ und möglichst natürlich. Siegrist stellt im Dialog mit den Lernenden viele Fragen auf Englisch, dann wieder auf Französisch, und immer wieder holt sie die Gemeinsamkeiten hervor, die Mode, la mode, tights, collants, seht ihr, beide Wörter bedeuten eng, klebend, Strumpfhosen heissen so, weil sie eng anliegen, versteht ihr? Die Kinder hören einfach zu. Susanne Siegrist gibt den Input und erklärt später: «Beim Spracherwerb der Kleinkinder ist das ja auch so: Zuerst lange zuhören, dann nachahmen, die ersten Schritte. Und plötzlich explodierts», sagt sie und lacht.

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Die Kinder nicken, sie fragen nach, sie versuchen, die Wörter abzulesen, manchmal kommen sie noch durcheinander, mit Aussprache, stummem e, all diesen komplizierten Konstruktionen. Wenn man die Kinder darauf anspricht, dass sie nun verschiedene Sprachen hören, teilweise auch sprechen, vergleichen, zucken sie nur mit den Schultern, ja, eigentlich ganz normal. Schwierig? Schulterzucken, lachen, als sei dieses Konzept das natürlichste der Welt. Please close the door, fermez la porte, steht in grossen Buchstaben auf den Türen, Mehrsprachigkeit als alltäglichste Sache der Welt – wie sie in der Schweiz täglich im öffentlichen Raum, am Arbeitsplatz, zu Hause in den Familien gelebt wird. Wieso eigentlich nicht auch in der Schule? Politischer Diskussionsstoff Doch das neue Fremdsprachenkonzept hat auch Kritiker. Sie finden: Die Kinder lernen zu wenig strukturiert, haben kaum mehr Wortschatz, können das Niveau nicht erreichen, das bis Ende der obligatorischen Schulzeit vom Arbeitsmarkt verlangt wird. Die Mehrsprachigkeit überfordert sie, weil zu früh angesetzt – obwohl wissenschaftliche Studien nachgewiesen haben, dass der frühe Spracherwerb Kindern nicht schadet, sondern unter Umständen fördert. Das Konzept «Passepartout», das vor sieben Jahren eingeführt wurde, hat in einigen Kantonen auch politisch für Diskussionsstoff gesorgt – im Kanton Baselland hat der Landrat im Februar 2018 sogar beschlossen, aus dem Projekt auszusteigen. Anita Palermo, Sek-1-Lehrerin in Bellach und Vorstandsmittglied des LehrerInnenverbands Solothurn, ist eine der Kritikerinnen, die fachlich argumentiert. Sie kritisiert nicht primär das didaktische Konzept, sondern vor allem die Unterrichtsmaterialien. «Die Lehrmittel sind viel zu schwierig, meine Schülerinnen und Schüler kommen da gar nicht hinterher», sagt sie. Sie müsse stark führen und sie habe in ihrer Sek B, welche auch Schüler mit speziellem Förderbedarf integriert, kaum jemanden, der selbstständig mit den Materialien arbeiten könne – «dabei wäre dies doch der Aufbau der Lehrmittel». Die Jugendlichen seien sowohl mit der Struktur als auch mit dem Inhalt des Lehrmittels schlicht überfordert. Was aber vor allem auch am Konzept des muttersprachlichen Spracherwerbs liege. «Das Konzept argumentiert ja damit, dass Kinder und Jugendliche die Sprache natürlicherweise im Austausch mit anderen und in Alltagssituationen lernen», sagt Palermo. «Was grundsätzlich so auch stimmt – und deshalb würde es ja auch Sinn machen, die Lernenden nicht ständig zu korrigieren, weil sich das von selber berichtigt.» Was die Verantwortlichen aber nicht in Betracht gezogen hätten, sei schlicht die Zeit, sagt Palermo. «Wir haben drei Lektionen Französisch pro Woche – wie soll da eine Sprache stetig geübt und natürlicherweise weiterentwickelt werden?» Ein Kleinkind sei zwölf Stunden am Tag mit einer neuen


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«Viele Kinder profitieren bei ersten Berührungspunkten mit dem Englischen extrem davon, schon seit zwei Jahren mit Französisch in Kontakt zu sein.» Gwendoline Lovey, Dozentin an der PH FHNW

Sprache konfrontiert. Was grundsätzlich im Leben funktioniere, eigne sich nicht unbedingt auch für den Schulunterricht. Für Palermo liegt die Lösung zumindest teilweise in der Überarbeitung der aktuellen Lehrmittel. Im Moment existierten keinerlei Alternativen. Und darin, Wege zu finden, die Inhalte und den Lernprozess wieder etwas mehr zu strukturieren. «Nicht jedes Kind lernt gleich und gleich schnell», sagt Palermo. Dem müsse Rechnung getragen werden. Auch Susanne Siegrist erwähnt den Zeitfaktor als problematischen Punkt im Spracherwerb. «Es bleibt wirklich nicht viel Zeit», sagt sie. «Aber war das früher anders?» Es sei auch Teil des Konzepts, dass Lehrpersonen viel Gestaltungsraum für den Unterricht hätten. «Ich denke zum Beispiel an ‹immersive Inseln› in verschiedenen Fächern oder an einen Austausch mit Klassen aus der Romandie. Dies bringt viel Motivation für das Lernen. Letztes Jahr hatten wir Briefkontakt zu Klassen aus Bordeaux und aus Estavayer. Da gab es viel Spannendes zu entdecken.» Die Kinder befähigen Für Gwendoline Lovey, Dozentin an der Pädagogischen Hochschule FHNW und Expertin auf dem Gebiet der Fremdsprachendidaktik, ist der neue Ansatz auch eine Frage der Haltung: «Es geht nicht mehr darum, möglichst viele Regeln zu vermitteln, sondern darum, die Kinder zu befähigen, dass sie in der Fremdsprache sprachlich funktionieren können.» Aus der Praxis wisse man, dass die Kinder sich heute mehr zutrauen. «Sie können frei

vor Publikum sprechen, denken vernetzter und nutzen Synergien zwischen den Sprachen besser», sagt Lovey. Auf Primarstufe gehe es in erster Linie darum, das Kind schon früh mit neuen Sprachen vertraut zu machen und es an die Gemeinsamkeiten der einzelnen Sprachen heranzuführen. «Viele Kinder profitieren bei ersten Berührungspunkten mit dem Englischen extrem davon, schon seit zwei Jahren mit Französisch in Kontakt zu sein», sagt Lovey. Perfekte Sprachanwendung sei gar nicht das Ziel, vor allem nicht bei so jungen Kindern. Auf Sekundarstufe nehme die Komplexität zu, die Kompetenzen würden erweitert. «Da kommt es den Jugendlichen entgegen, wenn sie schon gewohnt sind, mit Originaltexten zu arbeiten – sie verfügen bereits über zahlreiche Verstehensstrategien», so die Dozentin. Spielerisch, interaktiv und kreativ In den Augen von Susanne Siegrist ist die Kritik gegen die Mehrsprachigkeitsdidaktik eher politisch als fachlich motiviert und nicht auf eine Langzeitperspektive ausgerichtet. «Wir brauchen doch in Zukunft vernetzt denkende, kreative Menschen, die es gewohnt sind, in verschiedenen Lebensbereichen sprachlich zu handeln.» Die letzte Klasse habe ihr zum Abschied ein Briefchen geschrieben, in dem stand: Bei Ihnen haben wir nicht nur Sprachen gelernt, sondern fürs Leben. «Wenn ich so etwas höre, dann ist das doch ein grosses Kompliment an den Unterricht.» Die Modeschau ist ein Beispiel von neuen Zugängen zu Sprache, Kreativität und Aktivität. Es ist ein kleines Puzzlestück, das die Besonderheit der neuen Fremd-

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Dem Kind zeigen, was es schon kann: Susanne Siegrist ist von den Vorteilen der Mehrsprachigkeitsdidaktik Ăźberzeugt.

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sprachendidaktik gut illustriert. Dass es im neuen didaktischen Konzept um Lebenswelten geht, die man erarbeitet, und nicht um eine bestimmte Anzahl ausgewählter Vokabeln, die für den Wortschatz gelernt werden müssen. Dass die Kinder und Jugendlichen spielerisch, interaktiv und kreativ an die Sprachen herangeführt werden, viel üben, viel sprechen, viel ausprobieren. «Im Kern geht es darum, dass die Kinder offen sind für das Lernen von Sprachen», sagt Siegrist. Dass sie erfahren, dass Fehlermachen zum Lernen gehört, dass es nicht schlimm ist, ein Verb erst mal falsch zu konjugieren, und wichtiger, sich überhaupt zu trauen, es auszusprechen. «Früher war die Schulzeit geprägt von einer Fehlerkultur. Es wurde rot angestrichen, was nicht korrekt war. Heute streichen wir an, was richtig ist. Dieser Paradigmenwechsel ist sehr positiv – er zeigt dem Kind, was es schon kann, und bestärkt es darin, mutig immer wieder Neues auszuprobieren.» Anna Miller ist freie Journalistin

DAS KONZEPT DER MEHRSPRACHIG­ KEITS­DIDAKTIK — Die Mehrsprachigkeitsdidaktik sieht vor, dass das Erlernen von Sprachen in der Schule vernetzt und möglichst ökonomisch gestaltet, das heisst, dass systematisch auf bereits vorhandenes Wissen aus vorgängig gelernten Sprachen zurückgegriffen wird. Im interdisziplinären Sinn wird auch angestrebt, Fremdsprachen in anderen Fächern (z.B. in Musik oder Sport) punktuell einzusetzen, was die Exposition erhöht ohne zusätzlich Lektionen zu benötigen. Neben dem Erwerb von kommunikativen Fertigkeiten und dafür benötigten Sprachmitteln (z.B. Wortschatz und Grammatik) wird der Entwicklung von sprachlich-kultureller Bewusstheit hohes Gewicht verliehen. Durch das Betonen von bereits vorhandenen sprachlichen Ressourcen werden emotional positive Bezüge zum Fremdsprachenlernen und damit die Motivation gestärkt. Der Blick beim Fremdsprachenlernen wird insbesondere in den Anfangsstadien weg vom Fehler und der Defizitorientierung gelenkt, ohne auf gezieltes Fokussieren normativer Korrektheit zu verzichten. Von Mirjam Egli Cuenat

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BILDESSAY

«Just when I found the meaning of life, they changed it»

Jonas Studer ist ein multidisziplinär arbeitender Künstler, Kunstvermittler, Pädagoge und Lehrbeauftragter für Fachwissenschaft in Bild und Kunst an der Pädagogischen Hochschule FHNW. Seine Schwerpunkte sind die experimentelle Analog-Fotografie, Druckgrafik und Malerei sowie die Erforschung des Kreativ-Prozesses und dessen Mehrwert für das «System Schule». Für «das Heft» hat er eine assoziative Reihe aus analogen Bildern zum Thema Mehrsprachigkeit zusammengestellt. www.yunusstuder.com

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Bild #02 Abtauchen

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Bild #03 autumn leaves

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Bild #04 winter fields

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Bild #05 Der Nebel der Welt

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AUS DER PH

«Integration? Das ist eine Frage der Haltung»

Die vielen Sprachen der Jugendlichen im Unterricht integrieren und einander trotzdem verstehen: Angela Meier hat es selbst ausprobiert – und ihre Masterarbeit zum Thema Translanguaging geschrieben. Von Michael Hunziker (Text), Simon Ziffermayer (Foto)

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Es braucht schon Mut, Translanguaging auszuprobieren. Eine innere Bereitschaft, Neues zu wagen», sagt Angela Meier. «Da ist etwa die Angst vor Konflikten unter den Schülerinnen und Schülern, vor dem Neuen, noch Unbewährten und letztlich auch vor dem Kontrollverlust.» In ihrer Masterarbeit hat die kürzlich diplomierte Sekundarlehrerin andere Lehrpersonen befragt, ob sie Translanguaging kennen, welche Sprachen sie selbst sprechen und wie die sprachliche Vielfalt ihrer Schülerinnen und Schüler aussieht. Dabei kam unter vielem andern heraus, dass das neue Konzept unter Lehrpersonen noch ziemlich unbekannt ist. Brücke in die Literalität Translanguaging ist ein Ansatz, bei dem alle Schülerinnen und Schüler ihre Fremdsprachenkenntnisse in den Unterricht einbringen können. Der Gedanke dahinter: Die Erstsprachen der Kinder sind eine Ressource und in jungen Jahren oft ein Weg in die Literalität. «Die Muttersprache ist eine Brücke zur Schriftlichkeit. In ihr werden Motivationen geschöpft, sich in die Welt der Buchstaben und der Bedeutungen zu begeben.» Später kann Translanguaging als integrationsfördernde Massnahme das Selbstwertgefühl der Jugendlichen stärken: Sie erhalten Wertschätzung, können etwas von sich selbst zeigen und Kompetenz beweisen. Zu den Fremdsprachen gehören natürlich auch die Dialekte dazu, wie Wienerisch, Berlinerisch, Rätoromanisch, sagt Meier, die vor ihrem Quereinstieg in den Lehrberuf bereits Germanistik und Anglizistik studiert hatte. Zum ersten Mal hat Angela Meier vom Translanguaging-Ansatz in einem Modul bei Edina Krompák gehört. Die Dozentin forscht zu sprachlicher Heterogenität und stellte das Thema in einer Lehrveranstaltung an

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der PH vor. In ihrem Unterricht wollte Angela Meier dann diese Ideen ausprobieren – beispielsweise die Jugendlichen ermutigen, in eigener Sprache Notizen zu machen, beim Aufsatz ein Mindmap in eigener Sprache zu erstellen oder gemeinsam als Klasse zu erkunden, wie «guten Appetit» und andere stehende Wendungen in verschiedenen Sprachen heissen oder Zeitungsartikel in den Herkunftssprachen zu sammeln und sie in Schulsprachen übersetzen zu lassen. Der Erfolg bestätigte Meiers Engagement. «Alle fanden es super, egal, auf welchem Niveau ich unterrichtete. Die Jugendlichen fragten mich oft, wann können wir wieder mal so etwas machen?» Und auch diejenigen Lehrpersonen, die aufgrund von Meiers Initiative Translanguaging ausprobierten, seien zufrieden gewesen und berichteten von positiven Erfahrungen, auch wenn sie anfänglich kritisch gewesen seien. «Als es dann gegen Ende des Studiums um eine Wahl des Masterthemas ging, habe ich mich über Diskriminierung und Rassismusthematik wieder dem Translanguaging angenähert, einerseits wegen meiner guten Erfahrungen damit im Unterricht und andererseits, weil es dazu noch nicht viel Forschung gibt», sagt Meier. Sie verschickte in der Folge mehrere hundert Fragebögen und erzielte einen Rücklauf von 206 Exemplaren. Meiers Erhebung zeigte, dass die Schülerschaft sprachlich viel heterogener war als die Lehrerinnen und Lehrer. Während die Letzteren Kenntnisse in insgesamt 39 Sprachen aufwiesen, wobei die grosse Konzentration auf den Landessprachen Deutsch, Französisch, Italienisch sowie Englisch lag und nur in Einzelfällen andere Sprachkenntnisse vorlagen, zeichnete die Studie bei der Schülerschaft ein ganz anderes Bild. Die Jugendlichen sprechen 52 verschiedene Sprachen, die zehn häufigsten sind alphabethisch geordnet: Albanisch, Arabisch, Italienisch, Kroatisch, Portugiesisch, Serbisch, Spanisch, Tamil, Thai und Türkisch. Impulse für den Unterricht Obwohl viele Lehrpersonen mit dem Translanguaging-Ansatz nicht vertraut waren, gaben sie an, dass sie es sinnvoll fänden, der sprachlichen Realität im Unterricht Rechnung zu tragen und im Sinne der Chancengerechtigkeit und Integration vermehrt solche Initiativen ergriffen würden. Die Studie zeigt aber auch kritische Standpunkte auf: «Manche Lehrpersonen unterstrichen, dass es ihrer


AUS DER PH

Auffassung nach der Auftrag der Schule sei, primär solide Deutschkenntnisse zu vermitteln. Zudem seien die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler in ihren Erstsprachen oft gar nicht so fortgeschritten, dass sie über das nötige Vokabular verfügten», gibt Meier zu bedenken. «Durch Translanguaging kommt man immer wieder auf die Schulsprache zurück», räumt Meier ein und plädiert für einen relativierten Translanguaging-Ansatz: Dieser sei weder so gedacht, dass Lehrpersonen alle Sprachen ihrer Schülerinnen und Schüler beherrschen müssten, noch, dass jeder durchgehend in seiner Sprache sprechen sollte. Meier geht es primär darum den Austausch unter einander zu fördern, den Unterricht lebendiger zu machen, die Kinder kognitiv durch die verschiedenen Sprachen zu aktivieren. «Letztlich ist es auch eine Haltungsfrage», sagt Meier, «was ich unter Integration verstehe.» Und hierbei kann Translanguaging interessante Impulse für den Unterricht bieten. Michael Hunziker ist Redaktor des Heftes Interessierte können die Masterarbeit bei angelaLmeier@yahoo.com bestellen.

WELCHE SPRACHEN SPRECHEN ANGEHENDE LEHRPERSONEN? Untersuchung zu Translanguaging Von Sebastian Jünger und Edina Krompák

Im Mittelpunkt des aktuellen Forschungsprojekts TET (Teacher Education for Translanguaging) stehen die Sprache in der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung sowie das mit den Sprachen verbundene Phänomen des Translanguaging. Das Konzept von Translanguaging beinhaltet sowohl den dynamischen und flexiblen Gebrauch von verschiedenen Sprachen als auch die Auffassung über die globale und sich ergänzende mehrsprachige Kompetenz. Das Forschungsprojekt zielt einerseits darauf ab, den individuellen Sprachgebrauch der angehenden Lehrpersonen in verschiedenen Kontexten (Studium, Schule, Familie) zu erforschen, andererseits die Rekonstruktion ihrer sprachlichen Identität, in einem hybriden Raum, zwischen Ausbildung und Beruf, zu untersuchen. Die ersten Ergebnisse der Daten eröffnen eine differenzierte Sicht auf die translingualen Praktiken von den untersuchten 21 Studierenden, die neben den offiziellen Sprachen der Schweiz wie Standarddeutsch, Französisch und Italienisch verschiedene, im deutschsprachigen Raum beheimatete Dialekte sowie Englisch, Kroatisch, Latein, Mandarin, Spanisch und Ungarisch sprechen. Es wird deutlich, dass die Sprache dem jeweiligen Kontext flexibel angepasst wird. Darüber hinaus weisen die Ergebnisse auf die Bedeutung der regionalen sprachlichen Identität bei den angehenden Lehrpersonen hin. Obwohl der Lehr- und Lernkontext überwiegend zweisprachig bleibt und vor allem durch Standarddeutsch und Schweizerdeutsch geprägt wird, bewegen sich die Studierenden in einem durchaus multilingualen privaten Kontext. Die Ergebnisse des Projekts liefern wertvolle Erkenntnisse zu den mehrsprachigen und multimodalen translingualen sprachlichen Praktiken von angehenden Lehrpersonen sowie zum Stellenwert der Mehrsprachigkeit in der tertiären Bildung. Sebastian Jünger und Edina Krompák untersuchten die Sprachenvielfalt der Studierenden der PH FHNW

«Den Austausch fördern, den Unterricht attraktiver machen»: Angela Meier zum Translanguaging-Ansatz.

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AUS DER PH

Deutsch@PH: Ein Programm von Studierenden für Migrantinnen und Migranten

Seit Sommer 2016 unterrichten Studierende und Absolventinnen der PH FHNW in Solothurn jede Woche Deutsch für Flüchtlinge. Dabei geht es um mehr als Sprache. Von Irène Dietschi (Text), André Albrecht (Foto)

D

en Anfang bildet ein Spiel: «Ich packe in meine Tasche ein Poulet, eine Flasche Wasser, Brot, Reis ...» Lara Bieri und Laura Kiefer sitzen mit zwei jungen Männern aus Afghanistan in einem Kreis. Bei jeder Runde packen die vier Spieler ein weiteres Lebensmittel in die (imaginäre) Tasche, die Sätze werden immer länger: Dem Reis folgt ein Kilogramm Trauben, dann Tomaten, Tee und Schokolade, schliesslich noch eine Decke. «Das braucht man ja für ein Picknick.» Lachen schallt durch den Raum. Dann zeichnet Lara mit Kreide ein Gedeck an die Wandtafel – Gabel, Messer, Teller und Glas. Vier weitere Wörter, die beiden Afghanen kennen sie bereits. «Besteck» hingegen erweist sich als schwierig. «In Afghanistan brauchen wir das ohnehin nicht beim Essen», sagt einer der beiden. Wieder wird gelacht. Jeden Dienstagabend steht an der Pädagogischen Hochschule FHNW in Solothurn während zweier Stunden «Deutsch@PH» für Flüchtlinge auf dem Programm. «Es ist eine freiwillige, ehrenamtliche Initiative von Studierenden», erklärt Mitinitiant Elia Leiser, «entstanden

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im Sommer 2016, als sehr viele Menschen in die Schweiz flüchteten und es überall zu wenig Deutschkurse gab, so auch in Solothurn.» Eine Gruppe von zehn Studierenden habe spontan zusammengefunden. Sie besuchten bei der Dozentin und Lehrmittelautorin Ursula Rickli einen Crashkurs in Deutsch für Fremdsprachige – und stürzten sich dann ins Abenteuer. «Der Bedarf war gross, zwischendurch hatten wir hier jeden Dienstag 50 bis 60 Flüchtlinge», erzählt Elia Leiser. Teamgeist und Respekt Der 26-Jährige hat sein Studium inzwischen abgeschlossen und ist als Primarlehrer tätig. Mit Deutsch@ PH macht er trotzdem weiter. Ebenso wie drei andere Junglehrerinnen, die heute anwesend sind. Was motiviert sie für diese freiwillige Tätigkeit? «Zu Beginn hatte ich grossen Respekt, aber ich habe nur Positives erlebt», erzählt Andrea Wälti, die seit zwei Jahren beim Angebot der PH mitmacht. Ausschlaggebend seien für sie – nebst dem Teamgeist – die Beziehungen zu den Flüchtlingen, die sich mit der Zeit ergeben hätten. «Wir lernen sie recht gut kennen, erfahren ihre Geschichten und wie sie den Alltag bewältigen.» Dabei komme sehr viel von den Flüchtlingen zurück, «es ist ein Geben und Nehmen», sagt Andrea Wälti. Ähnlich die Erfahrungen von Manon Kaiser: «Ich freue mich immer, wenn ich in der Stadt jemanden aus dem Kurs treffe», sagt sie. Flüchtlinge zu unterrichten, sei mit


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Engagierte Studenten: Stephan Schneider wirkt seit einem Jahr bei Deutsch@PH mit.

normalen Praktika an einer Schule nicht vergleichbar. «Es ist sehr viel spontaner, man muss bereit sein, Vorbereitetes schmerzlos über Bord zu werfen und sich ganz auf die Menschen einzulassen, die an einem bestimmten Abend etwas lernen wollen. Und zwar wirklich wollen!», sagt Manon Kaiser. Dies zu erleben, sei immer wieder überraschend und schön – und darüber hinaus eine gute Erfahrung für die spätere Tätigkeit an einer Schule. Geheimnisse des Perfekts entschlüsseln Stephan Schneider macht seit einem Jahr bei Deutsch@ PH mit, er ist noch Student. An diesem Abend führt er seine Gruppe – drei jüngere Geschwister aus Syrien sowie einen Iraner mittleren Alters – in die Geheimnisse des Perfekts ein. Sein oder haben, das ist hier die Frage: «Heisst es ‚ich bin gerannt oder ich habe gerannt?» Keine leichte Aufgabe – also erklärt Stephan den Unterschied anhand einer Faustregel: Wenn das Verb zum Beispiel eine Bewegung ausdrückt – Stephan «rennt» in Zeitlupe zum Fenster –, dann ist es meistens «sein». «Also ‹ich bin gerannt, gelaufen, geeilt, gegangen, ausgewichen, geschwommen› und so weiter.» Nicken in den Bänken. «Und wann nimmt man haben?», fragt der Iraner. Stephan stellt sich vor die Wandtafel und sagt: «Wenn die Aktion ohne Bewegung ist. Also ich habe geschlafen, gelesen, gekocht, geschrieben.» Das üben die Teilnehmer jetzt

schriftlich in ihren Dossiers, die sie zum Teil aus anderen Deutschkursen mitgenommen haben. Grammatik sei natürlich etwas trocken, sagt Stephan. Im zweiten Teil des Abends würden sie das Geübte dann anwenden. «Dann reden wir über alltägliche Dinge oder Kulturelles – Themen wie Halloween oder Fasnacht. Der Austausch untereinander ist wichtig und für alle bereichernd.» In einem dritten Zimmer arbeiten Andrea Wälti und Lea Kurth mit zwei jungen Eritreern, auch sie sind mit Grammatik beschäftigt. Es geht um Verben mit Vorsilben – einladen, vorbereiten, einkaufen, abgeben etc. Knifflig, zu vermitteln, in welchen Sätzen man Vorsilbe und Verb auseinandernimmt (ich kaufe ein) und wann nicht (ich habe eingekauft) – aber im Quasi-Einzelunterricht geht es ganz gut. «Wenn dagegen 15 Personen im Zimmer sind, alle mit unterschiedlichen Voraussetzungen, muss man viel improvisieren», erzählt Andrea. Nach einer Stunde treffen sich alle im Flur zur Pause, auf dem Tisch liegen Früchte und Guetzli bereit. Es wird gelacht und geplaudert. Die Sprachbarrieren sind keine mehr. Irène Dietschi ist freie Journalistin

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AUS DER PH

Einladung zum Schattentheater im hängenden Garten

Feuer, Wasser, Luft und Erde: Die dritte Art-Science-Night zeigte ein reiches Panorama an gestalterischen Ausdrucksmöglichkeiten rund um die Elemente. Von Irène Dietschi (Text), Christoph Hasenfratz (Fotos)

«

Papa, wie funktioniert das?», fragt ein Zehnjähriger und beäugt die offene Kartontrommel. Auf deren Innenseite sind Menschenfiguren gezeichnet, eine neben der anderen und scheinbar alle gleich. Der Vater gibt der Trommel einen Schubs – diese steht auf einer Drehscheibe. «Schau, jetzt bewegen sie sich». Tatsächlich: Die Menschenbilder spiegeln sich im Innern der Trommel, sie «rennen». Durch die Rotation – und weil die Figuren alle leicht unterschiedlich sind – entsteht die Illusion bewegter Bilder. Das «Zoetrop», so der Name der Wundertrommel, steht im Eingangsbereich der PH FHNW in Solothurn und ist wie ein Sinnbild für diese dritte Art-Science-Night: Mit einfachsten Mitteln entstehen die zauberhaftesten Dinge, werden die Sinne berührt und gestalterische Ausdrucksmöglichkeiten ausprobiert. «Hängender Garten» «Wir verfolgen mit der Art-Science-Night zwei Ziele», sagt Barbara Wyss, Leiterin der Professur Ästhetische Bildung, die den Anlass mit Gabriela Brütsch organisiert hat: «Wir öffnen unsere Türen, um uns der Öffentlichkeit zu zeigen, darüber hinaus wollen wir den Blick auf die zwei Fächer lenken, die hier im Zentrum stehen: das Bildnerische und das Technische Gestalten.»

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Das hat offensichtlich gut funktioniert: Etwa 600 Kinder und Erwachsene sind gekommen, unter ihnen zahlreiche Lehrpersonen, um sich von den 30 Workshops und Mitmachangeboten anstecken zu lassen. Über der grossen Freitreppe lädt ein «hängender Garten» zum kreativen Mittun ein. Expertin Sarina, eine Drittklässlerin des Solothurner Vorstadt-Schulhauses, erklärt, wie’s geht: Eine lange Schnur wird auf dem Boden meterweise markiert, dann werden mit Draht die Naturmaterialien angebracht. Farbige Ahornblätter, Lampion- und Hortensienblüten, Eicheln, Efeu und vieles mehr, «ganz vorsichtig den Draht herumwickeln», sagt Sarina ernsthaft. Das Material hat ihre Klasse selbst in Wald und Flur gesammelt. In einem der Werkräume kann man einen «Luftibus» herstellen – ein Insekt, das Töne von sich gibt, wenn man es an einer Schnur im Kreis schwingt. Es braucht dazu nur einen Trinkhalm, Papier und einen Ballon, doch das Ganze ist knifflig, die Anleitung mehrere Seiten lang. Einer Besucherin geht ein Licht auf: «Es ist die Ballonmembran, die den Luftibus zum ‹Summen› bringt», ruft sie, «deswegen tönt jeder ein bisschen anders.» Eigene Farben mischen Im ersten Stockwerk trifft in einem grossen, verdunkelten Raum Feuer auf Wasser: Fische, Feuersalamander, Quallen, Seestern, ein grosser Phönix und weitere Figuren sind als grosses Schattentheater auf die Leinwand projiziert, welche die ganze Fensterfront überzieht. Das Zimmer nebenan dient als Farblabor. Kinder und Erwachsene mischen Farben aus Naturprodukten wie Rotkraut, Blattwerk, Kurkuma oder Erde. «Es gibt unzählige


AUS DER PH

«Durch das Gestalten kann man sich eine spezielle Ausdrucksform erschliessen – letztlich ist Kunst eine Art Sprache.» Barbara Wyss

Möglichkeiten», sagt eine PH-Studentin und zeigt einem Kind, wie beim Pürieren die Pigmente hervorkommen. Auch dies ist ein wichtiger Teil der Art-Science-Night, erklärt Prof. Barbara Wyss: «Dass sich das Publikum mit den verschiedenen Materialien auseinandersetzt und zum Denken und Schaffen angeregt wird. Denn durch das Gestalten kann man sich eine spezielle Ausdrucksform erschliessen – letztlich ist Kunst eine Art Sprache.» Zur Vielfalt von Sprache und sprachlichen Zeichen tragen am Schluss meines Rundgangs die Kinder mit

Fluchthintergrund von «Kidswest» aus Bern bei, welche die PH eingeladen hat. «Erzähl mir eine Geschichte, in der es um Feuer, Wasser, Luft und Erde geht», fordert ein neunjähriges Mädchen mit dunklen Haaren und Augen mich auf. Während ich eine Anekdote meiner Tochter schildere, skizziert das Mädchen den Inhalt simultan als Comic auf ein Blatt. Die Leiterin heftet es danach an eine Stellwand zu vielen anderen. Ein Gesamtkunstwerk. Irène Dietschi ist freie Journalistin

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KOMMENTAR

Verstehensprobleme in der multilingualen Gegenwart

In der Diskussion um Lehrpersonenbildung, Schulcurricula, Lehrmittel, Fachunterricht und Methodenschulung tendiert das Thema «Sprache» und «Mehrsprachigkeit» dazu, in einer Weise problematisiert zu werden, die scheinbar stark mit unserer alltäglichen Erfahrung mit dem Sprechen und Verstehen korrespondiert. Es ist die Begegnung mit Fremden, die uns Anderssprachigkeit unabweislich vor Augen führt. Von Marko Demantowsky

Z

war muss man angesichts der digitalen Revolution zu dieser anthropologisch verankerten Ur-Erfahrung sagen: noch! – denn bald könnten intelligente Maschinen Gespräche in mehreren Sprachen simultan übersetzen ... Ob dies jedoch etwas am Problem des Verstehens ändern wird, wird sich weisen. Bis es so weit ist, bleiben wir jedenfalls auf uns zurückgeworfen: Wir müssen Wege finden, um mit der sprachlichen Heterogenität unserer Gesellschaft umzugehen. Übersehene Aspekte von Mehrsprachigkeit Richten wir unsere Aufmerksamkeit vorerst auf das historische Moment, das die aktuelle Sprachendebatte stark beeinflusst: War die sprachliche Andersartigkeit im Zeitalter des Nationalismus mit äusserst problematischen kulturellen Essenzialisierungen und Attribuierungen verbunden, wurde in den Nachkriegsjahren die Überbrückung dieser Differenz nicht nur zu einem pragmatischen Gebot des Verstehens und des Verstandenwerdens, sondern vielmehr auch eines der friedensstiftenden Verständigung. In der Schweiz als Sonderfall einer mehrsprachigen Nationalentwicklung erschien dieses Gebot verwandt, und zwar als Element der inneren Kohäsionsstärkung, und wurde damit symbolisch aufgeladen zu einem eigenen nationalen Markenzeichen (geistige Landesverteidigung). Diese historischen Entwicklungen bilden den Hintergrund der heutigen curricular-politischen Sprachendiskussion, und doch ist

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es nur eine Version des Problems der Multilingualität. Ich behaupte, dass die Verengung der Debatte auf diesen (zwar wichtigen) Aspekt ein zentrales Element misslingender oder enttäuschender Bildungsangebote ist. Es gilt, die Perspektive zu öffnen, um den gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen zu begegnen. Man darf sich ja fragen, wie es in ganz Europa sein kann, dass Generationen, die im Frieden aufwachsen durften und die einen aufgeklärt-kritischen und non-chauvinistischen Geschichts- und Politikunterricht durchlaufen haben, am Ende jetzt doch massenhaft in einer Weise politisch zu optieren bereit sind, die diesen didaktischen Anstrengungen diametral entgegenläuft. Ich denke, dies hat etwas mit einigen zumeist übersehenen Aspekten von Verstehen zu tun – auch wenn sich dieses Scheitern damit nicht völlig erklären lässt. Es fehlen Anreize zur Offenheit Wollen wir an der friedensstiftenden Verständigung als Aufgabe eines Mehrsprachigkeitsprogramms festhalten und wenden wir unseren Blick auf die Verstehensprobleme, die durch gesellschaftliche Heterogenität bedingt sind: «Du hast mich nicht verstanden!», «Ich verstehe Dich nicht!» oder «Verstehe mich doch!» usw. sind die geplagten privaten Seufzer, die wir ausstossen, wenn wir mit vertrauten Menschen sprechen, die die «gleiche» Sprache sprechen, sei es Deutsch, Französisch oder Italienisch. Man wünschte sich, dass auch im schulischen Unterrichtsgespräch die Offenheit herrschte, solche Verständigungsprobleme zu thematisieren. Da aber bei Schüler/-innen das Verstehen positiv benotet und bei Lehrpersonen der Erklärerfolg als selbstverstärkend verarbeitet wird, fehlen Anreize, solche Offenheit zu praktizieren. Denn in der Tat gibt es Multilingualität und damit Nicht- oder Missverstehenspotenzial auf verschiedensten Ebenen, und zwar in allen Fächern der Schule: Wir haben alle verschiedene Dialekte mit eigener Idiomatik und Metaphernwelt. Und diese trägt man mit sich, auch wenn man als Lehrperson ins Standarddeutsche wechselt. Zuwanderer/-innen sprechen auch dann eine partiell andere Sprache,


KOMMENTAR

Die historischen Entwicklungen der Schweiz zur Zeit der geistigen Landesverteidigung prägen auch heute noch die politischen Debatten um Schulsprachen. Bild: Landesausstellung Zürich 1939/Wandmalerei H. Erni, ETH-Bildarchiv, Jean Gaberell.

selbst wenn sie gelernt haben, sich in Standarddeutsch auszudrücken. Man bemerkt das als Lehrperson im Handumdrehen, wenn man auf die Differenz historisch gewachsener Bedeutungen stösst. Wörterbücher liefern eben keine sinnstiftenden Begriffsgeschichten. Diesen milieuspezifischen Sprachdifferenzen, sogenannten Soziolekten, ist mit dem Postulat Standarddeutsch im Unterricht wenig geholfen, wenn die Alltagssprache der Lernenden und die Sprachwelt des Unterrichts nicht miteinander in eine Korrespondenz gebracht werden. Das Klagen über die Devianz von Jugendsprache ist so alt wie die Versuche zur Standardisierung. Müssig, über solche Generationendifferenz die Nase zu rümpfen. Die Herausforderung, die eigene Sprachwelt zu transzendieren, wird zu Recht als eine begriffen, die sich an Lernende richtet. Der Fehler liegt m.E. darin,

diese Aufgabe nicht als wechselseitig zu begreifen. Dieses Problem hat sich zuletzt im Prozess der Digitalisierung zugespitzt: Heranwachsende kommunizieren jugendsprachlich via Whatsapp, Instagram etc. in vielfacher Weise noch differenter als gewohntermassen ohnehin. Die Effizienz von Unterricht, die nachhaltige Erfüllung der schulischen Bildungsaufgaben und nicht zuletzt Chancengleichheit hängen wesentlich davon ab, dass

Lehrpersonen Sprache in all ihren Dimensionen als je eigenes Bildungsthema verstehen. Nur so können sie einen Beitrag zu den gesellschaftlichen Verständigungsproblemen leisten.

MARKO ­DEMANTOWSKY ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte und ihre Didaktik an der Pädago­gischen Hochschule FHNW

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SPIEL- UND LESETIPPS

UNENDLICHE GESCHICHTEN

auch englisch, französisch, spanisch und italienisch. Sie eignet sich für immersiven Sprachunterricht. «Begrabe mich, mein Schatz», Arte France, The Pixel Hunt, Playdius, 2017

Mark Weisshaupt, Lernwerkstatt SPIEL

Neun Würfel mit 54 unterschiedlichen Symbolen darauf (z.B. Turm, Schlüssel, Blume, Blitz etc.) bilden das Grund-Set der Story Cubes. Keine grosse Vorbereitung ist notwendig, das Spiel kann gleich los gehen: einmal würfeln und eine kleine Geschichte erzählen, anhand der zufällig zusammengesetzten neun Symbole – und es ist immer wieder erstaunlich, lustig und spannend, was beim Erzählen für Welten aus dem Nichts entstehen. Die Wiederspielbarkeit ist hoch – scheinbar unendlich viele Geschichten sind möglich. Ein schönes Merkmal ist die Offenheit für Heterogenität und spontane Regeländerungen (Genrevorgabe, abwechselnd weitererzählen ...). Junge Kinder und Anfänger erzählen meist nur einen Satz. Grössere und Erfahrenere können dann schon einen erzählerischen Bogen in der Geschichte spannen. Die Symbole sind auch in verschiedenen Kulturen erkennbar, sodass Kinder oder Erwachsene auch eine Geschichte in einer fremden (Mutter-)Sprache erzählen können – spontane Übersetzungen von Worten oder Sätzen liegen nahe. Ein Spiel für alle möglichen Gelegenheiten und Mitspieler/-innen und als Zeitvertreib für zwischendurch. Rory’s Story Cubes, Hutter Trade, 2016

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SPIEL ZU FLUCHT UND HOFFNUNG Judith Mathez, imedias

Die interaktive Geschichte «Begrabe mich, mein Schatz» des Kultursenders Arte greift ein hochaktuelles Thema auf. Nour, eine junge Frau, flüchtet aus Syrien und möchte nach Europa gelangen. Mit ihrem daheimgebliebenen Mann Majd bleibt sie während der Flucht via Handy-Messenger in Kontakt. Die Leserin, der Leser verfolgt die Geschichte über die Nachrichten, welche die zwei austauschen: Texte, Emojis, Bilder, Screenshots. Dabei ist es möglich, den Verlauf der Geschichte zu beeinflussen. Nour erlebt auf ihrer Reise ganz Unterschiedliches: dubiose Schlepper, eine Schlauchbootüberquerung des Mittelmeers, Flüchtlingscamps, Fremdenfeindlichkeit, aber auch Freundschaft, Solidarität und Hilfe. Die sorgfältig gestaltete App ist ab 12 Jahren freigegeben. Sie erlaubt es Schülerinnen und Schülern, die Flucht aus der Sicht von Betroffenen zu erleben. Spielt eine ganze Klasse, erleben die Schülerinnen und Schüler durch ihre individuellen Geschichtenverläufe ganz Unterschiedliches. Für die einen wird die Flucht erfolgreich verlaufen, für die anderen nicht. Diese Verläufe können anschliessend zu einem Gesamtbild rund um das Thema Flucht zusammengefügt werden. Die App ist in verschiedenen Sprachvarianten verfügbar: neben deutsch

GRANDE FAMIGLIA Maria Riss, Franziska Weber, Zentrum Lesen

«Meine ganze Familie» widmet sich der Geschichte der Menschen und wie wir alle auf irgendeine Weise miteinander verwandt sind. Gleich auf der zweiten Doppelseite findet sich ein grosser Stammbaum. Schon da wird deutlich, wie viele Leute zur eigenen Familie gehören können und wie gross das Wirrwarr wird, je weiter man in der Vergangenheit zurückgeht. Die Grosseltern kennt man ja in aller Regel noch, aber wie ist das mit den Ururgrosseltern? Was haben Opa und ich gemeinsam? Warum fühle ich mich meiner Uroma nahe, wenn ich ihre Kette trage? Alle Menschen haben ihre Wurzeln in der Vergangenheit und diese Vergangenheit bestimmt unser Leben in der Gegenwart. Junge Leserinnen und Leser wiederum werden die Zukunft und unsere Nachfahren bestimmen. Dieses grossformatige und sehr gut verständliche Sachbilderbuch lädt zum Verweilen, zum Nachdenken und


SPIEL- UND LESETIPPS

vielleicht auch zum Nachforschen ein: ein bisschen Ahnenforschung, ein bisschen Philosophie und ein Nachdenken darüber, dass Menschen zwar sehr verschieden sein können, aber dass uns auch vieles verbindet. Die wunderbar farbigen, eindrücklichen und detailreichen Bilder helfen, dass bereits jüngere Kinder sich das alles besser vorstellen können. Ein Bilderbuch, das in viele Kinderzimmer und unbedingt in jede Bibliothek gehört. Für Kinder ab etwa 7 Jahren. Gerda Raidt: Meine ganze Familie. Was den Urmenschen und mich verbindet. Belz Verlag 2018

RUN-AWAY-GESCHICHTE Maria Riss, Franziska Weber, Zentrum Lesen

Nicu ist ein Roma-Junge mit traditionsverhafteten, strengen Eltern, der erst seit etwa einem Monat in England lebt. Er will unbedingt in England bleiben, deshalb lernt er verbissen die Sprache, deshalb passt er sich immer und überall an und lässt alle Erniedrigungen stumm über sich ergehen. Jess kommt aus einem völlig anderen Milieu, sie leidet unter

IMPRESSUM «Das HEFT» – das Magazin der Pädagogischen Hochschule FHNW erscheint zweimal jährlich, 1. Jahrgang, Nr. 1, März 2019, www.dasheft.ch Herausgeberin: Pädagogische Hochschule FHNW

ihrer ängstlichen Mutter und deren tyrannischem Freund, der trinkt und immer wieder zuschlägt. Trotz der unterschiedlichen Herkunft eint die beiden 15-Jährigen eines: Beide sind zum dritten Mal beim Klauen erwischt worden und müssen deshalb Sozialstunden ableisten. So kommen sich Jess und Nicu näher. Doch Nicus Vater will zurück nach Rumänien und seinen Sohn dort verheiraten und bei Jess zu Hause eskaliert der Streit zwischen ihr und ihrem gewalttätigen Stiefvater. Nicu und Jess haben sich lieben gelernt und wollen gemeinsam abhauen. Die Kapitel werden abwechselnd von Jess und Nicu in einer Art Gedichtform, in einer einfachen, rhythmischen Sprache erzählt. Nicu erzählt mit den Wörtern, die er in dieser fremden Sprache kennt. Das Autorenteam hat es geschafft, dass das nicht klischeehaft, sondern echt wirkt. Das vorliegende Buch ist trotz der speziellen Form und der an sich leichten Sprache keine einfache Kost. Da gilt es einerseits, die vielen Leerstellen beim Lesen zu füllen, und da ist auch das Geschehen, das unter die Haut geht und einen nicht mehr loslässt. Wie die Geschichte endet, das bleibt offen und stimmt nachdenklich. Für Jugendliche und Erwachsene.

Verantwortlicher Redaktor: Michael Hunziker Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe: Sabina Larcher, Marko Demantowsky, Mirjam Egli Cuenat, Nicole Berner, Virginia Nolan, Anna Miller, Irène Dietschi, Edina Krompàk, Sebastian Jünger, Sandra Grizelj, Anja Giudici, Mark Weisshaupt, Franziska Weber, Maria Riss, Judith Mathez, Patti Basler Bildessay: Jonas Studer Fotografinnen und Fotografen dieser Ausgabe: Simon Ziffermayer, André Albrecht, Eleni Kougionis, Illustration S. 13: PanpanCuCul (mit freundlicher Genehmigung des Forums Helveticum) Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: Christian Irgl, Franco Supino, Christine Künzli, Wolfgang Beywl Gestaltung: HinderSchlatterFeuz, Zürich Druck: Sprüngli Druck AG, Villmergen Inserate: print-ad kretz gmbh Abonnement: «Das HEFT» kann kostenlos abonniert werden: www.dasheft.ch kommunikation.ph@fhnw.ch Postadresse: Pädagogische Hochschule FHNW, Kommunikation, Bahnhofstrasse 6, 5201 Windisch, 056 202 72 60 Auflage: 6000 Exemplare Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck von Artikeln nur mit Genehmigung der Redaktion. ISSN 2624-8824 (Print)

Sarah Crossan/Brian Conaghan: Nicu & Jess, aus dem Englischen von Cordula Setzman. Mixtvision 2018

Weitere Rezensionen zu Kinder- und Jugendbücher finden sich auf dem Blog des Zentrums Lesen: blogs.fhnw.ch/zl/

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KOLUMNE

Bildungspolitik Backstage Bitterböse Satire: Es unterhalten sich zwei «Experten mit Bildungshintergrund» irgendwo auf dem Parkett zwischen der Nacht der langen Messer und der nächsten kantonalen Abstimmung … Von Patti Basler

C’est une catastrophe! Was denn? So geht es nicht weiter, ça va pas. Man macht sich über uns lustig im Ausland. Dabei konnten wir der Welt so lange das Märchen von der Viersprachigkeit der Schweiz erzählen! Sie meinten, dass wir alle jede der vier Sprachen beherrschen, und wir liessen sie im Glauben! Goldene Zeiten vor Social Media und Satelliten-Fernsehen. Aber jetzt blamieren wir uns, wenn wir stark akzentuiert sagen rire c’est bon pour la santé. Oder: Du ju nou de seven sinking steps... Oder wenn wir meinen, die korrekte Bezeichnung für Grenzgänger, die in der Schweiz unterrichten, aber in Deutschland wohnen, sei Borderliner. Nein, so geht das nicht weiter. Wir brauchen ein neues Fremdsprachen-Konzept! Neue Lehrmittel müssen her: Plonger dans le bain de la langue! Sprachförderung für Kinder, je früher, desto besser: Joe Dassin im Fruchtwasser-Bassin! Charles Aznavour durch die Nabelschnur! Für Mutter und Kind. Ach was, für die ganze Familie! Moment mal: für die ganze Familie? Wir wollen doch die Kinder und Jugendlichen fördern. Müssen wir jetzt auch noch die Verantwortung für die ganze Familie tragen? Natürlich. Und nicht nur das: auch für die Muttersprache und den Vaterdialekt. Mehrsprachig literale Förderung für die ganze Familie, kurz Melifa. Melifa? So heisst eine meiner Schülerinnen, sie ist aus Afrika, sie kam mit dem Boot, war kurz vor dem Kentern, sie kennt ganz andere sinking steps. Wie tönt dann erst plonger dans le bain? Melifa, Geschenk Gottes bedeute dieser Name. Genau. Und mit Melifa haben wir das Geschenk. Du kannst jetzt nämlich diese wunderbaren Klicklaute da aus dem Afrikanischen gleich einbauen im Unterricht. Das nennt sich Translanguaging.

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Trans-was? Translanguaging. Trans kenne ich. Lunis aus meiner Klasse ist eine Trans-Person und möchte nicht mehr Junge genannt werden, er sei nämlich nonbinär und genderfluid: kein Schul-Junge, kein Schul-Mädchen, sondern ein Bildungs-Wesen. Ja genau! Es gibt nicht nur black und weiss, sondern mindestens fifty shades of grey oder fifty grades of say. Mit dem Translanguaging Appoach challengen wir die Attitude einer Pure Tongue. Wir immersieren, first step to really sink into the language, pour plonger dans le bain! Immersion, das ist doch, wenn man zwei Dinge gleichzeitig lernt. 1. Sprache und 2. Inhalte. Das war doch so beim ehemaligen aargauischen Französisch-Lehrmittel: Da konnte man an der Titelgebung die Niveauunterschiede ablesen.


KOLUMNE

Für das höchste Niveau, die Bez, hiess es: «Portes ouvertes»! Für das mittlere Niveau, die Sek, hiess es: «Bienvenue»! Für das tiefste Niveau, die Real, hiess es: … äh … «Bonne chance». Ich bin sicher, wenn es noch eines gegeben hätte für die Kleinklasse, hätte das geheissen: «Rien ne va plus». Das ist doch Zynismus! Nein, das sind die Sinking Steps Number two to six. Und jetzt challengen wir unser Brain, um ein Functional Course Book für tout le monde zu createn. Gerne. Aber vor lauter Translanuaging musst du attention payen, dass du beim Plonger nicht einfach im Bain der Language ersäufst. Das wäre dann sinking step number seven.

PATTI BASLER ist Slampoetin, Moderatorin, Kabarettistin, Lehrerin und Erziehungswissenschafterin. Mit ihren Bühnenprogrammen «Frontalunterricht» und «Nachsitzen» hält sie sich strikt an den Lehrplan 21. Zudem ist sie Trägerin des Kabarettpreises Salzburger Stier 2019.

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1 DAS HEFT  PH-Magazin Nr.1 2019


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