Filmpodium Programmheft Mai/Juni 2015 / Programme issue may/june 2015

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16. Mai – 30. Juni 2015

Shakespeare im Kino Ritwik Ghatak


Ab 18. Juni im K ino

Die besten Filme aus S端d und Ost auch auf DVD, Blu-ray und online Reinschauen lohnt sich: www.trigon-film.org


01 Editorial

Das Heft in der Hand Das Filmpodium unterscheidet sich von kommerziellen Kinos vor allem dadurch, dass das Programm nicht vom aktuellen Markt bestimmt wird. Hier laufen nicht einfach die neusten Produktionen, die ein Hollywoodstudio weltweit durch die Pipelines jagt; anspruchsvolle Arthouse-Filme sind fest eingeplant und fallen nicht plötzlich aus dem Programm, weil sie zu wenig Publikum erreicht haben. Die Auswahl der Filme wird sachkundig kuratiert. Dies erlaubt die längerfristige Publikation eines Programmhefts mit Hintergrundtexten zu den Filmen, wie Sie es in Händen halten. Das Heft liegt im Kino auf und kann abonniert werden. Es ist ein hübsches Objekt und ­informativ obendrein. Es hat jedoch einen grossen Nachteil: Es ist statisch. Was man bei der Drucklegung noch nicht wusste, bleibt der Leserschaft vorenthalten. Und so schön die (schwarzweissen) Standbilder sein mögen – mit den Ausdrucksmöglichkeiten eines Trailers können sie meist nicht mithalten. Keine Angst, wir sagen jetzt nicht, dass das Programmheft abgeschafft wird. Wir haben jedoch beschlossen, die Mängel dieser Publikationsform online noch besser zu kompensieren, indem wir die Filmpodium-Website neu gestalten. Ab Anfang Mai finden Sie unter www.filmpodium.ch eine attraktive und benutzerfreundliche Darstellung unseres Programms mit vielen und grossen, auch farbigen Bildern und möglichst zahlreichen Trailern und Clips zu unseren Filmen sowie Links zu Websites mit weiterführenden Informationen. Podcasts oder Videos von Interviews, Podiumsgesprächen und anderen Events werden künftig einfacher zu finden und leichter zu nutzen sein, auch mit den mobilen Versionen der Website für Tablet-Computer und Smartphones. Schon seit letztem Herbst gibt es einen Newsletter, der Sie über Programmänderungen und aktuelle Ergänzungen informiert. Damit bleiben Sie auf dem Laufenden und verpassen keine kurzfristig programmierten Veranstaltungen, die Sie interessieren würden. Falls Sie ihn noch nicht erhalten: Melden Sie sich auf unserer Website an. Legen Sie das Heft nicht einfach weg, aber sehen Sie sich die neue ­Website an, damit Sie jederzeit die gewünschte Form von Information über das Programm des Filmpodiums finden – oder sich mit Informationen be­ dienen lassen können. Gerne wüssten wir, was Sie von unserem neuen ­Online-Auftritt halten. Beifall, Kritik und Anregungen richten Sie bitte an michel.bodmer@filmpodium.ch. Wir sind gespannt auf Ihre Meinung. Corinne Siegrist-Oboussier & Michel Bodmer Titelbild: William Shakespeare’s Romeo + Juliet von Baz Luhrmann (1996)


02 INHALT

Shakespeare im Kino

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Ritwik Ghatak

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Shakespeares Stücke scheinen geradezu auf das Kino gewartet zu haben. Mit seinen Tricks, aber auch mit seinen Möglichkeiten, grenzenlos durch Zeit und Raum zu reisen, hat der Film dem Werk des genialen Dichters zu neuer Blüte verholfen. Auch werden Shakespeares Figuren von Themen um­getrieben, die heute noch höchst aktuell sind: Geld, Macht und Liebe, Verstellung, Sein und Schein. Die Auswahl, die das Filmpodium im Rahmen der Festspiele Zürich 2015 präsentiert, legt ein Schwergewicht auf «Romeo and Juliet» mit sechs Versionen von Hollywood bis Bollywood. Ergänzt u. a. mit ungewöhnlichen Umsetzungen von «King Lear» sowie zwei verschiedenen «Hamlet»-Varianten, belegen die 15 Filme, wie attraktiv Shakespeares Stories, wie universell seine Figuren heute noch sind.

«Brennender Tiger» soll sein Spitzname gewesen sein: Tatsächlich war das Leben des bengalischen Regisseurs Ritwik Ghatak (1925–1976) von Heftigkeit und innerer Zerrissenheit gekennzeichnet, sein schmales Werk elektrisierend und Grenzen sprengend. Die Delta-Landschaft seiner Kindheit und die Teilung Bengalens haben den Beamtensohn tief geprägt; Flüsse und Flüchtlinge sind Zentralmotive in Ghataks Filmen. Vom Theater her kommend, zeigte er 1958 seinen Film Der Vagabund am Festival in Venedig; Der verborgene Stern (1960) wurde zu seinem einzigen Publikumserfolg. Erst nach seinem frühen Tod wurde Ghatak, der in seinen Filmen melodramatische, realistische und revolutionäre Elemente verbindet, als einer der grössten Filmemacher Asiens erkannt.

Bild: Hamlet (1996)

Bild: Einsicht, Streit und eine Geschichte


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Das erste Jh. des Films: 1955

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Filmpodium für Kinder: Antboy 30

James Dean wird zum ersten Teenager Amerikas, Robert Mitchum zum fanatischen Bösen, Simone Signoret zur eiskalten Mätresse, während Ingmar Bergman mit Das Lächeln einer Sommernacht und Satyajit Ray mit Pather Panchali internationale Beachtung finden und Carl Theodor Dreyer mit Ordet seinen erfolgreichsten Tonfilm realisiert.

Ein unscheinbarer Junge wird von einer Ameise gebissen, verfügt plötzlich über alle Kräfte und Fähigkeiten dieses Tieres und will fortan nichts Geringeres, als die Welt zu beschützen – ein kindgerecht erzähltes, sympathisches Superhelden-Abenteuer aus Dänemark, voller Charme, Humor und Spannung.

Bild: Rebel Without a Cause

Einzelvorstellungen

Premieren: Nabat und Men, Women & Children

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Weiter voneinander entfernt könnten diese Welten nicht sein: Nabat ist ein eindrückliches Frauenporträt, angesiedelt in einer Bergregion von Aserbeidschan; Men, Women & Children erzählt von der Schwierigkeit, in der heutigen US-Gesellschaft neben allen virtuellen auch noch echte, persönliche Beziehungen zu pflegen.

Bild: Antboy

Sélection Lumière: Hiroshima mon amour

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05 Shakespeare im Kino

Wie es Euch gefällt Shakespeares Stücke scheinen auf das Kino und seine Möglichkeiten geradezu gewartet zu haben. Die Umsetzungen, die das Filmpodium im Rahmen der Festspiele Zürich 2015 präsentiert, zeigen, wie authentisch und gleichzeitig universell übertragbar Shakespeares Figuren und wie attraktiv seine Stories um Macht, Geld und Liebe heute noch sind. «Shakespeare im Kino» beginnt 1899 mit einer Sterbeszene: Der viktorianische Bühnenstar Herbert Beerbohm Tree chargiert sich als King John zwischen gemalter historistischer Kulisse und moderner Kamera selber fast zu Tode, als der Filmpionier William K. Dickson versucht, sein Schausteller­ geschäft mit Hochkultur zu nobilitieren. Was die frühe Filmtechnik hier dokumentiert, ist ironischerweise nur eine überlebte Bühnenkultur, die den ­populären Antiklassizisten William Shakespeare (1564 –1616) in ein kanonisches Korsett aus Guckkastenbühne, Opernhaftigkeit und Nationalliteratur gezwängt hatte. Wie sehr das elisabethanische Theaterwunder in Geist, ­Ökonomie und Ästhetik auf das Kino vorausweist, schien kurz darauf in der Méliès-Traditionslinie der Kinematografie auf: als der Filmtrick mit unerreichter Wahr- und Wahnhaftigkeit den «Tempest»-Bühnenzauber und den «Macbeth»-Geisterspuk schwerelos auf die Leinwand übertrug. Das Theater des Renaissance-Menschen Shakespeare und das frühe, als Bastardmuse gescholtene Kino setzten beide auf einen spektakulären Mix aus Alt und Neu, high and low, tragischem Pathos und comic relief. Mit attraktiven Stories, schnellen Remakes und billigen Sequels bediente solches Multimedia-Entertainment willig die Schaulust seines grossstädtischen Massenpublikums. «Alle Welt schauspielert» Wenn sich Shakespeares monumentales Werk auf eine einzige Programmzeile verdichten lässt, dann ist es «Totus mundus agit histrionem». Dieses Motto soll am halboffenen Dachhimmel des Globe Theatre der «King’s Men»-Truppe geprangt haben, deren Mitglied und Teilhaber Shakespeare war. Hier setzte der Aufsteiger aus der Provinz seine Welt-Schau als Rollenspiel leibhaftiger Menschen vor bis zu 2000 Zuschauern so handlungsreich wie ökonomisch in Szene: Denn die Handlungen des Dramatikers, Dramaturgen und Performers >

Die süsseste Liebesgeschichte des Kinojahrs 1968: Franco Zeffirellis Romeo and Juliet < Ungekürzt: Hamlet (1996), von und mit Kenneth Branagh

<

Heath Ledger und Julia Stiles in 10 Things I Hate About You (1999) – nach «The Taming of the Shrew»


06 sind immer auch Verhandlungen – zunächst zwischen den Protagonisten auf den (Schau-)Spielbrettern der Bühne, wo, wie im Schach, der Stellenwert einer Figur wichtiger ist als ihr absoluter Rang. Es sind aber auch nie abgeschlossene Statusdebatten zwischen den prunkvoll verkleideten Schauspielern und ihrem ständisch breit gefächerten Publikum, das am Bühnenrand beim Buhlen um Liebe, Geld und die Protektion der Mächtigen oft auch direkt adressiert wurde. Diesen Wendungsreichtum zwischen Action und Affekten im elisabethanischen Theater bringt John Maddens Shakespeare in Love (1998) gerade deshalb so mitreissend auf den Punkt, weil sich der romantische Pastiche-Film um die erfundene Entstehung von «Romeo and Juliet» an den Stoffen der Shake­ speare-Folklore so skrupellos bedient, wie dies der Barde bei seinen antiken, mittelalterlichen und zeitgenössischen Meistern tat. Dichter und Verdichter Für Geld, Macht und Liebe als Handlungstreiber in Showbusiness und im realen Leben gilt das Gleiche wie für alle Transaktionen dazwischen: Nichts ist absolut. Alles bleibt dem Wandel unterworfen und muss stets neu ausgehandelt werden. Was Shakespeare, dieses Genie von singulärer Kreativität, erschuf, ist das grosse Theater des Stellenwerts von Sein und Schein. Kein Herrscher bleibt immer souverän, kein Vermögen ein beständiger Schatz, keine Liebe ohne Liebesmüh. Diese abgründig humane, frühmoderne Einsicht erhebt die historischen Gestalten der Königsdramen zu unseren Zeitgenossinnen und -genossen und enthebt erfundene Figuren wie Hamlet, den Kaufmann von Venedig oder Romeo und Julia ihrer blutleeren Fiktionalität. Solche universelle Übertragbarkeit quer durch Genres, Epochen und Nationen macht Shakespeares Geschöpfe zu authentischen Filmfiguren – trotz ihrer wortgewaltigen Rhetorik voll manieristischer Bildhaftigkeit, subtilster Ironie und deftigsten Pointen. Shakespeares 37 Dramen mit ihren 1000 Rollen bieten einen Über-Schauplatz für ein vielperspektivisches Spektakel zwischen Sinnlichkeit und Gedanklichkeit, Imagination und Illusion. So kühl das Auge des Verdichters den Wechsel der Machtkonstellationen zwischen seinen Figuren registriert, so psychologisch tief ist der Blick des Dichters: Es ist ein Werk voller poetischer Empathie, doch frei von jeglichem Moralisieren, idealer Stoff, aus dem noch heute Kinoträume sind. Dies auch, weil sich das elisabethanische Theater geradezu fürstlich um die aristotelischen Einheiten von Raum, Zeit und Handlung oder die Standesregeln foutierte: So spielt etwa Shakespeares «Antony and Cleopatra» auf drei Kontinenten, überspannt zehn Jahre und tragikomische Parallelhandlungen von freskohafter Vielfigurigkeit. Die Inszenierung schneller Wechsel von Schauplatz, Tageszeit und der Affektlage von Helden wie Publikum ist eminent proto-kinematografisch, ebenso die Perspektivenvielfalt zwischen Schlachtfeldtotale und intimster Einfühlung einer «inneren» Grossaufnahme.


07 Was heisst schon anachronistisch? All diese stofflichen, musikalischen und dramaturgischen Qualitäten von Shakespeares Proto-Kino beflügeln auch den Shakespeare-Film selber – frei aller Anachronismus-Ängste. Ein Botenbericht verwandelt sich unangestrengt in ein iPad-Movie (Almereydas Cymbeline), und die gefürchteten Rapiere der adligen Veroneser Raufbolde mutieren mühelos zu Pistolen exilkubanischer Jungmafia-Gangs in Baz Luhrmanns grandiosem William Shakespeare’s ­Romeo + Juliet. In zwölf Verszeilen ist es um Capulets kostbarstes Investitionsgut auf dem Heiratsmarkt geschehen, als sich Tochter Juliet an seinem Maskenball in Romeo, Spross des Erzfeindes Montague, verliebt: Wie dieser coup de foudre quer durch Masken und Konvention in einem buchstäblichen Augenblick einschlägt, ist Kino pur avant la lettre. Umso reizvoller der Versionenvergleich dieser Schlüsselszene, bei der sich die Blicke der «star-crossed lovers» erstmals kreuzen: Bei George Cukor im Maskenspiel, bei Franco ­Zeffirelli als subjektive Gegenschüsse im taumelnden Reigen von Tänzern und Kamera, bei Luhrmann durch ein Aquarium, in der Neo-Bollywood-Version als neckisches Wasserpistolenduell während des Holi-Farbenfests und schliesslich in Bruno Barretos brasilianischer Fussballfankultur-Satire durch das Ophtalmoskop, mit dem Dr. Romeu tief ins schöne, durch Funkenflug versehrte Auge seiner Patientin aus dem verfeindeten Verein blickt. Übertragung als Prinzip Dass sich jede Epoche, ja jede Generation «ihren» Shakespeare von neuem (er-)finden konnte, ist der Übersetzungs- und Vermittlungsarbeit der deutschen Stürmer und Dränger und der Romantiker geschuldet. Heute leisten diesen Transfer die vielsprachigen, transkulturellen Shakespeare-Filme, in deren Geschehen wir uns gleichsam doppelt hineinprojizieren können. Vielleicht taugen sie deshalb gerade im Zeitalter des Digital Cinema als Prüfstein für die Emanzipationsgeschichte des Films als selbständige Kunstform jenseits aller postmoderner Dekonstruktion: In Shakespeares Figuren steckt tiefe Lebensklugheit, doch niemals Autobiografie. Sie sind durchaus Geschöpfe einer immensen Belesenheit, doch frei von Elitedünkel. Und sie strotzen vor Innerweltlichkeit, weisen aber immer über sich hinaus. Der ferne Mann aus Stratford ist sein Werk, das uns noch immer nahe geht – und dieses ist das wohl universellste dichterische Werk der Medien­ geschichte: global konvertierbares Humanitär-Kapital. Hansmartin Siegrist Hansmartin Siegrist ist AV-Produzent und Film- und Medienwissenschaftler in Basel. Er unterrichtet an der Universität Basel und an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Informationen zum Gesamtprogramm unter www.festspiele-zuerich.ch


> West Side Story.

> William Shakespeare’s Romeo + Juliet.

> Shakespeare in Love.

> Twelfth Night.

> Romeo and Juliet (1936).

> Ran.


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Shakespeare im Kino.

ROMEO AND JULIET

ROMEO AND JULIET

USA 1936

GB/Italien 1968

Shakespeares Tragödie von den unglücklichen jungen Liebesleuten in Verona, die an der Unversöhnlichkeit ihrer Familien zugrunde gehen. «Wo seine Filme auf Respekt gebietenden literarischen Vorlagen beruhten, wie in Romeo and Juliet – die schönste Adaptation des Dramas noch immer –, da zeigte sich George Cukor von unverbrüchlicher Werktreue. Nie hat er sich als Filmemacher vor das literarische Werk geschoben.» (Martin Schlappner)

«Franco Zeffirellis Romeo and Juliet ist eine entzückende, feinfühlige, freundliche Popularisierung des Stücks – die Liebenden, Leonard Whiting und Olivia Hussey, sind so jung und lebendig, wie sie sein sollten, das Italien jener Zeit wirkt intakt, und viel Bedeutung hat hier die Beziehung zwischen Romeo und Mercutio. (...) Die Szenen, der Ball, die Duelle, sind so schön ausgedacht und gestaltet, dass Dinge, die ich nie bemerkt hatte – das zunächst Jugendlich-Spielerische der Duelle –, aussergewöhnlich werden, zeitlich gegenwärtig und zugleich fern. Abgesehen von der Poesie und der edlen archaischen Würde Romeos und Juliets, könnte sich diese Geschichte gleich ­ ­nebenan abspielen. Das ist die süsseste und modernste Liebesgeschichte dieses Kinojahrs.» (Renata Adler, The New York Times, 9.10.1968)

127 Min / sw / 16 mm / E // REGIE George Cukor // DREHBUCH Talbot Jennings, nach dem Theaterstück von William Shakes­ peare // KAMERA William Daniels // MUSIK Herbert Stothart // SCHNITT Margaret Booth // MIT Norma Shearer (Juliet), Leslie Howard (Romeo), John Barrymore (Mercutio), Edna May Oliver (Juliets Amme), C. Aubrey Smith (Capulet), Basil Rathbone (Tybalt), Andy Devine (Peter).

149 Min / Farbe / Digital HD / E/d // REGIE Franco Zeffirelli //

WEST SIDE STORY USA 1961

DREHBUCH Franco Zeffirelli, Franco Brusati, Masolino D’Amico, nach dem Theaterstück von William Shakespeare // KAMERA Pasqualino De Santis // MUSIK Nino Rota // SCHNITT Reginald Mills // MIT Leonard Whiting (Romeo),

«Die ‹tough neighborhood›, die Rivalitäten zwischen der weissen Jugendbande ‹The Jets› und der Latinobande ‹The Sharks›, das Romeo-undJulia-Motiv von der verbotenen, tragisch endenden Liebe über die Schranken hinweg: Alle Elemente klassischer sozialkritischer Dramen ­ kehren in der Filmversion von Leonard Bernsteins Musical hemmungslos verkitscht wieder – und doch ist West Side Story ein grandioser Film: von anhaltender Wucht die Musik, von teilweise schlagendem Witz die Songs (so, wenn sich die Jets selbst über die Theorie mokieren, wonach Gossenkinder zwangsläufig als ‹juvenile delinquents› enden). Hinreissend schliesslich noch immer die Tanzeinlagen des Bühnenchoreografen Jerome Robbins, der als Filmregisseur wegen lähmender Pingeligkeit nach der Inszenierung von vier Nummern abgelöst wurde. Trotz Dreharbeiten an realen Schauplätzen der New Yorker West (und auch der East) Side kaschiert dieser Film seine Bühnenherkunft nie, gerade deshalb trotzt er der Zeit.» (Andreas Furler, Programm Filmpodium, 08/2011) 153 Min / Farbe / Digital HD / E/d // REGIE Robert Wise, ­Jerome Robbins // DREHBUCH Ernest Lehman, Arthur Laurents, basierend auf einer Konzeption von Jerome Robbins,

­Olivia Hussey (Juliet), John McEnery (Mercutio), Milo O’Shea (Bruder Laurence), Pat Heywood (Amme), Robert Stephens (Prinz von Verona), Michael York (Tybalt), Bruce Robinson (Benvolio), Paul Hardwick (Lord Capulet).

RAN Japan/Frankreich 1985 Die verblüffende Transformationsfähigkeit von Shakespeares Werk erweist sich auch bei «King Lear», wo Vaterliebe gegen Macht und Geld abgewogen werden soll. Akira Kurosawas wuchtiges Alterswerk Ran setzt zwar auf die strukturelle Ähnlichkeit von Shakespeare-Bühne und NoTheater und die Vergleichbarkeit von Ritter- und Samurai-Kodex. Die feudalrechtliche Unmöglichkeit, ein japanisches Fürstentum unter drei Töchtern aufzuteilen, löst Kurosawa, indem er aus den Erbprinzessinnen ganz einfach Söhne macht. «Die einzige optimistische Note liegt in der Nobilität des Films selbst: einer gewaltigen gemarterten Leinwand, auf der es Kurosawa schafft, dass sich selbst die Naturkräfte seiner Vision unterordnen.» (Chris Peachment, Time Out Film Guide) 162 Min / Farbe / 35 mm / Jap/d/f // REGIE Akira Kurosawa //

inspiriert von William Shakespeare // KAMERA Daniel L. Fapp

DREHBUCH Akira Kurosawa, Hideo Oguni, Masato Ide, nach

// MUSIK Leonard Bernstein // SCHNITT Thomas Stanford //

«King Lear» von William Shakespeare // KAMERA Takao

MIT Natalie Wood (Maria), Richard Beymer (Tony), Russ Tam-

Saito, Masaharu Ueda // MUSIK Toru Takemitsu // SCHNITT

blyn (Riff), Rita Moreno (Anita), George Chakiris (Bernardo),

Akira Kurosawa // MIT Tatsuya Nakadai (Hidetora Ichimonji),

Tucker Smith (Ice), Tony Mordente (Action).

Akira Terao (Taro, der älteste Sohn), Jinpachi Nezu (Jiro, der


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Shakespeare im Kino. zweite Sohn), Daisuke Ryu (Saburo, der jüngste Sohn), Mieko Harada (Kaede, Taros Frau), Yoshiko Miyazaki (Sue, Jiros Frau), Kazuo Kato (Kageyu Ikoma).

TWELFTH NIGHT GB/USA/Irland 1996 Shakespeares letzte romantische Komödie, «inszeniert als illustres Verwirrspiel um Sein und Schein, Irrtum und Täuschung. Als Postillon d’Amour soll die als Knabe verkleidete Viola Lady Olivia für Herzog Orsino werben, gewinnt jedoch selbst deren Herz und verliert ihres an ihren Herrn. Die werknahe, akribische Umsetzung findet in der Thematisierung von Geschlechteridentität und erotischen Anziehungskräften einen spannenden Ansatz.» (Lexikon des int. Films) «Zwischen Imogen Stubbs und Helena Bonham Carter (...) entsteht eine stimmige Chemie. Bonham Carter (...) beschreitet den schmalen Grat zwischen Liebe und Komödie, wenn sie für den zarten Jüngling schwärmt, der im Namen des Grafen zu ihr kommt. Klug spielt sie die Rolle mit Ernst und überlässt das Augenzwinkern den anderen Figuren.» (Roger Ebert, Chicago SunTimes, 8.11.1996) 134 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Trevor Nunn // DREHBUCH Trevor Nunn, nach dem Theaterstück von William Shakespeare // KAMERA Clive Tickner // MUSIK Shaun Davey // SCHNITT Peter Boyle // MIT Helena Bonham Carter (Olivia), Imogen Stubbs (Viola), Toby Stephens (Orsino), Ben Kingsley (Feste), Nigel Hawthorne (Malvolio), Imelda Staunton (Maria), Richard E. Grant (Sir Andrew Aguecheek).

WILLIAM SHAKESPEARE’S ROMEO + JULIET USA 1996 «Zum Glück scheint Shakespeares Name im Filmtitel auf, sonst hielte man die Eröffnungsszenen für Quentin Tarantinos Romeo and Juliet. Kein Dialog, nur Schüsse, als zwei Familien-Gangs – die Montagues und die Capulets (jede hat ihren Namen als Leuchtschrift auf ein Hochhaus gesetzt) – in den Krieg ziehen. Willkommen im mythischen Verona Beach, wo Banden aufeinander schiessen und Soldaten aus Helis auf sie feuern. (...) Die rabiate Extravaganz von Luhrmanns Vision, bemerkenswert untermalt von Kym Barretts Kostümen und Catherine Martins Ausstattung, soll ‹Romeo and Juliet› für die schwer fassbare Generation X zugänglich machen, ohne dass das Stück dabei zensiert und zerstört wird. (...) [Wie Zeffirelli] kürzt auch Luhrmann den Text, aber auf weniger schädigende Weise. Er will uns nicht von den Worten ablenken wie Zeffirelli, son-

dern uns zu ihnen hinführen. Und in DiCaprio und Danes, die unwiderstehlich spielen, hat er zwei Darsteller gefunden, die jung genug sind, um diese Rollen zu spielen, und genügend Talent haben, um ihnen gerecht zu werden.» (Peter ­ Travers, Rolling Stone, 1.11.1996) 113 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Baz Luhrmann // DREHBUCH Craig Pearce, Baz Luhrmann, nach dem Theaterstück von William Shakespeare // KAMERA Donald M. ­McAlpine // MUSIK Nellee Hooper // SCHNITT Jill Bilcock // MIT Leonardo DiCaprio (Romeo), Claire Danes (Juliet), Paul Sorvino (Fulgencio Capulet), Brian Dennehy (Ted Montague), Pete Postlethwaite (Pater Laurence), John Leguizamo (Tybalt), Harold Perrineau (Mercutio).

HAMLET GB/USA 1996 «Branaghs Hamlet fehlt die narzisstische Intensität von Laurence Oliviers Verkörperung (von 1948), doch der Film als Ganzes ist besser, indem er Hamlet in den breiten Kontext der königlichen Politik einbettet und ihn weniger zum Objekt des Mitleids macht. (...) Das Faszinierende bei ‹Hamlet› sind die zwiespältigen Beweggründe der Figuren. Tom Stoppards ‹Rosencrantz & Guildenstern Are Dead› filterte bekanntlich das Geschehen durch die Augen von Hamlets verräterischen Schulfreunden. Aber wie sieht das Ganze für Gertrude aus? Für Claudius? Für Ophelia mit ihrem gebrochenen Herzen? Der Vorzug dieser ungekürzten Version ist, dass diese anderen ­Figuren verständlicher werden.» (Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 24.1.1997) «Unter den wichtigeren Figuren des Stücks ragt Derek Jacobi heraus als ein grossartiger, still berechnender Claudius; Julie Christie gibt eine herzzerreissende Gertrude. (...) Ophelia wird von Kate Winslet leidenschaftlich verkörpert.» (Janet Maslin, The New York Times, 25.12.1996) 242 Min / Farbe / 35 mm / E/d // REGIE Kenneth Branagh // DREHBUCH Kenneth Branagh, nach dem Theaterstück von William Shakespeare // KAMERA Alex Thomson // MUSIK ­Patrick Doyle // SCHNITT Neil Farrell // MIT Kenneth Branagh (Hamlet), Kate Winslet (Ophelia), Derek Jacobi (Claudius), Brian Blessed (Geist/Hamlets Vater), Julie Christie ­(Gertrude), Michael Maloney (Laertes), Nicholas Farrell (Horatio), ­Richard Briers (Polonius).

A THOUSAND ACRES USA 1997 In ihrem Pulitzer-Preis-gekrönten Roman «A Thousand Acres» (dt.: «Tausend Morgen») krempelte Jane Smiley 1991 «King Lear» im feministi-


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Shakespeare im Kino. schen Sinne um: Nicht die undankbaren Töchter Goneril und Regan sind hier die Bösewichte; der Patriarch Larry ist es, der sich einst an seinen Kindern vergangen und damit die Zuneigung von Ginny und Rose verspielt hat, was sie ihm auch nicht verzeihen, als er ihnen und ihrer Schwester Caroline sein Gut vermacht. Jocelyn Moorhouses starbestückte Adaptation stellt das Frauentrio Jessica Lange, Michelle Pfeiffer und Jennifer Jason Leigh gegen Jason Robards. (mb) 105 Min / Farbe / Digital SD / E/d // REGIE Jocelyn Moorhouse

«Jungers Film ist eine stille Offenbarung, eine Studie weiblicher Übellaunigkeit, die das Original unfair aussehen lässt. Erstens arbeitet das Drehbuch die Figur von Kates Vater heraus, hier ein geschiedener Arzt (...). Seine Szenen mit den Töchtern knistern vor ödipaler Ängstlichkeit (...). Stiles wächst in die Figur von Kate hinein, und Ledger ist ungezwungen charmant. Baz Luhrmanns Romeo + Juliet war eine spektakulärere, gierigere Überarbeitung, aber was sanften, kecken Witz angeht, so ist dieser Film im Vorteil.» (Charlotte O’Sullivan, www.timeout.com)

// DREHBUCH Laura Jones, nach dem Roman von Jane ­Smiley // KAMERA Tak Fujimoto // MUSIK Richard Hartley // SCHNITT

97 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Gil Junger // DREH-

Maryann Brandon // MIT Michelle Pfeiffer (Rose Cook Lewis),

BUCH Karen McCullah, Kirsten Smith, frei nach «The Taming

Jessica Lange (Ginny Cook Smith), Jason Robards (Larry

of the Shrew» von William Shakespeare // KAMERA Mark Ir-

Cook), Jennifer Jason Leigh (Caroline Cook), Colin Firth (Jess

win // MUSIK Richard Gibbs // SCHNITT O. Nicholas Brown //

Clark), Keith Carradine (Ty Smith).

MIT Heath Ledger (Patrick Verona), Julia Stiles (Kat Stratford), Joseph Gordon-Levitt (Cameron James), Larisa Oleynik

SHAKESPEARE IN LOVE

(Bianca Stratford), David Krumholtz (Michael), Andrew Keegan (Joey Donner), Susan May Pratt (Mandella).

USA/GB 1998 «Shakespeare in Love, eine höchst fiktionale Spekulation darüber, wie sich der junge Shakespeare wohl fühlte, als er pleite und einsam war und unter Schreibstau litt, holt in Bezug auf schieren Charme und selbstironischen Witz herein, was er in Sachen historische Genauigkeit verspielen mag. Joseph Fiennes bereichert seine Darstellung des jungen Will mit seinem FrauenschwarmGesicht, aber er verfügt auch über eine herzerweichend aufrichtige Sinnlichkeit. Und Gwyneth Paltrow als Viola, eine junge Frau, die das Theater so liebt, dass sie sich als Bursche verkleidet, um eine Rolle zu ergattern, ist nicht bloss strahlend; ihre Darbietung ist gewandt und grazil, funkelnd wie ein Feld voller Leuchtkäfer in einer Sommernacht und zudem rührend offenherzig.» (Stephanie Zacharek, salon.com, 30.6.2000) 123 Min / Farbe / Digital HD / E/d // REGIE John Madden // DREHBUCH Marc Norman, Tom Stoppard // KAMERA Richard Greatrex // MUSIK Stephen Warbeck // SCHNITT David Gamble // MIT Gwyneth Paltrow (Viola De Lesseps), Joseph ­Fiennes (William Shakespeare), Judi Dench (Königin Eliza­ beth), Geoffrey Rush (Philip Henslowe), Tom Wilkinson (Hugh Fennyman), Colin Firth (Lord Wessex), Imelda Staunton (Amme), Ben Affleck (Ned Alleyn), Martin Clunes (Richard Burbage), Rupert Everett (Christopher Marlowe).

HAMLET USA 2000 «Hamlet», verlegt in die Geschäftswelt des heutigen New York: Claudius hat nach dem plötzlichen Tod des CEO der Denmark Corporation die Zügel übernommen und die Witwe des Vorgängers geheiratet. Deren Sohn Hamlet, ein Slacker mit Sonnenbrille und Wollmütze, beobachtet und filmt das Geschehen aus dem Abseits; der Geist seines Vaters erscheint in Überwachungsvideos. «Autor und Regisseur Almereyda inszeniert ‹Sein oder Nichtsein› in einer Videothek der ‹Blockbuster›-Kette, ein nicht eben subtiler Hinweis darauf, dass dieser Nicht-Actionheld im Sumpf medialer Übersättigung steckt, nebst Unentschlossenheit und Selbstzweifeln. Als er dann doch etwas macht, macht er einen Film und zeigt ihn im Konferenzzimmer der Firma, um Claudius’ schlechtes Gewissen zu reizen. Dieser Hamlet bringt zwar keine tragische Grösse zustande, und er ist nicht ganz das Blendwerk, zu dem Baz Luhrmann Romeo + Juliet gemacht hat, doch Almereyda modernisiert und verschlankt, ohne zu banalisieren, und verstärkt das poetische Melodrama mit echtem Einfallsreichtum und Energie.» (Tom Charity, Time Out Film Guide)

10 THINGS I HATE ABOUT YOU

112 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Michael Almereyda

USA 1999

// DREHBUCH Michael Almereyda, nach dem Theaterstück von William Shakespeare // KAMERA John de Borman // MU-

Shakespeares Komödie «The Taming of the Shrew», angesiedelt im Teenager-Milieu eines Vororts von Seattle, verhalf Julia Stiles und Heath Ledger zum Durchbruch.

SIK Carter Burwell // SCHNITT Kristina Boden // MIT Ethan Hawke (Hamlet), Julia Stiles (Ophelia), Kyle MacLachlan (Claudius), Diane Venora (Gertrude), Sam Shepard (Geist/ Hamlets Vater), Bill Murray (Polonius).


> Ram & Leela.

> Cymbeline.

> Hamlet (2000).

> Romeo and Juliet Get Married.

> The Merchant of Venice.

> A Thousand Acres.


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Shakespeare im Kino. MUSIK Guto Graça Mello // SCHNITT Felipe Lacerda // MIT

THE MERCHANT OF VENICE GB 2005 Visuell opulente Verfilmung von Shakespeares kontroversem Drama um den Juden Shylock, der bis zum bitteren Ende vom Kaufmann Antonio die Einhaltung seines Vertrags einfordert. Als Mitglied einer vom venezianischen Adel als Geld­ verleiher geduldeten, aber diskriminierten Minderheit, die im Getto zu leben hatte, hält er den christlichen Bewohnern Venedigs damit den Spiegel ihres Verhaltens und Denkens vor. «Es ist Al Pacinos grosser Auftritt, und zum Glück ist sein Shylock fesselnd genug, alles zu tragen. (…) Radford hält das Drama in angemessenem Tempo auf Kurs, und der Kameramann Benoît Delhomme setzt die Canali, Piazze und Palazzi ins Licht, ohne dem rein Illustrativen oder den üblichen Klischees zu verfallen.» (Wally Hammond, Time Out Film Guide) 133 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Michael Radford // DREHBUCH Michael Radford, nach dem Theaterstück von ­William Shakespeare // KAMERA Benoît Delhomme // MUSIK Jocelyn Pook // SCHNITT Lucia Zucchetti // MIT Al Pacino (Shylock), Jeremy Irons (Antonio), Joseph Fiennes (Bassanio), Lynn Collins (Portia), Zuleikha Robinson (Jessica), Kris ­Marshall (Gratiano), Charlie Cox (Lorenzo).

Luiz Gustavo (Alfredo Baragatti), Marco Ricca (Romeu), Luana Piovani (Julieta), Martha Mellinger (Isabela), Berta ­Zemel (Nenzica), Leonardo Miggiorin (Zilinho).

RAM & LEELA

(Goliyon Ki Raasleela: Ram-Leela) Indien 2013 «Romeo und Julia» in der Provinz Gujarat, wo zwei rivalisierende Clans sich mit viel Waffen­ gewalt seit Jahrhunderten bekriegen. Ram, der Sohn der einen Sippe, betreibt einen Porno-DVDLaden und hält sich an die Devise «make love not war». Als er sich in Leela, die Tochter des gegnerischen Clans, verliebt und gar mit ihr durchbrennt, gerät er auch mit den Seinen in Konflikt. Was als munter-bunter Bollywood-Streifen beginnt, gerät in der zweiten Hälfte, die sich von der Shakespeare’schen Vorlage vorübergehend löst, zu einem ernsthaften Drama, das aktuelle Themen wie Massenvergewaltigung streift und zum Ende hin sogar einige Spannung bezüglich des Ausgangs aufzubauen vermag. (mb) 153 Min / Farbe / Digital HD / Hindi/d // REGIE Sanjay Leela Bhansali // DREHBUCH Sanjay Leela Bhansali, Siddharth, ­Garima, nach «Romeo and Juliet» von William Shakespeare // KAMERA Ravi Varman // MUSIK Sanjay Leela Bhansali // SCHNITT Sanjay Leela Bhansali, Rajesh Pandey // MIT Ran-

ROMEO AND JULIET GET MARRIED (O casamento de Romeu e Julieta) Brasilien 2005

veer Singh (Ram), Deepika Padukone (Leela), Supriya Pathak Kapur (Dhankor), Homi Wadia (Radhu Bhai), Abhimanyu Singh (Meghji Bhai), Priyanka Chopra (Tänzerin).

In Bruno Barretos brasilianischer Variation des Themas gehören Romeo und Julia zu den Fans zweier konkurrierender Fussballclubs in São Paulo, die sich nicht ausstehen können. Die Baragattis, darunter Julieta und ihr cholerischer Vater, schwärmen für den FC Palmeiras, während der Augenarzt Romeu und seine furiose Grossmutter sich für den anderen Stadtclub, die Corinthians, begeistern. Als Romeu sich in Julieta verguckt, kann er sie nur erobern, indem er sich als Palmeiras-Anhänger ausgibt, was komische und dramatische Folgen zeitigt. «Letztlich geht es in dieser sehr freien Shake­ speare-Adaptation darum, ein paar ihrer Elemente – so etwa die Balkonszene – in einen Schrei für Toleranz zu verwandeln. Und der Schrei wird erhört, dank den Bemühungen von Frauen, und es darf weder das Happy End noch die märchenhafte Versöhnung zweier verfeindeter Familien samt Fussballhochzeit fehlen.» (Geri Krebs, NZZ, 13.4.2006)

Aus dem Britenkönig Cymbeline wird der Chef der Motorradbande Britons; anstelle des römischen Reichs, dem Cymbeline Tribut schuldet, steht eine korrupte Polizei. Cymbelines zweite Frau will Cloten, ihren verderbten Sohn aus erster Ehe, mit der Königstochter Imogen vermählen, aber diese hat sich in den mittellosen Posthumus verliebt, was zu allerhand Intrigen und Morden führt. Ed Harris brilliert als Cymbeline, Milla Jovovich gibt seine fiese Frau und das Fifty Shades of Grey-Opfer Dakota Johnson überzeugt als unschuldige Imogen in Almereydas zweitem Shakespeare-Streich. (mb)

92 Min / Farbe / 35 mm / Port/d/f // REGIE Bruno Barreto //

Hawke (Iachimo), Ed Harris (Cymbeline), Milla Jovovich (Köni-

DREHBUCH Jandira Martini, Marcos Caruso, nach Motiven

gin), John Leguizamo (Pisanio), Dakota Johnson (Imogen),

von William Shakespeare // KAMERA Adriano Goldman //

Penn Badgley (Posthumus), Anton Yelchin (Cloten).

CYMBELINE USA 2014

98 Min / Farbe / Digital HD / E // REGIE Michael Almereyda // DREHBUCH Michael Almereyda, nach dem Theaterstück von William Shakespeare // KAMERA Tim Orr // MUSIK David Ludwig // SCHNITT John Scott Cook, Barbara Tulliver // MIT Ethan



15 Ritwik Ghatak

Brennender Tiger «Im indischen Film hat es keiner geschafft, ihn an Heftigkeit und ­epischer Schönheit der Bilder zu übertreffen», urteilte sein Kollege Satyajit Ray über Ritwik Ghatak (1925 –1976), der erst posthum als einer der grössten Filmemacher Asiens erkannt wurde. Das Film­podium zeigt sechs der acht Filme, die Ritwik Ghatak vollendet hat. Während Satyajit Ray selbst – als Person wie als Künstler – die Erwartungen des ­Westens an Indiens Kinokunst perfekt zu erfüllen schien und als dessen ­«Vorzeigesohn» (Jacob Levitch) fungierte, bot das elektrisierend zerrissene, experimentierfreudige Werk des von Selbstzweifeln geplagten «Problemkinds» Ritwik Ghatak keine wohligen Sicherheiten. Sein Spitzname war «brennender Tiger», und so lodernd, Grenzen sprengend war auch sein Kino. Der von Ray beschworene Aspekt der «epischen Schönheit» kann durchaus auch im Sinne Brechts verstanden werden, den Ghatak ins Bengalische übersetzte. «Für all jene, die das Glück hatten, einen seiner Filme zu sehen, zählt Ghatak zu jenen seltenen Künstlern, die durch ihre Art, die Dinge zu zeigen, unsere Vorstellung von der Welt verändern», so der französische Autor ­Hubert Niogret. Als Sohn eines ostbengalischen Magistratsbeamten verbringt Ghatak eine harmonische Kindheit im Schoss der Familie. Die Teilung Bengalens 1947 wird zum einschneidenden Erlebnis: Wie Abermillionen flieht Ghataks Familie aus Ostpakistan (heute: Bangladesch) ins indische Kalkutta, wo er sich bald in der kommunistischen Partei und beim Theater engagiert. Der kulturelle Brennpunkt ist die «Indian People’s Theatre Association» (IPTA), zu deren Umfeld auch Satyajit Ray, Mrinal Sen und viele spätere Ghatak-Mitarbeiter gehören. Nach internen IPTA-Streitigkeiten (er wird als Trotzkist abgestempelt) sieht Ghatak im Kino eine neue Chance – auch auf mehr Publikum. Sein Filmdebüt Nagarik (1953) wird jedoch erst nach seinem Tod gezeigt. Wäre dieser Film vor seinem eigenen Debüt Pather Panchali herausgekommen, meint Ray, hätte man Indiens Kino mit Ghatak entdeckt. Ritwik Ghataks Der Vagabund (Ajantrik) läuft 1958 am Rande des Festivals in ­Venedig, und allein Georges Sadoul feiert den «jungen, aussergewöhnlich begabten Filmemacher».

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Das Drama einer bengalischen Flüchtlingsfamilie: Der verborgene Stern < Der Vagabund, die schelmische Liebesgeschichte zwischen einem Taxifahrer und seinem Auto

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Der Fluss Titash: Zwei Frauenschicksale in einem Fischerdorf


16 Persönliche und politische Zerrissenheit Mit dem Hauptwerk Der verborgene Stern (Meghe dhaka tara) folgt 1960 ein einziger Publikumserfolg, bevor Ghatak sich im eigenen Feuer verzehrt: Bis er 51-jährig stirbt, bricht der von Tuberkulose, Tumoren und Alkohol zerfressene Filmemacher mehr Projekte ab, als er vollendet. Mit autobiografischer Intensität erzählt er vom Überleben, der Verteidigung einer menschenwürdigen Existenz im Angesicht der Verzweiflung: Im unfassbaren Abschiedswerk Einsicht, Streit und eine Geschichte (Jukti, takko aar gappo) inszeniert sich der gezeichnete Ghatak selbst als Alkoholiker; e-Moll (Komal gandhar) beschwört die IPTA-Zeit, Der Fluss Titash die Erinnerung an die Delta-Landschaften seiner Jugend. Flüsse – seine grössten Epen, Subarnarekha und Der Fluss Titash, tragen deren Namen im Titel – und Flüchtlinge sind Zentralmotive für Ghataks Geschichte(n) eines so nicht mehr existierenden Staates. Dessen politische Zerrissenheit prägt Ghataks Ästhetik: Tradition und Moderne sowie melodramatische, realistische und revolutionäre Inszenierungsideen befeuern einander auf verdreifachter Erzählebene – im individuellen Drama spiegeln sich grössere soziale Allegorien und mythische Abbilder. Ghatak-Heldinnen wie Nita in Der verborgene Stern opfern sich in nationaler Notlage als Ernährerin für ihre Familie: Mother India. Zugleich sind sie Wiedergängerinnen von Göttinnen: Wie die alten Mythen schildert Ghatak den Kreislauf von Zerstörung und Wiedergeburt. Die mysteriöse, oft nervöse Kraft und Komplexität von Ghataks Kunst verdankt sich der kühnen Verzahnung widerstreitender Ideen. Über gewaltige Bilder setzt er erstaunliche Tonspuren: Peitschenschläge zu Nitas unvergesslichem Abstieg, Schüsse zur Nachricht von Ghandis Tod in Subarnarekha. Musik dient als Brücke – auch zwischen der konkreten Wirklichkeit und der erstrebten Universalität, im Mitgefühl für die Figuren, in der sozialen und allegorischen Ambition und in der masslosen Leidenschaft, mit der Ghatak sich aufreibt: «Ein Mensch stirbt, die Menschheit lebt weiter.» Die Menschheit hat erst nach Ghataks Tod entdeckt, was er ihr gegeben hat: eine einzigartige Vision von Kino, tosend wie die grossen Flüsse, die es durchströmen. Christoph Huber

Christoph Huber ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Österreichischen Filmmuseum, wo die Ghatak-Reihe Januar/Februar 2015 gezeigt wurde. Von ihm stammen auch die Kurztexte zu den Filmen. Die beiden Ghatak-Filme Der Bürger (Nagarik) (1953) und Der Ausreisser (Bari theke paliye) (1959) sind derzeit nicht im Original zugänglich.


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Ritwik Ghatak. 126 Min / sw / 35 mm / Bengali/d/f // DREHBUCH UND REGIE

DER VAGABUND (Ajantrik) Indien 1958

Die schelmische Liebesgeschichte zwischen ­einem Taxifahrer und seinem Auto. Bimal durchquert im veralteten, über alles geliebten Gefährt namens Jaggadal Indiens Provinz und wird nebenbei Zeuge eines wirtschaftlichen Umbruchs. Die Natur muss den Bulldozern weichen, während Bimal trotz allseitigen Spotts seine letzten Ersparnisse in den Wagen steckt, den er für beseelt hält. Erst als er sich in eine Frau verliebt, gibt Jaggadal den Geist auf. Als Exeget von C. G. Jung konstruiert Ghatak ab Der Vagabund alle Filme nach dessen Archetypen: In Jaggadal sieht er das Abbild der Mutter und des alten Indien. Die Hupe, die wie die Hörner des Oraon-Stamms klingt, dessen ekstatischen Tanzriten Bimal in einer elektrisierenden Szene beiwohnt, wird nach Jaggadals Verschrottung von einem kleinen Jungen gefunden, der sie prompt betätigt: Ghataks Filme enden bevorzugt mit Tod und Leben – Ende und Neubeginn im selben Bild. 102 Min / sw / 35 mm / Bengali/d // DREHBUCH UND REGIE ­Ritwik Ghatak // KAMERA Dinen Gupta // MUSIK Ustad Ali ­Akbar // SCHNITT Ramesh Joshi // MIT Kali Bannerjee (Bimal), ­Ganesh Mukherjee (Mechaniker), Shriman Deepak (Knabe), Gangapada Basu (Onkel), Kajal Gupta (junge Frau).

DER VERBORGENE STERN (Meghe dhaka tara) Indien 1960

­Ritwik Ghatak // KAMERA Dinen Gupta // MUSIK Jyotirindra ­Moitra // SCHNITT Ramesh Joshi // MIT Supriya Choudhury (Nita), Anil Chattopadhyay (Shankar), Bijon Bhattacharya (Vater), Gita De (Mutter), Niranjan Ray (Sanat), Dwiju Bhawal (Mantu).

E-MOLL (Komal gandhar) Indien 1961 Ghataks zärtlich-kritischer Tribut an die «Indian People’s Theatre Association» (IPTA): eine Erzählung von zwei rivalisierenden Theatergruppen, die für eine einzige stehen, so wie das geteilte Bengalen für Ghatak immer die Erinnerung an die Einheit heraufbeschwört. Das Wechselspiel von Trennung und Einheit ist kennzeichnendes Merkmal von Ghataks Kino: schmerzhafte Trennung von Ton und Bild, um durch aussererzählerische Klänge (Schüsse, Lieder, Sirenen) eine übergeordnete Einheit der Bedeutung herzustellen. Trennung von individueller, mythischer und sozialer Erzählung, die doch erst durch die Verbindung der Ebenen zur vibrierenden, vielschichtigen Einheit von Ghataks zyklischem Weltbild wird. Der Filmtitel verdankt sich Rabindranath Tagore, der in der Tonart e-Moll eine Metapher für Ehe und Wiedervereinigung sah: In e-Moll gönnt sich Ghatak nach zahlreichen tragikomischen Intrigen und Auseinandersetzungen die Erfüllung dieser Hoffnung. 133 Min / sw / 35 mm / Bengali/d/f // DREHBUCH UND REGIE Ritwik Ghatak // KAMERA Dilip Ranjan Mukhopadhyay // ­MUSIK Jyotirindra Moitra // SCHNITT Ramesh Joshi // MIT Supriya Choudhury (Anasua), Abanish Bandyopadhyay (Rhringu), Anil Chattopadhyay (Rishi), Chitia Mandal (Jaya),

Ritwik Ghatak: «Ich stelle grenzenlose Ansprüche an Der verborgene Stern. Ich erachte ihn als meinen besten Film.» Eine Leidensgeschichte von klassischer Schönheit und wilder Modernität: eine meisterliche Quersumme im Schaffen eines ewig gespaltenen Regisseurs, in dem Traditionsbewusstsein und Progressivität um die Oberhand ringen. In einem Vorort Kalkuttas kämpft eine Familie bengalischer Flüchtlinge ums Überleben. Als der Vater zum Invaliden wird, flieht der älteste Sohn in eine Musikerkarriere, Tochter Nita muss die Familie erhalten. Nitas Opfergang wird dreifach erzählt, wobei sich die Ebenen schwindelerregend überlagern, vertiefen, erweitern: individuelles Drama, Allegorie auf die Situation der Emigranten und Abbild indischer Mythen von der Muttergöttin. Film der Dreiheit: Drei Frauen im Haus, dreimal knechten Peitschenschläge auf der Tonspur die Heldin, dreimal schreit sie am Ende gegen die starren Berggipfel den Wunsch nach Leben hinaus. Dann beginnt der Teufelskreis von Neuem.

Gita De (Shanta), Satindra Bhattacharya (Shibnath).

SUBARNAREKHA Indien 1965 Nach Der verborgene Stern und e-Moll der Abschluss von Ghataks fast «unabsichtlich» entstandener Flüchtlingstrilogie – und vielleicht sein grösster Film. Der Junggeselle Ishwar verlässt ein Emigrantenkollektiv: Als Angestellter in einer Giesserei will er die Zukunft seiner kleinen Schwester und eines Ziehkinds sichern. Doch gerade aufgrund seiner Fürsorge und Prinzipientreue stürzt er alle ins Unglück: Abbild des bengalischen Schicksals, in dem Heimatlosigkeit die Entwurzelung des Geistes und damit die Tragödie bedingt. Ein sich über Jahrzehnte erstreckendes Familiendrama, das stets im Augenblick lebt; ein Film, dessen ruhigen Fluss heftige, irrlichternde, expressive Dramatisierungen jäh durchbrechen und in dem allergrösste Intimität und globale


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Ritwik Ghatak. ­ reignisse ganz selbstverständlich ein unruhiE ges, unausweichliches Miteinander finden müssen – wie im Leben vor der Kinotür. Ghataks Zeitlosigkeit spiegelt sich am schönsten im ­ Schlussmantra dieses Films: «Weiter, weiter.» 128 Min / sw / 35 mm / Bengali/d/f // DREHBUCH UND REGIE Ritwik Ghatak // KAMERA Dilip Ranjan Mukhopadhyay // MUSIK Ustad Bahadur Khan // MIT Abhi Bhattacharya (Ishwar Chakrabarty), Bijon Bhattacharya (Haraprasad), Indrani Chakrabarty (die kleine Sita), Gita De (Koushala Bagdi

159 Min / sw / 35 mm / Bengali/d/f // DREHBUCH UND REGIE Ritwik Ghatak // KAMERA Baby Islam // MUSIK Ustad Bahadur Khan // SCHNITT Basheer Hussain // MIT Rosy Samad (Basanti), Kabari Choudhury (Rajar Jhi), Roussan Jamil (Basantis Mutter), Rani Sarkar (Munglee), Sufia Rustam (Udayaara).

EINSICHT, STREIT UND EINE GESCHICHTE (Jukti, takko aar gappo) Indien 1974

Bou), Sriman Tarun (der kleine Abhiram).

DER FLUSS TITASH

(Titash ekti nadir naam) Indien/Bangladesch 1973 Immer wieder zieht es Ghatak an den Fluss, Sinnbild des ewigen Wandels und Metapher für das getrennte Bengalen, aus dessen Ostteil er stammt. Als dort nach einem blutigen Unabhängigkeitskrieg der neue Staat Bangladesch entsteht, kehrt Ghatak zurück, um diesen Film zu drehen. Der Fluss Titash erzählt, im Rhythmus eins mit Ebbe und Flut des Flusses, vom Verschwinden einer Fischerkommune. Darin verwoben: zwei tragische Frauenschicksale. Die eine wird nach ihrer Hochzeit und der Geburt eines Kindes von Flussbanditen entführt, die andere, Basanti, kümmert sich um das verlassene Kind, verliert es schliesslich. Zugleich verliert der Fluss sein Wasser. Die Fischer werden von grausamen Händlern aus der Stadt vertrieben. Am Ende halluziniert die im Flussbett nach Wasser grabende Basanti sterbend die nächste Generation: Reisfelder, durch die ein kleiner Junge läuft, sein Pfeifen auf dem Grashalm ein fernes Echo der Autohupe in Der Vagabund. Ghatak: «Es gibt kein Ende der Zivilisation.»

> e-Moll.

Der schonungsloseste Epitaph der Filmgeschichte, selbst verfasst, die Dreharbeiten mehrfach wegen akuter Tuberkulose und Alkoholdelirium unterbrochen: Ritwik Ghatak, gepeinigt von Identitätszweifeln, die er im Suff ertränkte, verkörpert selbst in seinem letzten Spielfilm einen intellektuellen Alkoholiker, den seine Frau nach einem (autobiografischen) Wortwechsel verlässt und der mit zwei Bürgerkriegsflüchtlingen aus Bangladesch eine Odyssee durch das zerfallene Westbengalen unternimmt. Halb Narr, halb Weiser, trifft er, meist betrunken, ehemalige Mitstreiter, die der Dekadenz anheimgefallen sind, wohnt einem traditionellen Chhau-Tanz bei und findet nach einer langen, fruchtlosen Diskussion mit jungen Widerstandskämpfern durch eine zufällige Kugel den Tod, wobei er seine letzte Flasche ins Kameraobjektiv verschüttet. Inhaltlich wie stilistisch ein Film der Ratlosigkeit, aber mit solcher Leidenschaft vorgetragen, dass sie zielstrebig scheint: «Das Universum brennt. Ich brenne.» 121 Min / sw / 35 mm / Bengali/d/f // DREHBUCH UND REGIE Ritwik Ghatak // KAMERA Baby Islam // MUSIK Ritwik ­Ghatak // SCHNITT Ramesh Joshi // MIT Ritwik Ghatak (Nilkanthro), Tripti Mitra (Durga), Shaonli Mitra (Bangabala), Bijon Bhattacharya (Jagannath), Saugata Barman (Nachiketa).


19 Das erste Jahrhundert des Films

1955 1955 erlebt Hollywood eine Zeit des Umbruchs, die Produktionsfirmen geraten durch die Konkurrenz des Fernsehens unter grossen Druck, das StudioSystem bricht zusammen – das führt zu einer Lockerung der rigiden Zensurvorschriften und zum Versuch, neue Zielgruppen zu erschliessen. Dabei werden die Jugendlichen als Kinopublikum und Filmstoff entdeckt, eine ­Reihe von Filmen, die den Generationenkonflikt thematisieren, entstehen, allen voran Elia Kazans Meilenstein East of Eden und Nicholas Rays Rebel ­Without a Cause, mit denen James Dean zur unsterblichen Jugendikone wird. Im gleichen Jahr bringt Charles Laughton in The Night of the Hunter mit Robert Mitchum als Psychopath in schwarzweisser Predigertracht einen der unvergesslichsten Bösewichte auf die Leinwand. In Frankreich schockiert derweil Henri-Georges Clouzot das Publikum mit Les diaboliques, in dem das eigentlich Verstörende nicht die Darstellung des Schrecklichen ist, sondern die Amoralität der Figuren. In Skandinavien wiederum verhilft die heiter-frivole Gesellschaftskomödie Das Lächeln einer Sommernacht Ingmar Bergman zu seinem internationalen Durchbruch, während Carl Theodor Dreyer in Ordet mit einfachsten Mitteln die Zuschauer vom Eintreten eines Wunders überzeugt und damit in Venedig den Goldenen Löwen gewinnt. In Indien schliesslich debütiert Satyajit Ray mit Pather Panchali, seinem sensiblen Porträt des Alltags einer bengalischen Familie, das in Cannes gefeiert wird und den damaligen Laienregisseur sowie Indien als Filmland schlagartig in der internationalen Filmszene etabliert. Tanja Hanhart

Das erste Jahrhundert des Films In der Dauerreihe «Das erste Jahrhundert des Films» zeigen wir im Lauf von zehn Jahren rund 500 w ­ egweisende Werke der Filmgeschichte. Die Auswahl jedes Programmblocks ist gruppiert nach Jahrgängen, woraus sich schliesslich 100 Momentaufnahmen des Weltkinos von 1900 bis 1999 ergeben. ­Referenzzahl ist jeweils der aktuelle Jahrgang, d. h. im Jahr 2015 sind Filme von 1915, 1925, 1935 usw. zu sehen. Vor einzelnen Filmen zeigen wir Filmwochenschauen des betreffenden Jahres (siehe Leporello).

Weitere wichtige Filme von 1955 All That Heaven Allows Douglas Sirk, USA Du rififi chez les hommes Jules Dassin, F Guys and Dolls Joseph L. Mankiewicz, USA Il bidone Federico Fellini, I Killer’s Kiss Stanley Kubrick, USA Kiss Me Deadly Robert Aldrich, USA Lady and the Tramp Clyde Geronimi u. a., USA Lola Montès Max Ophüls, F Mr. Arkadin Orson Welles, F/Sp/CH Muerte de un ciclista Juan Antonio Bardem, Sp Nuit et brouillard Alain Resnais, F Picnic Joshua Logan, USA

Richard III Laurence Olivier, GB Sissi Ernst Marischka, Österreich The Dam Busters Michael Anderson, GB The Man from Laramie Anthony Mann, USA The Man with the Golden Arm Otto Preminger, USA The Seven Year Itch Billy Wilder, USA The Trouble with Harry Alfred Hitchcock, USA To Catch a Thief Alfred Hitchcock, USA The Ladykillers Alexander Mackendrick, GB Ukigumo (Treibende Wolken) Mikio Naruse, J UIi, der Pächter Franz Schnyder, CH


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Das erste Jahrhundert des Films: 1955.

EAST OF EDEN USA 1955 Salinas, Anfang des 20. Jahrhunderts: Die Zwillingsbrüder Aron und Cal werden von ihrem Vater streng nach der Bibel erzogen. Während der geschäftstüchtige Aron der Liebling des Vaters ist, buhlt der sensible Cal vergebens um die Aufmerksamkeit und Liebe seines Vaters. Als Cal herausfindet, dass seine tot geglaubte Mutter nur wenige Meilen entfernt ein Bordell betreibt, beginnt bei dem Jungen ein Selbsterkenntnisprozess, der seine Familie endgültig zu zerreissen droht. Die Steinbeck-Verfilmung East of Eden war Elia Kazans erster Film, bei dem er auch als Produzent zeichnete und mit Farbe und dem neuen Cinemascope-Format arbeitete. Zugleich der erste der lediglich drei Kinofilme, die James Dean zu einem Jugendidol machten, dessen Aura auch fast 60 Jahre nach seinem Tod ungebrochen ist. Zum ersten Mal verkörperte er hier die Figur des jugendlichen Rebellen, mit dem sich Teenager in aller Welt sofort identifizierten. Viele haben versucht, ihn zu imitieren, doch bisher konnte niemand das romantisch-traurige Image dieses «ersten amerikanischen Teenagers» erreichen. «Eine Suche nach dem filmischen Äquivalent des ‹grossen amerikanischen Romans›, der offensichtlich nie ohne die biblische Dimension, das

Kain-und-Abel-Drama, auskommt, in dem James Dean der schönste aller Verlierer wurde. Kazan ist ein Meister darin, aus biblischen Gleichnissen psychologische Geschichten werden zu lassen und daraus politische Parabeln.» (Georg Seesslen, epd Film, 11/2003) «Elia Kazans East of Eden ist ungeheuer wichtig für mich. Ich sah den Film mit 12, 13 Jahren und suchte New York systematisch nach Kinos ab, die ihn spielten, um immer wieder diese Empfindungen zu durchleben. Denn auf der Leinwand drückte James Dean mit seinem überbordenden Temperament all das aus, was ich mich zu Hause nicht zu sagen traute.» (Martin Scorsese im Interview mit Katja Nicodemus, Die Zeit, 8/2003) 115 Min / Farbe / DCP / E/d // REGIE Elia Kazan // DREHBUCH Paul Osborn, nach dem Roman von John Steinbeck // K ­ AMERA Ted D. McCord // MUSIK Leonard Rosenman // SCHNITT Owen Marks // MIT James Dean (Cal Trask), Julie Harris (Abra), Raymond Massey (Adam Trask), Richard D ­ avalos (Aron Trask), Jo Van Fleet (Kate), Burl Ives (Sam, der Sheriff), Albert Dekker (Will Hamilton), Lois Smith (Anne), Harold Gordon (Gustav Albrecht), Nick Dennis (Rantani).


Das erste Jahrhundert des Films: 1955.

THE NIGHT OF THE HUNTER USA 1955 Ein Psychopath, der als Prediger durch die Lande zieht, hat es auf das geraubte Geld eines hingerichteten Banditen abgesehen und macht sich an dessen verzweifelte Witwe heran. Doch nur ihre Kinder kennen das Versteck des Geldes – der Prediger verfolgt sie quer durch die USA. Der Film, der meisterhaft zwischen verschiedenen Genres wechselt und Humor mit heute noch verstörenden Horror-Thriller-Elementen verbindet, wurde lange von Publikum und Presse ignoriert, bevor ihm die Kritiker der Nouvelle Vague die Anerkennung verschafften, die ihm gebührt: Heute gilt er als Meilenstein der Filmgeschichte und zählt zu den grössten Horrorfilmen überhaupt. «Dem Schrecken wohnt immer auch eine rätselhafte Schönheit inne (...). Kameramann Stanley Cortez, der auch für Orson Welles, Fritz Lang und Sam Fuller arbeitete, erschuf für die Jagdszenen durch die Sümpfe Bilder wie aus düsteren Märchenbüchern. Die verängstigten und allein gelassenen Kinder, der merkwürdige Predigergesang des von Robert Mitchum genial verkörperten Schurken, die künstlichen Dekors und der oft alttestamentarische Tonfall der Dialoge vereinen sich zu einem Kunstwerk, das zeitlos geblie-

ben ist, Abgründe auslotet und kindliches Schaudern (…) erzeugt. Der Film gehört auch deshalb zu einem der einflussreichsten Werke der Filmgeschichte – allein die Szene, in der Mitchum den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse erklärt, symbolisiert durch die auf seine Finger tätowierten Worte ‹Love› und ‹Hate›, wurde unzählige Male zitiert, persifliert und variiert.» (Arte Magazin, 16.2.2011) «Robert Mitchums mörderischer Prediger in Charles Laughtons Märchenwunder The Night of the Hunter ist selbst einer der grossen KinoMythen. (...) Jacques Rivette: ‹Der grösste Amateurfilm der Filmgeschichte!› Die einzige Regiearbeit von Schauspieltitan Charles Laughton, ein singuläres Schauerromantikmärchen, zugleich bezwingend und bizarr, seltsam und schlüssig, naiv und nuanciert. (...) Ein magisches Meisterwerk.» (Christoph Huber, Österreichisches Filmmuseum, 1/2012) 93 Min / sw / DCP / E/f // REGIE Charles Laughton // DREHBUCH James Agee, Charles Laughton // KAMERA Stanley Cortez // MUSIK Walter Schumann // SCHNITT Robert ­Golden // MIT Robert Mitchum (Harry Powell), Shelley ­Winters (Willa Harper), Billy Chapin (John Harper), Sally Jane Bruce (Pearl Harper), Lillian Gish (Rachel Cooper), Evelyn Varden (Icey Spoon), Peter Graves (Ben Harper), James Gleason (Birdie Steptoe).

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Das erste Jahrhundert des Films: 1955.

ORDET Dänemark 1955 Anfang des 20. Jahrhunderts, in einem Dorf in Westjütland: Eine Bäuerin stirbt nach der Totgeburt ihres Kindes. Der verwirrte Bruder des Mannes hat diesen Tod vorausgesagt, zugleich aber versprochen, er werde die Frau wieder zum Leben erwecken. Carl Theodor Dreyers vorletzter Film, der in einer von langen Unterbrechungen geprägten ­ Schaffensperiode entstand, wurde zu seinem erfolgreichsten Tonfilm. «Henning Bendtsens nüchterne, dabei wunderschöne Schwarzweiss-Bilder legen einen eigenen Glanz über die Hütte und die Weiden der Bauernfamilie. Dreyers ruhige Rhythmen, lange Einstellungen und die vordergründig schlichte Inszenierung lassen auf den ersten Blick den ­ ­Eindruck entstehen, dass es sich um ein Kammerspiel über eine gewöhnliche Bauernfamilie handelt. Nur Johannes’ schmeichelnde Stimme wirkt ungewöhnlich. (...) Und wenn uns auch Ordet nicht zum Glauben bekehren kann, sind wir doch Zeugen allerhöchster Filmkunst.» (Geoff Andrew, in: 1001 Filme, Ed. Olms 2012) «Im Zentrum das unendlich ruhige, endgültige Bild eines Zimmers, in dessen Iichtumflossener Mitte der Sarg mit dem Leichnam einer jungen Frau steht. Am Ende des Films eine Totener­ weckung, ein Wunder, das Dreyer mit insistierendem Realismus filmt, als wäre es eine einfache

Gegebenheit und kein Absurdum der Sehnsucht, was die Erschütterung noch verstärkt.» (Harry ­Tomicek, Österreichisches Filmmuseum, 11/2011) Ein Schluss, der mehrfach Regisseure wie Carlos Reygadas oder Lars von Trier zu KinoWundern inspiriert hat. «Jedes Bild in Ordet ist von einer formalen Perfektion, die ins Sublime führt.» (François Truffaut) 126 Min / sw / 35 mm / Dän/f // REGIE Carl Theodor Dreyer // DREHBUCH Carl Theodor Dreyer, nach dem Theaterstück von Kaj Munk // KAMERA Henning Bendtsen // MUSIK Poul Schierbeck // MIT Henrik Malberg (Morten Borgen), Emil Hass Christensen (Mikkel Borgen), Birgitte Federspiel (Mikkels Frau ­Inger), Preben Lerdorff Rye (Johannes Borgen), Cay Kristiansen ­(Anders Borgen).


Das erste Jahrhundert des Films: 1955.

DAS LÄCHELN EINER SOMMERNACHT (Sommarnattens leende) Schweden 1955

Um die Jahrhundertwende heiratet ein zynischer Anwalt die wesentlich jüngere Anne. Doch die noch unberührte Gattin hofft vergeblich auf die körperliche Zuneigung ihres Mannes; dieser interessiert sich mehr für eine Schauspielerin, mit der er bereits eine Affäre hatte. Diese ist jetzt jedoch die Geliebte eines Grafen, der seinen Nebenbuhler wutentbrannt zum Duell auffordert. Währenddessen nutzt Anne die Abwesenheit ihres Mannes für eine rauschende Liebesnacht mit dessen Sohn. «Seitensprünge gehörten zu Ingmar Bergmans grossen Themen, sowohl in seinen Filmen, als auch in seinem Leben. Er war fünfmal verheiratet und nicht sehr treu, führte er doch während seiner Ehen weitgehend öffentliche Liebesbeziehungen mit Schauspielerinnen wie Harriet Andersson, Bibi Andersson und Liv Ullmann. Doch plagten ihn während seiner Affären Schuldgefühle, in seinen Filmen kehrte er immer wieder zu diesem Thema zurück. (…) Pauline Kael nannte dies einen nahezu perfekten Film. Nachdem ich ihn fast mein Leben lang nicht gesehen hatte, war ich überrascht, wie sehr er mich überwältigte: Man findet hier eine Überfülle an Leidenschaft, aber nichts davon ist leichtsinnig; die Figuren ­wägen das moralische Gewicht ihrer Handlungen ab – während sie zwar nicht abgeneigt sind, sich

schlecht zu benehmen, verspüren sie doch das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen, wenn auch nur sich selbst gegenüber. Vielleicht verspürt Bergman hier das gleiche Bedürfnis.» (Roger Ebert, Great Movies, 31.1.2012) «Shakespeare stand Pate bei diesem leichthändigsten aller Bergman-Filme, der dem Regisseur den Jurypreis von Cannes und den internationalen Durchbruch bescherte. Obschon nur wenige Aussenaufnahmen die Szenen in übermöblierten Privathäusern und Boudoirs durchlüften und Bergman die Theatralik seiner Figuren bewusst auf die Spitze treibt, wirkt der Film nie wie abgefilmtes Theater. Lichtführung und Bildkompositionen sind so ausgeklügelt, die Schauspieler und ihre Führung so virtuos, dass der Film stets in Bewegung bleibt. Burleske Momente wechseln mit satirisch scharfen, und durch alle heiteren Förmlichkeiten und Frivolitäten schimmert eine typisch Bergman’sche tragische Grundierung. Am erstaunlichsten mutet heute die Selbstverständlichkeit an, mit der Bergman 1955 emanzipierte Frauen in Szene setzt und der Sinnlichkeit zu ihrem Recht verhilft.» (Andreas Furler, Programm Filmpodium, 12/2009) 108 Min / sw / 35 mm / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE Ingmar Bergman // KAMERA Gunnar Fischer // MUSIK Erik Nordgren // SCHNITT Oscar Rosander // MIT Ulla Jacobsson (Anne), Gunnar Björnstrand (Frederick Egerman), Eva Dahlbeck (Desirée), Jarl Kulle (Graf Carl Magnus Malcolm), Margit ­Carlqvist (die Gräfin), Björn Bjelvenstam (Henrik), Harriet ­Andersson (Petra), Bibi Andersson (eine Schauspielerin).

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Das erste Jahrhundert des Films: 1955.

LES DIABOLIQUES Frankreich 1955 Der Direktor eines tristen Jungeninternats in der französischen Provinz ist ein sadistischer Tyrann, unter dem neben den Schülern vor allem seine herzkranke Frau Christina leidet. Aber auch ­Nicole, seine Geliebte, ist vor seinen Schikanen nicht sicher. In einem Anflug von Solidarität beschliessen die beiden Frauen, sich des Tyrannen zu entledigen: Sie betäuben ihn, ertränken ihn in Nicoles Badewanne und kippen seine Leiche anschliessend in das stark verschmutzte Schwimmbecken der Schule – doch anstatt aufzutauchen, verschwindet die Leiche auf mysteriöse Weise. «Vor Alfred Hitchcocks Psycho (1960) galt Henri-Georges Clouzots Meisterwerk Les diaboliques als unheimlichster und kunstvollster Horrorfilm überhaupt. So wie Hitchcock den französischen ‹Master of Suspense› beeinflusste, übte dieser einen ebenso grossen Einfluss auf Hitchcock aus (...). So findet man in Psycho überall ­Spuren von Les diaboliques – man beachte etwa die ähnlichen Erzählelemente und uner­ warte­ ten Wendungen, die Spannungskunstgriffe, die Schockmomente, die gerissenen Figuren und den makabren Humor.» (Danny Peary, criterion.com) «Henri-Georges Clouzot gehört zu den Regielegenden Frankreichs. Les diaboliques, anfänglich nur als gruslige Gutenachtgeschichte für Kin-

der gedacht, hat er selbst produziert und seiner Frau Véra Clouzot die Hauptrolle übertragen. Der Film wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, ist, neben Le salaire de la peur, Clouzots berühmtestes Werk und gilt als stilbildend für das Genre des Psychothrillers. (...) Mit der Exaktheit eines Uhrwerks greifen die Szenen ineinander. Dramaturgie und Bildgestaltung bestechen durch ihre Präzision. Die Figurenzeichnung der beiden Frauen bietet einen dramatischen Kontrast, der auch optisch greifbar wird: Die kleine, zerbrechliche Christina, alias Cricri, mit ihren kindlichen Zöpfen, gespielt von der schmalen Véra Clouzot, steht im Gegensatz zur draufgängerischen, selbstbewussten und sexy Nicole, verkörpert von Simone Signoret – hier in einem ihrer wichtigsten Filme.» (arte.tv, 9.3.2010) 110 Min / sw / Digital HD / F/d // REGIE Henri-Georges ­Clouzot // DREHBUCH Henri-Georges Clouzot, Jérôme Géronimi, René Masson, Frédéric Grendel, nach dem Roman «Celle qui n’était plus» von Pierre Boileau, Thomas Narcejac // KAMERA Armand Thirard // MUSIK Georges Van Parys // SCHNITT ­Madeleine Gug // MIT Simone Signoret (Nicole Horner), Véra Clouzot (Christina Delassalle), Paul Meurisse (Michel ­Delassalle), Charles Vanel (Kommissar Alfred Fichet), Pierre Larquey (Monsieur Drain), Michel Serrault (Monsieur ­Raymond, der Aufseher), Jean Brochard (Plantiveau), Noël Roquevert (Monsieur Herboux), Thérèse Dorny (Madame Herboux), Robert Dalban (Mechaniker), Jean Lefebvre ­ ­(Soldat), Johnny Hallyday (ein Schüler, ungenannt).


Das erste Jahrhundert des Films: 1955.

REBEL WITHOUT A CAUSE USA 1955 Jim Stark, ein rebellischer Teenager, gerät öfters in Schwierigkeiten, weshalb seine kleinbürgerlichen Eltern mit ihm immer wieder in eine andere Stadt ziehen. Frisch in Los Angeles angekommen, möchte Jim das Herz seiner hübschen Mitschülerin Judy erobern, wird aber von deren Freund, dem Anführer einer Gang, provoziert und soll sich mit einem «Chickie Run» beweisen: Mit alten Autos wird auf eine Klippe zugefahren, wer zuletzt aus dem Wagen springt, hat gewonnen. Als Jim seinen Vater um Rat fragt, hat dieser nur hilflose Ausflüchte zu bieten. «Nicholas Ray war einer der grössten Regisseure der 1950er Jahre. Die Geschichte, seither unzählige Male imitiert, klingt an sich nicht nach besonders viel, doch was den Film so stark macht, ist einerseits die Sympathie, die Ray all seinen Figuren (einschliesslich der scheinbar hartherzigen Eltern) entgegenbringt, andererseits der präzise Expressionismus seiner Regieführung. Sein Einsatz von Licht, Raum und Bewegung dient stets den Emotionen seiner Figuren; als Schutz vor der Gesellschaft bilden James Dean, Natalie Wood und Sal Mineo ein Trio, das klar eine ‹Ersatzfamilie› darstellt. Noch immer der beste Teenagerfilm überhaupt.» (Geoff Andrew, Time Out, 9.2.2006) «Verzweifelt versucht dieser Film, wie sein Held Jim Stark, etwas zu sagen, und weiss nicht wirklich, was es ist. Wenn er es wüsste, würde er seine Faszination verlieren. Er ist ein subversives Dokument seiner Zeit – vielleicht sogar mehr, als damals realisiert wurde.» (Roger Ebert, Great Movies, 19.6.2005) Rebel Without a Cause, bei dessen Premiere James Dean bereits tot war, «ist ein grossartiger Kultfilm. Nicholas Ray verwandelte Dean in ein Beatnik-Pin-up, einen Jack Kerouac für Teenies. Coolness ist alles – von der roten Jacke bis zur wippenden Stirnlocke. (…) Leicht könnte man bei diesem heutigen Klassiker vergessen, wie radikal er einst war: Er fängt die Jugend-Subkultur ein wie keiner zuvor.» (Jamie Russell, BBC, 30.4.2005) 111 Min / Farbe / DCP / E/d // REGIE Nicholas Ray // DREHBUCH Stewart Stern, nach einer Idee von Nicholas Ray, Irving Shulman // KAMERA Ernest Haller // MUSIK Leonard ­Rosenman // SCHNITT William H. Ziegler // MIT James Dean (Jim Stark), Natalie Wood (Judy), Sal Mineo (John «Plato» ­Crawford), Jim Backus (Frank Stark, Jims Vater), Ann Doran (Carol Stark, Jims Mutter), Corey Allen (Buzz Gunderson), ­William Hopper (Judys Vater), Rochelle Hudson (Judys Mutter), Dennis Hopper (Goon), Edward Platt (Ray Fremick).

PATHER PANCHALI (Song of the Little Road) Indien 1955

Die Geschichte einer armen Familie im Indien der 1920er Jahre und von Apus Kindheit: Das pure Überleben ist ein beinahe auswegloser Kampf für Apus Familie – als die ältere Schwester stirbt, verlässt die Familie ihr Dorf. «Der Film: eine Welt. Die Beschreibung bengalischen Dorflebens und zugleich eine Sicht des Universums. Die Perspektive: der Blick von zwei Kindern und die Sicht des Kameraauges. Vermutlich der vehementeste Neubeginn der Kinogeschichte. Es gibt nichts, woran Satyajit Ray als ­Regisseur und Subrata Mitra als Kameramann anschliessen wollen im Hindi-Kino. Nur den Wunsch, es anders zu machen. Mit Laien zu drehen wie De Sica, an realen Schauplätzen wie Visconti, mit den dargestellten Personen zu leben wie Flaherty, die Bilder einfach und wuchtig zu setzen wie John Ford und ihnen eine lyrische Intensität zu verleihen wie Dowschenko oder einen gelassenen Gefühlsreichtum wie Renoir.» (Harry Tomicek, Österreichisches Filmmuseum, 1/2014) «Ich werde nie vergessen, wie aufgewühlt ich war, nachdem ich den Film gesehen hatte. Ich habe ihn seither mehrfach wiedergesehen, und jedes Mal bin ich überwältigt. Dieses Kino fliesst mit der Heiterkeit und Würde eines grossen Flusses. Menschen werden geboren, leben ihr Leben und akzeptieren ihren Tod. Mit leichter und sicherer Hand zeichnet Ray sein Bild, beim Publikum löst es jedoch tiefe Emotionen aus.» (Akira Kurosawa, in: Satyajit Ray – The Inner Eye, Tauris 2004) 126 Min / sw / 35 mm / Beng/d/f // REGIE UND DREHBUCH ­Satyajit Ray // KAMERA Subrata Mitra // MUSIK Ravi Shankar // SCHNITT Dulal Dutta // MIT Kanu Bannerjee (Harihar Ray, der Vater), Karuna Bannerjee (Sarbojaya Ray, die Mutter), ­Subir Bannerjee (Apu, der Sohn), Uma Das Gupta (Durga, die Schwester), Chunibala Devi (Indir Thakrun, die Tante), Reba Devi (Seja Thakrun), Aparna Devi (Frau Nilmoni), Tulsi ­Chakravarty (Prasanna, die Lehrerin), Harimohan Nag (Arzt).

25


26 Premiere: Men, Women & Children von Jason Reitman

Verloren im Netz Eindringliche und gleichzeitig unbeschwerte Filme sind die Spezialität des kanadischen Drehbuchautors und Regisseurs Jason Reitman (*1977). In Men, Women & Children setzt er sich mit den verschiedensten Formen der digi­talen Kommunikation und deren Auswirkungen auf zwischenmenschliche Beziehungen auseinander. Jason Reitman ist konventionell und Jason Reitman ist subversiv. Er arbeitet mit Stars, nutzt Hollywoods Produktionsmaschine und beherrscht die Stilmittel des Mainstreams. Und damit beschert er uns Filme wie Thank You for Smoking, Juno, Up in the Air, Young Adult und nun Men, Women & Children. Filme voller handwerklicher Meisterschaft, die eine gelackte Welt wirkungsvoller demaskieren als so mancher Frontalangriff. In Men, Women & Children geht es vordergründig um unsere Kommunikation in Zeiten totaler Vernetzung. Ein Paar lebt sich still und leise aus­ einander. Don onaniert sich durch Pornoseiten zu seiner ersten Prostituierten. Helen verspricht sich von einem Datingportal Abenteuer, die sie endlich wieder in Flammen versetzen. Und ihr Sohn Chris weiss vor lauter Internetporno schon gar nicht mehr, was Sexualität ist. Donna puscht ihre Tochter Hannah mit allen noch so schlüpfrigen Mitteln zu 15 Minuten Berühmtheit. Patricia dagegen kontrolliert und zensiert ri-

MEN, WOMEN & CHILDREN / USA 2014 119 Min / DCP / E+D/d und D // REGIE Jason Reitman // DREHBUCH Jason Reitman, Erin Cressida Wilson, nach dem Roman von Chad Kultgen // KAMERA Eric Steelberg // MUSIK // SCHNITT Dana E. Glauberman // MIT Adam Sandler (Don Truby), Jennifer Garner (Patricia Beltmeyer), Rosemarie DeWitt (Helen Truby), Judy Greer (Donna Clint), Dean Norris (Kent Mooney), Emma Thompson (Erzählerin), Timothée Chalamet (Danny Vance), Olivia Crocicchia (Hannah Clint), Kaitlyn Dever (Brandy Beltmeyer).


27 goros jeden Mucks ihrer Tochter Brandy. Kent kann nicht verstehen, weshalb sein Sohn Tim mehr Energie in ein Online-Rollenspiel steckt als in die FootballKarriere. Und Allison bleibt mit ihrer Magersucht trotz Community ganz allein. Zugegeben, Men, Women & Children ist auch ein Thesenfilm. Die Erzählerin aus dem Off begleitet uns zeitweilig etwas gar didaktisch. Dafür werden wir mit der betörenden Stimme Emma Thompsons entschädigt. Man kann Reitman vorwerfen, sein Film entwickle mit seinen vielen Fäden und seiner kühlen Beobachtung keinen emotionalen Sog. Fragmentierung und Distanziertheit sind jedoch bei genauerem Hin­ sehen nur konsequent. Reitman sucht die Form, die das Thema verlangt. Denn genau darum geht es: um eine komplett zerstückelte Kommunikation. Es gibt nichts mehr, auf dem unser Blick zur Ruhe käme. Und so werden die Bilder dauernd von weiteren Screens gestört, zerschnitten, überlagert, weggeschoben. In dieser Welt des Multitasking scheint es völlig normal, dass zwei Mädchen sich per SMS über ihr Gegenüber lustig machen, mit dem sie sich gerade unterhalten. Selbst ­Patricia, die unablässig vor den Gefahren des Internets warnt, verliert in diesem Netz den Durchblick. Sie nutzt ausgerechnet die verteufelte Technik, um die Kontrolle über ihre Tochter total zu machen und bitteren Verrat zu begehen. Je mehr solche Splitter Reitman zusammenträgt, desto klarer wird ein bedrückendes Paradoxon sichtbar. Die Menschen in Men, Women & C ­ hildren sind trotz permanenter Vernetzung vollkommen isoliert und orientierungslos. Verlorene Seelen in Raum und Zeit. Und damit ist Reitman wieder beim Thema all seiner Filme: der Wahrhaftigkeit. Beziehung wird nur möglich, wenn wir uns wahrhaftig von Angesicht zu Angesicht begegnen. Vielleicht ist Reitman deshalb ein so grossartiger Regisseur für junge Schauspielerinnen und Schauspieler, denen ihre Rolle im System noch nicht zugewiesen wurde. Mit ihnen gelingen ihm wunderbar intime Miniaturen. Dann sind sie plötzlich verschwunden, die Thesen, die Didaktik und auch das vermaledeite Internet. Dann sind da nur noch zwei Menschen, die sich begegnen. Und in diesen kurzen Augenblicken wird die Wahrhaftigkeit sichtbar, nach der Reitman ausgerechnet in Hollywood so unablässig sucht. Thomas Binotto

Thomas Binotto, Buchautor und Dozent für Filmgeschichte an der Volkshochschule Zürich, setzt sich für die Filmbildung von Kindern und Jugendlichen ein. www.filmleser.ch

★ am Do, 21. Mai, im Anschluss an die 18.00-Uhr-Vorstellung: Podiumsdiskussion unter der Leitung von Monika Dommann, Professorin für Geschichte der Neuzeit, Universität Zürich. Zur Sprachfassung des Films Sie haben die Wahl zwischen zwei Versionen: Englisch mit deutschen Untertiteln oder deutsch synchronisiert. Die Texte aus dem Internet werden in beiden Versionen in deutscher Sprache im Bild eingeblendet. Die Synchronversion ist im Leporello mit dem deutschen Verleih­titel #zeitgeist gekennzeichnet.


28 Premiere: Nabat von Elchin Musaoglu

Mythische Mütter Mit Nabat steht eine starke Frauenfigur im Mittelpunkt des gleich­ namigen Films des aserbeidschanischen Regisseurs Elchin Musaoglu. Nabats Dorf hat sich durch die Folgen eines jahrelangen bewaffneten Konflikts entvölkert. Sie ist zunehmend auf sich gestellt – aus der Ferne beobachtet von einer Wölfin.

NABAT / Aserbeidschan 2014 105 Min / Farbe / DCP / Aseri/d // REGIE Elchin Musaog // DREHBUCH Elchin Musaoglu, Elkhan Nabiyev // KAMERA Rahim Beshara // MUSIK Hamed Sabe // SCHNITT Babak Shirinsef // MIT Fatemah Motamed-Aria (Nabat), Vidadi Aliyev (Iskender), Sabir Mammadov (Dorfvorsteher), Farhad Israfilov (Davu).

Aserbeidschan als Filmnation existiert in westeuropäischen Köpfen kaum – da­bei wurde in dem Land, namentlich in der Hauptstadt Baku, schon Ende des 19. Jahrhunderts gefilmt, und es gab früh internationale Vernetzungen nach Paris und Belgien. Heute kommen selten Filme aus Aserbeidschan an internationale Festivals, geschweige denn in europäische Kinosäle. Nabat stellt eine Ausnahme dar. Der Spielfilm des 1966 in Baku geborenen Regisseurs ­Elchin Musaoglu, der in seinem Land bisher vor allem aufgrund seiner Doku-


29 mentarfilme bekannt war, wurde als Oscar-Kandidat für den besten fremdsprachigen Film 2014 angemeldet und war an Festivals u. a. in Venedig, in den USA oder auch in Japan zu sehen. Die Handlung ist in einer ländlichen Umgebung wie Berg-Karabach angesiedelt – allerdings bleibt das Geografische im Ungefähren. Nabat ist ein stilles, eindringliches Epos mit universellem Anspruch. Ein Requiem für zerstörte Lebenswelten. Und eine Hommage an die beinahe mythische Widerstandskraft von Mutterfiguren. Bereits die erste Einstellung legt den visuellen Stil und den narrativen Rhythmus des Films fest: In einer kargen Landschaft ist auf einem staubigen Bergweg eine ältere Frau unterwegs. Als sie näher kommt, erkennen wir, dass sie auf jedem Arm ein Milchgefäss aus Glas trägt. Weiss leuchten die Milchbehälter im vorwiegend braun-grauen Gesamtbild. Die Frau trägt sie vorsichtig mit beinahe unermüdlicher Kraft, wie zwei Neugeborene, nahe ihren Brüsten. Das ist Nabat auf ihrem Gang ins Dorf, wo sie für die Milch ihrer geliebten Kuh Aghja ein paar Geldscheine in die Hand gedrückt bekommt. Doch während Nabat stoisch ihrem Alltagsgeschäft nachgeht, herrscht Ausnahmezustand. Viele Häuser stehen verlassen, eine Familie packt gerade ihr Hab und Gut in einen klapprigen Wagen. Wir begleiten Nabat – dargestellt von der iranischen Schauspielerin Fatemeh Motamed-Aria – auf ihrem Weg durch das Dorf, in einen beinahe leeren Laden und zu einem Fotografen, der das Bild ihres Sohnes nicht mehr findet, zum Dorfvorsteher, schliesslich zurück zum einsamen Haus auf dem Hügel, wo sie ihr von schwerer Krankheit gezeichneter Mann erwartet. Nabats Gang ist von äusserst spärlichen Dialogen begleitet; mit langsamen Schwenks und Kranfahrten hält sich die Kamera meist auf Distanz und dokumentiert auf diese zurückhaltende Weise die Veränderungen. Die Folgen eines lang andauernden bewaffneten Konflikts treten in metaphorischer Verdichtung deutlicher hervor als in manchem Kriegsfilm. Soldaten treten kaum in Erscheinung, der Krieg aber wird durch seine Auswirkungen fassbar: die Zerstörungen, Nabats Sehnsucht nach ihrem getöteten Sohn, die Abwesenheit der Dorfbewohner nach einer weiteren Nacht mit Bombardierungen, die Spuren überstürzter Flucht. Nabat ist bald ganz auf sich alleine gestellt: Die Häuser verwandeln sich in ein Geisterdorf, und als ihr Mann stirbt, ist sie es, die sein Grab schaufelt. In einem aussichtslosen Aufbegehren gegen den Lauf der Dinge stellt sie Öllampen in die Fenster der verlassenen Häuser: Mahn- und Totenwache zugleich. Eines Tages ist auch Aghja verschwunden. Nur eine Wölfin, die sich um ihre Neugeborenen kümmert, wird zu einer vorübergehenden Gefährtin – und auch zur Doppelgängerin der Protagonistin. Bettina Spoerri Bettina Spoerri lebt und arbeitet als freie Kulturvermittlerin in Zürich.


30 Filmpodium für Kinder

antboy

Mit Antboy kommt ein Superhelden-Abenteuer aus Dänemark auf die Leinwand, das mit viel Charme, augenzwinkerndem Humor und grossartigen jungen Darstellern überzeugt.

ANTBOY / Dänemark 2013 77 Min / Farbe / DCP / D / 8/6 J // REGIE Ask Hasselbalch // DREHBUCH Anders Ølholm, nach der Kinderbuchreihe von Kenneth Bøgh Andersen // KAMERA Niels Reedtz Johansen // MUSIK Peter Peter // SCHNITT Peter Brandt, My Thordal // MIT Oscar Dietz (Pelle Nøhrmann/Antboy), Samuel Ting Graf ­(Wilhelm), Amalia Kruse Jensen (Ida), Cecilie Alstrup Tarp (Amanda), Nicolas Bro (Dr. Gæmelkrå/der Floh), Marcuz Jess Petersen (Allan), Johannes Jeffries Sørensen (Mark), Lærke Winther Andersen (Mutter), Frank Thiel (Vater), Thomas Voss (Carsten).

«Hast du dir jemals gewünscht, nicht der zu sein, der du bist?» Pelle, ein ganz gewöhnlicher 12-Jähriger, ist seiner Meinung nach wie «eine kleine Ameise in einem riesigen Ameisenhaufen», also etwas zu gewöhnlich: Viel lieber wäre er etwas Besonderes, sportlich und beliebt. Pelles Leben ändert sich schlagartig, als er von einer Ameise gebissen wird: Kurz darauf verspürt er Heisshunger auf Süsses, zerdrückt am nächsten Tag beim Frühstück nicht nur sein Glas, sondern reisst beim Öffnen der Schultür sogar die Türklinke heraus und schleudert den fiesen Turnlehrer bei einer Kampfsportübung mit links auf die Matte – er verfügt plötzlich über ameisenhafte Superkräfte, krabbelt senkrechte Wände hoch und pinkelt ätzende Ameisensäure. Dies weckt das Interesse von Wilhelm, einem Comic-Nerd und Superhelden-Experten: Er hilft Pelle, Kontrolle über seine neuen Kräfte zu erlangen, und fabriziert für ihn ein passendes Superhelden-Outfit. Für Pelle ist klar: Als frischgebackener


31 «Antboy» will er fortan die Stadt beschützen und dabei, so hofft er, das Herz der hübschen Amanda gewinnen – just dann wird diese vom Schurken «Floh», einem ehemaligen Wissenschaftler, gekidnappt. Antboy, diese witzige, spannende Superhelden-Geschichte voller Anlehnungen an die grossen Vorbilder wie Spider-Man, Batman und Co., ist ohne protzige Spezialeffekte, dafür mit umso mehr Charme und Ironie äusserst kindgerecht inszeniert. Der dänische Regisseur Ask Hasselbalch zeigt in seinem Spielfilmdebüt die Entwicklungsgeschichte des jungen Pelle, der über sich hinauswachsen muss, um seinen Platz in der Welt zu finden, und dabei realisiert, wie wichtig Freunde sind – auch für Superhelden. Hasselbalch konzentriert sich dabei ganz auf seine jungen Darsteller, die allesamt überzeugend spielen: grandiose Unterhaltung für Jung und Alt, bestens geeignet auch als Einstieg ins Superhelden-Genre. Tanja Hanhart

Fitzcarraldo (1982) www.xenix.ch

OI! H A F F sCHI

JUNI 2015


32 SÉLECTION LUMIÈRE

HIROSHIMA MON AMOUR Die Angst vor dem Vergessen ist ein zentra-

mit melancholischen Reflexionen über Er-

les Thema in Alain Resnais’ erstem Spiel-

innerung und Vergessen.

film, Hiroshima mon amour. Ursprünglich als

«Eine Frauenhand streichelt eine männ-

Dokumentarfilm über den Atombomben­

liche Schulter, krallt sich darin fest. Auf

abwurf in Hiroshima geplant, der sich am

­einem Bett zwei eng umschlungene Körper

6. August 2015 zum 70. Mal jährt, er­zählt

in jenen langsamen, blinden Bewegungen,

er nach einem Drehbuch von Marguerite

die man bei den Medusen, den Schlangen,

Duras von der kurzen Liebe zwischen einer

den sich im Wind wiegenden Blättern kennt.

Schauspielerin und einem Architekten.

(…) Einen Tag, eine Nacht sind sie gefangen in dieser kurzen Zeit, die sie nicht ausschöpfen können, der zu entfliehen jedoch ebenso unmöglich ist. Aber sie genügt für die Erkenntnis, dass der Augenblick, der das völlige Einssein zweier Körper erlaubt, auch jene zerreissende Distanz in sich birgt, die letztlich zwischen zwei Wesen niemals aufzuheben ist.» (Marguerite Duras) «Gleich mit seinem ersten Spielfilm entfernt sich Alain Resnais, Ass der Nouvelle Vague, von den Trampelpfaden gebräuchlicher Kinodramaturgie: Weder thematisch

HIROSHIMA MON AMOUR  /  Frankreich 1959 92 Min / sw / DCP / F/e // REGIE Alain Resnais // DREHBUCH Marguerite Duras // KAMERA Takahashi Michio, Sacha Vier

noch stilistisch passt der Film in herkömmliche Kategorien. (…) Nicht in äusseren

// MUSIK Giovanni Fus // SCHNITT Henri Colpi, Jasmine

Vorgängen verläuft der Film, sondern in

Chasney, Anne Sarrau // MIT Emmanuelle Riva (Sie), Eiji

gleichsam meditativen Bildern der Detail-

Okada (Er), Bernard Fresson (der Deutsche), Stella Dassas (die Mutter), Pierre Barbaud (der Vater).

beobachtung und der Erinnerung. Gegenwart und erinnerte Vergangenheit werden

Eine französische Schauspielerin, die für

durch eine genialische Bildmontage naht-

Dreharbeiten nach Japan gekommen ist,

los verschmolzen. Regisseur Resnais will

lernt in Hiroshima einen japanischen Archi-

mit diesem Film, der mit den Romanen à la

tekten kennen; sie verbringen die Nacht zu-

James Joyce und Marcel Proust verglichen

sammen. Ihre kurze Liebesgeschichte be-

werden kann, nicht die Realität zeigen, wie

schwört Erinnerungen an das Kriegsende

sie ist, sondern das Bild, das sie dem Be-

und besonders an eine ebenfalls schon

wusstsein der Heldin einprägt: Hiroshima

grenzüberschreitende Liebe herauf, wel-

mon amour ist gefilmtes Bewusstsein.»

che die Frau als junges Mädchen im besetz-

(Der Spiegel, 18/1960)

ten Frankreich mit einem deutschen Soldaten verband. Das gegenwärtige und das

★ am Do, 28. Mai, 18:15 Uhr: Einführung von

vergangene Liebeserlebnis überlagern sich

Julia Marx


33 IMPRESSUM

DAS FILMPODIUM IST EIN ANGEBOT DES PRÄSIDIALDEPARTEMENTS

in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse, Lausanne/Zürich LEITUNG Corinne Siegrist-Oboussier (cs), STV. LEITUNG Michel Bodmer (mb) WISSENSCHAFTLICHE MITARBEIT Tanja Hanhart (th), Primo Mazzoni (pm) SEKRETARIAT Claudia Brändle // BÜRO Postfach, 8022 Zürich, Telefon 044 412 31 28, Fax 044 212 13 77 WWW.FILMPODIUM.CH // E-MAIL info@filmpodium.ch // KINO Nüschelerstr. 11, 8001 Zürich, Tel. 044 211 66 66 UNSER DANK FÜR DAS ZUSTANDEKOMMEN DIESES PROGRAMMS GILT: Arsenal Distribution, Berlin; Hollywood Classics, London; Lionsgate, Santa Monica; MFA+ Filmdistribution, Regensburg; Motion Picture Licensing Corporation (MPLC), Zürich; Österreichisches Filmmuseum, Wien; Palladium, Kopenhagen; Park Circus, Glasgow; Praesens Film, Zürich; Rapid Eye ­Movies, Köln; SRF Schweizer Radio und Fernsehen, Zürich; Studiocanal, Berlin; Tamasa, Paris; TF1, Paris; trigon-film, Ennetbaden; Universal Pictures International, Zürich. DATABASE PUBLISHING BitBee Solutions GmbH, Zürich // KONZEPTIONELLE BERATUNG Esther Schmid, Zürich GESTALTUNG TBS & Partner, Zürich // KORREKTORAT N. Haueter, D. Däuber // DRUCK Ropress, Zürich // AUFLAGE 7000 ABONNEMENTE Filmpodium-Generalabonnement : CHF 400.– (freier Eintritt zu allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Filmpodium-Halbtaxabonnement: CHF 80.– / U25: CHF 40.– (halber Eintrittspreis bei allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Abonnement Programmheft: CHF 20.– // Anmeldung an der Kinokasse, über www.filmpodium.ch oder Tel. 044 412 31 28

VORSCHAU Joan Crawford/Bette Davis

Hayao Miyazaki

Sowohl Joan Crawford wie auch Bette Davis

Im vergangenen Jahr hat sich der japanische

gelten als Inbegriff der Hollywood-Diva.

Anime-Meister und Mitbegründer der be-

Beide entwickelten sich im Laufe ihrer

rühmten Ghibli-Studios Hayao Miyazaki mit

schauspielerischen Karrieren allmählich zu

seinem nach eigener Aussage letzten Film

Ikonen – und schliesslich zu Karikaturen ih-

When the Wind Rises in den Ruhestand verab-

rer selbst. Ihr schillernder Ruf wurde nicht

schiedet. Zeit, endlich sein in der Deutsch-

zuletzt genährt durch eine jahrzehntelange

schweiz selten gezeigtes Werk und gleich-

Rivalität, die durchaus bestand, von den Me-

zeitig das zum Teil noch immer als reiner

dien jedoch zelebriert und aufgebauscht

Kinderfilm belächelte Genre des Animati-

wurde. Nur in einem einzigen Film (Whatever

onsfilms mit der verdienten Sorgfalt zu wür-

Happened to Baby Jane?) prallten die beiden

digen. Da wir wissen, dass Miyazakis Filme

«monstres sacrés» vor der Kamera auf­

Gross und Klein zu begeistern vermögen,

einander. Unsere Retrospektive zeigt, was

zeigen wir nebst der japanischen Original-

Crawford und Davis gemein hatten und wie

version ausnahmsweise ausgewählte Titel

sich diese beiden grossen Schauspielerin-

zusätzlich in der deutsch gesprochenen Fas-

nen unterschiedlich profilierten.

sung.



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