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die l체ge vom neuen leben andrea sedelmaier Erfahrungsbericht der Tochter eines Organempf채ngers
fischer & gann
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inhalt Die Geschichte einer Lebertransplantation mit minderwertigem Spenderorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Jenseits des Glaubens an die moderne Medizin . . . . . . . . . . . . . . 15 Hepatitis C – ein Befund mit unterschätzten Folgen . . . . . . . . . 27 Diagnose Krebs – der Todesbote hat Menschengestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Ein neues Organ – Heilung oder Forschung? . . . . . . . . . . . . . . . 64 Das Geschäft mit der Hoffnung ist abgeschlossen . . . . . . . . . . . . 83 Die neue Leber ist transplantiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Die enttäuschte Hoffnung auf ein Leben ohne kranke Leber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
Zu früh gefreut – mit neuem Organ funktioniert gar nichts mehr . . . . . . . . . . . . 153 Gefangen im Traum der Lüge – statt einer gesunden hatte mein Vater eine kranke Leber bekommen . . . . . . . . . . . . 172 Sterben verboten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Von der Transplantation zur Retransplantation – am Ende nur noch ein Forschungsobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Ruhe in Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Wie sollen wir nun weiterleben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
die geschichte einer lebertransplantation mit schlechtem spenderorgan
mein vater, robert sedelmaier, wurde am 3. Dezember 1941 geboren und starb am 16. Januar 2013 an den Folgen einer Lebertransplantation. Er ist knapp 71 Jahre alt geworden. Seit einem Herzinfarkt im Alter von 39 Jahren bestimmten Operationen, Klinikaufenthalte, Untersuchungen, medizinische Diagnosen und Therapien sein Leben. Es ist seine Krankengeschichte, die ich hier erzähle. Es sind die Erfahrungen, die er und unsere Familie mit der modernen Medizin gemacht haben, um die es mir geht. – Und es ist die Erkenntnis, dass die Medizin ab einem bestimmten Patientenalter sogenannte marginale Spenderorgane zulässt und verpflanzt, womit mein Bericht beginnt und die Lebensgeschichte meines Vaters endet.
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Nachdem ich fast ein Jahr an die Heilung meines Vaters geglaubt hatte und von der Transplantationsmedizin im tiefsten Herzen überzeugt war, habe ich den Tod meines Vaters nicht fassen können und dennoch versucht, ihn zu verarbeiten. Zu Beginn war der Schmerz so groß, dass ich viele Nächte das Bild seines Sterbens in der Klinik vor Augen hatte. Er wollte immer zu Hause sterben und nun lag er dort auf der Intensivstation, beatmet, von Maschinen umgeben, die ihn am Leben hielten. Sein Körper war übersät mit blauen Flecken, seine Blutgerinnung war stark geschädigt, überall waren Spuren seiner Verletzungen zu sehen. Das Klinikpersonal war bemüht, uns als Familie in aller Ruhe Abschied nehmen zu lassen. Wir standen alle dicht an seinem Bett und versuchten ihn loszulassen.Viel zu lange hatten wir den Ärzten und den Heilungsversuchen der modernen Medizin vertraut. Ich hielt die Hand meines Vaters und spürte, dass er bereit war zu gehen. Er trug ein Lächeln auf dem Gesicht, als würde er uns sagen wollen, dass es das Richtige sei. Und so hörte er auf zu atmen und ich begriff, dass die Endgültigkeit, der ich so lange nicht gewagt hatte, ins Auge zu schauen, nun eingetroffen war. Nichts würde ohne meinen Vater mehr so sein, wie es zuvor war. Nichts würde meinen Vater wieder lebendig machen. Auch nicht die vielen Fragen, die ich den Ärzten stellen wollte, und alle Ungereimtheiten, die mich schon längere Zeit beschäftigten.
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warum ich dieses buch geschrieben habe als ich mich dazu entschieden hatte, den Ärzten die unbeantwortet gebliebenen Fragen zu stellen, musste ich sehr schnell erkennen, dass man meine Fragen nicht beantworten wollte. So schnell wollte ich jedoch nicht aufgeben, wusste ich doch aus eigener Erfahrung, dass es einen langen Atem braucht, um gegen die Institution einer Universitätsklinik anzukämpfen. Ich hatte ein Jahr zuvor, im Jahre 2012, mit dem Patientenanwalt bereits versucht aufzuklären, wann und bei welcher Operation sich mein Vater an der Klinik mit Hepatitis C angesteckt hatte. Es wurde seitens der Klinik recherchiert und mir versichert, dass alle Blutspender im Nachhinein auf Hepatitis C untersucht worden seien. Aber keiner habe eine Hepatitis C aufgewiesen. Und dennoch führten die Ärzte in ihren Befunden unter den Diagnosen auch Hepatitis C nach Hüftoperation an. Das heißt: Die Befunde und die Auskünfte der Klinik selbst widersprechen sich. Auch dieses Mal stellte der Patientenanwalt Fragen an die behandelnden Ärzte der Klinik, erhielt aber keine Antworten. Als ich mir schon überlegte aufzugeben, lernte ich eine Frau kennen, die sich schon sehr lange mit der Geschichte der Transplantationsmedizin befasste. Sie interviewte mich und ich zeigte ihr alle Befunde, die ich von der Zeit seit der Transplantation meines Vaters bis hin zu seinem Tod von der Klinik erbeten und gesammelt hatte. Ich ließ mir diese Befunde nun von einem befreundeten Arzt »übersetzen«. Da wurde mir das erste Mal bewusst, dass mein Vater ein marginales Spenderorgan erhalten hatte: ein Organ, das nicht ideal, das nicht gesund und mehrfach geschädigt war. Diese für mich unvorstellbare Tatsache musste ich erst einmal verarbeiten. Jene Medizin, mit der ich mich voll und ganz identifiziert
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hatte, experimentierte mit ihren Patienten bezüglich der Frage, wie mehr Organe, also auch sogenannte »schlechte«, verpflanzbar sein können. Das war ein derartiger Schlag für mich, dass ich viel Zeit brauchte, um das wirklich zu realisieren und dann darauf reagieren zu können. So begann ich aus einer neuen Perspektive erneut alles zu lesen, was mit der Transplantationsmedizin zu tun hatte. Die Informationen, die ich erhielt, bestätigten, was aus dem Befund meines Vaters hervorging: Es ist eine Tatsache, dass ab dem 65. Lebensjahr des Empfängers von der Transplantationsmedizin nicht nur in Österreich, sondern auch auf internationaler Ebene so bezeichnete »marginale« Spenderorgane verwendet werden, das heißt Organe mit erweiterten medizinischen Kriterien hinsichtlich ihrer Qualität. Und meinem Vater wurde genau ein solches Organ eingepflanzt, ohne dass man ihn darüber aufgeklärt hatte. Wir, die Familie, hatten meinen Vater dazu überredet, ein Spenderorgan anzunehmen. Ich fühlte mich schuldig, konnte oft in der Nacht kein Auge zutun. Irgendwann in dieser Zeit bestärkten mich dann Freunde darin, ein Buch über die Krankengeschichte meines Vaters zu schreiben. Ich möchte niemanden, der an der Krankengeschichte meines Vaters beteiligt war, denunzieren.1 Ich versuche nur, die Erfahrungen, die wir als Familie und Hinterbliebene machen mussten, aufzuschreiben. Damit hoffe ich, Menschen, die in der gleichen Situation sind, dabei helfen zu können, eine wohl überdachte, menschlich und vor allem auch medizinisch realistische Entscheidung zu treffen. Heilung und medizinisches Vorgehen sind zwei sehr unterschiedliche Dinge. Im Erleben der Kranken und ihrer Angehörigen erscheinen sie aber als ein und dasselbe. Die medizinischen Vorgehensweisen und die damit verbundenen menschlichen Erwartungen verwischen und vermischen
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sich. Hoffnung und Glaube werden zu Fakten, an denen sich der Kranke, der das »Mediziner-Deutsch« weder versteht noch spricht, festhält und mit denen er die Ärzte und ihre Macht überschätzt. Indem ich einerseits unsere ganz persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen berichte und diese andererseits mit den mir vorliegenden medizinischen Befunden und Recherchen konfrontiere2, möchte ich vor allem anderen Betroffenen zu einem realistischeren Bewusstsein verhelfen, als meine Familie es zu entwickeln vermochte. – Mit diesem Buch sollen gesunde und schwerkranke Menschen die Chance erhalten, aus der Sicht einer Betroffenen die ganze Wahrheit über die Transplantationsmedizin und deren Mitstreiter zu erfahren. Wir alle begeben uns, sobald wir krank sind, in die Hände der modernen Medizin. Ich habe schmerzlich lernen müssen, wie wichtig es ist, rechtzeitig ein nüchternes und wirklichkeitsgetreues Verhältnis zu ihr entwickeln zu können.
nicht wider industrie und institution, sondern für meinen vater und einen würdigen abschied hätte mein vater gewusst, dass er ein marginales Spenderorgan bekommen würde, hätte er sich ohne Schwierigkeiten gegen uns durchgesetzt, denn auch wir hätten das auf keinen Fall gewollt. Aber so lagen alle unsere Hoffnungen auf dieser Transplantation. Keinem von uns wäre es in den Sinn gekommen, dass es nicht das Leben meines Vaters ist, um das es geht. Forschung, Geld und Macht sind die Hauptakteure, die im Hintergrund der Transplantationen agieren. Organe werden von der Privatstiftung Eurotransplant vertrieben, die Pharmaindustrie entwickelt spezielle und extrem teure Medikamente, die eine Voraussetzung für
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die Transplantationsmedizin sind, und sie steckt viel Geld in die Forschung. Es ist ein Kreislauf von Medizin, Wissenschaft und Geschäft, den ich zu spät erkannt habe. Es fiel uns schwer, die Entscheidung zur Transplantation zu treffen. Doch es galt das Leben meines Vaters zu retten. Wie schlecht die Voraussetzungen dafür von Anfang an waren, war uns nicht klar. Die Möglichkeit, dass meinem Vater ein marginales Spenderorgan verpflanzt werden könnte – in seinem Fall war es eine Fettleber mit Konservierungsschaden –, wurde bei den Aufklärungsgesprächen der Ärzte mit keinem Wort erwähnt. So bin ich vor allem meinem Vater schuldig, dass ich seine Leidensgeschichte und die meiner Familie nicht ruhen lasse, sondern noch einmal schreibend durchlebe. Für ihn und andere Organempfänger und deren Familien, nicht gegen eine am Ende gesichtslose Institution und Industrie habe ich dieses Buch geschrieben. Anstatt gerichtlich vorzugehen, habe ich beschlossen, das, was mein Vater und wir, angefangen beim Herzinfarkt meines Vaters, im Zusammenspiel mit der modernen Medizin durchlitten haben, samt den verschwiegenen Tatsachen anderen zugänglich zu machen. Nach dem Tod meines Vaters fiel meine Mutter in eine Depression, die sie bis heute nicht überwinden konnte. Alle Ergebnisse meiner Recherchen wurden innerhalb unserer Familie besprochen. Der Schmerz, der dabei entstand, ist unsagbar groß. Wir haben meinen Vater mit der Hoffnung auf ein neues Leben begleitet und unterstützt und niemals damit gerechnet, welch entsetzliche Qualen eine Transplantaion verursachen würde. Zum Schluss war ich froh, dass mein Vater seine Augen schließen konnte. Wir, die Hinterbliebenen, haben nicht nur das Liebste verloren, wir haben auch Entscheidungen getroffen, die wir mit unserem
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heutigen Wissen nicht mehr vereinbaren können. Wir sind von der Leidensgeschichte meines Vaters traumatisiert. Ich bedanke mich bei meinem Lebensgefährten Christoph, meinen Kindern Julia und Lucas und meiner Freundin Angelika, die mich bis zum Tod meines Vaters und darüber hinaus begleitet und unterstützt haben. Meine Liebe zu meinem Vater war unsagbar groß und verband uns ein Leben lang; auch das lange schreckliche Leiden und selbst der Tod haben mir diese Liebe nicht nehmen können.
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» Ob auch die Stunden uns wieder entfernen: wir sind immer beisammen im Traum wie unter einem aufblühenden Baum. Wir werden die Worte, die laut sind, verlernen ...« Rainer Maria Rilke, aus der Sammlung »Dir zur Feier«
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jenseits des glaubens an die moderne medizin hast du dir schon einmal vorgestellt, du kannst die Stille, die dich umgibt, nicht ertragen? Eigentlich sehnen wir uns manchmal im Alltag nach mehr Stille. Doch wenn sie eintritt, dann entsteht eine ungewohnte Situation. Stille lässt uns innehalten, aber auch erstarren. Wir genießen den Moment der Ruhe, die uns umgibt. Alles ist plötzlich so weit entfernt, ja oft nicht mehr vorhanden. Wir saugen die Stille auf und gehen zurück in die laute Welt, die uns gleich wieder vereinnahmt. Stille hat mich an jenem Ort, an dem ich meinem Vater Lebewohl sagen musste, umgeben. Keine Worte und kein Geräusch drangen an mein Ohr. Die Lautlosigkeit hat mich erdrückt, nicht atmen lassen. Der Abschied, das Hier und
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Jetzt schien so endgültig und doch war noch längst nicht alles gesagt. Vor dem Sarg sprach ich mit meinem Vater, der nun fortgegangen war und mich in diesem Schmerz, dieser Stille zurückgelassen hatte. Was jenseits dieser Stille und dieses Abschieds liegt, ist ein Tod, der vielleicht so gar nicht hätte geschehen müssen. Es ist eine vom Glauben an die moderne Medizin getragene Entscheidung, deren Geschichte zu erzählen nicht nur für unsere Familie von Bedeutung ist, sondern für alle Menschen, die von Organtransplantationen betroffen sind. Der Abschied und die Stille am Grab waren von einer Krankengeschichte belastet, die in uns nicht zur Ruhe kommen konnte. Ernüchtert vom Tod meines Vaters waren wir auf der anderen Seite des Glaubens an die moderne Medizin angekommen.
unforgettable – bestattung und trauerfeierlichkeiten ich betrete die kirche, in der meine Eltern getraut wurden. Es ist kalt, die Kirche noch leer. Der Sarg meines Vaters steht vor dem Altar. Nun kann ich, kann seine Familie ihn nicht mehr begleiten – heute nehmen wir Abschied für immer. Ich spüre die Leere, die ich seit seinem Tod in mir trage. Ich kann den Tod berühren, kann ihn hier am Sarg meines Vaters anfassen und fühlen. Abrupt drehe ich mich ab, verlasse die Kirche durch den Seiteneingang. Obwohl es Januar ist, strahlt der Himmel in seinem schönsten Blau, keine Wolke ist am Horizont zu sehen. Die nahen Berge sind schneebedeckt und es hat den Anschein, als würden sie sich ein
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letztes Mal vor meinem Vater verneigen: seine geliebten Berge, in denen er so viele Stunden seines Lebens verbracht hat. Ich werde von einer Dame angesprochen. Sie drückt mir ihr tiefes Mitgefühl aus und erzählt mir, dass sie meinen Vater schon seit vielen Jahren gut gekannt habe. Ich nehme ihre Worte wie aus weiter Ferne wahr und bin froh, dass meine beiden Kinder Julia und Lucas auf mich zukommen. Gleich dahinter entdecke ich meine Mutter und meinen Bruder. Gemeinsam gehen wir in die Kirche hinein, in der in der Zwischenzeit alle Plätze gefüllt sind. Die Menschen stehen bis zum Ausgang und da wird mir bewusst, dass der Tod meines Vaters vielen Menschen sehr nahegegangen ist. Ich erkenne seine Kollegen von der Feuerwehr, seine langjährigen Freunde von der Flugpolizei, Freunde meiner Eltern und Arbeitskollegen. Die erste Reihe ist für die Familie reserviert und wir nehmen Platz. Rechts neben dem Altar hängt an einer Leinwand ein Foto meines Vaters. Er lächelt mich an, als würde er mir sagen wollen: »Hör auf zu weinen, der Schmerz und die Qualen haben endlich ein Ende!« »Aber warum musstest du überhaupt derart leiden? Hätte es nicht doch auch ganz anders ausgehen können?«, denke ich und beginne noch viel heftiger zu weinen, bis mich Robert, mein Bruder, in den Arm nimmt und mir tröstende Worte ins Ohr flüstert. Da erscheint Pater Josef, der schon meine Kinder Lucas und Julia getauft und mich hier getraut hat. »Unforgettable«, das Lied, das wir unserem Vater zum Abschied ausgesucht haben, erklingt. Pater Josef beginnt mit der Lesung der Messe. Ich kann dem Ganzen nur schwer folgen. Ich wünschte, aus diesem Traum aufzuwachen und meinen Vater lebendig in die Arme schließen zu können. Aber das geschieht nicht; stattdessen erzählen Freunde
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aus dem Leben meines Vaters, beschreiben ihn, wie er war: ein Mensch mit Herz und Seele, der andere positiv bestärkt und vor allem seine Familie über alles gestellt hat. Zum Abschluss der Trauerfeierlichkeiten liest Robert die Kranken- und Leidensgeschichte des letzten Jahres meines Vaters vor. Wie sehr wir gehofft hätten, dass diese Lebertransplantation das Leben meines Vaters retten würde. Wie sehr wir überzeugt davon gewesen seien, dass es die richtige Entscheidung war und wie sehr wir den Ärzten vertraut hätten. Das alles bringt mein Bruder zum Ausdruck und es erscheint mir im Nachhinein so lächerlich, so fehl am Platz, wie sehr wir sogar noch auf eine zweite Leber zur Reimplantation gewartet haben. Aber zu dem Zeitpunkt hatte ich noch immer nicht vollends realisiert, einfach nicht wahrhaben wollen, welch medizinische Gewalt in einer Transplantation steckt. Mir waren noch keine schriftlichen Befunde meines Vaters bekannt, ich war fast blind vor Ehrfurcht vor den Ärzten, die meinen Vater behandelt haben. Und trotzdem hatte ich nach einigen Gesprächen, die ich kurz vor dem Tod meines Vaters mit ihm führte, bereits ein ungutes Gefühl. Ja, wenn ich ehrlich bin und vom Ende her zurückschaue, insgeheim schon sehr, sehr lange. Zum Abschluss des Begräbnisses wird der Sarg in den weitläufigen Garten der Kirche geschoben, und ein großer Wunsch meines Vaters, den er mir noch mitteilte, wird ihm von seinen Kollegen der Flugpolizei erfüllt. Man kann das Geräusch eines herannahenden Hubschraubers hören und ihn zugleich oben am Himmel ausmachen. Der Pilot nimmt das Flugtempo knapp oberhalb der Kirche zurück und so scheint es, als würde sich nun auch der Hubschrauber vor meinem Vater verneigen. Als der Hubschrauber sich wieder entfernt, werde ich von Menschen, die ich
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teilweise gar nicht kenne, und von Menschen, die meinem Vater viele Jahre lang in tiefer Freundschaft verbunden waren, gedrückt. Man schüttelt uns Familienangehörigen die Hände, spricht sein Beileid aus. Ich sehe in den Augen meiner Mutter meine eigenen Gefühle gespiegelt, wie leer und einsam sie sich trotz dieser vielen Menschen fühlt und wie sehr sie meinen Vater vermisst. Bis zum Schluss hat sie den Ärzten geglaubt, bis zu seinem letzten Atemzug. Aber seit ein paar Tagen hat sie ihre Meinung über das Vorgehen der Ärzte und der Klinik geändert, sie spricht nun sehr oft von Unwahrheiten, von Unmenschlichkeit und von einer Fehlentscheidung, die wir als Familie getroffen hätten. Ohne Rücksicht auf das, was mein Vater eigentlich wollte, entschieden wir, dass eine Transplantation für ihn am besten sei. Jetzt im Garten der Kirche kommen auch mir zunehmend Gedanken, die das in Frage stellen und mich ab jetzt nicht mehr loslassen werden. Die Menschen haben den Garten verlassen, nur die Familie und der Sarg meines Vaters bleiben zurück. Ich fasse mir ein Herz, umarme einen Teil des Sarges und verabschiede mich. Mein Freund Christoph zieht mich ganz sacht vom Sarg weg, meine Mutter küsst ein letztes Mal den Sarg. Das Bestattungsunternehmen schiebt ihn fort, und erneut tritt diese unsagbare, erdrückende Stille und Leere ein. Ich bin froh, als ich im Auto sitze und die Kirche hinter mir lassen kann. Jetzt muss noch der Leichenschmaus überstanden werden. In einem nah gelegenen Gasthof ist bereits alles für die Trauergäste vorbereitet. Was wissen diese Menschen eigentlich über die letzten Lebensjahre meines Vaters? Die einen nur sehr wenig, die anderen gar nichts. Nach der Lebertransplantation war er die meiste Zeit sozusagen unter Quarantäne gestellt, nicht, weil Ansteckungsgefahr bestand, sondern weil sein Körper derart mit dieser neuen
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Leber zu kämpfen hatte, dass es meinem Vater nicht oder nur sehr bedingt möglich war, unter Menschen zu sein. Der Kontakt zur Außenwelt war daher seit der Transplantation sehr eingeschränkt. Viele Freunde meines Vaters hatten ihn seit der Operation gar nicht mehr gesehen. Sie müssen, ohne ihn noch ein letztes Mal in den Arm nehmen zu können, ohne persönliche Worte an ihn, von ihm Abschied nehmen. Es blieb ihnen aber auch erspart, den Schmerz in seinen Gesichtszügen zu sehen. Ich suche Lucas und Julia unter all den Menschen, falle meiner Tochter um den Hals und beginne hemmungslos zu weinen. Es fällt mir schwer, den Trauergästen Rede und Antwort zu stehen. Ich kann die Bilder nicht loswerden, die wie in einem schlechten Film an mir vorüberziehen. Immer wieder erzähle ich Freunden und Bekannten über die letzten Lebenswochen meines Vaters. Ich erzähle über die Hoffnung, welche die gesamte Familie nach der Aufnahme zur Transplantation bei Eurotransplant hatte. Hoffnung, die mein Vater von Anfang an nicht mit uns teilte. Er hatte schon bei der Zustimmung zur Transplantation Bedenken. Aber ich wischte alle seine Bedenken mit einem Lächeln vom Tisch. Einem Lächeln, hinter dem die große Angst, meinen Vater zu verlieren, stand. Viele der Freunde sind erschüttert. Sie hätten nicht gedacht, dass eine Transplantation solche Auswirkungen auf den gesamten Organismus und das Leben des Patienten haben kann. Es seien doch in den Medien so viele gesunde Menschen nach einer Transplantation zu sehen oder auch überzeugende Berichte von ihnen zu lesen. Die Geschichte von meinem Vater bezeugt jedoch eine ganz entgegengesetzte Erfahrung. Ich sitze jetzt zwischen meiner Familie und den Freunden meines Vaters, tausche alte Erinnerungen aus, komme in der
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Realität und Gewissheit des Verlustes an. Langsam verabschieden sich alle, und es kehrt Stille ein. Es ist eine Stille der erstarrten, ernüchterten und betrogenen Hoffnung, diese Stille, die ich seit dem Tod meines Vaters in mir trage und die mich immer wieder zur Verzweiflung bringt.
alles hat der tod verändert zwei wochen später wird mein vater feuerbestattet und seine Urne an uns übergeben. Einige Zeit lassen wir sie zu Hause an seinem Lieblingsplatz stehen, dann wird sie seinem Wunsch entsprechend auf den Friedhof gebracht. Es fällt mir schwer, nach Hause zu kommen. Alles hat sich verändert, seit mein Vater uns verlassen hat. Sogar das Gefühl, daheim zu sein, ist nicht mehr das, was es einmal war. Jetzt, nur kurze Zeit nach der Bestattung, spüre und fühle ich meinen Vater mehr denn je. Die Dose mit den Tabletten, die er täglich einnehmen musste, steht immer noch auf seinem Nachtkästchen. Ich werde bei ihrem Anblick wütend und bitte meine Mutter, die Tabletten in der Apotheke abzugeben. Sogleich beginne ich, die Medikamentenschublade auszuräumen. Erschreckend, wie viele Medikamente mein Vater einnehmen musste! Mir klingen plötzlich die Worte im Ohr, die der aufklärende Transplantations-Chirurg uns mit auf den Weg gegeben hat. Ein Leben lang müssten diese Medikamente eingenommen werden. Ein Leben lang müsse das Immunsystem unterdrückt werden. Dazu würden noch zig andere Medikamente benötigt, um den restlichen Organismus davon zu überzeugen, dass das fremde Organ kein Problem darstelle. Nur darüber, was das tatsächlich für
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den Körper und das Überleben des Patienten bedeutet, haben wir viel zu wenig erfahren. Mir kommen die Tränen beim Anblick der ganzen Medikamentenschachteln. Ich erinnere mich noch genau, wie schwierig es oft für meinen Vater war, alle vorgeschriebenen Medikamente einzunehmen. Wie oft wollte er einfach nicht mehr weitermachen, denn die Nebenwirkungen der Tabletten machten ihm schwer zu schaffen. Ich selbst habe ja die Veränderungen seines Körpers, aber auch seiner Seele miterlebt. Jeden Tag nahm ich mir so viel Zeit wie nur möglich, um bei ihm zu sein. Dabei musste ich miterleben, dass er sich täglich körperlich, aber auch emotional stark veränderte. Um meine Wut zu unterdrücken, räume ich im Wohnzimmer meiner Eltern Schublade für Schublade aus. Es fällt mir unsagbar schwer, die Notizen meines Vaters zu ordnen und auszusortieren. Alleine die von ihm handgeschriebenen Zettel lassen ihn mir wieder so nahe sein, dass es mir fast das Herz zerreißt. Dann erblicke ich die Beileidsschreiben und das Kondolenzbuch meines Vaters. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich es nicht geschafft zu lesen, was Freunde und Bekannte hier eingetragen haben. Ich beginne im Buch zu blättern, kann viele mir bekannte Namen lesen. Unter anderem fällt mir eine Widmung auf, die Arbeitskollegen in das Kondolenzbuch geschrieben haben. Rührende Worte, die sich mein Vater wirklich verdient hat. Bald schon räume ich alles zurück in die Schublade und schließe diese. Wie leer sich das Wohnzimmer jetzt anfühlt! Hier hat mein Vater bis zur Einlieferung in die Klinik seine letzte Lebenszeit verbracht. Die Decke, mit der er sich immer zugedeckt hat, und die selbstgestrickte Kappe, die er immer getragen hat, liegen noch auf der Couch. Obwohl die Heizung hier immer ganz aufgedreht war, war meinem Vater ständig zu kalt und er war
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darüber auch sehr verärgert. Deshalb strickte meine Mutter ihm diese Mütze. Ich rieche an seiner Decke und hoffe, noch irgendetwas von seinem Geruch zu erhaschen. Meine Mutter betritt das Wohnzimmer und hält die Uhr meines Vaters in der Hand. Sie drückt mich an sich und meint, mein Vater habe gewollt, dass ich seine Uhr bekäme. Ich bin so glücklich, nehme die Uhr an mich und fühle mich in diesem Moment ganz stark mit ihm verbunden. Die Uhr ist bereits 45 Jahre alt und war das Schmuckstück meines Vaters. Jetzt werde ich sie tragen und mit Stolz erfüllt sein. Auch mein Bruder Robert hatte seine Zustimmung gegeben, er wusste, was mir diese Uhr bedeutete. Gemeinsam verlassen wir das Wohnzimmer und ziehen uns in die Küche zurück. Aber auch hier nehme ich die Veränderung wahr, die seit dem Tod meines Vaters eingetreten ist. Viele Male stand er am Herd und kochte für uns. Immer einen lockeren Spruch auf der Lippe und immer voll bei der Sache. Im letzten Jahr hatte er nicht ein einziges Mal mehr für uns gekocht, er war körperlich einfach nicht mehr dazu imstande. Sogar das gemeinsame Essen musste er, auch wenn er nicht gerade in der Klinik war, ausfallen lassen, sein Körper machte ihm schwer zu schaffen. Ich erinnere mich an unser letztes gemeinsames Weihnachtsfest. Trotz großer Schmerzen quälte sich mein Vater aus dem Bett und setzte sich zu uns an den Tisch. Jeder einzelne Knochen war an seinem gepeinigten Körper zu sehen. Er war so abgemagert, dass ihm das Sitzen große Schmerzen bereitete, aber er wollte tapfer sein. Keinen einzigen Bissen nahm er vom Weihnachtsessen zu sich. Wie immer hatte meine Mutter verschiedene Fleisch- und Gemüsesorten für ein Fondue vorbereitet. Eine schöne Möglichkeit, mit viel Ruhe und Zeit beim Essen zusammenzusitzen. Mein Vater konnte das jedoch nicht mehr. Er konnte nicht einmal mehr
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richtig schlucken. Alles schmerzte, er war zermürbt und hatte die Hoffnung auf Heilung aufgegeben. Meine Mutter und ich sprechen über all dies, können einfach nicht verstehen, dass mein Vater uns verlassen hat. Wir machen uns auch Gedanken, wie es jetzt weitergehen soll; dieser Tod lässt eine nicht zu schließende Lücke zurück. Meine Mutter bittet mich, in der nächsten Zeit mit ihr gemeinsam den Schrank mit den Kleidungsstücken meines Vaters auszuräumen und auszusortieren. Zum jetzigen Zeitpunkt ist sie nicht einmal in der Lage, die Zahnbürste meines Vaters zu entsorgen. Ich habe das Gefühl, dass sie auf diese Weise den Tod meines Vaters zu verdrängen versucht. Alles bleibt einfach an seinem Platz, so als ob mein Vater hierher zurückkommen würde. Es tut mir in der Seele weh, aber das Leben muss weitergehen. Hier zu Hause kann ich die Veränderung durch seinen Tod deutlicher spüren als sonst irgendwo. Mir wird bewusst, wie viel Zeit es brauchen wird, um den Verlust und die mit ihm verbundene Veränderung zu akzeptieren. Ich nehme mir vor, Schritt für Schritt mit meiner Mutter daran zu arbeiten und sie in ihrer Trauerarbeit zu unterstützen. Das letzte Jahr, in dem mein Vater vom Moment der Transplantation bis zu seinem Tod körperlich und psychisch dem ausgesetzt war, was das fremde Organ in seinem Körper anrichtete, in dem er spürte, wie es Körperfunktionen störte und brachlegte, hat auch sie verändert. Nächtelang wachte sie am Bett meines Vaters, hatte Angst, einzuschlafen und ihm nicht helfen zu können, wenn er etwas brauchte. Zugleich musste sie all die Aggressionen, die mein Vater seit der Transplantation in sich trug, über sich ergehen lassen. Ihre Augen wirken müde, ihr Körper ist am Ende. Wie groß muss ihre Liebe zu meinem Vater sein? Alles ertrug sie still und verbrachte möglichst jede Minute an seiner Seite, auch als mein Vater bereits auf der
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Intensivstation lag. Wie schwer muss es ihr fallen, jetzt zwar in das gemeinsame Zuhause, aber in keinen gemeinsamen Alltag mehr zurückzukehren.
der wahrheit nichts schuldig bleiben wollen ich versuche in der nächsten zeit, aus der Erstarrung, in die der Schock uns versetzt hat, auszubrechen. Warum hatte ich nicht damit gerechnet, dass es so weit kommen könnte? Wieso hatte ich darauf vertraut, dass ein neues Organ das Leben meines Vaters retten würde? Wenn ich meiner Fassungslosigkeit nicht weiter hilflos ausgeliefert bleiben will, muss ich mich erneut mit dem Thema Transplantation beschäftigen, Antworten auf die schmerzlichen Fragen suchen, die Wahrheit herausfinden. Deshalb lese ich in den verschiedensten Fachbüchern über die Transplantationsmedizin nach, betreibe Recherchen im Internet, rede mit Menschen, die sich auch mit Organverpflanzungen auseinandergesetzt haben. So befasse ich mich immer mehr mit der Organtransplantation. Dass ich mich so intensiv damit auseinandersetze, hat, wie ich bald merke, auch damit zu tun, dass ich meine, es meinem Vater schuldig zu sein. Es wird mir klar, dass ich mich schuldig oder zumindest mitschuldig am Tod meines Vaters fühle. Es drängt sich mir die Frage auf, wie wohl die letzte Lebenszeit meines Vaters ohne die Transplantation verlaufen wäre. Daher beschließe ich, die Befunde meines Vaters von der Klinik einzufordern und mich der Krankheitsgeschichte meines Vaters noch einmal zu stellen. Ich beschließe, auf Antworten zu bestehen, um für mich und andere nachzuvollziehen, welche Rolle die Medizin und der Glaube an sie beim Krankheitsverlauf meines Vaters
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gespielt haben. Anstatt ihn zu heilen, hat die Medizin meinen Vater zu einem Forschungsobjekt gemacht. So sehe ich es heute. Welche Art Wahrheit wird der Blick zurück, der anhand der medizinischen Befunde und persönlichen Erinnerungen noch einmal den Krankheitsprozess meines Vaters rekonstruiert, erbringen?
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