Leistungslust 04/2018 Leseprobe

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ISSN 2509-422X

D EUR 10,90

AUSGABE 04 / 2018

A EUR 11, 90

CH CHF 20,00

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Leistungslust Ausgabe 04/ 2018

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pt HOLIdays Wissenschaft trifft Praxis

„Wenn Physiotherapeuten ,Urlaub‘ machen, gehen sie auf einen Kongress.“ Evidenz, Empathie, Erfahrung. Hinzu kommen Rahmenbedingungen und die individuelle Situation des einzelnen Patienten – all diese Faktoren spielen eine Rolle für den Therapieerfolg. Diese Perspektive ist holistisch. Daher rufen wir die „pt HOLIdays“ ins Leben, die erstmals auf der „therapie on tour“ in Bochum am 28. und 29. September 2018 stattfinden. Unsere Referenten bringen die Evidenz in die Praxis – sie beleuchten Studienergebnisse und machen sie nutzbar für die Versorgung der Patienten. Denn: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ (Aristoteles).

Top-Themen am Freitag, 28.09. •

Ein evidenzbasierter Behandlungspfad zur Nachbehandlung von Kreuzbandverletzungen (Prof. Dr. Udo Wolf)

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Top-Themen am Samstag, 29.09. •

Evidenzbasierte Physiotherapie bei subakromialem Schmerzsyndrom (Prof. Dr. Thilo Oliver Kromer)

Pulmonale Rehabilitation bei chronischen Atemwegs- und Lungenerkrankungen. Training bei COPD und idiopathischer Lungenfibrose (Dr. Sebastian Teschler)

Train the Brain – Mentale Simulation zur Diagnostik und Therapie bei chronischen Nackenschmerzen (Prof. Dr. Konstantin Beinert)

Chronischer Gesichtsschmerz – Muskuloskelettale Behandlungsansätze und computergestütztes Facetraining (Marisa Hoffmann)

Multimodales Management für muskuloskelettale Beschwerden, Schwerpunkt Nacken (Christine Hamilton)

Posturographie als Methode der Gleichgewichtsmessung (Dr. Carmen Krewer)

Neue Technologien in der Neurorehabilitation. Vorteile und Herausforderungen der virtuellen Realität (Nina Rohrbach)

Sind Sie dabei? Kongressprogramm: www.therapie-ontour.de/kongressprogramm

Online-Anmeldung: www.therapie-ontour.de/tickets

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Mehr zum umfangreichen Programm finden Sie unter: www.therapie-ontour.de/kongressprogramm Für die Teilnahme am Fachkongress Online-Anmeldung unter: www.therapie-ontour.de/tickets pt HOLIdays werden pro Kongresstag sechs Fortbildungspunkte vergeben.

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SurftippsZertifizierung


ATHLETISCH IN DEN SOMMER!

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Liebe LL-Freunde, seit der Frühling ins Land gezogen ist, wird überall gespielt, geschwitzt und gefightet. Sportlerinnen und Sportler allerorts haben nun ihre Hochphase, es ist On-Season. Wohl dem, der – durch ein ­zielorientiertes Wintertraining bestens vorbereitet – persönliche Rekorde erzielt, Erfolge mit seiner Mannschaft feiert und verletzungsfrei bleibt. Oftmals ist die Saison aber aufgrund von Verletzungen frühzeitig beendet. Dann gilt es ­Ursachenforschung zu betreiben: Habe ich zu viel ­trainiert, war meine Form noch nicht gut genug oder absolviere ich zu viele Wettkämpfe? Viele ambitionierte Sportler und selbst Trainer tappen oft in die Überlastungsfalle und verletzen sich aufgrund funktio­ neller Defizite, sind überehrgeizig im Wettkampf oder den ­Belastungen ihrer Sportart körperlich nicht gewachsen. Gerade bei Maximalkraftbelastungen wird der Körper durch immense Beschleunigungen in Form von Sprüngen, Richtungswechseln und Sprints in höchstem Maße gefordert. Das lässt sich jedoch zielorientiert trainieren: Uwe Petri stellt im Leitartikel das ­Training der Schnell- und Reaktivkraft dar und gibt sportart­ spezifische Übungsbeispiele. Die Grundregeln der Trainingslehre und eine an den Athleten angepasste Belastungssteuerung sind dabei obligatorisch, denn der Körper ist eine Anpassungsmaschine. Gerade bei maximalen Belastungen reagiert er stark überschwellig und in den einzelnen Strukturen unterschiedlich und zeitversetzt. Das verdeutlicht Prof. Konstantin Karanikas in seinem Artikel zur Muskel-­ Sehnen-Adaptation bei Maximalkraftbelastungen mit aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen.

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Und für die Praxis gibt es neben vielen Übungsbeispielen eine Art „Checkliste“ für Athletiktrainer. Als Trainer sollten wir uns immer hinterfragen: Ist das, was wir vermitteln und coachen, auch das, was aus einem Kunden einen Sportler und aus einem Sportler einen Athleten macht? Denkt mal darüber nach.

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In diesem Sinne: Kämpft, feiert und genießt den Sommer! Euer Florian Münch, Redakteur Leistungslust

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INHALTSVERZEICHNIS

TITELTHEMA

SCHNELLKRAFT VERSUS PLYOMETRIE BERATUNG

• Marathon – große Ziele erreicht man in kleinen Schritten! . . . . . . . . • Leselust. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • Checkliste Athletiktrainer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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• Aspekte der Muskel-Sehnen-Adaptation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • Warm-up im Leistungssport – die BBL hinkt der

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Forschung hinterher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 36 39 44 48 52 56 58 60

• Laktat – der böse Bube der Leistungsphysiologie?. . . . . . . . . . . . . . . . • Leistungsdiagnostik bei Gesundheits- und Fitnesssportlern . . . . . . . • Leistungssteigerung bei Handballern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • Routinenaufbau: mental stark am Wettkampftag. . . . . . . . . . . . . . . . . • Ohne Kraft keine Schnelligkeit! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • Studie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • Trainergebrüll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • LL-Visite. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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ERNÄHRUNG

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• Was ist dran am intermittierenden Fasten?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • Essstörungen im Sport – es geht nicht nur ums Gewicht. . . . . . . . . . • Esspiration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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SCHWERPUNKTTHEMA ATHLETIKTRAINING

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VIEL SPASS BEIM LESEN!

REGENERATION

• Zweier- versus Dreier-Split – Trainingsempfehlungen unter

Berücksichtigung der Regeneration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

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• Wer? Wie? Was? Wer fragt, gewinnt!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • News. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • Starke Typen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • Marktplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • Neulich erlebt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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INTERVIEWS

• Es geht um die Adaptation – Regenerationsmanagement

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im Skisport – Im Gespräch mit Wolfhard Savoy. . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 86

• Beziehungskiste – Im Gespräch mit Para-Sprinter Felix Streng. . . . .

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AUTORENVORSTELLUNG

UNSERE EXPERTEN – FÜR DICH. Ab S. 6 8

NILS BORGSTEDT ​Nils ist Redaktionsleiter der Leistungslust. Nach dem Studium der Medienwissenschaft in Regensburg hat der gebürtige Münchner das Online-Sportportal netzathleten.de mit konzipiert, aufgebaut und als Chefredakteur geleitet. Mit dem Sportjournalismus verbindet der Kletterer und Läufer seine Leidenschaften Sprache und Sport auf ideale Weise – immer mit dem Anspruch, dem Leser Information gut verständlich und unterhaltsam zu präsentieren.​

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Jacqueline ist Personal Trainerin und Inhaberin von FITLIFE CONCEPT. Sie betreibt ein exklusives Privatstudio für Personal Training in Nürnberg. Seit Jahren begleitet sie Privat­ personen und Führungskräfte unter anderem im Triathlon und im Motivationstraining. Jacqueline ist Ausbilderin mit eigenem Mentoring-Programm für Personal Trainer und Autorin.

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JACQUELINE BOY

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THOMAS COLSHORN Thomas ist Sportwissenschaftler und Physiotherapeut und hat sich während seines Studiums mit medizinischem Fitnesstraining und Functional Training befasst. Er arbeitet als Therapeut, Trainer, Dozent und Journalist und lebt in Bremen.

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Constance hat Physiotherapie studiert. Seit 2015 ist sie Professorin für Physiotherapie an der SRH Hochschule, Campus Karlsruhe. Constance beschäftigt sich derzeit unter anderem intensiv mit dem Thema Beeinflussung des Lymphgefäßsystems und des faszialen Systems zur Leistungssteigerung im Training.

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PROF. DR. CONSTANCE DAUBERT

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MIRIAM DIEHL Miriam hat Physiotherapie an der SRH Fachhochschule Karlsruhe studiert und Anfang 2017 ihren Bachelorabschluss erreicht. Seitdem arbeitet sie in einer physiotherapeutischen Praxis in Karlsruhe mit Schwerpunkt Orthopädie, Chirurgie und Neurologie.

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Daniela ist systemischer Coach, Sport Mental Coach, Ernährungs- und Gesundheitstrainerin, erfolgreiche Amateur-Triathletin sowie Diplom-Wirtschaftswissenschaftlerin. Sie arbeitet freiberuflich für die Hochschule München. Ihr eigenes Coaching-Unternehmen heißt FREIWASSER. Danielas Themen sind Leistungsfähigkeit, mentales Training, Hypnose, Persönlichkeits- und ­Teamentwicklung, Mitarbeiterführung und Laufbahnberatung.

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DANIELA DIHSMAIER

PROF. DR. BJÖRN EICHMANN Björn hat Sportwissenschaft, Politikwissenschaft und Germanistik studiert. Seit 2015 ist er ­Professor für Sportwissenschaften an der SRH Fachhochschule für Gesundheit Gera in Baden-Württemberg. Björn beschäftigt sich derzeit unter anderem intensiv mit dem Thema Hochintensitätstraining bei Typ-2-Diabetes.


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KATHARINA FELDER Katharina hat Physiotherapie studiert und im Jahr 2017 ihren Bachelor absolviert. Seitdem arbeitet sie in einer Reha-Klinik in Gernsbach mit den Schwerpunkten Orthopädie, Neurologie und Kardiologie.

Ab S. 5 2

Daniel ist Sportwissenschaftler, Sportlehrer und Fitnesstrainer. Er arbeitet als Dozent und ­Forscher, Trainer, Kursleiter und Medien-Presenter. Außerdem ist Daniel Dozent für angewandte Sportwissenschaft an der Technischen Universität München.

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DR. DANIEL GÄRTNER

ANDREW HEY Andrew ist Sportwissenschaftler (B. A.), Personal Trainer, Athletiktrainer und 4D Pro Prehab ­Master. Er ist Inhaber von Outdoor Performance Training und einem P ­ ersonal-Training-Studio in Wiesbaden. Zu seinen Zusatzqualifikationen zählen unter anderm Übungsleiter für Leistungssport (DOSB) und Trainer für Sportrehabilitation (BSA).

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Tobias ist promovierter Sport- und Gesundheitswissenschaftler. Nach zahlreichen ­Stationen in der universitären Lehre und Forschung leitet er mittlerweile die Abteilung Health & Safety des Gleichordnungskonzerns Hamburg Wasser. Tobias ist Autor zahlreicher Fachzeitschriftenartikel und Fachbücher und hat während seines Studiums der Sportwissenschaft selbst über sieben Jahre als Fitnesstrainer gearbeitet.

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DR. TOBIAS KAEDING

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PROF. DR. KONSTANTIN KARANIKAS Konstantin hat über 25 Jahre Praxiserfahrung als leitender Therapeut in Gesundheitsund Therapieeinrichtungen und lehrt als Professor an der Fachhochschule des ­Mittelstandes (FHM) Bamberg Trainingstherapie und Rehabilitations- und Gesundheitsmanagement. Wesentliche Forschungsschwerpunkte sind Anpassungen und ­Veränderungen nach Belastungen, Verletzungen und Erkrankungen des muskulo­ skelettalen Systems.

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Tobias hat an der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement studiert. Seit 2013 berät der Personal Trainer Firmen im Bereich betriebliches Gesundheitsmanagement und betreut Hobby- und Leistungssportler, darunter auch Profi-Kickboxer.

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HANNO LANDWEHR Hanno ist Masterstudent an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg. Er strebt den Abschluss Master of Education in Sportwissenschaft und Anglistik an, um nach dem Studium als Lehrer tätig zu werden. Im Rahmen seines Sportstudiums beschäftigt er sich mit sportwissenschaftlichen Fragestellungen zum Aufwärmen, v­ orrangig im Leistungssport. Hier arbeitet er insbesondere im Bereich des Basketballs.

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Uwe hat Sportwissenschaft mit den Nebenfächern Ernährung und Psychologie in ­Gießen s­ tudiert. Er ist Gym Manager bei Holmes Place in Berlin und dort unter ­anderem für die Aus­­ und Weiterbildung von Personal Trainern und Auszubildenden verantwortlich. Er ist selbst Personal Trainer und hat Basketball- und Handballmannschaften als Athletiktrainer betreut.

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LAKTAT – DER BÖSE BUBE DER LEISTUNGSPHYSIOLOGIE? Ein Beitrag von Thomas Colshorn

Noch immer gilt Laktat als „böser Bube“ der Leistungsphysiologie. Zwar ist lange widerlegt, dass es eine Rolle bei der Entstehung des Muskelkaters spielt, seine leistungshemmenden Auswirkungen aber scheinen unumstößlich. Schaut man sich allerdings die Untersuchungen der vergangenen Jahre an, wird klar: Auch hier müssen wir umdenken – und zwar radikal. Eine Bestandsaufnahme. Was ist Laktat? Laktat ist das Salz der Milchsäure – nicht die Milchsäure an sich. Die Begriffe werden häufig synonym verwendet, was chemisch betrachtet nicht korrekt ist: Grundsätzlich zerfallen Säuren in Verbindung mit Wasser – also auch im wässrigen Milieu des Körpers – in positiv geladene Wasserstoffionen (H+) sowie einen Säurerest, in diesem Fall das Laktat; die Säure dissoziiert. Milchsäure ist eine sogenannte Hydroxycarbonsäure, das heißt, sie besitzt zwei funktionelle Gruppen: eine Hydroxygruppe, bestehend aus einem Sauerstoff- und einem Wasserstoffatom (OH), sowie eine Carboxygruppe aus zwei Sauerstoff-, einem Kohlenstoff- und einem Wasserstoffatom (COOH).

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Milchsäure wird im Körper vor allem bei anaeroben Belastungen gebildet, Für Eilige wenn Kohlenhydrate aufgrund Anders als lange unzureichender Sauerstoff­ gedacht, ist Laktat nicht bloß zufuhr nur unvollständig ein Abfallprodukt des anaeroben abgebaut werden könStoffwechsels, sondern erfüllt wichtige nen (anaerobe Glykolyse Funktionen: Zum einen dient es der oder Milchsäuregärung). ­Muskulatur als Treibstoff, sowohl in Ruhe Diese Art der Energie­ als auch während aerober und anaerober gewinnung wird als Belastungen, und ermöglicht eine längere anaerob-laktazid bezeichLeistung. Zum anderen ist es als Signalnet und findet bei­­ molekül im Nervensystem von Bedeukurz- und mittelfristigen tung, wobei seine genauen Belastungen höherer IntenFunktionen hier noch nicht sität statt. Normalerweise hinreichend geklärt entsteht im Verlauf der sind. ­Glykolyse aus Glukose zunächst Brenztraubensäure (Pyruvat), die im

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weiteren Verlauf zu Wasser und Kohlendioxid ­verstoffwechselt wird. Das Wasser kann der Körper weiterverwenden oder ausscheiden, das Kohlen­ dioxid wird abgeatmet. Steht nicht ausreichend ­Sauerstoff für diesen ­Prozess zur Verfügung, wird ein Teil der Brenztraubensäure stattdessen in Milchsäure umgewandelt. Bisherige Ansichten zum Laktat. Bislang betrachtete man Laktat im Großen und Ganzen als „Abfallprodukt“ des anaeroben Stoffwechsels und maß ihm keine weitere entscheidende Bedeutung bei. Bekannt war lediglich, dass der Herzmuskel Laktat verstoffwechseln kann und es im Verlauf einer körperlichen Belastung auch in mehr oder weniger ausgeprägtem Umfang zur Energiegewinnung heranzieht. Darüber hinaus standen vor allem die negativen Aspekte des Laktats im Vordergrund: die zunehmende Übersäuerung des Gewebes und eine daraus resultierende Muskelermüdung mit später eintretendem Leistungsabbruch. Dem sollte vor allem durch intensives Training nahe der anaeroben Schwelle entgegengewirkt werden. Noch immer wird der Laktatspiegel in der Leistungsdiagnostik als entscheidender Marker für den Trainingszustand eines Sportlers verwendet. Derzeitiger Forschungsstand. Erkenntnisse der vergangenen Jahre ziehen die bisherigen Annahmen zum Laktat allerdings zunehmend in Zweifel. Dies betrifft vor allem die Aspekte der muskulären Ermüdung und der Energiegewinnung, aber auch die Funktion des Laktats als Signalmolekül (1).


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Muskuläre Ermüdung. Bislang ging man davon aus, dass sich bei anaerober Energiegewinnung aufgrund zunehmender Laktatproduktion der pH-Wert des muskulären Milieus in den sauren Bereich verschiebt, da sich mehr und mehr Wasserstoffionen im Gewebe ansammeln. Das führte nach allgemeiner Ansicht zu einer Beeinträchtigung unterschiedlichster Stoffwechselprozesse und damit letztendlich zum zwingenden Leistungsabbruch. Dem aktuellen Wissensstand folgend, muss diese These zumindest stark angezweifelt werden. Untersuchungen legen nahe, dass im Gegenteil das Laktat dafür sorgt, dass bei höherintensiven Belastungen eine Muskelarbeit überhaupt länger aufrechterhalten werden kann. Entscheidend ist dabei offenbar der Einfluss des Laktats auf die Chloridkanäle der motorischen ­Nerven: Demnach führt eine Anhäufung von Wasserstoffionen zu einer verringerten Aktivität dieser Kanäle, was die Reizschwelle des Muskels herabsetzt und seine Membran damit leichter depolarisieren lässt. Aktionspotenziale werden also schneller ausgelöst, was wiederum zu einer erneuten Kontraktion führt oder diese überhaupt erst möglich macht – der Muskel kann länger arbeiten, die Ermüdung verzögert sich (2). Diese Ansicht vertreten auch Cairns (3) und Westerblad (4), die übereinstimmend schreiben, eine Azidose wirke sich wenn überhaupt nur gering nachteilig aus und habe bei hochintensiven Belastungen vermutlich sogar einen positiven Effekt auf die Leistungsfähigkeit.

anorganisches Phosphat einer der Hauptfaktoren für die nachlassende Muskelfunktion ist. Während der Belastung wird im Muskel Kreatinphosphat in Kreatin und anorganisches Phosphat (Pi) aufgespalten. Dieser Phosphatrest wiederum scheint die Freisetzung von Calcium im Muskel zu hemmen. Das Calcium erfüllt bekanntermaßen eine wichtige Funktion im Querbrückenzyklus: Lagert es sich am auf dem Aktin gelegenen Troponin C an, werden dort die Andockstellen für das Myosin freigelegt und damit eine Muskelkontraktion ermöglicht. Ist zu wenig Calcium ­vorhanden, bleiben die Andockstellen blockiert – eine Kontraktion kann nicht oder nur eingeschränkt erfolgen, die Leistungsfähigkeit sinkt.

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Wie aber kam man da­rauf, dass eine Übersäuerung sich nach­ teilig auswirken könnte? Offensichtlich tritt dieser Mechanismus nur bei Experimenten im Labor auf (in vitro), fällt unter physiologischen Bedingungen und bei Körpertemperatur von rund 37 Grad aber kaum mehr ins Gewicht, wie unter anderem Nielsen et al. (5) nachweisen konnten. I­nsgesamt wird diskutiert, inwieweit die Milchsäure überhaupt an einer Veränderung des pH-Wertes beteiligt ist. Auch hier ist man sich mittlerweile weitgehend einig, dass eine belastungsbedingte A ­ zidose nicht durch die Milchsäure allein hervorgerufen wird, sondern mehrere Faktoren zusammenspielen (6).

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Warum also ermüdet der Muskel? Welcher Mechanismus oder welche Substanz ist dafür verantwortlich, wenn nicht das Laktat? Laut Westerblad (4) und Allen (7) deutet viel darauf hin, dass

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Training

Auch dazu muss gesagt werden, dass ein solcher hemmender Einfluss bislang nur an isolierten Muskeln und weit unter Körpertemperatur (circa 30 Grad) nachgewiesen wurde. Inwieweit diese Erkenntnisse die physiologischen Verhältnisse in vivo widerspiegeln, ist derzeit nicht bekannt. Konsens besteht allerdings darüber, dass Muskelermüdung grundsätzlich ein multifaktorielles Phänomen ist und nicht auf eine oder zwei Substanzen alleine zurückgeführt werden kann (6). Energiegewinnung aus Laktat. Dass der Körper Laktat als Energieträger heranziehen kann und dies in gewissem Umfang auch tut, war bekannt. Auch hier aber haben neuere Forschungen gezeigt, dass dies in weit größerem Maß passiert, als bisher angenommen. Nach Wahl steigt der Laktatstoffwechsel bei Belastungen unterhalb von 55 Prozent der VO2max stark an und tritt in direkte Konkurrenz zur Glukose, deren Oxidationsrate gleichzeitig sinkt (8). Sinn dieses Vorgehens: Der Körper spart sich die wertvollere Glukose für andere Aufgaben. Der Herzmuskel kann unter Belastung demnach bis zu 60 Prozent seines Energiebedarfs über Laktat decken (8). Das Laktat wird dabei offenbar innerhalb der Mitochondrien wieder in Pyruvat umgewandelt und steht anschließend für eine Verstoffwechslung zur Verfügung (9). Laktat ist also mitnichten ein nutzloses Stoffwechselendprodukt, sondern eher ein Zwischenprodukt und trägt in erheblichem Maße zur körperlichen Leistung bei (10).

Des Weiteren ist auch das Nervensystem – insbesondere Astrozyten – dazu in der Lage, Laktat zu verstoffwechseln. Ein Anstieg des Blutlaktatspiegels bei höherintensiven Belastungen führt zu einer signifikanten Steigerung der Hirnleistung, wohingegen niedrigschwellige Belastungen das nicht tun. Darüber hinaus fungiert Laktat im zentralen Nervensystem als Signalmolekül, dessen genaue Funktionen aber noch nicht hinreichend geklärt sind (11). •

Praxistipps •• Laktat ist nicht grundsätzlich schlecht und zu

vermeiden. Es fällt immer im Stoffwechsel an – egal, wie gut der Trainingszustand ist. •• Laktat trägt zum Leistungserhalt bei, nicht zum Leistungsabbruch. •• Laktat ist vermutlich nicht für eine „Übersäuerung“ verantwortlich. •• Das Konzept der aeroben und anaeroben Schwelle muss vermutlich überdacht werden, zumindest im Sinne des starren 2-mmol- und 4-mmol-Schwellenkonzepts. •• Leistungsdiagnostik auf Basis einer Laktatmessung sollte dennoch nicht grundsätzlich verworfen werden; auf diesem Gebiet ist stattdessen erweiterte Forschung nötig.

LITERATUR

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1. Brooks GA. 2018. The science and translation of lactate shuttle theory. Cell Metab. 27; 4:757–785 2. Pedersen TH, et al. 2004. Intracellular acidosis enhances the excitability of working muscle. Science 305; 5687:1144–1147 3. Cairns SP. 2006. Lactic acid and exercise ­performance. Culprit or friend? Sports Med. 36; 4:279–291 4. Westerblad H, et al. 2002. Muscle fatigue: lactic acid or inorganic phosphate the major cause? News Physiol. Sci. 17:17–21 5. Nielsen OB, et al. 2001. Protective effects of lactid acid on force production in rat skeletal muscle. J. Physiol. 536; 1:161–166 6. Gladden BL. 2004. Lactate metabolism: a new paradigm for the third millenium. J. Physiol. 558; 1:5–30

7. Allen G, Trajanovska S. 2012. The multiple roles of phosphate in muscle fatigue. Front. Physiol. 3:463 8. Wahl P, et al. 2009. Moderne Betrachtungsweisen des Laktats: Laktat ein überschätztes und zugleich unterschätztes Molekül. Sportmed. Sporttraumatol. 57; 3:100–107 9. Jacobs RA, et al. 2013. Lactate oxidation in human skeletal muscle mitochondria. Am. J. Physiol. Endocrinol. Metab. 304; 7:E686–E694 10. Martínez-Reyes I, et al. 2017. Waste not, want not: lactate oxidation fuels the TCA cycle. Cell Metabol. 26; 6:803–804 11. Magistretti PJ, Allaman I. 2018. Lactate in the brain: from metabolic end-product to signalling molecule. Nat. Rev. Neurosci. 19; 4:235–249


VORSCHAU & IMPRESSUM

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SCHWERPUNKTTHEMA – FUNKTIONELLE ANATOMIE Nächste Ausgabe:

15.10.2018

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Leistungslust www.leistungslust.de ISSN 2509-422X Herausgeber und V.i.S.d.P. Agnes & Nils-Peter Hey Verlag Richard Pflaum Verlag GmbH & Co. KG Postanschrift: Postfach 190737, 80607 München Paketanschrift: Lazarettstrasse 4, 80636 München, 089 / 12 607-0 Komplementär PFB Verwaltungs-GmbH Kommanditistin Edith Laubner, Verlegerin Geschäftsführerinnen Agnes Hey, Edith Laubner

Redaktion Nils Borgstedt, Florian Münch, Maximilian Kreuzer leistungslust@pflaum.de Gesamtleiterin Mediavertrieb Christine Seiler Leiter Mediavertrieb Leistungslust Siegfried Kunert, siegfried.kunert@pflaum.de Kundenerlebnis kundenerlebnis@pflaum.de, 089 / 12 607-0 Druck pva Druck und Medien-Dienstleistungen GmbH Industriestraße 15 D-76829 Landau in der Pfalz Inhaltsverzeichnis Interviewpartner FeudMoth / shutterstock.com Titelfoto chrixtal / Shutterstock.com

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