Filmpodium Programmheft 5.Okt. - 15.Nov. 2015 / program issue Oct 5th till Nov 15th, 2015

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5. Oktober –15. November 2015

John Waters Fredi M. Murer


AUGENWEIDEN

LAMB YA R E D Z E L E K E • ÄT H I O P I E N

JAY RO BU S TAMANT E, G UAT EMA LA

VOLCANO AB 5. NOVEMBER IM KINO

AB 15. OKTOBER IM KINO

www.trigon-film.org – 056 430 12 30


01 Editorial

Das Niveau sinkt «Man braucht besonders guten Geschmack, um sich schlechten Geschmack leisten zu können.» (John Waters) Im Filmpodium werden seit jeher Klassiker der Filmkunst gefeiert. Dass nicht jedes gezeigte Werk all unseren Stammgästen gefällt, versteht sich; zu breit ist die Palette der Themen, Genres und cineastischen Stile aus aller Welt. In diesem Programm allerdings werden selbst die tolerantesten Film­ podium-Fans auf eine harte Probe gestellt. Die grosse Retrospektive ist einem Mann gewidmet, der sich gezielt dem schlechten Geschmack verschrieben hat. John Waters, der in seinem Frühwerk auslotete, wie heftig er seine kon­ formistischen und puritanischen Landsleute provozieren könnte, landete mit seinem ersten Spielfilm Pink Flamingos von 1972 einen Volltreffer: Als This Brunner diesen Streifen 1974 erstmals in Zürich ins Kino brachte, kam es zu einem Prozess, und der Film wurde wegen einzelner pornografischer Schock­ szenen als «unzüchtige Veröffentlichung» verboten. Dass Pink Flamingos am Filmfestival von Locarno gelaufen war und mehrere Kunstkenner Waters und Brunner Schützenhilfe leisteten, beeindruckte das Gericht damals nicht. In den seither verstrichenen vierzig Jahren hat John Waters nicht nur eine enorme künstlerische Entwicklung durchgemacht und sein Filmschaf­ fen – mit der gebotenen Ironie – dem Mainstream angenähert; der Massen­ geschmack und das sittliche Empfinden ihrerseits sind Waters’ schrägem Blick auf die Gesellschaft und seinem Faible für Aussenseiter und Andersartige ­entgegengewachsen. Als Künstler, Autor und Entertainer hat sich Waters längst einen internationalen Ruf jenseits der Kultkinos erworben. So widmet ihm das Kunsthaus Zürich derzeit eine Ausstellung. Trotzdem: Manche von ­Waters’ Filmen sind und bleiben eine ästhetische Zumutung, allen voran Pink Flamingos. Die bisher grösste Schweizer Retrospektive von Waters’ Œuvre wäre ohne dieses Schlüsselwerk unvollständig, aber eben: Seien Sie gewarnt. Das Motto der aktuellen Waters-Ausstellung lautet: «How Much Can You Take?» Wenn Sie sich nicht solchen Trash zumuten und dabei unter Ih­ rem – und unserem – üblichen Niveau amüsieren wollen, bietet das neue ­Programm viele geschmackvolle Alternativen: Neben den Jahrhundertfilmen des Jahrgangs 1985 zeigen wir auch vier Filme von Fredi M. Murer, der am 1. Oktober seinen 75. Geburtstag feiert, sowie eine Reedition von Das Boot ist voll, dem oscarnominierten Durchbruchfilm von Markus Imhoof, der am 23. Oktober mit dem Zürcher Kunstpreis ausgezeichnet wird. Michel Bodmer Titelbild: Pink Flamingos von John Waters


02 INHALT

John Waters

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John Waters, mit unorthodoxen Vor­ lieben im biederen Baltimore aufge­ wachsen, fing in den sechziger Jahren an, Underground-Filme zu drehen, und wurde dank Skandalen um Pink Flamingos und andere Provokatio­ nen zum Buhmann des Kino-Esta­ blishments. In den achtziger Jahren jedoch bescherte die nostalgische ­Komödie Hairspray dem Dandy mit dem Schurkenschnurrbart einen ers­ ten Crossover-Erfolg. Waters’ einzig­ artige Verquickung von haarsträu­ bendem Humor mit ästhetischen Zumutungen kennzeichnete auch seine späteren Filme sowie seine viel­ fältige Arbeit als Buchautor, Künst­ ler, Kurator und Entertainer. Anläss­ lich der John Waters gewidmeten Ausstellung im Kunsthaus zeigt das Filmpodium eine Retrospektive mit neun seiner schrägen Streifen. Bild: John Waters, © Greg Gorman

Fredi M. Murer

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Fredi M. Murer wird am 1. Oktober 75 Jahre alt. Zu seinem Geburtstag zeigt das Filmpodium vier seiner wich­ tigsten Filme: das ethnologische Port­ rät Wir Bergler in den Bergen sind ­eigentlich nicht schuld, dass wir da sind und das archaische Familien­ drama Höhenfeuer ebenso wie Mu­ rers urbanes Spielfilmdebüt Grauzone und seinen von Neuem relevanten Dokumentarfilm Der grüne Berg. Bild: Fredi M. Murer

Das erste Jh. des Films: 1985

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Claude Lanzmann schafft mit Shoah das Unmögliche, während das russi­ sche und das Hollywood-Kino mit Komm und sieh und Back to the ­Future die Zeit manipulieren. Terry Gilliam legt sein futuristisches Meis­ terwerk Brazil vor; in Argentinien und Frankreich blicken La historia oficial und Le thé au harem d’Archimède kritisch auf die Gegenwart.


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Premiere: The Visit

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Filmpodium für Kinder: Ponyo 30

Was würde einen Ausserirdischen auf der Erde erwarten? Filmischer Essay.

Der kleine Sosuke freundet sich mit dem Goldfischmädchen Ponyo an, das gerne ein richtiger Mensch wer­ den möchte. Mittels Ponyos Zauber­ kräften gelingt dies auch. Doch diese Kräfte bringen das Gleich­gewicht der Natur durcheinander. Ein weiteres wundervolles Miya­zaki-Märchen voll sprühender Fantasie und Humor.

Bild: The Visit

Zur Strauhof-Ausstellung «Mars – Literatur im All»

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Zwei Adaptationen von H. G. Wells’ «The War of the Worlds».

Premiere: The Kingdom of Dreams and Madness

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Einzelvorstellungen

Die Miyazaki-Retrospektive im Som­ mer fand viele Fans. Diese Dokumen­ tation enthüllt die Geheimnisse des Grossmeisters der Animation.

Kunstpreis an Markus Imhoof

Bild: Ponyo

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Der diesjährige Zürcher Kunstpreis­ träger Markus Imhoof schuf 1981 mit Das Boot ist voll ein Lehrstück über Isolationismus und Solidarität, das heute wieder aktuell ist.

Filmbuff-Quiz 33 IOIC-Soirée: Robin Hood 35 Sélection Lumière: Black Moon 36



05 John Waters

Der Bürgerschreck aus Baltimore Sind John Waters’ Spielfilme mehr als nostalgische Erinnerung an jene Tage, als das Provozieren noch geholfen hat? In der Tat, gilt es doch einen Mann zu preisen, der auszog, die Welt in den Dreck zu ziehen, und der bis heute der Sprengkraft des Andersseins huldigt. Der Stein des Anstosses hiess 1972 Pink Flamingos. Mit diesem Film erregte der 1946 in Baltimore geborene John Waters die Aufmerksamkeit sowohl der Zen­ sur wie auch des Mitternachtskino-Publikums: Im alsbald entfesselten Shit­ storm eroberte er jene Gemeinde, die mit dem kultischen Abfeiern seltsamer Kunst- und Trashfilme bürgerliche Konventionen, aber auch die BlümchenHippieromantik verhöhnte. Der Durchbruch war unvermeidlich, bot Pink Flamingos den Underground-Fans mit dem mörderischen Wettbewerb zwischen Hühnerfickern, Scheissefressern und singenden Arschlöchern um den Titel «ek­ ligste Menschen überhaupt» doch in jeder Hinsicht die volle Dröhnung. Pink Flamingos war damals der erste deutliche Ausschlag in einer er­ staunlichen Karriere. Seitdem nämlich galt Waters als jenes Ferkel, das die Szene drehte, in der ein dicker, geschminkter Mann in Frauenkleidern hinter einem scheissenden Hund zweifelsfrei echte Kacke aufsammelt, in den Mund schiebt und dort wie Pralinen zergehen lässt. Dieser Film machte Waters zu einem Pfeiler des Undergrounds. Seine fast schon religiöse Hingabe an die Obsession, sein unbedingter Wille zum Abseitigen bewog Beatnik-Halbgott William S. Burroughs denn auch, Waters mit dem Titel «Pope of Trash» zu adeln. Perversionen der Provinz Pink Flamingos und dessen «Star» Divine sind frühe Auswürfe der später als «Punk» gelabelten Leck-mich-Haltung. Natürlich hatte Punk viele Mütter und Väter, die von Waters geschätzte New Yorker Szene um Andy Warhol mit Filmern wie Paul Morrissey beispielsweise. Doch während diese früh schon cool, weltgewandt und publicitygeil gegen die etablierte Kultur (und Gegenkultur) antrat, gewannen Waters’ Ausgeburten ihre rohe Energie aus dem gierigen Blick auf die Perversionen der Provinz, aufs Kleinbürgertum in Baltimores Vorstädten. Suburbia war Waters’ Sündenpfuhl, sein Tempel der Lust, der Ort, der seine Obsessionen befeuerte. >

Divine (Mitte) als Baltimore’s Next Top Model: Female Trouble < Lust und Liebe auf dem Schrottplatz der Gesellschaft: Desperate Living

<

Es riecht was faul in Suburbia: Tab Hunter und Divine in Polyester


06 Zwar inspirierten den Teenager Wallfahrten nach New York, wo er sich Por­ nos, Trash-Filme und die bizarren Ergüsse von Seelenverwandten wie den ­Kuchar-Brüdern gönnte. Auch steht ein abgebrochenes Filmstudium an der NYU in seiner cineastischen Vita. Letztlich jedoch war es immer wieder Bal­ timore, um das sich der Planet Waters drehte und wo er am besten dem von Jean Genet übernommenen Grundsatz nachleben konnte, wonach «in schlech­ tem Geschmack Harmonie zu erzielen die höchste Form von Eleganz ist». Hier, auf örtlichen Schrottplätzen, konnte Little John «Autos anku­ cken, die auf dem Dach lagen». An Kindergeburtstagspartys in der Nachbar­ schaft kassierte er ab für Puppentheatervorführungen einer blutrünstigen Ver­ sion von «Aschenputtel». Sobald er fahren durfte, parkte er zusammen mit Freunden, die sein Interesse an Drogen und Ladendiebstahl teilten, jede Nacht im Autokino des Viertels. Dort spielte man Preziosen wie Russ Meyers Faster, Pussycat! Kill! Kill!, die für Waters’ Herzensbildung massgebend wurden. Hier nämlich erkannte er das komische Potenzial von Film-Trash, was ihn in der Überzeugung bestärkte, dass «schlechter Geschmack der Kern aller Un­ terhaltung» sei. Schon seine frühen Schmalfilm-Exzesse wie Eat Your Makeup (1968), Mondo Trasho (1969) oder Multiple Maniacs (1970) verbanden – neben Ge­ walt, Sex und derbem Witz – eine Amateurdarstellertruppe, deren Mitglieder Waters im lokalen Freundeskreis rekrutierte. Kuriosen Gestalten wie Mink Stole, David Lochary, Mary Vivian Pearce und insbesondere Harris Glen Mil­ stead, besser bekannt als Divine, gelang dabei das Kunststück, die von Waters geforderte Obszönität, Gewalt und Perversion so verdreht theatralisch ins Bild zu rücken, dass dies, vor dem Hintergrund des rauen Realismus von Schrottplätzen und untermalt mit Rockabilly-Nummern, einfach nur zum La­ chen war. Auf Pink Flamingos folgten mit Female Trouble (1974) und Desperate Living (1977) zwei weitere Trash-Grosstaten. Female Trouble war dabei ganz auf Divine, den Star von Pink Flamingos, zugeschnitten, der als schwangere Schulausreisserin für die Kamera eines perversen Kosmetikerpaares die Ver­ brechen krimineller Frauen nachstellte. Edith Massey, ein weiterer überge­ wichtiger Freak aus Waters’ Umfeld, spielte dann im Märchen Desperate ­Living die tyrannische Königin, die über die Müllhaldenkolonie Mortville ge­ bietet, in die eine Mittelstands-Hausfrau nach der geglückten Ermordung ih­ res Gatten flüchtet. Zum ersten Mal überliess Waters die Kameraarbeit ­einem Berufsmann; dafür machte sich Divine rar. Gegen den guten Geschmack Zu Beginn der achtziger Jahre, nach dem Erfolg von zu monumentaler Grösse aufgeblasenen B-Movies wie Jaws und Star Wars, befand sich die Filmindus­ trie im Blockbuster-Fieber. Die Einverleibung ästhetischer und politischer


07 Strategien des Billigfilms in die Hollywood-Ökonomie veränderte den Under­ ground. Waters musste die Tonlage ändern, wollte er nicht im Mitternachts­ film-Ghetto hängen bleiben. So enterte er 1981 mit Polyester das Main­ streamkino, indem er – einmal mehr und diesmal wieder mit Divine – seine Frustrierte-Vorstadt-Hausfrau-Nummer durchzog. Erneut zerbricht also ein Kleinbürgerglück. Für Polyester gab es ein Budget, mit Tab Hunter einen Quasi-Hollywoodstar und mit der Odorama-Rubbelkarte jenen Gimmick («Geruchskino»!), den der Verleiher zusammen mit dem Film landesweit in die Hauptabendvorstellungen karrte. Gleichzeitig fungierte Divine wieder als Dreh- und Angelpunkt und bürgte dafür, dass zwar nicht der schmutzige Sex, aber der abseitige Humor der frühen Produktionen erhalten blieb. So gelang Waters, ähnlich wie den Mitternachtsfilmern George R. Romero und David Lynch, die Weiterentwicklung im Breitleinwand-Massstab, ohne dass er seine Obsessionen hätte verraten müssen. Als er sieben Jahre später mit Hairspray einen weiteren Kinofilm reali­ sierte – zwischenzeitlich hatte Waters seine Produktion auf andere Kunstge­ biete ausgeweitet –, war es der erste einer ganzen Reihe überschwänglicher Rückblicke auf ein Leben in Opposition zu Geschmack und Anstand: 1990 Cry-Baby, 1994 Serial Mom, 1998 Pecker, 2000 Cecil B. DeMented und 2004 A Dirty Shame. Zusammen bilden diese Filme eine fröhlich-frivole Re­ vue durch all jene Obsessionen und Glaubenssätze, die Waters zum Schöpfer seines eigenen Mythos haben werden lassen – und der, wie es Jonathan ­Rosenbaum und J. Hoberman in ihrem Buch «Mitternachtskino» schreiben, «darum weiss». Und weil er darum weiss, pflegt Waters seinen eigenen Mythos gelassen. Nicht indem er sich und seine Obsessionen der allgegenwärtigen Retromania zur Ausschlachtung überlässt. Im Gegenteil. Zusammen mit überlebenden und neu dazugekommenen Freunden erzählt Waters, ungemein unterhaltend, wei­ ter und weiter von der revolutionären Kraft des Abseitigen, des Andersseins, und verführt so zum Widerstand gegen all jene auf Gleichförmigkeit getrimm­ ten Zombies, die die Welt in eine Einöde des gepflegten Geschmacks zu ver­ wandeln drohen. Benedikt Eppenberger

Benedikt Eppenberger ist Filmredaktor beim Schweizer Radio und Fernsehen und arbeitet daneben als freischaffender Filmjournalist und Cartoonist.


> Pecker.

> Cecil B. Demented.

> Cry-Baby.

> Serial Mom.


09

John Waters.

PINK FLAMINGOS USA 1972 Der kriminelle Transvestit Divine lebt unter dem Decknamen Babs Johnson in einem Trailerpark, den selbst ein paar künstliche Flamingos nicht aufhübschen; die Mama mampft ständig Eier, der Sohn ist pervers. Als Divine von einem Boulevardblatt zum «ekligsten Menschen überhaupt» erkoren wird, weckt dies den Neid von Connie und Raymond Marble, einem Spiesserpaar, das heimlich wüste Dinge treibt und selber nach dieser dubiosen Ehrung trachtet. Ihr eskalierender Konkurrenzkampf mit Divine kennt kein Pardon. In Pink Flamingos provozierte der damalige Undergroundfilmer John Waters seine puritanischen Landsleute auf Teufel komm raus, indem er ethische und ästhetische Wertsysteme auf den Kopf stellte. Seine Satire über die amerikanische Geltungssucht, der jedes Mittel recht ist, strotzt vor grotesken Gewaltszenen und pornografischen Schockelementen. Waters’ Rechnung ging auf: Pink Flamingos wurde seinerseits berühmt als «einer der widerlichsten, dümmsten und ab­ stossendsten Filme aller Zeiten» (Variety). Roger Ebert schrieb: «Ich gebe Pink Flamingos keine Sterne-Wertung, denn Sterne scheinen mir ganz einfach nicht anwendbar. Das sollte nicht als Film angesehen werden, sondern als eine Tatsache oder vielleicht als ein Objekt.» Der Film wurde zum Kultobjekt und Waters zum Anti-Establishment-Star. 93 Min / Farbe / 35 mm / E // DREHBUCH, KAMERA, SCHNITT UND REGIE John Waters // MIT Divine (Divine/Babs Johnson), David Lochary (Raymond Marble), Mary Vivian Pearce ­(Cotton), Mink Stole (Connie Marble), Danny Mills (Crackers), Edith Massey (Edie), John Waters (Erzähler).

FEMALE TROUBLE USA 1974 «Pink Flamingos zu toppen ist eine echte Herausforderung, aber John Waters, der Poeta laureatus der Kotze, und die scharlachrote Diva Divine nehmen in ihrem durchgeknallten Folgefilm den Handschuh mit Verve auf. Diesmal geht es um eine gewisse Dawn Davenport, deren Dasein, von der Ouvertüre mit dem Nachsitzen in der Schule bis zum Finale auf dem elektrischen Stuhl, im Zeichen der Sucht nach dem Rampenlicht steht. Nach dem Auftakt mit Dawns titanischem Tobsuchtsanfall am Weihnachtsmorgen, weil sie die ersehnten Cha-Cha-Pumps nicht bekommen hat, führt der Plot sie durch einen schmuddeligen Strudel von Ereignissen. (...) Sie wird entdeckt von

den Dashers, dekadenten Poseuren, die sie als Verkörperung ihres Genet’schen Mottos ‹Verbrechen ist Schönheit› ansehen. (...) Waters’ Subversion schürft tiefer, indem die Übergriffe seiner ruhmbesessenen Heldin Warhols Credo über Berühmtheit spiegeln und am Schluss in Ekstase aufgehen – im Gegensatz zu den perfiden Dashers, deren Fimmel fürs Abscheuliche entsexualisiert, antiseptisch und letztendlich verlogen ist, taucht Dawn kopfüber hinein, treibt es aufs Äusserste und geht erhaben daraus hervor, wie eine perverse Jeanne d’Arc.» (Fernando F. Croce, cinepassion.org) 89 Min / Farbe / 35 mm / E // DREHBUCH, KAMERA UND REGIE John Waters // SCHNITT Charles Roggero, John Waters // MIT Divine (Dawn Davenport/Earl Peterson), David Lochary (Donald Dasher), Mary Vivian Pearce (Donna Dasher), Mink Stole (Taffy Davenport).

DESPERATE LIVING USA 1977 Die psychisch angeschlagene Bürgersfrau Peggy Gravel erträgt weder ihre Kinder noch ihren Gatten. Als dieser von Peggys übergewichtigem schwarzem Hausmädchen Grizelda bei einer Auseinandersetzung plattgemacht wird, müssen die beiden Frauen fliehen. In Mortville, einer bizarren Siedlung gesellschaftlicher Aussenseiter, werden sie von Mole McHenry und ihrer Freundin Muffy St. Jacques aufgenommen, sehen sich aber bald den Übergriffen der tyrannischen Queen Carlotta ausgesetzt. «Desperate Living schwelgt in der Travestie körperlicher Exzesse und verwandelt gängige Märchenmotive in eine Persiflage über vorherrschende sexuelle Sitten. Die böse Königin ist eine allesfressende Barrakuda-Mutter mit einer Vorliebe für Ledermänner und frisst das subproletarische Volk ihres Reichs mit einer Gier, die nur von ihrem perversen Sadismus gezügelt wird. Ihre Tochter, die Prinzessin, ist gefangen in ihrem heterosexuellen Streben nach einer Romanze und wird schliesslich gerettet durch den rebellischen Aufstand lesbischer transsexueller Heldinnen, die die matriarchalische Diktatur stürzen. Der Film lotet zielstrebig die Grenze aus, an ­welcher Hedonismus in Abscheu kippt, feiert das Fleischliche und tritt ein für marginalisierte ­Formen von Sexualität sowie für die Lust als List, was weit weniger frauenfeindlich ist als der geschmäcklerische Ästhetizismus von Softpornos.» (Claire Pajaczkowska, timeout.com) 90 Min / Farbe / 35 mm / E // DREHBUCH UND REGIE John Waters // KAMERA Thomas Loizeaux, John Waters // MUSIK


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John Waters. Chris Lobingier, Allen Yarus // SCHNITT Charles Roggero // MIT Liz Renay (Muffy St. Jacques), Mink Stole (Peggy Gravel), Susan Lowe (Mole McHenry), Edith Massey (Queen Carlotta), Jean Hill (Grizelda Brown).

POLYESTER USA 1981 «Für seine typisch subversive Version eines Hollywood-Melodramas verlegte Waters seinen Fokus von den städtischen Nischen Baltimores hinaus in dessen mittelständische Vororte. Divine, in seiner zweitletzten Rolle bei Waters, spielt eine spitznasige Vorstadt-Hausfrau, die zerrissen ist zwischen den Ansprüchen ihres untreuen, Porno verhökernden Gatten und ihrem Leim schnüffelnden Sohn, einem Fussfetischisten, der polizeilich gesucht wird, weil er einer Reihe von Frauen die Zehen zerfleischt hat. Trost findet sie nur in der Gesellschaft ihrer alten Freundin Cuddles und in ihrer neuen, heimlichen Romanze mit dem smarten Arthouse-Kino-Besitzer Todd Tomorrow (Tab Hunter, ein Hollywoodstar, der wegen seines klassisch-guten Aussehens als lächerlicher – und ostentativer – Fremdkörper inmitten von Waters’ ‹Dreamlander›-Ensemble erscheint). Präsentiert in Odorama, einem von Waters ausgeheckten ­System, bei dem die Kinogänger mit Duftkarten ausgestattet wurden, an denen sie während der Vorstellung riechen sollten, ist Polyester ein entscheidender Übergangsfilm in Waters’ Karriere sowie ein Schlüsselwerk in der Geschichte der schwarzen Komödie über die verkommenen Vorstädte.» (Brian Brooks, filmlinc.com, 23.7.2014) 86 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE John Waters // KAMERA David Insley // MUSIK Michael Kamen // SCHNITT Charles Roggero // MIT Divine (Francine Fishpaw), Tab Hunter (Todd Tomorrow), Edith Massey (Cuddles ­Kovinsky), David Samson (Elmer Fishpaw), Mary Garlington (Lu-Lu Fishpaw), Ken King (Dexter Fishpaw).

HAIRSPRAY USA 1988 «Hairspray spielt 1962 in Baltimore, wo eine Sendung namens ‹The Corny Collins Show› im Mittelpunkt der örtlichen Teenager-Träume steht. Die Kids in Cornys Show sind tolle Tänzer, über deren ungeformten Gesichtern sich groteske Haarmas­ sen türmen. Sie sind ‹beliebt›. Sie sitzen im ‹Rat›, einem quasidemokratischen Gremium von Teenagern, die Corny in Sachen Musik beraten und das Vorsprechen der Kids überwachen, die in der Sendung auftreten wollen. Eine Jugendliche, die sich nach einem Auftritt in der Show sehnt, ist Tracy,

dick, aber die bessere Tänzerin als die schlanke Amber. Die Filmhandlung dreht sich lose um Tracys Versuche, eine Talentshow zu gewinnen und einen Platz im ‹Rat›zu erobern und um die Versuche von Amber und ihren ehrgeizigen Eltern, dies zu verhindern.» (Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 26.2.1988) Hairspray, im Grunde ein nostalgisch angehauchtes Plädoyer für Gleichheit und Toleranz, wurde zu Waters’ grösstem Kassen- und Crossover-Erfolg. Dass 19 Jahre später ein MusicalRemake entstehen würde, in dem John Travolta in die Fussstapfen von Divine als Tracys Mutter Edna tritt, hätte sich Waters freilich in seinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt. 92 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE John Waters // KAMERA David Insley // MUSIK Kenny Vance // SCHNITT Janice Hampton, Charles Roggero // MIT Sonny Bono (Franklin von Tussle), Ruth Brown (Motormouth Maybelle),

Divine (Edna Turnblad/Arvin Hodgepile), Deborah

Harry (Velma von Tussle), Ricki Lake (Tracy Turnblad), ­Colleen Fitzpatrick (Amber von Tussle).

CRY-BABY USA 1990 Baltimore, 1954. Cry-Baby ist ein jugendlicher Straftäter, an dessen Wange eine dauerhafte Träne prangt, die ihn ewig an eine Tragödie gemahnen soll. Allison, ein braves Mädchen aus gutem Hause, hat zwar einen ebenso braven Verehrer, aber eigentlich zieht es sie zu Cry-Baby, der vielleicht wirklich so schlimm ist, wie alle sagen. «John Waters gibt sich nicht damit zufrieden, alte Presley-Filme im TV zu sehen, sondern hat einen brandneuen gedreht, im Stil eines Cecil B. DeMille mit Teenie-Fimmel. (...) In Cry-Baby spielt Fernsehserien-Frauenschwarm Johnny Depp den bösen Titel-Buben. (...) Der Film umgibt ihn mit einem grossen und lebhaften Ensemble von Nebendarstellern, das die kulturellen Polaritäten seiner Zeit vor Augen führt, vom Bösen (Traci Lords, höchst wirkungsvoll als fauchende, höhnische Sexnudel Wanda) bis zum langweilig Guten (Amy Locane mit ihrem süssen Gesicht, perfekt besetzt als nettes Mädchen namens Allison, das fürs Leben gern unanständig würde). Es besteht kein Zweifel, wem Mr. Waters’ Sympathien gelten. Freilich mag er eine gute BunnyHop-Einlage oder eine umwerfend alberne Darbietung von ‹Mr. Sandman›, aber die eigentliche Freude erwächst daraus, zuzusehen, wie die allzu wohlerzogenen Figuren der Geschichte erkennen, dass sie auf dem Holzweg sind.» (Janet Maslin, The New York Times, 6.4.1990)


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John Waters. 85 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE John Waters // KAMERA David Insley // MUSIK Patrick Williams // SCHNITT Janice Hampton // MIT Johnny Depp (Cry-Baby), Amy Locane (Allison Vernon-Williams), Susan Tyrrell ­(Ramona Rickettes), Polly Bergen (Mrs. Vernon-Williams), Iggy Pop (Belvedere Rickettes), Ricki Lake (Pepper Walker), Traci Lords (Wanda Woodward).

SERIAL MOM USA 1994 Beverly Sutphin ist die vollendete Hausfrau und eine fürsorgliche Gattin und Mutter wie aus einem amerikanischen Bilderbuch. Doch ihr Perfek­ tionswahn hat seine Schattenseite: Wer ihre tadellose Existenz besudelt, springt über die Klinge, sei es eine Stubenfliege auf dem Esstisch oder der Lehrer, der Beverlys Sohn kritisiert. Während ihre Nachbarn nicht glauben mögen, dass Mrs. Sutphin eine Serienmörderin ist, haben ihre Kinder als Splatterfilm-Konsumenten eher einen Sinn dafür. «Ein böses Kabinettstückchen ist John Waters mit Serial Mom gelungen. Eine denkbar geeignete Komplizin dafür hat er in seiner Hauptdarstellerin gefunden. Mit vielen kleinen, aber stimmigen Gesten liefert Kathleen Turner (...) die beste Darstellung seit Jahren, seit The Accidental Tourist und dem – durchaus artverwandten – Film War of the Roses. Sie lädt ihre Beverly mit einer kontrollierten, selbstgerechten Wut auf, die sich nach aussen allenfalls in leisem Schnauben oder indignierten Blicken manifestiert. Aber wehe, wenn sie losgelassen; dann geht Mrs. Sutphin zu Werke, als wolle sie einen Truthahn für Thanksgiving tranchieren.» (Peter Strotmann, Filmdienst 1994/10) 93 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE John Waters // KAMERA Robert M. Stevens // MUSIK Basil Poledouris // SCHNITT Janice Hampton, Erica Huggins // MIT ­Kathleen Turner (Beverly Sutphin), Sam Waterston (Eugene Sutphin), Ricki Lake (Misty Sutphin), Matthew Lillard (Chip Sutphin), Scott Wesley Morgan (Detective Pike), Walt ­MacPherson (Detective Gracey), Justin Whalin (Scotty).

PECKER USA 1998 Der halbwüchsige Imbissbuden-Angestellte Pecker lebt im schäbigen Teil von Baltimore und macht Fotos von seiner Umwelt und seinen Mitmenschen. Eine New Yorker Galeristin entdeckt den Niemand und macht ihn in der Grossstadt zum Star. Das gibt John Waters Anlass zu einer Kulturkonflikt-Satire, die allerdings eher liebenswert

als bösartig daherkommt, selbst wenn er von nicht ganz salonfähigen Dingen erzählt: «Es ist ein süsser Film über Themen, die niemand sonst in einem Film als süss darstellen würde. Es gibt fröhliche, wonnige Szenen über lesbische Stripperinnen, Sex an der Wahlurne, Ratten beim Liebesakt und ‹Schamhaar-Belästigung›, Dinge, die wohl nicht jedermanns Sache sind.» (John Waters im Interview mit Michel Bodmer, 19.1.1998) Waters’ zweigleisige Hommage an das Baltimore der Arbeiter und die abgehobene Kunstszene Manhattans soll nicht so sehr provozieren als amüsieren. Kein Wunder, geben sich neben den Jungstars Edward Furlong und Christina Ricci auch echte Foto-Stars wie Greg Gorman und Cindy Sherman für diesen Spass her. (mb) 87 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE John Waters // KAMERA Robert M. Stevens // MUSIK Stewart Copeland // SCHNITT Janice Hampton // MIT Edward Furlong (Pecker), Christina Ricci (Shelley), Bess Armstrong (Dr. Klompus), Mark Joy (Jimmy), Mary Kay Place (Joyce), Martha Plimpton (Tina), Brendan Sexton III (Matt), Greg Gorman, Cindy Sherman.

CECIL B. DEMENTED Frankreich/USA 2000 Der Kinoangestellte Sinclair mutiert nach Feierabend zu Cecil B. DeMented, Boss einer Bande von Underground-Filmfreaks namens «Sprocket Holes» (dt.: Perforationslöcher). Die Diva Honey Whitlock, Inbegriff der korrupten Oberflächlichkeit Hollywoods, wird von der Gang entführt und in den Dienst des Guerilla-Filmschaffens gestellt. Cecil macht der schicken Zicke klar, dass ihre Hollywood-Freunde sie nun fallen lassen. Also macht Honey gute Miene zum bösen Lichtspiel, um unter Cecils Regie ihre vielleicht letzte, aber bestimmt spektakulärste Rolle zu verkörpern. In seiner selbstironischen Hommage ans Underground-Kino rechnet Waters ab mit Hollywood-Kitsch wie Forrest Gump und Patch Adams und mokiert sich über die erotischen Wirrungen der Heterosexuellen. Melanie Griffith spielt lustvoll den Star, der die Seiten wechselt – wie einst das Promi-Entführungsopfer Patty Hearst, das Waters einmal mehr in einer Nebenrolle auftreten lässt. (mb) 87 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE John Waters // KAMERA Robert M. Stevens // MUSIK Basil Poledouris, Zoë Poledouris // SCHNITT Jeffrey Wolf // MIT Melanie Griffith (Honey Whitlock), Stephen Dorff (Cecil), Alicia Witt (Cherish), Adrian Grenier (Lyle), Lawrence Gilliard Jr. (Lewis), Maggie Gyllenhaal (Raven), Jack Noseworthy (Rodney).



13 Fredi M. Murer

Cineastische Mahnwachen Zum 75. Geburtstag von Fredi M. Murer, der Leitfigur des Schweizer Films, zeigt das Filmpodium seine drei grossen «Berg»-Filme aus den siebziger und achtziger Jahren sowie den (sub)urbanen Grauzone: seismographische Erkundungen aus dem Landesinnern, deren gesellschaftspolitische Aktualität frappiert. Es gibt in Grauzone, diesem hochästhetisch-unterkühlten Zürich-Porträt von 1979, eine Szene von entwaffnender Beiläufigkeit: Walo Lüönd in der Rolle des Nachtwächters hat eben den Schnüffler Alfred (Giovanni Früh) von einem Baum heruntergeholt und bietet ihm nun seine Couch zum Übernachten an. Da liegt er dann, der am Überwachungs- und Geheimhaltungsauftrag irre Ge­ wordene, ausgestreckt auf dem Sofa, am Kopfende steht der Gastgeber, und auf einmal ist nicht mehr so klar, wer hier wen überwacht. Der Parkhüter den Sicherheitsbeamten – oder vielleicht doch umgekehrt? Das Setting, das an eine Psychoanalyse-Sitzung erinnert, ist nur schein­ bar hingeworfen. Einer, der wie Fredi M. Murer in Bildern denkt und Ge­ schichten erzählt, überlässt die Inszenierung seiner synästhetischen Leinwand­ welten selten dem Zufall. Seine über zwanzig Experimental-, Spiel und Dokumentarfilme sind – von der Cadrage über Kameraführung, Schnitt, Montage und Dramaturgie – allesamt sehr subtile und präzise Kompositio­ nen. Ihre Würze liegt im subversiven Bildwitz, ihr Movens ist die raffinierte Spiegelung. Grauzone, Murers erster Spielfilm überhaupt, erschien, fünf Jahre nachdem er – zurück aus dem selbst gewählten Exil in London und auf der Suche nach seinen Wurzeln – mit Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind (1974) den Film vorgelegt hatte, der zum doku­ mentarischen Standardwerk des Schweizer Films werden sollte. Welcher Schweizer Regisseur, welche Schweizer Filmemacherin hat sich in den letzten zwanzig Jahren – oft im Namen der Swissness – nicht am Handwerk der Berg­ bauern und an den Traditionen dieses Landes abgearbeitet? In vielem nimmt Wir Bergler …, diese kundige, unsentimentale ethno­ logische Bestandsaufnahme aus den Urner Tälern, Motive, Gestaltungsmittel und eine künstlerische Haltung vorweg, die Murers Œuvre prägen: die Abge­ schiedenheit und Enge der Bergwelt, den «kleinen Hunger», der ein langes Le­

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Bedrohtes Innerschweizer Idyll: Der grüne Berg Scheinbar heile Welt auf der Alp: Höhenfeuer


14 ben garantiert, die archaischen Bräuche und Sagenwelten, den Druck der Ökonomie – und immer wieder die Frage, welche Zukunft diese Welt für die Nachkommen bereithält. Erst zaghaft bringen Jugendliche im Off fehlende Chancen bei der Aus­ bildung und in der Arbeitswelt zum Ausdruck, aber auch die Verlockungen des Unterlandes (die Alten halten kräftig dagegen); die Abwanderung und Überalterung der Bevölkerung klingen als Probleme an. In einer Art Konklu­ sion hält die Schlusseinstellung die sich anbahnenden Veränderungen poe­ tisch fest: Aus der Vogelperspektive fängt die Kamera (Iwan Schumacher) zu knurrenden Celloklängen eine Korporationsversammlung unter freiem Him­ mel ein, aus der sich nach und nach die Teilnehmer entfernen. Aus der Enge der Berge Die Auflösung der Gemeinschaft, die sich in dieser dokumentarischen Selbst­ versicherung ankündigt, der Impuls, sich aus einer durch topografische Be­ schränkungen, religiöse Dogmen und soziale Kontrolle beengenden Existenz zu befreien – aus- und aufzubrechen: dieses Thema variiert Murer in den nachfolgenden Spielfilmen mit zunehmender Dringlichkeit. Mit Nachtbildern in Schwarzweiss, Tunnelfahrten, Überwachungskameras in Grossaufnahme und einer sphärischen Tonspur schafft er in Grauzone eine Atmosphäre der allumfassenden Bedrohung. Längst hat sich Alfred innerlich aus der Ehe mit Julia verabschiedet, sich in der anonymen Wohnblocksiedlung hinter dem Fernrohr am Fenster – und im Schweigen – verschanzt. «Wortkarg kann man sein», zitiert der Film den Abschiedsbrief eines spurlos Verschwundenen, «sprachlos wird man gemacht.» Die Zeichen einer sich auflösenden Gesellschaft sind überdeutlich. Und es ist nicht allein der physikalischen Logik geschuldet, dass der Ausbruch aus einem rigiden Kontroll- und Überwachungsapparat entsprechend heftig er­ folgt. Murers visionärer Stadtfilm erscheint, kurz bevor an der Limmat die Achtziger-Jahre-Unruhen ausbrechen; er trägt in sich – neben einem aus heu­ tiger Sicht umwerfenden Zeitkolorit u. a. mit Römertopf und Wandteppich – die Ahnung einer grösseren Erschütterung. Für den Akt der Rebellion hat der Kameramann Hans Liechti ein Bild von stupender Schlichtheit gefunden: Ein Haus explodiert und fällt in sich zusammen. Still und regungslos, trotz der Gewalt, die der Sprengung innewohnt. Mythische Dimensionen In Höhenfeuer dann, seinem Opus magnum von 1985, bringt Murer die Di­ chotomie von Gefängnis und Befreiung noch einmal auf eine andere Stufe. Im Drama um den taubstummen «Bub», der sich mit erwachender Sexualität zu­ erst in namenlose Verzweiflung und danach in die inzestuöse Liebe zu seiner Schwester Belli ergibt, spielt die Bergwelt zwar eine konstituierende Rolle.


15 ZWEI BEGEGNUNGEN MIT FREDI M. MURER

9. OKTOBER 18.15/21 UHR UND 5. NOVEMBER, 18.15 UHR

Fredi M. Murer, der mehrfach ausgezeichnete Spiel- und Dokumentarfilmregisseur, wird am 1. Oktober 75 Jahre alt. Da dieser Termin ins Zurich Film Festival fällt, holen wir die kleine Geburtstagsfeier am Freitag, 9. Oktober nach. Um 18.15 Uhr führt Fredi M. Murer in Grauzone ein. Mit diesem Film hat er 1979 den Nerv der Zeit so gut getroffen, dass er damit etliche Zeitgenossen gehörig nervte und von manchen heftig angegriffen wurde. Aus 36 Jahren Distanz wird Murer kleine Einblicke in das damalige Klima geben. Im Anschluss an den Film offerieren das Filmpodium und sein Förderverein Lumière einen ­Geburtstagsapéro, bei dem auch die von Walter Ruggle neu herausgebrachte DVD-Box mit Murers «Berg-Filmen» aus der Taufe gehoben wird. Gelegenheit, einen dieser Filme im Kino zu sehen, gibt es am selben Abend um 21 Uhr: Dann ist Der grüne Berg zu sehen, wiederum eingeführt von Fredi M. Murer. Als Geburtstagsgeschenk haben wir Fredi M. Murer eine Carte blanche angeboten; seine Wahl ist auf Yazujiro Ozus Ich wurde geboren, aber … gefallen. Fredi M. Murer wird diesen japanischen Stummfilmklassiker, live begleitet von seinem Wunsch-Pianisten André Desponds, am 5. November um 18.15 Uhr präsentieren.

Und der visuelle Magier Pio Corradi ringt der steinigen Kulisse Bilder von ar­ chaischer Ausdruckskraft ab. Der Konflikt des Buben aber gilt im klassischtragischen Sinne seiner Herkunft. Vom Instinkt getrieben, gelingt ihm die ra­ dikale Ich-Setzung nur im (ungewollten) Vatermord. Geburt und Tod, die sich gegenseitig bedingen; Werden und Vergehen als unauslöschliches Prinzip des Lebens: Sie rücken Höhenfeuer in eine ­mythische Dimension. Die Sprachlosigkeit des Buben ist vor diesem Hinter­ grund – vielleicht – auch ein Verstummen vor der Erbschuld. Nicht von un­ gefähr schenkt er Belli, der Schwester und Geliebten, einen Spiegel, um sie zu besänftigen. Worin in dieser unerbittlichen Conditio humana der Auftrag des Menschen liegt, zeigt das Schlussbild dieses Meisterwerks, das sich als Ange­ bot zur Versöhnung liest: Von einer Kerze beschienen, liegen die toten Eltern in ihrem Schneesarg auf dem Hof; ihr Erbe leuchtet hell in die Zukunft. Noch einmal hält der Regisseur fünf Jahre später in Der grüne Berg (1990) den Finger auf den wunden Punkt: den Umgang der Menschheit mit dem, was ihr eine jahrtausendealte Geschichte und Kultur hinterlassen hat. Wie in einem archäologischen Verfahren legt der Dokumentarfilm, ausge­ hend von den Sondierbohrungen der Nagra am Wellenberg, die damals wie heute ungelösten Fragen des nuklearen Abfalls frei. Wir brauchen Murers ci­ neastische Mahnwachen weiterhin. Nicole Hess

Nicole Hess war lange Jahre Filmkritikerin (NZZ, Radio SRF 2) und Filmredaktorin beim Tages-Anzeiger.


> Grauzone.

> Ich wurde geboren, aber‌.


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Fredi M. Murer.

WIR BERGLER IN DEN BERGEN SIND EIGENTLICH NICHT SCHULD, DASS WIR DA SIND Schweiz 1974

ein Pulsmesser der damaligen Zeit.» (Yvonne Zimmermann, Zuger Zeitung, 1.11.1993) 99 Min / sw / 35 mm / D/Dialekt // REGIE Fredi M. Murer // DREHBUCH Fredi M. Murer, Ursula Bischof, Jean-Pierre Hoby // KAMERA Hans Liechti // MUSIK Mario Beretta, Beo

Während der Recherche zum ursprünglich ge­­ planten Projekt – eine filmische Inszenierung von Urner Bergsagen – kam Fredi M. Murer in Kontakt mit der weniger mythologischen als zeitgenössischen Innerschweizer Kultur und entschloss sich dazu, einen ethnografischen Dokumentarfilm zu drehen. Murer, der vor der Realisation des Films längere Zeit im Ausland gelebt hatte, versteht Wir Bergler … heute als «eine Art Versöhnung mit der Schweiz» (Neue Urner Zeitung, 5.4.2008). «Murer will weder die alten Klischees aufwärmen oder die einstige Bergbauernkultur gefriertrocknen, noch diese Folklore durch andere graue Klischees und Simplifizierungen ersetzen. Er will verstehen lernen und uns an diesem Prozess, der eng mit unserer eigenen Identität verquickt ist, teilhaben lassen.» (Bruno Jaeggi, Die Tat, 15.6.1974) «Eine von der Liebe zur Natur und zu den Menschen getragene Wahrheitssuche, die als Basis für Höhenfeuer verstanden werden kann.» (Fred Zaugg, Der Bund, 2.8.2007) 108 Min / Farbe / DCP / Dialekt/d // REGIE Fredi M. Murer // DREHBUCH Fredi M. Murer, Jean-Pierre Hoby, Georg Kohler // KAMERA Iwan P. Schumacher // SCHNITT Eveline Brombacher, Fredi M. Murer.

GRAUZONE Schweiz 1979

Oertli // SCHNITT Rainer Trinkler // MIT Giovanni Früh (Alfred), Olga Piazza (Julia), Ernst Stiefel (Konzernchef), ­ ­Mathias Gnädinger (Taxifahrer), Michael Maassen (Instinktforscher), Jürgen Brügger, George Reinhart (Entführer).

HÖHENFEUER Schweiz 1985 In Locarno 1985 als bester Spielfilm prämiert, belegt Höhenfeuer auch heute den Spitzenplatz im Ranking der besten Schweizer Filme (Erhebung des Filmmagazins Frame, November 2014). In leisen Tönen und starken Bildern wird eine ­Geschichte um Liebe, Familie und Tod in den Urner Alpen erzählt: Belli und ihr meist nur «Bueb» genannter gehörloser Bruder fristen mit ihren ­Eltern ein abgeschiedenes Dasein, geprägt von harter Arbeit und archaischen Werten. Mit ihrem Intellekt und ihrer Spitzzüngigkeit begehrt Belli gegen die Eltern auf, die ihr den Beruf als Lehrerin verboten haben, während der Junge in jugendlichem Übermut Eigentum zerstört und Stein­ skulpturen erschafft. Aus der lang gehegten Zuneigung zwischen den Geschwistern entwickeln sich schliesslich Konsequenzen in der «Dimension einer griechischen Tragödie» (Matthias Lerf, SonntagsZeitung, 7.8.2011). 115 Min / Farbe / DCP / Dialekt/d // DREHBUCH UND REGIE Fredi M. Murer // KAMERA Pio Corradi // MUSIK Mario ­Beretta // SCHNITT Helena Gerber // MIT Thomas Nock

Eine mysteriöse Epidemie sucht die Schweiz heim. Die Symptome: ein plötzlicher Drang ins Freie zu gehen, unvermittelte Melancholie, allgemeine Sensibilisierung. Ein unbeabsichtigt veröffentlichtes Inserat informiert über die Krankheitswelle und löst Verunsicherung aus, die auch in die uniforme Vorstadtidylle Zürichs eindringt. Hier leben Julia und ihr Mann Alfred, der neben seiner Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter ein Doppelleben als Abhörspezialist führt und immer tiefer in eine Sinnkrise gerät. «Ein Film, der im Niemandsland zwischen Stadt und Land angesiedelt ist und den verbetonierten Lebensraum mit seinen Hasenstall-ähnlichen Wohnblocks geschickt einsetzt als Symbol für die Entfremdung des Menschen von sich selbst und seiner von der Gesellschaft gesteuerten Fremdbestimmung. Grauzone, ein fiktiver Dokumentarfilm, spiegelt intensiv nachvollziehbar die im Drehjahr 1978 herrschende Orientierungslosigkeit. (…) Grauzone wirkt in diesem Sinn wie

(Bub), Johanna Lier (Belli), Dorothea Moritz (Mutter), Rolf ­Illig (Vater), Tilli Breidenbach (Grossmutter), Jörg Odermatt (Grossvater). Höhenfeuer gehört auch in die Reihe «Das erste Jahrhundert des Films: 1985». Siehe S. 19 ff.

DER GRÜNE BERG Schweiz 1990 Dreh- und Angelpunkt dieses Films ist der Wellenberg, ein von Bauern bewohnter und bewirtschafteter Hügel inmitten des Engelbergertals. In dieser urwüchsigen Idylle werden Ende der achtziger Jahre die ersten Endlagerpläne für Atommüll ­ angelegt. Als «filmische Landsgemeinde» konzipiert, lässt Murers Dokumentarfilm Experten, B ­ ehörden sowie besorgte Anwohner gleichermas­ sen zu Wort kommen. So zelebriert er die respektvolle Begegnung als


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Fredi M. Murer. Form realpolitischer Auseinandersetzungen, schärft das Bewusstsein für eine akute Problematik und hält nicht zuletzt ein Plädoyer für Nachhaltigkeit auf Generationen hinaus. «Der grüne Berg, als kleines Nebenprodukt auf dem Weg zum nächsten Spielfilm geplant, entwickelte sich bald zu einem abendfüllenden Dokumentarfilm. Ein wichtiger Beitrag zur Frage der Verantwortung von Mensch und Gesellschaft gegenüber Natur und Nachwelt, ein spannungsgeladenes Dokument in Sachen abgewirtschafteter Demokratie.» (Walter Ruggle, Tages-Anzeiger, 5.6.1990) 128 Min / Farbe / DCP / Dialekt/d // DREHBUCH UND REGIE Fredi M. Murer // KAMERA Pio Corradi // MUSIK Fritz Hauser // SCHNITT Kathrin Plüss.

ICH WURDE GEBOREN, ABER ... (Umarete wa mita keredo) Japan 1932

es Ozu, die Elemente des Tragikomischen sinnfällig miteinander zu verknüpfen. Die Komik des Films resultiert vor allem aus der betörenden Unschuld der Kinder und dem sichtlich ridikülen Gebaren der Erwachsenen. Die Wehmut folgt aus ihrer (und unserer) Erkenntnis, dass es in der Welt so etwas Unlogisches wie gesellschaftliche Unterschiede gibt, die man akzeptieren muss, wenn man überleben will.» (Beverley Bare Buehrer: Japanese Films, McFarland 1990) «In diesem Film vereinigte Ozu nahezu perfekt die zahlreichen Elemente, die seinen Stil prägten, mit seiner persönlichen Sicht der Dinge. Vom Genre her ein ‹shomin-geki›, zeigt der FiIlm sehr deutlich die Rigidität der japanischen Gesellschaft. (…) Der Film ist eine – wenngleich ernste – Komödie; nie mehr werden die beiden Jungen sein, was sie einmal waren.» (Donald Richie: Ozu, California Press 1977) 100 Min / sw / 35 mm / Stummfilm, jap. und dt. Zw’titel // REGIE Yasujiro Ozu // DREHBUCH Akira Fushimi, Geibei Ibushiya // KAMERA Hideo Shigehara // SCHNITT Hideo Shige-

Nach dem Umzug in ein Aussenquartier von Tokio müssen zwei Knaben sich mit den neuen Schulkameraden zusammenraufen. Ausserdem realisieren sie, dass ihr Vater nicht der Grösste, sondern ein kleiner, unterwürfiger Angestellter ist. «Ich wurde geboren, aber … war einer der letzten grossen Stummfilme. Wie Chaplin verstand

hara // MIT Tatsuo Saito (Kenosuke Yoshii, der Vater), Mitsuko Yoshikawa (Eiko Yoshii, die Mutter), Tokkan-Kozo (Keiji, der jüngere Sohn), Hideo Sugawara (Ryoichi, der ältere Sohn), Takeshi Sakamoto (Direktor Iwasaki). Ich wurde geboren, aber ... ist ein Wunschfilm von Fredi M. Murer.

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19 Das erste Jahrhundert des Films

1985 Die Zeit – Vergangenheit, Zukunft und dabei natürlich immer auch die Ge­­ genwart – steht im Zentrum der Filmauswahl des Jahres 1985. Mit seinem Monumentalwerk Shoah schafft es Claude Lanzmann, dem Schrecken des Holocausts im Zweiten Weltkrieg so nahezukommen, wie es vielleicht nur möglich ist. Indem er die Aussagen der Opfer und Täter mit Bildern aus der Gegenwart koppelt, weist er sie als Erinnerungen aus, die bis ins Heute nach­ wirken. Elem Klimows Komm und sieh schildert die Gräuel des Krieges durch die Augen des 14-jährigen Fljora. Wenn dieser am Ende auf ein Porträt H ­ itlers schiesst, läuft die Zeit rückwärts und das Medium Film erweist sich als Zeit­ maschine, mit seinen Möglichkeiten und Grenzen. Diese Grenzen scheint Robert Zemeckis’ Back to the Future zu sprengen, wenn der Zeitreise-Spass zwischen Vergangenheit und Gegenwart um die Existenz seines eigenen Hel­ den spielt. Terry Gilliams orwellsche Fantasie Brazil wiederum erscheint als Paralleluniversum, als überspitztes Spiegelbild der achtziger Jahre, das in die Zukunft und damit in unsere Gegenwart weist. La historia oficial und Le thé au harem d’Archimède setzen sich dagegen nüchtern mit der Gegenwart des Jahres 1985 auseinander. Kurz nach Ende der argentinischen Militärdiktatur richtet Luis Puenzo kompromisslos den Blick auf ein dunkles, bis heute nicht abgeschlossenes Kapitel des Landes: das Verschwinden regimefeindlicher Bürger und die Zwangsadoption ihrer Kinder. Demgegenüber gelingt es Meh­ di ­Charef, mit humorvollem Unterton die Sorgen zweier Jugendlicher und ihr Leben in den Pariser Banlieues aufzugreifen. Auch Fredi M. Murers Höhenfeuer ist zwar in seiner 1980er-Jahre-Gegenwart angesiedelt, scheint aber in der Abgeschiedenheit seiner Bergbauernwelt von einer längst vergangenen, archaischen Zeit zu berichten. Marius Kuhn Das erste Jahrhundert des Films In der Dauerreihe «Das erste Jahrhundert des Films» zeigen wir im Lauf von zehn Jahren rund 500 ­wegweisende Werke der Filmgeschichte. Die Auswahl jedes Programmblocks ist gruppiert nach Jahrgängen, woraus sich schliesslich 100 Momentaufnahmen des Weltkinos von 1900 bis 1999 ergeben. ­Referenzzahl ist jeweils der aktuelle Jahrgang, d. h. im Jahr 2015 sind Filme von 1915, 1925, 1935 usw. zu sehen. Weitere wichtige Filme von 1985 Kiss of the Spider Woman Hector Babenco, Brasilien/USA Männer … Doris Dörrie, BRD Mishima: A Life in Four Chapters Paul Schrader, USA/J Mitt liv som hund (Mein Leben als Hund) Lasse Hallström, Schweden My Beautiful Laundrette Stephen Frears, GB Otac na sluzbenom putu (Papa ist auf Dienstreise) Emir Kusturica, Jugoslawien Out of Africa Sydney Pollack, USA Ran Akira Kurosawa, J

Rendez-vous André Téchiné, F Sans toit ni loi Agnès Varda, F Subway Luc Besson, F The Breakfast Club John Hughes, USA The Color Purple Steven Spielberg, USA The Purple Rose of Cairo Woody Allen, USA To Live and Die in L.A. William Friedkin, USA Vesnicko má stredisková (Heimat, süsse Heimat) Jiří Menzel, CSSR Wetherby David Hare, GB Witness Peter Weir, USA


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Das erste Jahrhundert des Films: 1985.

BRAZIL GB 1985 Um seinem tristen Alltag zu entkommen, verwandelt sich der Staatsangestellte Sam Lowry in ­seinen Tagträumen in einen geflügelten Helden mit schimmernder Rüstung, bereit, eine blonde Schönheit zu retten. Eines Tages trifft er bei der Arbeit auf eine junge Frau, die dem hilflosen Opfer aus seiner Einbildung verblüffend ähnelt. Auf der Suche nach ihr gerät Lowry immer stärker in die Fänge des allwissenden «Ministry of Information». Terry Gilliams zeitlich nicht genau verortete Dystopie treibt ihren Helden in das zerstörerische Getriebe einer übermächtigen Bürokratie. Das Schicksal der Hauptfigur weckt dabei Erinnerungen an den machtlosen Josef K. aus Franz Kafkas «Der Prozess» und an den allgegenwärtigen Überwachungsapparat in George Orwells Roman «1984». (mk) «Aus Zukunftsvisionen und Reminiszenzen an die Vergangenheit formt Gilliam Paradoxa, die man nur auflösen kann, wenn man bereit ist hinzunehmen, dass eigentlich die Gegenwart gemeint ist.» (Claudius Seidl, epd Film, 5/1985) «In Brazil sind die Anspielungen auf den bürokratisch organisierten Massenmord des deutschen Faschismus ebenso unübersehbar wie die Parodie eines medialen Totalitarismus, in den die

1980er Jahre langsam eintauchen und dessen Ende bislang nicht in Sicht ist. (…) Gilliam treibt diese Feier organisierter Destruktion konsequent ins Absurde, in eine kaum noch steigerungsfähige Form brutaler Sinnlosigkeit.» (Susanne Marschall, Reclam – Filmgenres: Science Fiction, 2007) «Terry Gilliam steht in einer Reihe mit den grössten Fantasten des Films, und Brazil ist fraglos sein Meisterwerk. (…) Die Handlung gleitet mühelos von umwerfender Komik und politischer Satire zu träumerischer Romantik und dystopischer Science Fiction. (…) Die Themen, welche er auslotet, (…) sind heute noch drängender als zur Zeit seiner Premiere. (…) Der Film ist einzigartig in seiner Darstellung einer Gesellschaft, die aufregend fremdartig und doch auf unheimliche Weise vertraut ist. Selten war eine verpfuschte Welt ein so atemraubender Ort zum Eintauchen.» (David Sterritt, The Criterion Collection, 4.12.2012) 142 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Terry Gilliam // DREHBUCH Charles McKeown, Tom Stoppard, Terry Gilliam // KAMERA Roger Pratt // MUSIK Michael Kamen // SCHNITT Julian Doyle // MIT Jonathan Pryce (Sam Lowry), Robert De Niro (Harry Tuttle), Katherine Helmond (Ida Lowry), Ian Holm (Kurtzmann), Bob Hoskins (Spoor), Michael Palin (Jack Lint), Ian Richardson (Warrenn), Kim Greist (Jill Layton), Peter Vaughan (Mr. Helpmann), Jim Broadbent (Dr. Jaffe).


Das erste Jahrhundert des Films: 1985.

LA HISTORIA OFICIAL Argentinien 1985 Argentinien, 1983: Das Ende des dreckigen Krieges und damit der Herrschaft der Militärjunta ist in Sicht, offene Wahlen stehen bevor. An ihrer Schule lehrt Alicia unbeirrt die «offizielle» Geschichte Argentiniens, spart die Gräueltaten der Diktatur – Folter, Verschwinden von Oppositionellen, Massenexekutionen – aus. Auf die drängenden Fragen ihrer Schüler reagiert sie mit Unverständnis und Härte. Die Rückkehr ihrer alten Freundin Ana aus dem Exil und die Demonstranten auf der Plaza de Mayo, die unentwegt für die Aufklärung der Zwangsadoptionen unter der Militärdiktatur kämpfen, zwingen die Mutter eines adoptierten Kindes, sich mit der noch «inoffiziellen» Geschichte des Landes auseinanderzusetzen. Schrittweise muss sie realisieren, dass auch ihre Familie untrennbar mit einem dunklen Kapitel des Landes verbunden ist. Zwei Jahre nach Ende der Diktatur thematisiert Luis Puenzo in seinem bei den Oscars und in Cannes ausgezeichneten Film das Schicksal der «Desaparecidos» (Verschwundenen) und ihrer Kinder, die an regimetreue Paare vergeben wurden. (mk) «Es sind die Aussagen verfolgter Personen, die erschüttern und spürbar machen, was es be-

deutet, denunziert und misshandelt zu werden oder Angehörige durch Verschleppung und Mord zu verlieren. Regisseur Luis Puenzo (…) legt einen ruhigen, perfekt inszenierten Spielfilm vor, der auch ohne spektakuläre Elemente seine Wirkung erzielt und nachdenklich stimmt.» (Georg Fietz, Filmbulletin, 4/1985) «Alicia wird im Film von (der zurückgekehrten Exilantin; Anm. d. Red.) Norma Aleandro gespielt. (…) Eine Darbietung, die man nicht vergessen wird. (…) In den Schlüsselmomenten des Films beobachten wir Aleandro und erahnen, was sich in ihren Gedanken und ihrem Gewissen abspielen muss. (…) Der Film läuft momentan in Argentinien, wo es für einen Teil der Zuschauer eine schier unerträgliche Kinoerfahrung sein muss. Für mich war es nahezu ebenso schmerzlich.» (Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 11.11.1985) 112 Min / Farbe / DCP / Sp/d // REEDITION // REGIE Luis ­Puenzo // DREHBUCH Luis Puenzo, Aída Bortnik // KAMERA Félix Monti // MUSIK Atilio Stampone // SCHNITT Juan ­Carlos Macías // MIT Héctor Alterio (Roberto), Norma Aleandro (Alicia), Chunchuna Villafañe (Ana), Hugo Arana (Enrique), ­ Guillermo Battaglia (José), Chela Ruíz (Sara), Patricio ­ ­Contreras (Benitez), María Luisa Robledo (Nata), Aníbal Morixe (Miller).

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Das erste Jahrhundert des Films: 1985.

KOMM UND SIEH (Idi i smotri) UdSSR 1985

«Gibt es so etwas wie eine filmische Klage? Einen alles andere überlagernden und verschlingenden Schmerz, der keinen Affekt mehr neben sich duldet? Wenn ja – Elem Klimows Komm und sieh (Idi i smotri) würde zu ihren reinsten Vertretern zählen. Der Film (…) (ist) einer der bemerkenswertesten Kriegsfilme überhaupt, entstanden während der Zeit der Perestroika, einen der Orientierungsmythen der UdSSR noch einmal ansprechend. Der Film erzählt die Geschichte des vierzehnjährigen Fljora, der gegen den Widerstand seiner Mutter helfen will, sein kleines russisches Dorf vor den einfallenden Deutschen zu verteidigen. Da seine Stiefel von einem fähigeren Widerstandskämpfer für den langen Marsch benötigt werden, wird Fljora zurückgelassen. Er soll stattdessen mit Alten und Kindern ein Reservelager einrichten. (…) Man wird an Bildvorstellungen des Dante’schen Infernos oder an die Bilder Brueghels erinnert, der Ton vertieft den Eindruck der Irrealität dessen, was geschieht. Die einzelnen Elemente des Szenarios sind präzise choreografiert, die Folge der Bilder orientiert sich weniger an den Handlungen eines oder mehrerer Akteure (wie im Kriegsfilm sonst üblich), sondern präsentiert das Geschehen in einer Folge von Bildtafeln, die keinen narrativen Zusammenhang aufweisen, sondern wie geronnene Ansichten das Geschehen umstellen, als solle die Zeit angehalten werden.» (Hans J. Wulff, Reclam – Filmgenres: Kriegsfilme, 2006).

LE THÉ AU HAREM D’ARCHIMÈDE Frankreich 1985 Mehdi Charefs Regiedebüt erinnert nicht von ungefähr an François Truffauts Les quatre cents coups: «Halbwüchsige, die durch die Strassen stromern, auf der Flucht vor der Erwachsenenwelt und auf der Suche nach der Verwirklichung ihrer Träume. Der 18-jährige Pat ist Franzose, sein etwa gleichaltriger Freund Madjid Algerier. Ihr Zuhause ist der heruntergekommene Brutal-Beton in La Courneuve, eine Fronburg, monströses Zeichen eines Wirtschaftswachstums, ohne Inhalt, Ziel und Sinn. (…) Pat und Madjid sind arbeitslos; der eine, weil er gar nicht arbeiten will, der andere, weil er nicht darf – als Ausländer. Vor der häuslichen Enge, den unentwegten Familienmaulereien, fliehen sie täglich: in die Stadt, die U-Bahn, die Kneipen, zu den Treffpunkten Gleichgesinnter. (…) Le thé au harem d’Archimède ist ein völlig schnörkelund ‹kunstloser› Film, der jeglichen unangebrachten Fortschrittsoptimismus (…) durch detailgenaue, ja detailbesessene Schilderung heutiger (Grossstadt-)Lebensumstände zu Fall bringt. Wie er die Suburbs ablichtet (…), das hat man mit solcher Genauigkeit schon lange nicht mehr (…) gesehen.» (Wolfram Knorr, Filmbulletin, 6/1985) 110 Min / Farbe / 35 mm / F/d // DREHBUCH UND REGIE Mehdi Charef // KAMERA Dominique Chapuis // MUSIK ­Karim Kacel // SCHNITT Kenout Peltier // MIT Kader Boukhanef (Madjid), Rémi Martin (Pat), Laure Duthilleul (Josette), Saïda Bekkouche (Malika), Nicole Hiss (Solange), Brahim Ghenaim (der Vater), Nathalie Jadot (Chantal).

HÖHENFEUER

146 Min / Farbe + sw / 35 mm / Russ/d/f // REGIE Elem ­Klimow

Schweiz 1985

// DREHBUCH Elem Klimow, Alexander Adamowitsch, nach dem Roman «Stätten des Schweigens» von Alexander ­Adamowitsch // KAMERA Alexei Rodionow // MUSIK Oleg

115 Min / Farbe / DCP / Dialekt/d // DREHBUCH UND REGIE

Jantschenko // SCHNITT Valeriya Belowa // MIT Alexei Kraw-

Fredi M. Murer.

tschenko (Fljora), Olga Mironowa (Glascha), Ljubomiras ­Lauciavicius (Kossatsch), Wladas Bagdonas, Viktor Lorenz.

Höhenfeuer läuft gleichzeitig in der Reihe «Fredi M. Murer». Inhaltsangaben siehe S. 17.


Das erste Jahrhundert des Films: 1985.

SHOAH Frankreich/GB 1985 Über 350 Stunden an Gesprächen mit Opfern und Tätern der Verbrechen des Nationalsozialismus sammelte Claude Lanzmann in elf Jahren, um sich dem Undarstellbaren anzunähern. Das Endresultat ist eine neunstündige Dokumentation über die Shoah, welche den Genozid in der Erinnerung zu fassen versucht. «Die Sprachlosigkeit des unbedarften Geschwätzes ist die adäquate Verlängerung jener sprachlosen Destruktivität, die Auschwitz der Geschichte hinzufügte. Claude Lanzmann setzt dagegen: die ‹langage› unabänderlicher, durch nichts zu beschwichtigender Trauer. (…) Festzuhalten (…), was nicht gesagt werden kann, weil die Stimme zerbricht, weil die Bilder der Erinnerung übermächtig werden und namenloses Entsetzen alles, was Sprache vermag, nichtig erscheinen lässt.» (Klaus Kreimeier, epd Film, 2/1986) «Es ist nicht einfach, über Shoah zu sprechen. Dieser Film hat etwas Magisches an sich, und Magie lässt sich nicht erklären. (…) Wenn wir heute den aussergewöhnlichen Film sehen, wird uns klar, dass wir nichts wussten. Trotz all unserer Kenntnisse war uns das grauenhafte Geschehen fremd geblieben. Jetzt erfahren wir es zum ersten Mal an uns selbst – in unseren Köpfen, in un-

seren Herzen, am eigenen Leib. Es wird zu unserer eigenen Erfahrung. Shoah ist weder Fiktion noch Dokumentation, es gelingt diesem Film, mit erstaunlich sparsamen Mitteln die Vergangenheit aufleben zu lassen: Orte, Stimmen, Gesichter. Claude Lanzmanns grosse Kunst besteht darin, dass er die Orte sprechen lässt, sie durch die Stimmen wieder ins Leben ruft und, über alle Worte hinaus, das Unsagbare von den Gesichtern ausdrücken lässt. (…) Ich möchte hinzufügen, dass ich eine solche Verbindung von Grauen und Schönheit nie für möglich gehalten hätte. Freilich, das eine dient nicht dazu, das andere zu verschleiern, es handelt sich nicht um Ästhetizismus, im Gegenteil: Die Schönheit bringt das Grauen so schöpferisch und unnachgiebig an den Tag, dass uns bewusst wird, dass wir ein grosses Werk vor uns haben. Ein wahres Meisterwerk.» (Simone de Beauvoir, Le Monde, 28.4.1985) Der Film Shoah wird in zwei Teilen gezeigt. Teil 1: 266 Min, Teil 2: 284 Min (gesamt: 550 Min) / Farbe / DCP / OV/d // REEDITION // DREHBUCH UND REGIE Claude Lanzmann // KAMERA Dominique Chapuis, Jimmy Glasberg, William ­Lubtchansky, Phil Gries // SCHNITT Ziva Postec, Anna Ruiz.

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Das erste Jahrhundert des Films: 1985.

BACK TO THE FUTURE USA 1985 Auf dem verlassenen Parkplatz der Twin Pines Mall, aus dichtem, weissem Rauch auftauchend, hat der DeLorean seine filmische Geburtsstunde. Ungläubig betrachtet Marty McFly das Gefährt, das ihm sein Freund, der zerstreute Wissenschaftler Dr. Emmett Brown, als Zeitmaschine vorstellt. Aus Versehen wird Marty darin 30 Jahre in die Vergangenheit geschickt, wo anstelle des Einkaufszentrums noch ein Acker steht. Im Jahr 1955 angekommen, muss er dafür sorgen, dass sich seine Mutter nicht in ihn, sondern in seinen Vater verliebt. Es geht um nichts weniger als seine eigene Existenz. «Während in den meisten Filmen die Figuren wie von fremder Hand (der Autoren) gelenkt wirken, scheinen hier die Akteure McFly und Doc aktiv über ihr filmisches Schicksal zu bestimmen und es bewusst zu verändern. Die Linearität der Zeit wird in Back to the Future aufgebrochen. Es existiert nicht nur eine Zeit, sondern es gibt

­nendlich viele Zeiten nebeneinander, deren u Stränge sich kreuzen und immer wieder neue Möglichkeiten von Handlungsabläufen erlauben. Zeit als Meer von Möglichkeiten zu verstehen und nicht als ein pendelndes Damoklesschwert, das ist eine Quintessenz von Back to the Future. In diesem Sinne ist es ein Hoffnung verheissender Film. Ein Film, der durch die Abwesenheit Gottes glänzt, einem dennoch Mut macht und dazu auffordert, seine Handlungen und Schritte bewusster auszuführen und zu leben. (…) Die Zeit bestimmt den Ort, Materie und Existenz – niemals umgekehrt. Doc wusste das …» (Frederik König, schnitt.de) 116 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Robert Zemeckis // DREHBUCH Robert Zemeckis, Bob Gale // KAMERA Dean Cundey // MUSIK Alan Silvestri // SCHNITT Arthur Schmidt, Harry Keramidas // MIT Michael J. Fox (Marty McFly), Christopher Lloyd (Dr. Emmett Brown), Lea Thompson (Lorraine Baines), Crispin Glover (George McFly), Thomas F. Wilson (Biff Tannen), Marc McClure (Dave McFly), Claudia Wells (Jennifer Parker), Wendie Jo Sperber (Linda McFly), George DiCenzo (Sam Baines), Billy Zane (Match).


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Das erste Jahrhundert des Films: 1985.

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WELCOME TO THE FUTURE DIE GESAMTE BACK TO THE FUTURE-TRILOGIE AM MITTWOCH, 21. OKTOBER 2015, AB 17 UHR Auf einfallsreiche und unterhaltsame Weise hat Robert Zemeckis das Spiel mit der Relativit채t von Vergangenheit und Zukunft aufgegriffen und damit einen Markstein in der langen Linie der Zeitreisefilme sowie des Blockbuster-Kinos geschaffen. Marty McFly, Dr. Emmett Brown und der zur Zeitmaschine umgebaute DeLorean sind heute l채ngst integraler Bestandteil von Hollywoods Heldenuniversum. Da Marty McFly im zweiten Teil aus dem Jahr 1989 in die Zukunft reist, wird dieses Ereignis am 21. Oktober 2015, dem Tag seiner Ankunft dortselbst, mit der einmaligen Vorf체hrung der gesamten Trilogie geb체hrend gefeiert. Weitere Informationen zur Veranstaltung sowie zu Back to the Future Part II und Part III sind auf unserer Website zu finden.


26 Premiere: The Visit

Was wäre, wenn ... ... ein Ausserirdischer auf der Erde landete? In The Visit, dem zweiten Film seiner «Trilogy of Mankind», stellt der Dokumentarfilmer Michael Madsen designierten Fachleuten diese Frage. Die Antworten enthüllen mehr über uns Erdlinge als über mögliche Gäste aus dem All. Ausserirdische haben im Film eine lange Tradition, in erster Linie im ScienceFiction-Genre, das bekanntlich von Dingen erzählt, die es (noch) nicht gibt. Ziemlich widersinnig scheint es dagegen, über Wesen von einem anderen Stern einen Dokumentarfilm zu drehen, geht es in dieser Gattung doch um die Wiedergabe der Realität. Marsmenschen zeigt der dänische Regisseur Michael Madsen in seinem Film selbstverständlich keine. The Visit ist vielmehr eine Dokumentation im Konjunktiv, ein Was-wäre-wenn-Film. Was wäre, wenn tatsächlich ein Aus­ serirdischer auf die Erde käme? Reale Menschen, Fachleute und Funktionäre aus den unterschiedlichsten Bereichen, reagieren in Madsens Film auf diese hypothetische Situation, entwerfen Strategien, spielen mögliche Szenarien durch. Für Madsen selbst wäre der Erstkontakt mit Ausserirdischen schlicht der aussergewöhnlichste Moment in der Geschichte der Menschheit. Seine Akteure – Wissenschaftler, Politikerinnen, ein Priester – geben sich teilweise prosaischer. So sind die beiden Berater des englischen Premierministers, die im Film zu sehen sind, vor allem darum bemüht, Panik zu vermeiden, und spielen die Tragweite des Ereignisses entsprechend herunter. Also: Nur so viel zugeben, wie unbedingt nötig ist, ansonsten betonen, dass man die Situation im Griff hat, obwohl man in Wirklichkeit im Dunkeln tappt. Es ist dies nicht der einzige absurde Moment in The Visit. Nicht zuletzt der Gegensatz zwischen den stilisierten zeitmanipulierten Aufnahmen, die die Sicht des Ausserirdischen wiedergeben, und den betont nüchternen Interviews macht anschaulich, wie unfassbar Madsens Szenario im Grunde ist. Bereits sein letzter Kinofilm wies Science-Fiction-Anklänge auf. Into Eternity aus dem Jahr 2010 beschäftigte sich anhand des weltweit ersten End­ lagers für radioaktive Abfälle, das derzeit in Finnland gebaut wird, mit der Frage, wie man die strahlenden Substanzen über Zehntausende von Jahren hinweg sicher lagern kann. Dazu wäre es zum Beispiel nötig, die Stätte mit Warnzeichen zu versehen, die auch in Tausenden von Jahren verstanden wür­ den. Mit anderen Worten: Es geht um Kommunikation mit Bewohnern einer fernen Zukunft, von der wir nicht einmal wissen, ob sie je eintreten wird.


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THE VISIT / Dänemark/Österreich/Irland/Finnland/Norwegen 2015 83 Min / Farbe / Digital HD / E/d // DREHBUCH UND REGIE Michael Madsen // KAMERA Heikki Färm // MUSIK Karsten Fundal // SCHNITT Nathan Nugent, Stefan Sundlöf.

The Visit ist also in dieser Hinsicht die logische Fortsetzung von Into Eternity. Wieder geht es um die Frage, wie man mit Wesen in Kontakt tritt, von denen man nichts weiss, und wie diese auf die Kontaktnahme reagieren würden. Die Antworten, die wir im Film bekommen, sagen letztlich sehr viel mehr aus über uns Menschen als über mögliche Aliens. Für den nächsten Film, der seine «Trilogy of Mankind» abschliessen soll, will Madsen den Spiess umdrehen: In Odyssey wird es um ein sogenann­ tes Generationenschiff gehen, ein bemanntes Raumschiff, das die jahrhunder­ telange Reise zu einem anderen Sonnensystem bewältigen soll. Die Aliens sind dann wir selbst. Simon Spiegel

★ am Do, 8. Oktober, 20.45 Uhr: Virtuelles Publikumsgespräch mit Michael Madsen im Anschluss an die Vorführung

Simon Spiegel ist Filmwissenschaftler und Journalist in Zürich.


28 Mars – Literatur im All

Kriege der Welten Unter dem Motto «Mars – Literatur im All» steht die Ausstellung, die am 25. September im Strauhof eröffnet wird. Auch das Kino hat auf unseren Nachbarplaneten Fantasien projiziert, nicht zuletzt in Form zweier unterschiedlicher Adaptationen von H. G. Wells’ Roman «The War of the Worlds» durch Byron Haskin und Steven Spielberg. 1898 veröffentlichte H. G. Wells seinen wegweisenden Roman «The War of the Worlds», der die Eroberung der Erde durch übermächtige Wesen vom Mars schildert: In dreibeinigen Kriegsmaschinen marschieren sie durch unsere Welt und machen mit einem tödlichen Hitzestrahl modernstes Kriegsgerät zu­ nichte. Hilflos muss die hochtechnisierte Menschheit ihrer Ausrottung zuse­ hen; nur die Natur – oder Gott – kennt ein Mittel gegen die Invasoren. 1953, zur Zeit des Kalten Kriegs, arbeiteten Byron Haskin und sein Drehbuchautor Barré Lyndon bei The War of the Worlds gekonnt mit den Ängsten der Amerikaner vor einer Invasion der Sowjets. Haskin, der sich als Special-Effects-Fachmann einen Namen gemacht hatte, ehe er ins Regiefach wechselte, verwandelte Wells’ tödliche «tripods» in noch grausigere, elegante Flugobjekte, die sich mit Magnetfeldern gegen jeden Beschuss wappnen konn­ ten, und legte die Welt in Schutt und Asche, was ihm einen Oscar einbrachte (auch wenn da und dort die Drähte zu sehen sind, an denen die UFO-Modelle hingen). Haskins Hauptdarsteller Gene Barry und Ann Robinson haben einen Gastauftritt in Steven Spielbergs spektakulärem Remake von 2005, dessen Vi­ sion der Verwüstung von 9/11 und der damit verbundenen Paranoia zehrt: Die Ausserirdischen weilen längst buchstäblich unter uns und auferstehen aus dem Boden. Wie so oft bei Spielberg steht im Mittelpunkt die Familie, die in­ nerlich zerrüttet ist und von äusseren Gefahren zusammengeschweisst wird; Tom Cruise als mittelmässiger Arbeiter und schlechter Vater bewährt sich in der Not, sodass selbst seine hysterische Tochter andächtig verstummt. Na, das wünscht man sich doch auch für sein krisengeschütteltes Land. Michel Bodmer


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THE WAR OF THE WORLDS / USA 1953

WAR OF THE WORLDS / USA 2005

85 Min / Farbe + sw / DCP / E/d // REGIE Byron Haskin //

116 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Steven Spielberg //

DREHBUCH Barré Lyndon, nach dem Roman von H. G. Wells

DREHBUCH Josh Friedman, David Koepp, nach dem Roman

// KAMERA George Barnes // MUSIK Leith Stevens //

von H. G. Wells // KAMERA Janusz Kaminski // MUSIK John

SCHNITT Everett Douglas // MIT Gene Barry (Dr. Clayton

Williams // SCHNITT Michael Kahn // MIT Tom Cruise (Ray

­Forrester), Ann Robinson (Sylvia Van Buren), Les Tremayne

Ferrier), ­ Dakota Fanning (Rachel Ferrier), Miranda Otto

(Maj. Gen. Mann), Robert Cornthwaite (Dr. Pryor), Sandro

(Mary Ann), Justin Chatwin (Robbie), Tim Robbins (Harlan

­Giglio (Dr. Bilderbeck), Lewis Martin (Pastor Dr. Matthew

Ogilvy), Rick Gonzalez (Vincent), Ann Robinson (Grossmut-

­Collins).

ter), Gene Barry (Grossvater).

AkI kAU

DIGItALL rISMÄkI Y r eM A S tereD

OktOber 2015


30 Filmpodium für Kinder

Ponyo

Inspiriert von Andersens kleiner Meerjungfrau zieht es Hayao Miyazaki für einmal statt in die hohen Lüfte ins tiefe Meer. Auch hier lässt’s sich wunderbar schweben.

PONYO – DAS GROSSE ABENTEUER AM MEER (Gake no ue no Ponyo) / Japan 2008 100 Min / Farbe / DCP / D // DREHBUCH UND REGIE Hayao Miyazaki // KAMERA Atsushi Okui // MUSIK Joe Hisaishi // SCHNITT Takeshi Seyama // MIT DEN STIMMEN VON Alina Freund (Ponyo), Nick Romeo Reimann (Sosuke), Eva-Maria Lahl (Toki), Chris­ tian Tramitz (Fujimoto), Claus-Peter Damitz (Koichi), Uschi Wolff (Yoshie), Anja Kling (Lisa), Solveig Duda (Guranmanmare).

Als der Unterwasserzauberer Fujimoto einen Moment lang nicht aufpasst, stiehlt sich eine seiner strubbelig-rothaarigen Goldfischtöchter davon. Doch sie kommt nicht weit: Erst verfängt sie sich in einem Schleppnetz, dann bleibt sie auch noch in einem Marmeladenglas stecken. In letzter Minute wird sie vom fünfjährigen Sosuke aus ihrer misslichen Lage befreit. Der Junge nimmt sie mit nach Hause, legt sie in einen Wassereimer und tauft sie auf den N ­ amen Ponyo. Nun will sie so werden wie Sosuke. Fujimoto gefällt das gar nicht: Er will Ponyo von den Menschen, die er für die Meeresverschmutzung verant­ wortlich macht, fernhalten und sie zurück ins Meer holen. Doch Ponyo, die


31 einen Tropfen menschliches Blut geleckt hat, verwandelt sich in ein Men­ schenmädchen – und entfesselt damit die Weltmeere: Ein Unwetter zieht auf und riesige Wellen bedrohen das Fischerdorf, in dem Sosuke lebt. Jetzt liegt es an Ponyo und Sosuke, das Gleichgewicht zwischen den Welten unter und über dem Meeresspiegel wiederherzustellen und die Dorfbewohner zu retten. Der grosse Anime-Meister Hayao Miyazaki verzichtet in seinem zweit­ letzten Film Ponyo auf jegliche Computeranimation und erschafft eine voll­ ständig handgemalte, bildgewaltige und wildpoetische Traumwelt: Eine Reise in einen pastellfarbenen, verwunschenen Unterwasserkosmos, in dem bizarre, prähistorisch anmutende Kreaturen umherkrabbeln, zartblaue Quallen durchs Bild tanzen oder ein Schwarm Goldfische mit menschlichen Gesichtern vor­ beigleitet. Miyazaki erzählt nicht nur von der zauberhaften Freundschaft zwi­ schen dem Jungen und dem Fischmädchen, sondern von nichts Geringerem als dem harmonischen Zusammenleben zwischen Mensch und Natur – und das mit bewundernswerter Schwerelosigkeit. Dabei ist seine kleine Heldin ein einzigartiger Wonneproppen: Die Welt mit ihrem kindlich-naiven, enthusias­ tischen Blick neu zu entdecken, ist pures Vergnügen und rührt kleine ebenso wie grosse Kinder. Tanja Hanhart

Ein Fest fürs Kino. Ein Fest für alle.

24. September – 4. Oktober 2015

Main Partner

Filmpodium Kino corso Arthouse Le Paris Arena Cinemas Co-Partner


32 Premiere: The Kingdom of Dreams and Madness

Sayonara, Miyazaki-san Aus dem geplanten Hayao-Miyazaki-Porträt wurde überraschend ein Film des Abschieds – mit einmaligen Einblicken in die Ghibli-Welt. Ganz leicht, freundlich, scheinbar harmlos kommt es zunächst daher, Mami ­Sunadas Porträt des japanischen Animemeisters Hayao M ­ iyazaki. Sie wolle ihn einfach bei der Arbeit beobachten, so ihr Wunsch, der ihr gewährt wurde. Diesen Zugang nutzt sie konsequent. Endspurt ist angesagt im Studio Ghibli. Miyazaki arbeitet seit zwei Jah­ ren an The Wind Rises, gleichzeitig kommt Kollege Isao Takahatas Princess Kaguya nicht voran. Um beide Projekte kümmert sich der umtriebige Produ­ zent Toshio Suzuki. Und Sunada ist immer dabei. Wir schauen Miyazaki beim Zeichnen über die Schulter und sehen, wie er mit der Stoppuhr in der Hand und geschlossenen Augen Szenen inszeniert. Wer nun ein Making-of zu The Wind Rises erwartet, wird enttäuscht – zum Glück. Vielmehr erleben wir Ar­ beitssitzungen, Merchandising-Entscheidungen, Sprachaufnahmen, Pressekon­ ferenzen, bei denen erstaunlich offen über Studio-Interna gesprochen wird, und nicht zuletzt die Studio-Katze, die gleichsam der Imagination dieses Königreichs der Träume und des Wahnsinns entsprungen zu sein scheint. Entstanden ist ein feines Porträt eines japanischen Animationsfilmstudios, das die Welt verzaubert, und eine Hommage an den freundlich-schrulligen, aber auch bestimmten Hayao Miyazaki, der während der Dreharbeiten überraschend beschliesst, das Filmemachen aufzugeben, und keinen Zweifel daran lässt, dass er für das Fortbestehen von Ghibli ohne ihn keine Zukunft sieht. Primo Mazzoni

THE KINGDOM OF DREAMS AND MADNESS (Yume to kyoki no okoku) / Japan 2013 118 Min / Farbe / Digital HD / Jap/e // DREHBUCH, KAMERA, SCHNITT UND REGIE Mami Sunada // MUSIK Masakatsu Takagi.


33 ZÜRCHER FILMBUFF-QUIZ 2015

FR, 30. OKT. | 20.30 UHR

> Running Man.

Im Oktober lädt das Filmpodium wieder Kinokenner und Filmfreundinnen ein, beim hauseigenen Filmbuff-Quiz abseits des Internets mit echtem Filmwissen zu brillieren. Für die Profis im Publikum gibt es Handicaps, damit engagierte Amateure gleiche Chancen haben, die attraktiven Preise zu gewinnen. Wie bei den TV-Vorbildern muss man beim Filmbuff-Quiz nicht selber mitspielen, um Spass zu haben; man kann auch nur seine Lieblingskandidatinnen anfeuern – oder einfach die eingespielten Clips geniessen und Höhepunkte (und Peinlichkeiten) der Filmgeschichte Revue passieren lassen. Aufgrund der grossen Nachfrage empfehlen wir allen, die einen Sitzplatz auf Nummer sicher wollen, den Vorverkauf oder die frühzeitige Reservation.

Corinne Siegrist-Oboussier & Michel Bodmer

EIN film VON CRYSTAL MOSELLE

Ab 8. Oktober im KINO


34 Kunstpreis der Stadt Zürich an Markus Imhoof

Wer die Geschichte vergisst ... Am 23. Oktober wird dem Filmemacher Markus Imhoof der Kunstpreis der Stadt Zürich 2015 verliehen. Seinen Durchbruch erlebte der Schöpfer von More Than Honey vor 34 Jahren mit seinem Film Das Boot ist voll. Markus Imhoofs Flüchtlingsdrama Das Boot ist voll stiess 1981 eine nationa­ le Debatte über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg an. Wir zeigen die­ sen heute wieder allzu relevanten Film aus Anlass von Markus Imhoofs Ehrung mit dem Zürcher Kunstpreis in einer restaurierten Kopie. Das Boot ist voll wurde für den Oscar nominiert und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Silbernen Bären an der Berlinale 1981. Gegenwärtig arbeitet Markus Imhoof an einem Dokumentarfilm zur heutigen Flüchtlingssituation unter dem Titel Eldorado; der Kinostart ist für 2016 vorgesehen.

DAS BOOT IST VOLL / Schweiz/BRD/Österreich 1981 101 Min / Farbe / 35 mm / Dialekt/D/f // REGIE Markus Imhoof // DREHBUCH Markus Imhoof, nach dem Buch von Alfred A. Häsler // KAMERA Hans Liechti // SCHNITT Helena Gerber, Fee Liechti // MIT Tina Engel (Judith Krüger), Curt Bois (Lazar ­Ostrowskij), Hans Diehl (Hannes Krüger), Martin Walz (Olaf Landau), Gerd David (Karl Schneider), Ilse Bahrs (Frau ­Ostrowskij), Mathias Gnädinger (Franz Flückiger, der Wirt), Renate Steiger (Anna Flückiger, seine Frau), Michael Gempart (Landjäger ­Bigler), Alice Brüngger (Frau Hochdorfer), Otto Dornbierer (Otti).


35 DO, 22. OKTOBER | 20.45 UHR

IOIC-SOIREEN

DAS MITTELALTER DES STUMMFILMS Das Institut für incohärente Cinematogra-

zeigt auch schon, wie sehr das Starsystem

phie (IOIC) widmet sich in der kommenden

bereits 1922 etabliert war: Douglas Fair-

Saison

banks in Robin Hood.

sechsmal

dem

Mittelalter

im

Stummfilm. Zahlreich sind im frühen Kino

Die Sängerin Karin Meier, der Gitarrist

die Filme, die ihre Zuschauer in die Ge-

und Trompeter Gabriel Stampfli und die

schichte schweifen lassen, um sie dann um

Kontrabassistin Stefanie Kunckler haben als

die Erfahrung ihrer eigenen Vergangenheit

Trio erstmals anlässlich eines Stummfilm-

bereichert wieder in die Gegenwart zu ent-

Open-Airs zusammengefunden, an dem sie

lassen. Diese Geschichtsbilder von damals

gemeinsam The Gaucho mit Douglas Fair-

werden, ganz im Sinne des IOIC, durch aus-

banks in der Hauptrolle vertont haben. Seit-

sergewöhnliche zeitgenössische Live-Ver-

her haben sie ein unwiderstehliches Faible

tonungen mit der heutigen Gegenwart in

für den stets zu Spässen aufgelegten, athle-

Beziehung gesetzt.

tischen Schauspieler, der in jedem Film aufs Neue seine körperlichen Fähigkeiten ge-

Kein Held des Mittelalters ist bekannter als

konnt zur Schau zu stellen weiss.

Robin Hood. Nicht zuletzt dank Walt Disney

Live-Vertonung: MEIER/STAMPFLI/KUNCKLER

ist er jedem Kind als edler Vorkämpfer für

Karin Meier (Stimme), Gabriel Stampfli (Gitarre, Trompete),

soziale Gerechtigkeit und unerbittlicher

Stefanie Kunckler (Kontrabass)

Gegner obrigkeitlicher Tyrannei vertraut.

Weitere Informationen zum IOIC: http://ioic.ch

Als einer, der von den Reichen nimmt und den Armen gibt. Dass sich diese Version der Sage, also die Umformung zum edlen Verbrecher, erst im 16. und 17. Jahrhundert durchgesetzt hat und bis heute dominiert, verdeutlicht ein häufig übersehenes Moment des Rückgriffs auf vergangene Zeiten. Dieser gewinnt seine Bedeutung nämlich weniger als historistische Vergegenwärtigung des Vergangenen als vielmehr daran, was in ihm als Potenzial liegt und gegebenenfalls wieder zur Austragung kommen

ROBIN HOOD / USA 1922

kann. Der erste Robin Hood der medialen

Allan Dwan // DREHBUCH Douglas Fairbanks // KAMERA

120 Min / sw / 35 mm / Stummfilm, engl. Zw’titel // REGIE

Populärkultur ist Douglas Fairbanks, der

­Arthur Edeson // SCHNITT William Nolan // MIT Douglas

noch vor Errol Flynn (1938), Sean Connery

Fairbanks (Earl of Huntingdon/Robin Hood), Enid Bennett

(1981), Kevin Costner (1991) und Russell Crowe (2010) der Figur des heroischen Outlaws Leben eingehaucht hat. Der offizielle Titel der Grossproduktion von Allan Dwan

(Lady Marian Fitzwalter), Wallace Beery (Richard Löwenherz), Sam De Grasse (Prinz John), Paul Dickey (Sir Guy of Gisbourne), William Lowery (Sheriff von Nottingham), Roy Coulson (Hofnarr), Alan Hale (Little John), Willard Louis (Bruder Tuck), Billie Bennett (Lady Marians Dienerin), ­Merrill McCormick (Prinz Johns Handlanger).


36 SÉLECTION LUMIÈRE

BLACK MOON Louis Malle, sonst eher für präzise und stimmige Gesellschaftsdramen bekannt, verblüffte Kritik und Publikum, als er 1975 mit Black Moon eine surrealistische Fabel vorlegte, die an Lewis Carroll und Luis Buñuel erinnerte. Der Geschlechterkampf ist zum Bürgerkrieg eskaliert. Die junge Lily flieht vor dem Konflikt in ein abgelegenes Bauernhaus. Dort lebt eine Greisin, die rätselhafte Funk-

BLACK MOON / Frankreich/Deutschland 1975 100 Min / Farbe / Digital HD / E // REGIE Louis Malle // DREHBUCH Louis Malle, Ghislain Uhry, // KAMERA Sven Nykvist // MUSIK Diego Masson, Richard Wagner // SCHNITT Suzanne

sprüche aus anderen Zeiten empfängt. Um-

Baron // MIT Therese Giehse (die alte Dame), Cathryn Harri-

sorgt wird die alte Frau von ihrer erwachse-

son (Lily), Alexandra Stewart (Schwester Lily), Joe Dalle-

nen Tochter und ihrem stummen Sohn, die

sandro (Bruder Lily).

sich nicht wie Geschwister verhalten. Wie

mals sieht man kleine nackte Kinder, die

Alice im Wunderland tappt Lily durch eine

Schweine hüten. Wenn Lily einer Schnecke

kuriose Traumwelt, die sich jeder ratio-

zuhört, die über ein Scheit kriecht, klingt es

nalen Deutung entzieht.

so, als schleppe sich eine besiegte Armee

«Black Moon ist rätselhaft, wunderschön

über einen Berg. (...)

und bisweilen sehr komisch. Zum Personal

Der Film hat schon eine Ordnung, aber

gehören ein recht reizbares Einhorn, das

diese müssen wir ihm selbst verleihen, je-

Lady Macbeth zitieren kann, und eine gros­

der nach seinen Bedürfnissen.» (Vincent

­se Ratte namens Humphrey, die sich in ei-

Canby, New York Times, 30.9.1975)

ner unbekannten Sprache mit der alten Frau unterhält. Es gibt Blumen, die stöh-

★ am Mi, 14. Oktober, 18.15 Uhr: Einführung

nen, wenn Lily sich auf sie legt, und mehr-

von Martin Walder

ARCHITEKTURVORTRAG

SA, 7. NOV. | 13.00 UHR

EIN UNGEWÖHNLICHES KINO

Immer wieder weckt die Architektur des Filmpodiums die Neugierde des Publikums. Auf Anregung von Vorstandsmitglied Christoph Schaub organisiert der Förderverein ­Lumière darum am Samstag, 7. November um 13 Uhr einen ca. 50-minütigen, mit Bildern angereicherten Vortrag über die Architektur des Filmpodiums. Referentin ist Elli ­Mosayebi, Partnerin und Inhaberin der EMI-Architekten in Zürich und Professorin an der TU Darmstadt. Anschliessend wird ein Apéro offeriert. Tickets (für Lumière-Mitglieder gratis) sind an der Kinokasse erhältlich.


37 IMPRESSUM

DAS FILMPODIUM IST EIN ANGEBOT DES PRÄSIDIALDEPARTEMENTS

in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse, Lausanne/Zürich LEITUNG Corinne Siegrist-Oboussier (cs), STV. LEITUNG Michel Bodmer (mb) WISSENSCHAFTLICHE MITARBEIT Tanja Hanhart (th), Marius Kuhn (mk), Primo Mazzoni (pm), PRAKTIKUM Vera Schamal, SEKRETARIAT Claudia Brändle // BÜRO Postfach, 8022 Zürich, Telefon 044 412 31 28, Fax 044 212 13 77 WWW.FILMPODIUM.CH // E-MAIL info@filmpodium.ch // KINO Nüschelerstr. 11, 8001 Zürich, Tel. 044 211 66 66 UNSER DANK FÜR DAS ZUSTANDEKOMMEN DIESES PROGRAMMS GILT: Arsenal Distribution, Berlin; Bonner Kinemathek; ­This Brunner, Zürich; Cinélibre, Bern; Filmcoopi, Zürich; Frenetic Films, Zürich; Gaumont, Neuilly sur Seine; Hollywood Classics, London; ­Markus ­Imhoof, Aathal-Seegräben; KG Productions, Montreuil; Langfilm, Freienstein; Lichtspiel/Kinemathek, Bern; M ­ emoriav, Bern; Mosfilm Cinema Concern, ­Moskau; Fredi M. Murer, Zürich; Park Circus, Glasgow; Studiocanal, Berlin; trigon-film, Ennetbaden; Universal Pictures International, Zürich; Warner Bros. UK, London; John Waters, Baltimore; Why Not Productions, Paris. DATABASE PUBLISHING BitBee Solutions GmbH, Zürich // KONZEPTIONELLE BERATUNG Esther Schmid, Zürich GESTALTUNG TBS & Partner, Zürich // KORREKTORAT N. Haueter, D. Däuber // DRUCK Ropress, Zürich // AUFLAGE 7000 ABONNEMENTE Filmpodium-Generalabonnement : CHF 400.– (freier Eintritt zu allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Filmpodium-Halbtaxabonnement: CHF 80.– / U25: CHF 40.– (halber Eintrittspreis bei allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Abonnement Programmheft: CHF 20.– // Anmeldung an der Kinokasse, über www.filmpodium.ch oder Tel. 044 412 31 28

VORSCHAU Andrej Tarkowskij

Sam Peckinpah

Vierzehn Jahre sind es her, seit das Filmpo-

Fast so legendär wie die Schiessereien in

dium dem russischen Filmpoeten Andrej

seinen Filmen waren die Scharmützel, die

Tarkowskij eine umfassende Retrospektive

Sam Peckinpah hinter der Kamera entfes-

gewidmet hat. Nun können wir sein Werk in

selte: Kaum ein Regisseur war in Hollywood

neuen, restaurierten Kopien zeigen.

so streitbar, wenn es um die Verwirklichung

Einen frischen Blick auf die acht Spiel-

seiner filmischen Visionen ging; die Produ-

filme, die Tarkowskij zwischen 1961 und sei-

zenten hatten selten Sinn für Peckinpahs

nem Tod 1986 in 25 Jahren geschaffen hat,

elegische Epen über Helden, die am Wandel

wirft auch unser langjähriger Referent Fred

der Zeit scheitern, und schnitten viele seiner

van der Kooij. Er ist überzeugt, dass heute,

Filme um. Unsere Retrospektive zeigt, wie

da die Wahrnehmung von Andrej Rubljow,

dieser Cineast mit Werken wie The Wild

Der Spiegel oder Stalker weniger durch den

Bunch, Junior Bonner, Straw Dogs und The

Kalten Krieg verstellt ist, neue Aspekte in

Getaway eine Brücke vom klassischen Hol-

diesem faszinierenden Werk zum Vorschein

lywood zum Kino der Postmoderne geschla-

gebracht werden können.

gen hat.


michael

fassbender

kate

winslet seth

rogen jeff

daniels

steve jobs from director

danny boyle and

screenwriter

aaron sorkin november 12


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