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technique of sitting a nd in inter view with Konsta ntin Grcic. Patrick Hofma nn on the pioneer of the kinderga rten, Friedrich Fröbel. Munich’s Residenztheater from the p ersp ective of its chief dra matic advisor, S ebastia n Huber. Rebecca Ma rtin’s drea m of student life in Ha mburg, a nd Diedrich Diederichsen on the

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virtues of orderliness.

FEATURES ON CULTUR AL TECHNIQUES – ÜBER KULTURTECHNIKEN

Hubert Filser on the cultura l

VOL #1

Hubert Filser über die Kulturtechnik des Sitzens und im Inter view mit Konsta ntin Grcic. Patrick Hofma nn über den Pionier des Kinderga rtens Friedrich Fröbel. Das Residenztheater München aus der Sicht seines Chefdra maturgen, S ebastia n Huber. Rebecca Ma rtins Traum vom Studentenleben in Ha mburg und Diedrich Diederichsen über den Sinn der Ordnung.


FEATURES ON CULTUR AL TECHNIQUES – ÜBER KULTURTECHNIKEN


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V ol # 1

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EDI TORI A L Wir machen Möbel zum Thema: Ein Tisch steht an einem Ort, ein Ort ist Ausgangspunkt für ein Thema. Der Fröbel-­ Kindergarten „Campus Adlershof “ (aus­gestattet mit dem Profilsystem von Flötotto) ist benannt nach Friedrich Fröbel, dem Erfinder des Kindergartens. Im 19. Jahrhundert stellte er die – bis heute mancherorts bekämpfte – These vom Bildungswert des Spielens auf. Fröbel steht exemplarisch für freies, offenes Lernen. Wir wollen ein Heft, das nicht an der Oberfläche hängen bleibt: Was bewegt mich dazu, einen Stuhl, ein Systemmöbel, genau so zu gestalten? Was bewegt mich dazu, solche Dinge zu produzieren? Was bewegt mich dazu, sie zu kaufen? Motivation ist gefragt. Wir verbinden die Vergangenheit mit der Zukunft: Sitzen ist eine Kulturtechnik, Tiere liegen, hocken oder stehen. Der Mensch sitzt, ursprünglich auf Steinen, später auf von ihm selbst geschaffenen Gegenständen. Woher kommt das Sitzen, was ist seine Zukunft, wozu ist es gut? Ausgabe #1 erzählt die Geschichten hinter dem Mobiliar: ein Magazin über das Sitzen, das Lieben, das Ordnen – und warum wir das alles tun.

Furniture is our theme: A table stands at a certain location; the location forms the starting point for a theme. The Fröbel-­ Kindergarten “Campus Adlershof ” (equipped with the Profilsystem from Flötotto) is named after Friedrich Fröbel, the inventor of the kindergarten. In the 19th century he established the thesis of the educational value of play —  s till controversial to this day. Fröbel stands for free and open learning. We want a magazine that delves beneath the surface: What motivates me to design a chair, to design system furniture precisely like this? What motivates me to produce such things? What motivates me to buy them? We link the past with the future: Sitting is a cultural technique. Animals lie, squat, or stand. Humankind sits, originally on stones, later on objects of its own making. What are the origins of sitting, what is its future, what is it good for? VOL #1 tells the stories behind the furniture; it is a magazine about sitting, loving, and organizing — a nd why we do it all.

F reder i k Flötot to


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I nhalt  C ontent

06 Die K ulturtechnik des sitzens

1 2 T he C ultural T echnique of S itting

18 KONSTA N T I N GRCIC – Designer

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K O N S T A N T I N G R C I C — D esigner

48 F röbels W eg

6 2 F r ö bel’ s P ath

70 Melanie Ehnert

7 4 M elanie E hnert

78 Zur Schönen Aussicht – Ein Besuch im R esidenztheater M ünchen

8 6 T he B eautiful V iew — A V isit to M unich ’ s R esidenztheater

96 F eli x-F echenbach-Berufskolleg 9 6 F eli x - F echenbach - C ollege

106 A nders hell und anders still

110 A DIF F ER EN T BR IGH T N ESS A N D A DIF F ER EN T SIL ENCE

114 Die Wohnanlagen H ammerbrook & K iwittsmoor in H amburg

1 1 4 H ammerbrook & K iwittsmoor H alls of R esidence , H amburg

138 W ie ich meine Bücher und Tontr äger ordne 1 4 0 H ow I O rganize m y B ooks and M usic

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Die ä ltesten, noch erha ltenen St ü h le st a m men aus der 2. Hä l f te des 6 . Ja h r t ausends vor Ch r ist u s. In dem k leinen Ort A şağ ı P ına r bei K ı rk la rel i i n der heut igen T ü rkei ha ben A rchäologen d ie verzier te Leh ne ei nes St u h ls gef u nden. Die Idee breitet sich i n der Folge i n ga n z Südosteu ropa aus, auch d ie er sten T ische t auchen au f.

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Die K ulturtechnik des sitzens

Sitzen lernen – eine kleine Spurensuche nach den A nfä ngen von Sitzmöbeln Hu ber t F i lser


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Der Versammlungsraum der Dogon ist höchstens einen Meter hoch. Die Männer kauern auf dem Boden, während sie diskutieren. Unser Sitzen ist ihnen völlig fremd, aber Platz für Stühle wäre hier ohnehin nicht. Der Raum ist auch deshalb so niedrig, damit nicht einer auf die Idee kommt, plötzlich wutentbrannt aufzuspringen. Wer entlegene Völker Westafrikas besucht, wird kaum Sitzgelegenheiten finden und praktisch keine Tische. Die Menschen dort kennen keine Sitzmöbel in unserem Sinn, nur kleine Hocker. Sie nehmen in der Regel nicht auf Stühlen am Tisch Platz, sondern meist im Schneidersitz auf dem Boden. Höchstens die Alten lassen sich mal länger auf niedrigen, schlichten Holzbänken vor ihren Hütten nieder. Für Menschen der westlich geprägten Welt dagegen ist das Sitzen zur Hauptbeschäftigung geworden. Im Schnitt verbringen wir 9,3 Stunden pro Tag auf Stühlen oder dem Sofa – mehr also als wir schlafen und mehr als wir gehen oder stehen. Sitzen ist die Körperposition, in der wir einen großen Teil unseres Lebens verbringen. Doch so wie wir Menschen vor Jahrmillionen erst langsam gelernt haben, aufrecht zu gehen, haben sich unsere Vorfahren auch das Sitzen, vor allem das auf eigens gefertigten Gegenständen, erst allmählich antrainiert. Nur warum eigentlich und wann? Eine einfache Frage, doch die Suche nach einer Antwort führt uns mehr als 8000 Jahre zurück in der Zeit, und auch weit weg auf eine Hochebene im heutigen Anatolien, nach Çatal Hüyük, in eine der frühesten Großsiedlungen der Menschheitsgeschichte. Dort findet sich die älteste bekannte Darstellung eines sitzenden Menschen. Eine üppige Frau hat auf einem thronartigen Stuhl Platz genommen, der von zwei Raubkatzen gerahmt wird. „Sitzende Frauendarstellungen ohne Stuhl sind sogar noch früher bekannt“, sagt der Münchner Vorgeschichtler Heiner Schwarzberg. Es gibt auch die Idee, dass die sitzenden Frauenfiguren Symbole der Fruchtbarkeit waren, und auch hier könnte sich eine Spur ergeben. In Ägypten tauchten nämlich tausende Jahre später so genannte Gebärsteine auf, die ebenfalls eine stützende Funktion haben. Schwarzberg hält diese jedoch nicht für entscheidend, was den Ursprung des Sitzens angeht. Eine Frau auf einem Stuhl, begleitet von zwei Leoparden: Es sieht nach einem großartigen Auftakt für die Geschichte der Sitzmöbel aus. Mehrere Tausend Menschen lebten einst in dieser schachtelartig den Hang hoch gebauten Siedlung in der fruchtbaren Schwemmebene des Çarşamba-Flusses. Die raffiniert gebauten frühen Häuser sind schon üppig ausgestattet. Der Grund in den rechteckigen Bauten ist gestampft oder mit Gips versiegelt, manche Häuser haben sogar einen bunten Terrazzo-Belag. Den Boden bedecken Schilfmatten. Öfen wärmen in kalten Nächten. Auch die erste Inneneinrichtung gibt es schon. Die Menschen verwenden Kochgeschirr aus Holz und Stein, sie haben schwarz glänzende Spiegel aus Obsidian, einem Gestein, das von zwei nahen Vulkanen stammt. Die Wände verzieren prächtige Wandmalereien mit Leoparden oder aus Ton oder Gips übermodellierte und bemalte mächtige Stierschädel. Und das Mobiliar ergänzen neben den Stühlen auch Bänke. Çatal Hüyük ist ein beeindruckender Ort, der seit 2012 UNESCO-Weltkulturerbe ist, eine frühe Blüte der Zivilisation. Wie bei allen Reisen in prähistorische Zeiten ist auch diese mit Unsicherheiten behaftet, denn es gibt keine schriftlichen

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Zeugnisse, die weiter als 6000 Jahre in die Vergangenheit führen, und auch die Objekte der Menschen damals, egal ob Schmuck, Waffen, Handwerksgeräte oder eben Mobiliar, haben nur in wenigen Glücksfällen die Zeiten überdauert. Holz vermodert, Stein zersplittert, Farben verblassen. Und doch, so scheint es, deuten die wenigen Spuren, die sich finden lassen, darauf hin, dass Sitzmöbel schon sehr, sehr alt sind, dass sie vor Zehntausenden von Jahren entstanden – verblüffenderweise schon in Formen, die wir so oder ähnlich noch heute verwenden, als Hocker oder Stuhl mit vier Beinen oder als Bank mit langer, ebener Sitzfläche. Wenn wir solche Anfänge rekonstruieren, Momente, in denen wir sitzen lernten, begreifen wir vielleicht, warum wir diese einfachen Gegenstände unseres Alltags so früh schätzen gelernt haben. Heiner Schwarzberg hatte erwähnt, dass es ältere Frauendarstellungen gebe, ähnlich wie die Göttin von Çatal Hüyük. Und so landen wir in der Schwäbischen Alb, im Tal der Urdonau in der Eiszeitlandschaft vor rund 43.000 Jahren. In kleinen Gruppen von etwa 25 Personen kamen damals die ersten Menschen vom Schwarzen Meer das Donautal hoch, bis sie irgendwann in den Seitentälern von Lone und Ach landeten, in einer baumlosen Tundra mit hohem Gras. Es ist eine gute Gegend für die Jagd auf Mammuts. Im Winter bieten die zahlreichen Karsthöhlen Schutz vor der grimmigen Kälte. Ausgerechnet in diesen kühlen, feuchten und dunklen Höhlen haben die Menschen angefangen, Figuren aus Elfenbein-Stoßzähnen von Mammuts zu schnitzen. Am rauchigen Feuer, in dem Tierknochen flackerndes Licht brachten, entstanden Meisterwerke, darunter auch die erste Darstellung eines Menschen: die Venus von der Schwäbischen Alb, eine ausladende Frauenfigur mit enormen Brüsten und einer ziemlich großen Vulva. Dieses Werk markiert den Anfang der Frauenfigurinen, die bis zur Göttin von Çatal Hüyük führen. Doch es wäre nur eine hübsche Geschichte über die Geburtsstunde der bildenden Kunst, wäre nicht ein Detail besonders interessant. Es ist Schwerst­a rbeit, aus dem spröden Elfenbein solche Kunstwerke herauszuholen. 50 Stunden dauerte es, so sagen Archäologen heute, um so eine Elfenbeinfigur zu vollenden. Diese Arbeit haben unsere Vorfahren sehr wahrscheinlich im Sitzen erledigt. Im Stehen oder Liegen ist so eine handwerklich anspruchsvolle Arbeit nicht denkbar. „Ich bin mir sicher, dass Steine, Baumstämme oder -stümpfe zum vom Boden abgehobenen Sitzen bereits von den nicht-sesshaften Jägern und Sammlern lange vor der Errichtung der ersten permanenten Gebäude genutzt wurden“, sagt Heiner Schwarzberg. Behauene Steine, mit Fellen belegt, waren wichtig, um sich „vom kalten, feuchten oder schmutzigen Boden abzuheben auch um ein erhöhtes Arbeitslevel zu erreichen“. Es ist ein erster Schritt. So wie die Vormenschen einst langsam gelernt haben, aufrecht zu gehen, entwickelt sich das Sitzen schrittweise vom Kauern auf dem nackten Boden hin zu erhöhten Sitzflächen. Nun sind ein Stein oder ein Baumstumpf keine geschaffenen Objekte. Vielleicht nehmen diese groben Sitzgelegenheiten auch noch eine andere Funktion der späteren Sitzmöbel vorweg, die soziale Komponente, weil nämlich beim Schnitzen die Künstler und bei Mahlzeiten die ganze Sippe auf solchen Naturmöbeln

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ums Knochenfeuer saß, der einzigen Lichtquelle in der Höhle. Der Sitz am Feuer definiert eine Gemeinschaft. Er ist Teil jener Thermosphäre, von der Peter Sloterdijk spricht, ein warmer Raum innerhalb der kalten Höhle. Anthropologisch betrachtet war das Sitzen zunächst eine sehr privilegierte Tätigkeit. Man musste es sich leisten können. In Gesellschaften, in denen man keine Freizeit kennt, in denen die meisten Tätigkeiten des Alltags funktionalisiert sind, ist Sitzen etwas Besonderes. Wer stundenlang sitzen und für Zeremonien oder kultische Rituale Figuren schnitzen kann, ist privilegiert. Daraus ist zu einem späteren Zeitpunkt auch eine differenziertere, soziale Komponente erwachsen, als die Menschen erkannten, dass durch einen (besonderen) Sitz oder bestimmten Platz eine besondere Person ausgezeichnet werden kann. Das Problem an diesen hypothetischen Annahmen ist natürlich, dass es keine sicheren archäologischen Nachweise aus diesen Zeiträumen gibt. Ob der Künstler die Venus wirklich auf einem Sitz geschnitzt hat, lässt sich nicht sicher belegen, er könnte auch auf dem Boden gekauert haben . Doch Schwarzberg ist sich sicher: „Möbel gehören zu den ältesten zivilisatorischen Errungenschaften.“ Sitzen als Kulturtechnik war entstanden, der Sitz ist eines der ersten hierarchischen Ausdrucksmittel. Doch es bedurfte noch weiterer Schritte, um daraus auch eine Kultur eigens gefertigter Sitzmöbel entstehen zu lassen. Die Grundvoraussetzung dafür war das Sesshaftwerden der Menschheit. Sie vollzog sich in der Gegend des so genannten fruchtbaren Halbmonds im Vorderen Orient. In dieser Region nahmen klimatisch bedingt vor rund 11500 Jahren die Niederschläge zu, vor allem weiter nördlich im Quellland der Flüsse Euphrat und Tigris, an den ansteigenden Bergflanken der heutigen Südtürkei. Karge Steppen verwandelten sich in blühende Landschaften. Diese Region, die sich sichelartig vom Mittelmeer bis zum Persischen Golf erstreckte, war bereits während der letzten Eiszeit dichter besiedelt als Mitteleuropa. Zu diesem Zeitpunkt wanderten die Menschen immer noch als Wildbeuter durch die Gegend, durchstreiften einen Lebensraum von mehreren hundert Quadratkilometern. Die plötzliche Ressourcenvielfalt nutzten die Menschen, um einen kompletten Systemwechsel zu vollziehen. In der Folge explodierten die Bevölkerungszahlen, denn Jäger und Sammler hatten im Mittel mit maximal vier bis fünf Kindern eine niedrigere Geburtenrate als die ersten Bauern. Das stabilere Klima war wie ein Startschuss für ein beachtliches Wagnis, das die Menschen hier vor rund 11.000 Jahren eingingen: Sie ließen sich nieder. Sie erkannten, dass trotz aller Mühen im Alltag – Feldarbeit und Hausbau waren keine leichte Sache, und ein paar Dinge wie Lehmziegel mussten auch noch erfunden werden – ihnen das neue Denken Stabilität verlieh, die sie in neuen, auch klimatischen Krisen dringend brauchen konnten. Der Mensch lernte vorzusorgen. Genau in diesem Milieu und bereits in der Übergangszeit hin zur dauerhaften Sesshaftigkeit tauchen die ersten gefertigten Sitzmöbel auf, es sind steinerne Bänke. Sie finden sich kreisförmig an den Wänden rund um das Zentrum der ältesten Tempel der Menschheitsgeschichte, den spektakulären Kreisanlagen von Göbekli Tepe mit ihren tonnenschweren Pfeilern. Die Anlage ist nicht nur größer als Stonehenge, sondern auch 7.000

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Jahre älter. „Es ist nicht klar, ob die Menschen auf den Steinbänken saßen oder nur Sachen abgestellt haben“, sagt der Berliner Archäologe Klaus Schmidt, der Ausgräber der Kultstätte nahe der heutigen anatolischen Großstadt Şanlıurfa. Aber auch hier taucht bereits wieder die mögliche soziale, kultische Dimension eines Sitzmöbels auf. Wer im Rahmen einer Zeremonie in diesen 11500 Jahre alten Tempeln auf einer dieser Steinbänke sitzen oder zumindest an dem Ritual teilnehmen durfte, hatte einen Platz in der Gesellschaft, einen Sitz in der Gemeinschaft. So wie das eigene Haus äußeres Zeichen der gesellschaftlichen Stellung ist, definieren Sitzmöbel auch hier soziale Positionen. Diese Aussage bleibt bis heute erhalten: Wer an einer Tafel sitzen darf, ist Teil einer Gemeinschaft. Wer keinen Sitz hat, ist draußen. In dieser Übergangszeit bedeutet das Sitzen sehr viel: Es zeigt, dass man bleiben, sich auf die Umgebung einlassen, sie nutzen und gegen Feinde verteidigen will. Der Mensch setzt sich und konzentriert sich auf das neue Leben an einem Ort. Hier ist symbolisch das Sitzen als höchste Form der konzentrierten Tätigkeit vorweggenommen, wo der Mensch, sicher gestützt und stabil durch den Stuhl in Position gehalten, sich auf sein Tun konzentrieren kann. Er kann handwerklich arbeiten, sich in Ruhe intellektuell betätigen oder mit anderen Menschen kommunizieren. Es scheint, als würden hier langsam verschiedene Spuren zusammenführen, die praktische Bedeutung, die soziale Stellung, die Rolle als kultisches Symbol und die den Menschen stützende Funktion. Stühle tauchen exakt in der Zeit auf, als die Gesellschaften hierarchischer werden und die Arbeitsteilung beginnt. Häuser und Möbel dienten dazu, diese hierarchischen Prozesse abzubilden. Sie repräsentieren Macht und Einfluss. Ende des 10. Jahrtausends vor Christus verdichten sich die Spuren. Die Menschen werden vor allem in Südostanatolien und im Nahen Osten sesshaft, sie experimentieren in dieser Phase sehr viel. Die ehemaligen Jäger und Sammler domestizieren wilde Tiere wie Schafe oder Rinder und kultivieren wilde Getreidesorten wie Emmer oder Einkorn, wie sie an den Hängen des flachen Vulkans Karacadağ wachsen. In den runden Hütten, die sie bauen, finden sich Bänke aus Stein und gestampftem Lehm. Sie waren wahrscheinlich zum Sitzen da, die Hausbewohner stellten darauf wohl auch Vorratskörbe oder Kochgeschirr ab. „Solche Bänke und Plattformen treten im Vorderen Orient und Anatolien auch in den nachfolgenden Jahrtausenden immer wieder auf,“ sagt Heiner Schwarzberg. Es sind immer bestimmte Milieus, die wichtige Neuerungen begünstigen. Dank seines Spieltriebs hat der Mensch immer wieder Dinge ausprobiert und erst später gemerkt, ob sich die Idee bewährt hat und dadurch etwas dauerhaft Praktikables entstanden ist. Meist ging damit eine bessere Anpassung an unsere Umgebung einher, das ist ein Prinzip der Evolution. Auch der Stuhl ist so eine Neuerung, er bringt zudem Struktur in die Gesellschaft. Aus Bänken werden Stühle, aus dem Gemeinschafts- der Einzelsitz. „Es ist anzunehmen, dass Sitzmöglichkeiten an verschiedenen Orten unabhängig voneinander entstanden sind“, sagt Schwarzberg. „Im Zuge der Sesshaftwerdung haben sie aber zumindest eine Vereinheitlichung erfahren.“ Es ist also nicht nur eine geniale Erfindung, sondern etwas, das quasi in der Luft lag.


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Es ist auch klar, dass die ersten Stühle etwas Besonderes darstellten, schließlich war es ein gewisser Aufwand, sie herzustellen. Man musste Stein bearbeiten oder aus einem Holzklotz einen Stuhl mit drei oder vier Beinen herausarbeiten. Die ersten Materialien für die Sitzmöbel – Stein, später Holz und Metallelemente – waren seltene Güter. Möbel musste man sich also auch leisten können. So wie der, der sich ein größeres Haus baut, im Ansehen steigt, weil er mehr Nachkommen beherbergen und ernähren kann. Die ältesten, noch erhaltenen Stühle stammen aus der 2. Hälfte des 6. Jahrtausends vor Christus. In dem kleinen Ort Aşağı Pınar bei Kırklareli in der heutigen Türkei haben Archäologen die verzierte Lehne eines Stuhls gefunden. Die Idee breitet sich in der Folge in ganz Südosteuropa aus, auch die ersten Tische tauchen auf. Die neuen Wohnformen finden auch Einzug in die künstlerischen Darstellungen. Parallel zu den Möbeln finden sich häufig kleine, kunstvoll gestaltete Figuren, die auf reich verzierten Schemeln Platz genommen haben. Der Mensch auf dem Stuhl ist ein wichtiges Thema in der Kultur. Oft werden diese Figuren als Göttinnen bezeichnet, sie scheinen die alte Tradition der Figurinen aus der Steinzeit fortzuführen. „Insgesamt kennen wir rund 50000 solcher Figurinen aus Südosteuropa“, sagt Svend Hansen, der Direktor der Eurasien-Abteilung am Deutschen Archäologischen Institut in Berlin. „Sie zeichnen sich durch eine starke Stilisierung aus, sind also keine Porträts.“ Viele von ihnen sitzen, und praktisch alle Figuren scheinen an den häuslichen Kontext gebunden zu sein. Interessant ist, dass sich die neolithischen Formen nicht sehr von den heutigen unterscheiden. Im Prinzip haben sich Stühle über Jahrtausende nicht verändert. Möglicherweise war es einfach die perfekte Form, also etwas, was sich wie eine mathematische Lösung einer komplizierten Gleichung ergab. Nicht drei oder fünf und noch mehr Beine sind nötig, um perfekte Stabilität und eine schöne Form zu erreichen, sondern eben vier Beine. Mehr Beine wären nur aufwändiger in der Herstellung, weniger statisch zu anfällig. Vielleicht sind die vier Beine – wie so vieles bei den frühen Menschen – der Natur entlehnt, die Beine der Tiere wären das Vorbild. Ägyptische Stühle, etwa auch der prächtige Thron aus dem Grab des Pharaos Tutanchamun, haben häufig Tierpfoten. Vor rund 6500 Jahren taucht dann eine verblüffende Variante der Möbelkultur auf, die an frühe Puppenstuben erinnert. Es handelt sich um Häuser im Kleinformat, szenische Darstellungen von Interieurs aus verschiedenen Fundorten in Ungarn, Rumänien, Bulgarien, der Ukraine. „Das Haus mit seinem Inventar scheint im Modell bei den neolithischen Kulten und Riten eine besondere Rolle gespielt zu haben“, sagt der Frühgeschichtler Heiner Schwarzberg. Mit diesen Miniaturmöbeln stehen auch kleine eckige, drei- und vierfüßige Opfergefäße in Verbindung. Es sieht so aus, als würde die Bedeutung der Inneneinrichtungsgegenstände mit zunehmendem Wohlstand eine größere Rolle spielen. Menschen beginnen, etwas zu „besitzen“. So als wären vor allem die Sitzmöbel repräsentative Gegenstände. Stühle könnten sich dann im Zusammenhang des Mahls weiterentwickelt haben, einer besonderen Form eines Gemeinschaft stiftenden Rituals.

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Aus jüngeren Epochen sind dann mehr und mehr Überreste tatsächlicher hölzerner Möbel oder deren Beschläge erhalten, häufig aus königlichen Umgebungen wie dem Königsfriedhof von Ur aus der ersten Hälfte des 3. Jahrtausends vor Christus oder dem bereits angesprochenen Grab von Tutanchamum um 1323 vor Christus. Die Grabkammer im Tal der Könige enthielt neben Betten auch 31 Sitzgelegenheiten, darunter vier prächtige Throne, vier Stühle, elf Hocker und zwölf Schemel. Es ist ein grandioses Schaufenster der antiken Stuhlkunst. Der prächtigste Stuhl ist der 1,04 Meter hohe Goldthron mit seinen Löwenfüßen, es gibt im antiken Ägypten keinen Stuhl mit einer höheren Sitzfläche (51,7 Zentimeter über dem Boden). Sowohl die Löwenfüße wie auch die aufwändigen Armlehnen sind Insignien der Herrscher. Damit ist gleichzeitig die höchste Entwicklungsstufe des Stuhls erreicht. Ein Mensch, der oberhalb von anderen Menschen positioniert ist und zudem mit geradem Rücken und in stolzer Pose sitzt, wirkt dominant. Der Thron verstärkt die Körpersprache des Herrschenden. „Sitzen ist in den alttestamentlichen Texten immer auch eine Statusanzeige“, sagt der Alttestamentler Friedhelm Hartenstein. „Im Hebräischen heißt kissē sowohl Thron als auch Stuhl. In den allermeisten alten hebräischen Kontexten handelt es sich dann um den Thron, auf dem eine menschliche oder göttliche Figur herrscht.“ Im Thron manifestiert sich die Ordnung. In den Psalmen 89 und 97 des Alten Testaments steht, der Thron werde von Recht und Gerechtigkeit getragen. Deshalb ist der hervorgehoben, der darauf sitzt, während die Untergebenen stehen. „Das ist eine typische Konstellation im Alten Testament“, sagt Hartenstein. Diese positive Konnotation des Sitzens hat lange Bestand. Eigentlich bis in die Moderne, in der die negativen Seiten dieser Kulturtechnik auftauchen. Sitzen bekommt etwas von Freiheitsbeschränkung. Der Häftling „sitzt“ im Knast, in der Schule mussten Schüler „still sitzen“. In jüngster Zeit scheint dem­entsprechend ein Umdenken stattzufinden. Stehtische und Schrei­btische, die sich hochfahren lassen, werden immer beliebter. Flankiert wird dieser Trend von der Forschung, die konstatiert, dass das Sitzen über längere Zeiträume sehr ungesund sei. So nimmt auch an Schulen der klassische Frontalunterricht ab, Schüler arbeiten oft gemeinsam in Gruppen und dürfen zwischendurch auch mal aufstehen. Es ist vor allem ein Haltungsproblem: Wir sind zu statisch beim Sitzen, die Körpermuskulatur wird kaum beansprucht, wir verspannen leicht, der Stoffwechsel im Körper verlangsamt sich. Kurz: Langes Sitzen belastet. Unsere Wirbelsäule ist immer noch eher auf den aufrechten Gang ausgerichtet. Die Folgen sind die klassischen Zivilisationskrankheiten Diabetes, Fettleibigkeit, ein erhöhtes Risiko für Herz- und Kreislauferkrankungen. Werden wir also vom Homo sedens wieder Abschied nehmen müssen oder bedarf es schlicht neuer Entwürfe?

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L a nges Sit zen bela stet . Unsere Wi rbelsäu le ist i m mer noch eher au f den au f rechten Ga ng ausger ichtet . Die Folgen si nd d ie k la ssischen Z iv i l i s a t ion sk r a n k heiten Dia betes, Fet t lei big keit , ei n erhöhtes R isiko f ü r Herz- und K reislauferkra nkungen. Werden w i r a lso vom Homo sedens w ieder A bsch ied neh men müssen oder beda r f es sch l icht neuer Ent w ü r fe?

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The oldest ex t a nt cha i r s or ig i nate f rom t he second ha l f of t he 6t h cent u r y BC . I n t he sma l l set t lement of A şa ğ ı P ı na r nea r K ı rk la rel i i n today ’s Tu rkey, a rchaeolog ist s have fou nd t he decorated back rest of a cha i r. The idea su bseq uent ly spread t h rou g hout Sout hea st Eu rope a nd t he f i r st t a bles a lso appea red.

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The Cultural Technique of Sitting Learning to sit — a brief E x ploration of the origins of seating furniture Hu ber t F i lser


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The assembly room of the Dogon tribe is only one meter high at the most. The men squat on the floor for discussions. Seating as we know it is completely foreign to them, not that there is space for chairs here anyway. The room is also built low in order to prevent anyone jumping up in a rage. Anyone visiting isolated tribes in West Africa will encounter hardly any seating and virtually no tables. The people there do not know seating furniture in our sense, just small stools. As a rule they do not sit on chairs when at a table, but cross-legged on the floor. If at all, it is the old people who sit for longer periods on low, simple wooden benches in front of their huts. In contrast, sitting has become the main occupation of people in the Western-influenced world. On average we spend 9.3 hours per day on chairs or the sofa — more than we sleep and more than we walk or stand. Sitting is the body position in which we spend a large part of our lives. And just as humankind slowly learnt to walk upright millions of years ago, so our forefathers gradually trained themselves in sitting, above all on specially made objects. But why and when? A simple question, however: the search for an answer takes us back more than 8,000 years, and far away to a high plain in today’s Anatolia, to Çatal Hüyük, one of the first large settlements in human history. Here can be found the oldest known depiction of a seated human figure. An abundant woman is seated on a throne-like chair, framed by two predatory cats. “Depictions of seated female figures without chairs date back even earlier,” states the prehistorian Heiner Schwarzberg from Munich. There is speculation that the seated female figures symbolized fertility, and this could also provide us with a clue. Thousands of years later, in Egypt, so-called birth stones appeared, which also had a supportive function. However, Schwarzberg does not consider these to be key to the origin of sitting. A woman on a chair accompanied by two leopards: it looks like a magnificent prelude to the history of seating furniture. Several thousand people once lived in the box-like settlement built high on the slopes of the Çarşamba River’s fertile alluvial plain. The early houses with their sophisticated construction were opulently furnished. The ground in the rectangular buildings was compacted or sealed with plaster, some houses even had colorful terrazzo flooring. The floor was covered with reed mats. Ovens provided warmth on cold nights. They also had the first interior fittings. The people used cooking utensils made from wood and stone, and they had black shiny mirrors of obsidian, a stone which originated from two nearby volcanoes. The walls were decorated with magnificent murals or massive bulls’ skulls covered with clay or plaster and painted. And the furniture consisted of both chairs and benches. Çatal Hüyük is an impressive site and was awarded in 2012 UNESCO World Cultural Heritage, as an early flowering of civilization. As in the case of all journeys into prehistoric times, this journey is accompanied by uncertainty as there are no written testimonies which go back more than 6,000 years. Furthermore, the objects that belonged to the people back then, whether jewelry, weapons, tools, or in this case furniture, have only survived in a few fortunate cases. Wood rots, stone splinters, colors fade. Nevertheless, the few traces to be found appear to indicate that seating furniture

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has a long, long history; that it first appeared tens of thousands of years ago — a mazingly, in forms which are the same or similar to those we use to this day, as stools or chairs with four legs or benches with a long flat seat. Maybe by reconstructing such origins, moments in which we learnt to sit, we will grasp why we came to value these simple everyday objects so early on. Heiner Schwarzberg mentioned that there are older depictions of women, similar to the goddess from Çatal Hüyük. And so we land in the Swabian Alb, in the ancient Danube Valley of the ice age landscape some 43,000 years ago. Back then, the first settlers traveled up the Danube Valley from the Black Sea in small groups of around 25 people before eventually landing in the side valleys of the Lone and Ach rivers, in a grassy, treeless tundra that was a good location for hunting mammoths. In winter the numerous karst caves offer protection from the fierce cold. Of all places it was here in these cool, damp, and dark caves where people first began to carve figures from ivory mammoth tusks. At the smoky fire, in which animal bones supplied a flickering light, masterpieces were created, including the first depiction of a human: the Venus from the Swabian Alb, a voluminous female figure with enormous breasts and a particularly large vulva. This work marked the beginning of female figurines, leading to the goddess from Çatal Hüyük. However, this would only be a pretty tale about the birth of the visual arts if it wasn’t for one especially interesting detail. It is hard work creating such works of art from the brittle ivory. Archaeologists today estimate that it would take 50 hours to complete such an ivory figure. In all likelihood our forefathers carried out this work while sitting. Such demanding work is unthinkable while standing or lying. “I am certain that stones, tree trunks, or stumps were already used by wandering hunters and gatherers for sitting raised above the floor long before the construction of the first permanent buildings,” states Heiner Schwarzberg. Roughly hewn stones covered with furs were important in order to “raise oneself above the cold, damp, or dirty floor,” says Schwarzberg, “also in order to provide an elevated working position.” It is a first step, just as hominids slowly learnt to walk upright, in the step-by-step development of sitting — from squatting on the bare f loor to raised seating. However, a stone or a tree stump is not a man-made object. Maybe these rough seats anticipate a further function of the later seating furniture, the social component: the artists would be seated on such natural furniture when carving, along with the entire clan during meals, gathered around the bone fire, the only source of light in the cave. The seat at the fire defines a community. It is part of that thermosphere of which Peter Sloterdijk spoke, a warm space within the cold cave. From an anthropological perspective sitting was initially a highly privileged activity. One must be able to afford it. In societies in which there is no leisure time, in which the majority of the everyday activities serve a function, sitting is something special. Whoever can sit for hours at a time carving figures for ceremonies or cult rituals, is privileged. At a later stage in time a differentiated, social component grew out of this phenomenon as people recognized that through occupying a (special) seat or a certain

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place a special honor was being bestowed on that person. The problem with these hypothetical assumptions is that there is naturally no secure archaeological evidence from these periods. Whether the artist responsible for the Venus really carved it while sitting, cannot be proved with certainty, they could also have squatted on the floor. However, Schwarzberg is certain: “Furniture is one of the oldest achievements of civilization.” Sitting as a cultural technique was born; the seat is one of the oldest means of expressing hierarchy. However, further steps were required in order to establish a culture of purpose-built seating furniture. The precondition for this was that mankind became sedentary. This occurred in the region of the so-called fertile half-moon in the Near East. Around 11,500 years ago rainfall increased in this region due to climatic changes, especially further north at the source of the Euphrates and Tigris rivers, on the rising mountain slopes of today’s southern Turkey. Barren steppes were transformed into f lourishing landscapes. This region, extending in a sickle-shape from the Mediterranean to the Persian Gulf, was more densely populated than central Europe during the last ice age. At this point in time people still lived the life of wandering foragers, roaming a habitat of several hundred square kilometers. The sudden increase in the diversity of resources was used by the people to bring about a complete change in system, that is, the emergence of a more stationary life. This resulted in a population explosion as the hunter-gatherers, with an average of a maximum of four to five children, had a lower birth rate than the first farmers. The more stable climate acted like a start signal for the remarkable venture that humans embarked on in this region around 11,000 years ago. They recognized, despite all the everyday hardships— the work of tending fields and building houses was no easy task, and a few things such as clay bricks still had to be invented — that the new thinking lent them stability, which they would urgently need in the face of new crises, including those of a climactic character. Mankind learnt to provide for the future. It is precisely in this milieu, during the transition to a permanently sedentary life, that the first purpose-built seating furniture appears: stone benches. They were arranged in a circle against the walls surrounding the center of the oldest temple in human history, the spectacular circular structures of Göbekli Tepe, with their massive pillars. The complex is not only larger than Stonehenge, it is also 7,000 years older. “It is not clear whether the people sat on the stone benches or whether they just placed things on them,” states the German archaeologist Klaus Schmidt, the excavator of the cult site close to the modern Anatolian city of Şanlıurfa. However, here too the possible social, ritual dimension of seating furniture makes an early appearance. Whoever sat on one of these stone benches in the context of a ceremony in this 11,500-year-old temple, or at least was permitted to take part in the ritual, had a place in society, a seat in the community. Just as owning one’s own house became an outward sign of social status, here too seating furniture defines social rank. This statement is true to this day: whoever is permitted to sit at a table is part of a community. Anyone without a seat is excluded. In this transitional period sitting meant a great deal: it showed that one intended

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to stay, to adapt to the environment, to use it, and defend it against enemies. Mankind sits down and concentrates on this new life in one location. Here sitting as the highest form of concentrated work, where the individual, securely supported and steadily held in position by the chair, can concentrate on his work, is symbolically anticipated. He can carry out manual work, peacefully engage in intellectual activity, or communicate with other people. It appears as if different elements of sitting slowly came together: its practical importance, its social status, its role as cultic symbol and physical support. Chairs appeared precisely at the point in time when societies became more hierarchical and the division of labor began. Houses and furniture also served to display these hierarchical processes. They represented power and influence. At the end of the 10th century BC the evidence accumulates. People began to lead sedentary lifestyles, above all in southeast Anatolia and the Near East, and experimented a great deal. The former hunter-gatherers domesticated wild animals such as sheep or cows and cultivated wild varieties of grain such as emmer or einkorn, as still grow on the slopes of the low volcano Karacadağ. In the round huts which they built there were benches from stone and compacted clay. They were in all likelihood designed as seating, but the residents probably also placed baskets of provisions or cooking utensils on them. “Such benches and platforms also appear repeatedly in the Near East and Anatolia in the following millennia,” states Heiner Schwarzberg. It is always particular milieus that are conducive to the development of important innovations. Thanks to its play instinct mankind has repeatedly experimented with things and only later noticed whether the idea has proved successful and resulted in something of permanent practical use. This generally goes hand in hand with a better adaptation to our environment; it is a principle of evolution. The chair is such an innovation, one which additionally brings structure to society. Benches were transformed into chairs, communal seating into individual seats. “It can be assumed that seating developed at different locations independent of each other,” states Schwarzberg. “However, during the course of the transition to a sedentary lifestyle a unification of these developments took place.” It is not just a brilliant invention, but something that was, so to speak, in the air. It is also clear that the first chairs represented something special, after all it required some effort to produce them. One had to work the stone or carve a chair with three or four legs from a log. The first materials used for seating furniture — stone, later wood and metal elements —  were rare commodities. One also had to be able to afford furniture. Just as the man who builds a large house raises his social standing due to the fact that he is able to house and feed more offspring. The oldest extant chairs originate from the second half of the 6th century BC. In the small settlement of Aşağı Pınar near Kırklareli in today’s Turkey, archaeologists have found the decorated backrest of a chair. The idea subsequently spread throughout Southeast Europe and the first tables also appeared. The new living forms were also given artistic expression. Parallel to the furniture, one frequently finds small, artistically modeled figures seated on richly decorated footstools. The human


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figure seated on a chair is an important cultural theme. These figures were often described as goddesses and appear to be a continuation of the ancient tradition of figurines from the Stone Age. “We know of the existence of around a total of 50,000 such figurines from Southeast Europe,” says Svend Hansen, the Director of the Eurasian Department of the German Archaeological Institute in Berlin. “They have a highly stylized character, they are not portraits.” Many of them are seated, and virtually all of the figures appear to be drawn from a domestic context. It is interesting that the Neolithic forms are very similar to those of today. In principle chairs have not changed over the course of millennia. It is possible that it’s simply the perfect form, analogous to the mathematical solution to a complex equation. It is not three or five or more legs which are required to achieve perfect stability and a beautiful form, but just four legs. More legs would just be more complicated to make, less stable, or even unstable. Maybe the four legs —  a s in the case of so much with early man — were drawn from nature with the legs of animals as the model. Egyptian chairs, including the magnificent throne from the grave of Pharaoh Tutankhamun, frequently have animal paws. Around 6,500 years ago a remarkable variant of seating furniture, reminiscent of early dolls’ houses, appeared. Small houses in mini format, scenic depictions of interiors found in various locations in Hungary, Rumania, Bulgaria, and the Ukraine. “Models of houses with their inventory appear to have played a special role in Neolithic cults and rites,” states the prehistorian Heiner Schwarzberg. Small, rectangular vessels for offerings with three or four feet are associated with this miniature furniture. It appears as if interior furnishings played a greater role with increasing prosperity. People begin to “own” things. As if the objects, especially seating furniture, were representative of social status. Chairs could have continued to develop in connection with feasts, a special form of ritual generating a sense of community. More and more examples of actual wooden furniture or its metal fittings have been preserved from later epochs, frequently from royal sites such as the Royal Cemetery of Ur from the first half of the 3rd century BC, or the aforementioned grave of Tutankhamun from around 1,323 BC. In addition to beds, the burial chamber in the Valley of the Kings also contained 31 seats, including four magnificent thrones, four chairs, eleven stools, and twelve footstools. It is a magnificent display of the ancient art of chair making. The most magnificent of the chairs is the 1.04-meter-high gold throne with its lion’s feet; there is no chair in ancient Egypt with a higher seat (51.7 cm above the ground). Both the lion’s feet and the elaborate armrests are insignia of the ruler. This simultaneously represents the highest stage in the development of the chair. An individual who is positioned above other people, sitting with a straight back and with a proud pose, appears dominant. The throne amplifies the ruler’s body language. “In the texts of Old Testament sitting is always a display of status,” states the Old Testament scholar Friedhelm Hartenstein. “In Hebrew kissē means both throne and chair. In the majority of the ancient Hebraic contexts it refers to a throne on which a human or divine figure rules.” The social order is manifested in

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the throne. In psalms 89 and 97 of the Old Testament it states that the throne is supported by law and justice. Thus he who sits on it is given prominence, while the inferiors stand. “That is a typical constellation in the Old Testament,” says Hartenstein. This positive connotation of sitting endured for a long time: in fact, through to the modern age when the negative sides of this cultural technique first surfaced. Sitting now becomes associated with a restriction of freedom. The prisoner “sits” in jail, at school pupils must “sit still.” Accordingly, in recent times a rethink appears to be underway. Standing tables and desks which can be raised are becoming increasingly popular. This trend is accompanied by research which concludes that sitting for long periods is extremely unhealthy. Thus the classic ex cathedra teaching is on the decline in schools, with pupils often working together in groups and with the opportunity to stand up from time to time. Above all it is a question of posture: when seated we are too static, our musculature is hardly utilized, we easily become tense, the body’s metabolism slows down. In short: sitting for long periods is a strain. Our spine is still primarily designed for walking upright. The consequences are the classic diseases of civilization such as diabetes, obesity, and heart and circulatory illnesses. Does this mean we have to say goodbye once again to homo sedens, or do we simply need new designs?

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Sitt ing for long periods is a st ra in. O u r spi ne is st i l l pr i ma r i ly desig ned for wa lk i ng upr ig ht . The conseq uences a re t he cla ssic d isea ses of civ i l i zat ion such a s diabetes, obesity, and heart and circulatory i l l nesses. Does t h is mea n we have ​​t o say good bye once a ga i n to homo sedens, or do we si mply need new desig ns?


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Ein Gespräch über Glücksmomente, Erfolg und Perfektion, Radfahren in Mailand und das älteste Möbelstück der Menschheit.

Ich möchte mit Ihnen über das Sitzen sprechen. Wir sitzen ja heute mehr als wir stehen oder liegen. Das war lange Zeit in der Menschheitsgeschichte anders. Menschen sitzen vermutlich erst seit dem Jungpaläolithikum erhöht. Sie schreiben in Ihrem Text, dass die ältesten Artefakte der Menschheit, die vor 43000 Jahren in Höhlen in stundenlanger Arbeit entstanden, nicht im Liegen oder Stehen geschnitzt werden konnten. Ich finde es sehr spannend, dass sich das Sitzen über eine hochkonzentrierte Tätigkeit entwickelt hat und nicht, weil man sich ausruhen wollte. Ist es für Sie interessant, an einem uralten Objekt zu arbeiten? Ja, das mag ich. Der Stuhl ist einerseits alt, aber er entwickelt sich immer weiter. Ich gehe beim Entwurf eines Stuhls sicher nicht bis an seinen Ursprung zurück. Aber mir ist die Evolutionsgeschichte des Stuhls sehr bewusst. Es gibt diesen Archetyp von Stuhl, einen Sitz mit Rückenlehne. Ich knüpfe also an etwas an, das schon existiert, über das andere auch schon nachgedacht haben. Mit jedem neuen Entwurf führen wir Designer diese Evolution weiter. Verblüfft es Sie, dass dieses einfache Konstrukt aus vier Beinen seit Jahrtausenden existiert? Das ist ein ziemlich geniales Prinzip. Diese Form ist so existenziell, aufs Wesentliche reduziert. Die Kräfte, die auftreten, überhaupt alles, was der Stuhl aushalten muss: Im vierbeinigen Stuhl findet das seine perfekte Form. Kon st a nt i n Grcic

Diese reduzierte Form taucht schon sehr früh auf in der Menschheitsgeschichte. Wir kreisen immer um diese Grundidee, wie ein Modeschöpfer, der immer wieder eine Jacke mit zwei Armen macht. Das ist absolut faszinierend. Schon die alten ägyptischen Stühle hatten die exakt gleiche Architektur. Die viereckige Form funktioniert auch mit unserer Umgebung und unseren Gebäuden sehr gut. Aus der Gesellschaft kommen neue Anregungen, wir haben andere Ansprüche, andere Gewohnheiten und brauchen dafür andere Stühle. Mich interessiert nicht, den Stuhl neu zu erfinden, ich will aber aus den vorgefassten Denkmustern ausbrechen und ihn ständig weiterentwickeln. In den Anfängen des Sitzens ging es darum, den Sitzenden hervorzuheben. Auch heute gibt es noch Situationen, in denen das Sitzen auf einem Stuhl ein Privileg ist. Außerdem ist nicht egal, wer am Kopfende eines Tisches sitzt. Wer bekommt den Stuhl mit Armlehne, Polster oder nicht Polster, Kunststoff oder Holz? Das alles macht einen Unterschied. Der Stuhl definiert also die Person, die darauf sitzt. Ja, total. Ganz stark ist das in der Bürowelt ausgeprägt. Das sind meist hierarchisch strukturierte Zonen. Da gibt es den Executive Chair, den einfachen Mitarbeiterstuhl und den für die Besucher. Jedem Menschen wird über den Stuhl eine Rolle zugewiesen. Der Besucher beispielsweise bleibt nur kurz, er ist der Gast. Wir müssen solche Abstufungen in die Stühle einbauen. Chef- und Besucherstuhl bilden eine Einheit, das ist wie Vater und Sohn.


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Kon s tan t in Grci c In du s t r i a l Des i g n (KGID)

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Interessiert Sie dabei vor allem das psychologische Moment? Es geht mir um die Situation, die Umgebung und mein Gegenüber – und den physischen Komfort. Das bedeutet auch, dass ich mich in einem Stuhl sicher fühle. Ein hinten geschlossener Stuhl gibt mir Sicherheit, ich fühle mich weniger beobachtet und kann mich entspannen. Sie sehen Menschen immer in einer Einheit mit dem Stuhl? Stühle können Eigenschaften an Menschen betonen. Es gibt Stühle, die man als schön empfindet und die einen dadurch selbst schöner machen. Unser Design wird Teil einer Person, wie ein Kleidungsstück. Das ist das Faszinierende. Selbst ein Stuhl in einem Restaurant oder beim Arzt im Wartebereich ist wichtig. In solchen Momenten will man sich ganz auf die Situation einlassen können. Der Stuhl, den ich im Café richtig fände, ist ein anderer als der, auf dem ich sitze, um auf die Sprechstunde beim Arzt zu warten. Braucht es wirklich für verschiedene Situationen im Leben jeweils spezielle Stühle? Ich denke schon. Jeder Stuhl hat mit einer bestimmten Situation zu tun. Deswegen entwerfen wir immer wieder neue Stühle. Es gibt unendliche viele Situationen, wir selbst verändern uns ständig. Ein Beispiel: Wir können heute mit dem Laptop auf den Knien arbeiten. Also muss sich gleichzeitig unsere Idee eines Arbeitsstuhls ändern. Auch unsere Vorstellungen von Schönheit verändern sich. Viele Menschen wollen einfach bequem sitzen. Sitzen bedeutet in vielen Situationen: Man ist in Bewegung. Mich interessiert, wie lange man wo in welcher Haltung sitzt. Da geht es um Beweglichkeit und innere Haltung. Dafür möchte ich Formen finden. Es geht nicht immer nur um eine komfortable Rückenlehne. Auch auf einem einfachen Küchenstuhl mit simpler Lehne kann man wahnsinnig gut sitzen. Ich habe mal nachgezählt: Ich besitze 17 Stühle, dazu kommen vier Hocker, drei Balkonstühle und zwei alte Kinosessel im Keller. (lacht) Viele Stühle hat man ja auch gar nicht, um darauf zu sitzen. Manche sind nur dafür da, um Kleider abends abzulegen oder Bücher darauf zu stapeln. Manche sind als Teil eines Raums gedacht, die nur in Zuordnung zu anderen Objekten funktionieren. Ein Stuhl ist ein verblüffendes Möbelstück, er hat einen Charakter. Vielleicht hat das damit zu tun, dass er wie ein Tier vier Beine hat. Ein Stuhl hat ein Gesicht, ein Tisch nicht. Ein Tisch ist eher ein architektonisches Ding, ein Stuhl ist eher wie ein Mitbewohner. Hängt das auch mit seiner Form zusammen? Es ist jedes Mal eine wahnsinnige Herausforderung, ein Objekt zu entwickeln, mit dem man so viel Körperkontakt hat. Es gibt nicht viele Dinge, die einem so nah kommen. Ein Löffel vielleicht noch oder eine Zahnbürste. Sonst hat man mit Dingen viel weniger Körperkontakt. Aber ein Stuhl wird ein Teil von mir. Das macht es auch in der Versuchsanordnung spannend. Wie weit

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kann ich mit meinem Entwurf gehen? Ein Stuhl wie mein Gitterstuhl, der Chair One, war der Versuch, die Kontaktzonen zu reduzieren und das Material zu minimieren. Für mich war das ein Stuhl für draußen, der Witterung ausgesetzt. Der Chair One sieht auf den ersten Blick unbequem aus. Das kommt dem Stuhl sogar zugute: Er ist bequemer, als man denkt. Das führt zu einer meist positiven Überraschung. Der Erfolg hängt möglicherweise mit dieser Überraschung zusammen. Hat Sie Ihr eigener Stuhl überrascht? Ja, weil ich nicht dachte, dass er auch in Innenräumen eingesetzt würde. Ich weiß nicht, was ich daraus schließen soll. Ich bin sogar ein bisschen enttäuscht, weil ich so sicher war, wie er funktioniert. Obwohl der Chair One einer Ihrer größten Erfolge ist, sind Sie enttäuscht. Ich bin immer noch davon überzeugt, dass er nach draußen gehört, in einer härtere Umgebung, und dass man auf ihm nur immer kurz Platz nimmt. Ich leide, wenn mir Leute zum Beispiel ein Foto des Stuhls in einem Restaurant zuschicken. Dafür war der Stuhl ja nicht wirklich gedacht. Leute senden Ihnen Bilder Ihrer Stühle zu? Mich überrascht das immer wieder. Manchmal sind auch schöne Sachen dabei. Mir hat jemand vor Jahren ein Foto des Stuhls aus New York geschickt. Es gibt einen seltsamen Möbelladen mit Leihmöbeln auf der Bowery in East New York. Der Besitzer hatte den Chair One mit Betonsockel mit einer dicken Kette außen an den Laden gekettet, er stand direkt auf der Straße. Auf den Stuhl hatte sich ein Typ gesetzt, ein echter New Yorker Dude, um ein paar Sonnenstrahlen zu genießen. Das fand ich großartig. Ein Glücksmoment. Ja, das war die Erfüllung meiner Träume. Wenn Sie im Zug säßen und gegenüber würde jemand in Ihrem Buch oder Ihren Artikel in einer Zeitung lesen, das würde Sie doch auch glücklich machen, oder? Ich habe das einmal erlebt, das war tatsächlich sehr besonders, zumal die Person den langen Artikel bis zum Ende gelesen hat. Das ist doch toll. Solche Momente gibt es bisweilen. In der Regel sind Möbel einfach selbstverständlich für Menschen. Niemand denkt darüber nach, wir nutzen sie, ohne zu überlegen, wie sie gemacht wurden. Ist es nicht auch toll, wenn Menschen Ihre Objekte ganz selbstverständlich nehmen? Ja, ich finde es wichtig, dass niemand spürt, wie viele Gedanken wir uns gemacht haben, wie oft wir die Stühle getestet haben, ob sie auch wirklich jegliche Belastung aushalten. Ich finde es sehr hilfreich, dass das, was wir als Designer tun, am Ende zu etwas Alltäglichem wird. Im Designer-Kreis kann man über kleine, feine Sachen diskutieren, das liebe ich auch. Aber es ist gut und

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» St ü h le kön nen Eigenscha f ten a n Menschen betonen. Es g i bt St ü h le, d ie ma n a ls schön empf i ndet u nd d ie ei nen dadu rch sel bst schöner machen. Unser Desig n w i rd Tei l ei ner Per son, w ie ei n K leidu ng sst ück . Da s ist da s Fa szi n ierende. « richtig, dass unsere Dinge im Alltag ganz selbstverständlich werden und manchmal eben auch ganz anders benutzt werden, als wir uns das dachten. Ein guter Stuhl würde das immer aushalten. Jetzt haben Sie erstmals einen Schulstuhl entworfen, den Pro. Bei unseren Recherchen war ich zum ersten Mal seit gut zwanzig Jahren wieder in einer Schule. Wir waren an verschiedenen Schulen vor allem im Münchner Raum. Wir haben uns mit den Menschen dort getroffen, mit Lehrern, Hausmeistern, Verwaltungsleuten, die Schulmöbel einkaufen. Wir haben die Didacta besucht, eine sogenannte Schulmittelmesse. Da kommt alles zusammen, was mit dem Bereich Bildung zu tun hat: Schulbuchverlage, Möbelhersteller, Reiseunternehmer, die Bildungsreisen machen, Firmen, die Reagenzgläser für den Chemieunterricht herstellen, da gibt es Stände für Sportgeräte, Schulranzen, Stifte. Eine fremde Welt für Sie. Fremd, aber absolut faszinierend. Ich hatte so lange Zeit nichts mehr mit Schule zu tun gehabt. Ich habe keine Kinder und daher seit 20 Jahren keine Schule mehr von innen gesehen. Kamen da Erinnerungen hoch? Ich mochte Schule nie. Und dieser Mief von früher, den gibt es immer noch. Aber es ist nicht nur der Geruch, ich mochte einfach nie das Institutionelle an Schule. Aber natürlich gab es auch gute Dinge, an die ich mich gerne erinnere.

Hat sich viel verändert seit damals? Nein, das hat mich besonders schockiert. Zwanzig Jahre sind ja eine lange Zeit. In dieser Zeit ist so viel in meinem Leben passiert, aber die Schule ist mehr oder weniger so geblieben, wie sie damals auch schon war. Aber ist das wirklich so? Unsere Recherche hat gezeigt, dass sich in unserer Auffassung von Schule doch einiges verändert hat. Es gibt viele progressive Erkenntnisse aus der Wissenschaft, Pädagogen haben konstruktive Ideen, wie man Unterricht auch anders gestalten kann. Aber es dauert eben, bis das umgesetzt wird. Die Studien dazu sind interessanterweise schon 15 Jahre alt. In gewissem Sinn ist die Schule eine extreme Umgebung. Schüler sitzen im Schnitt sechs Stunden pro Tag – und das, wenn sie Abitur machen, 13 Jahre lang. Gerhard Polt hat für so eine Situation eher die Hängematte als Lösungsmodell vorgeschlagen. Es ist großartig, dass er auf die Frage nach einem Schulmöbel so antwortet. Das war wie ein Geistesblitz. Oder für ihn war das schon immer klar, dass das die ideale Form wäre. Ich selbst mag Hängematten nicht wirklich, ich fühle mich darin wie ein Fisch im Netz. Obwohl das ein schönes Bild hervorruft. Man hängt zwischen zwei Bäumen, es ist Sommer, man döst und schläft. Das Schaukeln und Hängen hat etwas Tolles. Aber die Hängematte selbst finde ich seltsam.


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Ha ben Sie früher auch immer Sachen in Ihren Stuhl gekerbt? Ja, natürlich. In den ersten Schuljahren saßen wir an Holzbänken, die haben wir verschönert und uns so zu eigen gemacht. Danach waren die Möbel kühl und hässlich und immer robuster, sodass man nichts mehr reinschnitzen konnte. Plötzlich ging es nicht mehr um Verschönerung, sondern um Aggression. Wir wollten die Dinge damals kaputt machen, um zu zeigen: so nicht!

Der Stuhl scheint auch außerhalb der Schule zu funktionieren. Damit hätten wir gar nicht gerechnet. Es schmeichelt mir sehr, dass der Schulstuhl auch international jetzt schon so viel Interesse findet. Wir haben dieses seltsame deutsche Schulghetto verlassen. Es bahnen sich erste Projekte in Südkorea, Japan, Hongkong und Brasilien an. Der Stuhl geht um die Welt. Damit hätten wir nie gerechnet.

Und heute? Dieser Zustand ist heute noch in Schulen vorhanden. Da werden gerade die Heranwachsenden, die ihr Ich entdecken, also der lässige Typ, das schöne Mädchen, dazu genötigt, sich auf einen Schulstuhl zu setzen. Das ist wie eine Degradierung. Der Stuhl sagt: Du bist nicht das Next Topmodel, sondern eine kleine Schülerin. Unser Pro sollte nicht sofort „Schule“ ausdrücken, sondern auch ein bisschen cool sein.

Vielleicht hilft da Ihre Berühmtheit. Im Schulstuhlsektor kennt mich keiner.

Wie macht man das? Die Farben spielen eine Rolle, das Material, die Ausstrahlung. Es ist ein Objekt, das aus unserer Zeit kommt. Es könnte längst alles anders aussehen in den Schulen. Warum passiert dort so wenig? Das hat verblüffende Gründe. Der Schulmöbelmarkt ist meist sehr national und praktisch ohne Wettbewerb. Da wollte nie jemand besser sein als der andere. Die wenigen Hersteller hatten den Markt unter sich ausgemacht, und wollten ihre Stühle ewig so weiterbauen. Als wir Pro in Köln auf der Möbelmesse vorstellten, waren alle extrem verblüfft. Pro hat eine sehr schmale Rückenlehne, was sagen da die Ergonomie-Experten? Die Diskussion zur Ergonomie ist sehr schwierig. Das ist ein seltsamer Begriff, mit dem wir als Designer immer konfrontiert sind. Mich stört daran, dass es scheinbar dafür eine Formel zu geben scheint. Ich werde oft gefragt, ob ich mit Orthopäden zusammenarbeite. Die Vorstellung ist immer, dass ein bequemer Stuhl die Abformung des Körpers sein müsse, wie das Fußbett eines Birkenstocksandale. Doch letztlich stimmt das Denken nicht. Jeder Mensch ist in seiner Physiognomie anders. Und unser menschlicher Körper ist extrem anpassungsfähig. Ein einfacher Küchenstuhl bietet oftmals völlig ausreichenden Sitzkomfort. Sie hätten aber beinahe das offizielle Prüfsiegel nicht bekommen. Ja, die Breite der Lehne ist sehr schmal, aber wir konnten die Prüfer davon überzeugen, dass sie ausreicht. In der Schule sitzt man ja meistens nach vorne aufgestützt, man braucht die Rückenlehne also eher selten. Und wenn man sich bewusst nach hinten lehnt, findet man auch bei der schmalen Lehne die richtige Stellung. Viel wichtiger ist die Bewegungsfreiheit. Viele wissenschaftliche Studien sagen eindeutig, dass sich Kinder bewegen sollen, das fördert die Konzentration. Hier gibt die runde Sitzschale viele Freiheiten.

Wie entwerfen Sie einen Stuhl? Das Entscheidende nach all der Recherche ist eine Phase der Ordnung, die bei mir nur im Kopf stattfindet, es ist eine rein intellektuelle Leistung. Wie bei einem Rubik’s Cube, wo ich solange alles sortiere, bis es für mich passt. Beim Pro war nach dem langen Recherche-Prozess sofort eine grobe Vorstellung der Form da. Für mich ist die Phase des Mind-Rubik’s-Cube der Start, danach startet ein Prozess, bei dem ich ungefähr weiß, wo es hingeht. Danach testen Sie sehr viel mit Modellen. Der britische De­ signer Jasper Morrison hat gesagt, Sie seien der „experimentellste Designer“. Das ist sehr nett gesagt, obwohl der Superlativ natürlich relativ ist. Für Jasper Morrison geht es darum, dass Dinge so sind, wie sie sind. Er überarbeitet existierende Dinge nur ganz fein. Für ihn bin ich ein Monster, das alles verändern will, das die Dinge auf den Kopf stellt. Bei Jasper Morrison dauert der intellektuelle Prozess länger und geht wahrscheinlich tiefer als bei mir. Den Entwurf, den er einmal aufzeichnet, ändert er nicht mehr. Sie sind da anders. Jedes Studio hat da seine eigene Methode. Wir bauen viele Modelle im Originalmaßstab, arbeiten gleichzeitig am Computer, beides ergänzt sich. Handzeichnungen spielen auch eine gewisse Rolle, allerdings sind die Zeichnungen eher kryptisch, einfach. Sie sind eine Form des Denkens zwischen mir und meinen Mitarbeitern. Ich verwende solche Skizzen nie für Präsentationszwecke. Ich misstraue der schönen Zeichnung. Warum? Sie ist problematisch, weil ich mich zu sehr in sie verliebe. Ich würde dann anfangen, etwas, das in der Zeichnung entstanden ist, zu sehr zu schützen. Ich will aber in der Reflexion, der Beurteilung objektiv bleiben. Sie haben auch gesagt, dass nach diesem kreativen Prozess der Modellbau sehr wichtig ist, und Sie bei Ihren räumlichen Skizzen handwerklich sehr exakt sein müssen. Im Lauf des Prozesses werden wir immer exakter. Ich reduziere die Möglichkeiten, die anfangs in einem Objekt angelegt sind, bis ich am Ende die Form habe. Am Anfang sind die räumlichen Skizzen sehr grob, trotzdem sehe ich darin schon den späteren Stuhl. Sie sind für mich nicht mehr abstrakt, ich kann um sie

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herumlaufen, kann sie anfassen. Solche Funktionen kann selbst die perfekte 3-D-Darstellung nicht erfüllen. Das Anfassen eines Objekts ist auch eine Form des Begreifens, Sehens, Erfahrens. Arbeiten Sie dann wie ein Bildhauer, der Dinge herausarbeitet? Ja, so könnte man das sagen. Ich habe das Gefühl, dass mein Prozess nicht das Schaffen ist, sondern die Reduktion. Es geht darum, am Ende Dinge klarer vor sich zu haben. Am Schluss weiß ich alles über ein Objekt, jedes Detail bis hin zu ganz abstrakten Zahlen, wie viele Millimeter dick die Sitzfläche ist. Sind Sie ein Perfektionist? Ja, aber ich glaube nicht an die vollkommene Perfektion. Ich muss die Dinge loslassen, ehe sie perfekt sind. Die Perfektion würde die Dinge kaputt machen. Ich muss den richtigen Ausstieg finden. Ich könnte Ihnen bei all meinen Objekten Fehler zeigen. Sind Fehler nicht schlimm für Sie? Nein, das ist für mich lebensrettend. Es besagt ja auch, dass es immer weitergeht. Das Ende bleibt immer offen. Das Unfertige beschäftigt einen weiter, das greift man wieder auf. Es führt aber auch nicht zur inneren Gelöstheit. Wären Sie gern entspannter? Ich werde mit zunehmendem Alter langsam entspannter.

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Sie gelten als der berühmteste Designer der Welt. Wie ist es für Sie, so berühmt zu sein? Inzwischen habe ich ein gutes Team, das viel von mir fernhält. Ich will mich aber auch nicht total abschotten, man muss eine Form finden, damit souverän umzugehen. Es ist ja so, dass sich meine Berühmtheit auf die Designszene beschränkt. Auf der Möbelmesse in Mailand ist es manchmal unerträglich. Jeder kennt mein Gesicht. Ich kann nicht mehr allein über die Messe laufen, was ich früher geliebt habe. Sofort kommen Firmenvertreter und wollen über Projekte sprechen. Aber ich will nicht. Ich will auch nicht reden, nur schauen. Stimmt es, dass Sie während der Möbelmesse nachts mit Ihrem Fahrrad in Mailand herumfahren? Ja, das stimmt, es macht Spaß. Das ist so toll. Ich kann nicht immer mit Menschen zusammen sein. Das Fahrradfahren nachts ist der Ausgleich dafür, meine kleine Freiheit. Ich brauche es auch, Zeit alleine zu verbringen. In dieser Woche in Mailand wird es mir manchmal zu viel, immer unter Menschen zu sein, eingeplant, mit randvollem Terminplan. Das Radlfahren nachts in Mailand gibt mir da ein Gefühl von Freiheit.


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» Au s der G esel lscha f t kom men neue A n reg u ngen, w i r ha ben a ndere A nspr üche, a ndere G ewoh n heiten u nd brauchen da f ü r a ndere St ü h le. M ich i nteressier t n icht , den St u h l neu z u er f i nden, ich w i l l a ber aus den vorgefa ssten Den k mu ster n au sbrechen u nd i h n st ä nd ig weiterent w ickel n. «

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A conversation about moments of happi­n ess, success, and perfection, cycling in Milan, and mankind’s oldest piece of furniture

I would like to talk to you about sitting. Today we sit more than we stand or lie. For a long period in human history the situation was different. Man probably first began to sit in a raised position in the Upper Paleolithic period. In your text you write that the oldest human artifact, created over 43,000 years ago in caves through hours of work, could not have been carved lying down or standing up. I find it very exciting that sitting developed as a result of an activity requiring a great deal of concentration, and not because one wanted to rest. Is it interesting for you, working on an ancient object? Yes, I like it. On the one hand the chair is old, however: it con­ tinues to develop. When designing a chair I certainly don’t go right back to its origins. However, I am very aware of the chair’s evolutionary history. There is this archetypal chair, a seat with a backrest. Thus I am building on something that already exists, which other people have already thought about. With every new design, we designers extend this evolutionary process. Does it surprise you that this simple structure with four legs has existed for thousands of years? It is a quite brilliant principle. This form is so existential, reduced to the essentials. The forces that it is subjected to, everything that the chair must withstand: It finds its perfect form in the four-­ legged chair. This reduced form appears very early in human history. We continue to circle around this basic idea, like a fashion designer who always makes a jacket with two arms. It is absolutely ­f ascinating. Even ancient Egyptian chairs had exactly the same Kon s tan t in Grci c In du s t r i a l Des i g n (KGID)

architecture. The rectangular form also functions very well with our surroundings and our buildings. New inspiration comes from society: we have other requirements, other habits, and thus we need different chairs. I am not interested in re-inventing the chair, however: I want to break out of preconceived thought patterns and continually develop it. At the beginning of sitting it was about highlighting the person sitting. Even today there are still situations when sitting on a chair is a privilege. Furthermore, it is important who sits at the head of a table. Who receives the chair with arm rests, upholstered or not upholstered, plastic or wood? It all makes a difference. The chair defines the person who sits on it. Yes, absolutely. This is very much in evidence in the office world. These are generally hierarchically structured zones. There is the executive chair, the simple chair for the employee, and that for the visitor. Every person is assigned a role through the chair. For example, the visitor only stays a short while, he is the guest. We need to integrate such gradations into the chair. Executive and visitor chair form a unit, like father and son. Are you primarily interested in the psychological aspect of this? I am interested in the situation, the environment, and the person opposite me — and the physical comfort. This also means that I feel secure in a chair. A chair closed at the back gives me a sense of security, I feel less under observation and can relax.


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Do you always see people as forming a unity with the chair? Chairs can highlight a person’s characteristics. There are chairs which one considers beautiful and which make one more beautiful as a result. Our design becomes a part of the person, like an item of clothing. That is what is so fascinating. Even a chair in a restaurant or in a doctor’s waiting room is important. At such moments one wants to be able to completely respond to the situation. The chair which I find right in a café is different to the one I sit on while waiting for my doctor’s appointment.

I don’t know what I should make of that. I am even a little disappointed as I was so certain of how it functions.

Do we really need special chairs for each situation in life? Yes, I think so. Every chair has something to do with a specific situation. That is why we are continually designing new chairs. There is an endless variety of situations, we are continually changing ourselves. For example, today we can work with the laptop on our knees. Thus our idea of a working chair must change along with this. Our ideas of beauty also change.

People send you pictures of your chairs? This continues to surprise me. Sometimes there are nice pictures amongst them. Years ago someone sent me a picture of the chair from New York. There is a strange furniture shop with rental furniture on the Bowery in New York. The owner had chained the Chair One with a concrete pedestal and a thick chain to the outside of the shop, it stood directly on the street. A guy was sitting in the chair, a real New York dude, enjoying a little sun. I thought that was great.

Many people just want to sit comfortably. In many situations sitting means that one is in movement. I am interested in how long one sits, where, and in which position. Here it is about mobility and inner poise. I want to discover forms for this. It is not always about a comfortable backrest. One can also sit wonderfully on a simple kitchen chair with a simple backrest. I have done a count: I have 17 chairs, as well as four stools, three balcony chairs, and two old cinema seats in the basement. (Laughs) One also has a lot of chairs which one doesn’t intend to sit on. Some of them are only there to lay clothes on at night or to stack books on. Some of them are designed to be part of a room and only function in relation to other objects. A chair is an astounding piece of furniture; it has a character. Maybe this is due to the fact that it has four legs like an animal. A chair has a face, a table doesn’t. A table is more of an architectural thing; a chair is more like someone you live with. Is this also connected to its form? It is always an incredible challenge designing an object which one has so much bodily contact with. There are not many things with which one is so intimate. Maybe a spoon or a toothbrush. Apart from these, one has much less bodily contact with things. But a chair becomes a part of me. This makes it so exciting to experiment. How far can I go with my design? A chair like my lattice chair, the Chair One, was an attempt to reduce the contact zones and minimize material use. For me this was a chair for outside, exposed to the elements. At first glance Chair One looks uncomfortable. That is actually to the chair’s advantage: It is more comfortable than one thinks. This generally leads to a positive surprise. Its success is potentially linked to this surprise moment. Did your own chair surprise you? Yes, because I didn’t think it would also be used in interiors.

Even though Chair One is one of your greatest successes, you are disappointed. I am still convinced that it belongs outside, in a harsher environment, and that one only ever sits in it briefly. I suffer, for example, when people send me a picture of the chair in a restaurant. The chair wasn’t really conceived for this.

A moment of happiness. Yes, that was the fulfillment of my dreams. If you were sitting in a train and someone opposite you was reading your book or your article in a magazine, that would also make you happy, wouldn’t it? I experienced that once, that was really something special, especially as the person read the long article to the end. That is great. There are occasionally such moments. However, as a rule, people tend to take furniture for granted. No one thinks about it, we use it without considering how it was made. Isn’t that also great, when people simply take your objects for granted? Yes, it is important for me that no one senses how much thought has gone into it, how often we have tested the chair to see whether it can really withstand every stress. I find it very helpful that what we do as designers ultimately becomes an everyday object. In designer circles one can discuss small, fine things. However, it is good and correct that in everyday life our things are taken for granted and are sometimes even used in a completely different way to that which we intended. A good chair will always cope with this. Now you have designed a school chair for the first time, the Pro. During our research I was in a school again for the first time in over 20 years. We were in a variety of schools, primarily in the Munich area. We met with the people there, with teachers, caretakers, administrative people who purchase the school furniture. We visited the Didacta, a school supplies trade fair. Here everything to do with the educational sector is gathered together: publishers of school books, furniture manufacturers, travel agencies who organize educational trips, companies which manufacture test tubes for chemistry lessons; there are stands for sports equipment, school satchels, pens.

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» Cha i r s ca n h ig h l ig ht a per son’s cha racter ist ics. There a re cha i r s wh ich one con sider s beaut i f u l a nd wh ich ma ke one more beaut i f u l a s a resu lt . O u r desig n becomes a pa r t of t he per son, l ike a n item of clot h i ng. That is what is so fa sci nat i ng. «

A foreign world for you. Foreign, but absolutely fascinating. It had been a long time since I’d had anything to do with school. I don’t have any children so it was 20 years since I’d last seen the inside of a school. Did it bring back memories? I never liked school. And this fug from back then, it’s still there. But it’s not just the smell, I never liked the institutional aspect of school. But naturally there are also good things which I remember fondly. Has a lot changed since then? No, I found that especially shocking. Twenty years is a long time. So much has happened in my life during this time, but the school has more or less stayed the same, the way it used to be. Is this really the case? Our research has shown that a number of things have changed in our conception of school. There are many progressive scientific findings, pedagogues have constructive ideas as to how lessons can be organized differently. However, it takes time before this is implemented. Interestingly, the studies on this are already 15 years old.

In one sense school is an extreme environment. Pupils sit for an average of six hours per day — and, when they do the Abitur (German secondary school qualification for uni­ versity admission), they do this for 13 years. Gerhard Polt suggest­­­ed the hammock as a solution for such situations. It is great that he provides such an answer to the question of school furniture. That was a flash of inspiration. Or maybe it had always been clear to him that that was the ideal form. Personally I don’t particularly like hammocks, they make me feel like a fish caught in a net. Although this conjures up a pretty picture. One hangs between two trees, it is summer, one dozes and sleeps. There is something great about swinging and hanging. However, I find the hammock strange. Did you also used to carve things into your chair? Yes, naturally. During our first years at school we sat on wooden benches, we embellished them, thus making them our own. After that the furniture was cool and ugly, and increasingly robust so that one couldn’t carve anything into it. Suddenly it was no longer about embellishment but aggression. Back then we wanted to break the things, in order to demonstrate: not like this!


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And today? This situation still exists in schools today. Here adolescents are in the process of discovering themselves, the laid back guy, the pretty girl, are forced to sit on school chairs. That is like a form of demotion. The chair says: You are not the next top model, but a little student. Our Pro should not immediately communicate “school,” but also be a little cool. How does one do that? The colors play a role, the material, the charisma. It is a contemporary object. Everything could have looked different in the schools by now. Why is so little happening there? The reasons for this are surprising. The school furniture market is generally very national and practically without competition. No one ever wanted to be better than the others. The few manufacturers had divided up the market amongst themselves and wanted to keep on building their chairs the way they were for ever. When we presented Pro at the furniture trade fair in Cologne, they were all dumbfounded. The Pro has an extremely narrow backrest, what do the ergonomics experts say? The ergonomics discussion is very difficult. It is a strange term that we are always confronted with as designers. What disturbs me about it is that it appears to give the impression that there is a formula for such matters. I am often asked whether I work together with orthopedicians. There is always the idea that a comfortable chair must bear the impression of the body, like the insole of a Birkenstock sandal. However, ultimately this idea is incorrect. Every person has a different physiognomy. And our human body is extremely adaptable. A simple kitchen chair often provides ample seating comfort. However, you nearly didn’t get the official seal of approval. Yes, the backrest is very narrow, but we managed to convince the inspectors that it is sufficient. For the majority of the time in school one sits supported in a forward position, one rarely needs the backrest. And when one consciously leans back then one can also find the right position with a narrow backrest. Much more important is freedom of movement. Many scientific studies clearly state that children should move, that promotes concentration. Here the round seat shell gives plenty of freedom. The chair also appears to function outside of the school. We hadn’t anticipated this at all. We are very flattered that the school chair is now receiving so much interest internationally. We have left this strange German school ghetto. The first projects in South Korea, Japan, Hong Kong, and Brazil are now in the initial stages. The chair is going around the world. Maybe your fame is of assistance here. No one knows me in the school sector.

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How do you design a chair? The decisive factor, following all the research, is a sorting phase, which in my case takes place solely in the head, it is a purely intellectual process. Like a Rubik’s Cube, where I sort everything until it fits for me. With the Pro I had a rough idea of the form immediately following the long research process. For me the mental Rubik’s Cube phase is the start, followed by a process in which I roughly know where things are going. After this you do a lot of testing with models. The British designer Jasper Morrison said that you are the “most experimental designer.” That is nicely put, although the superlative is naturally relative. For Jasper Morrison things are how they are. He only works over exiting things very lightly. For him I am a monster that wants to change everything, that turns things on their head. With Jasper Morrison the intellectual process lasts longer and probably goes deeper than in my case. Once he has put the design to paper he doesn’t make any changes. You are different. Every studio has its own methods. We build a lot of models to scale while simultaneously working on the computer, they complement each other. Hand drawings also play a role, however the drawings tend to be cryptic, simple. They serve to exchange ideas between myself and my employees. I never use such sketches for presentation purposes. I don’t trust the beautiful drawing. Why? It is problematic because I fall in love with them too easily. I would then begin to be overly protective towards something that arose from the drawing. However, I want to remain objective in terms of my reflection, my judgment. You have also said that the creative process of model building is very important and that you have to be very precise in the crafting of your spatial sketches. We become increasingly exact during the course of the process. I reduce the possibilities that initially reside in an object until I have the form. Initially the spatial sketches are very rough, nevertheless I can still recognize the final chair in them. They are concrete for me, I can walk around them, I can touch them. Even the most perfect 3D presentation can’t fulfill these functions. Touching an object is also a form of understanding, seeing, experiencing. Do you work like a sculptor, who carves things out? Yes, you could say that. I have the feeling that my process is not one of creation but of reduction. It is about fashioning things so that they ultimately appear clearer to you. At the end I know everything about an object, every detail, through to completely abstract figures such as the thickness of the seat in millimeters. You are a perfectionist. Yes, but I don’t believe in total perfection. I have to let the things go, before they are perfect. Perfection would destroy the objects.

Pa r r i sh , Cha i r One, a nd PRO

I have to find the right exit point. I could show you faults with all my objects. Don’t faults represent something bad for you? No, that is life saving for me. It also means that things keep on going. The end is always open. The unfinished continues to occupy one, you take it up again. But it doesn’t give one inner peace. Would you like to be more relaxed? With advancing age I am slowly becoming more relaxed. You are considered the world’s most famous designer. How is it for you, being so famous? I now have a good team that shields me from a lot of things. However, I don’t want to completely insulate myself, one has to find a way of dealing with it confidently. The fact is my fame is restricted to the design circle. At the furniture trade fair in Milan it is sometimes unbearable. Everyone knows my face. I can no longer walk through the trade fair on my own, which I used to love doing. I am immediately confronted by company representatives who want to talk about projects. But I don’t want to. I don’t want to talk, just look.

Is it true that during the furniture trade fair you ride around Milan at night on your bicycle? Yes, it’s true, it’s fun. It is really great. I can’t always be around people. Riding a bicycle at night provides a balance, it is my little freedom. I also need to spend time alone. During this week in Milan it is sometimes too much being around people all the time, everything planned, with a full schedule. Cycling at night in Milan gives me a feeling of freedom.


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Âť New i nspi rat ion comes f rom societ y ; we have ot her req u i rement s, ot her ha bit s, a nd t hu s we need d i f ferent cha i r s. I a m not i nterested i n re -i nvent i ng t he cha i r, however: I wa nt to brea k out of preconceived t hou g ht pat ter ns a nd cont i nua l ly develop it . ÂŤ

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Flรถtot to meet s Aut hent ics.

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T I P, T I P, T I P (von /b y Aut hent ics).

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» ›Ei n Leben oh ne Hu nd‹, sa g t der A lte, ›ist ei n Feh ler.‹ […] Wen n da s Leben, den k t Fröbel, oh ne Hu nd schon ei n Feh ler sein sol l, w ie v iel g rößer muss n icht der Feh ler sei n oh ne K i nder. «

Fröbels W eg Pat r ick Hof ma n n A l le Bi lder / Al l im a ges: F röbel- K i nderga r ten „Ca mpu s Ad ler shof “ Berl i n

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Der 21. April 1816 ist der erste Sonntag nach Ostern. Fröbel hat Geburtstag. 34 Jahre wird er alt. Obwohl die Glocken der Sophienkirche schon sieben Uhr geschlagen haben, liegt Fröbel noch im Bett. So etwas kommt selten vor. Nicht, dass er kränkelt. Auch will er sich heute nicht etwa ein bisschen Müßiggang erlauben. Diese Zeiten sind so lange vorbei, dass er mit dem Gedanken an ein wenig Nachlässigkeit nicht einmal mehr spielen kann. Und Luxus hat er nie gekannt. Vielmehr drückt ihn eine schwere morgendliche Ernsthaftigkeit ins Bett. Im Geist zieht sein Leben an ihm vorüber. Nichts von dem, was ich sagte, dass ich tun würde, denkt Fröbel, wurde erfüllt. Warum? So, wie sich ihm sein Leben darstellt, so, wie es auf den Punkt zuläuft, an dem er sich nunmehr befindet, muss er eine Entscheidung treffen. Vier Jahre ist er jetzt in Berlin: Friedrich Wilhelm August Fröbel, der Landbursche aus dem Thüringer Wald, der Autodidakt, Hauslehrer, Pestalozzianer, Sphäriker, Befreiungskämpfer und Kristallograf. Aus dem Eigenbrötler ist ein Spätzünder geworden. Als er sich im November 1812 an der erst zwei Jahre zuvor gegründeten Berliner Universität einschreibt, ist er mit seinen dreißig Jahren einer der ältesten Studenten. Schon einmal hat er studiert, vier Semester, um die Jahrhundertwende, in Jena. Aber damals verzettelte er sich mit seinem gerade erwachten Wissensdurst, seiner Neugier, seiner Aufregung. Dass er wie Goethe der Naturforschenden Gesellschaft zu Jena angehörte, stieg ihm zu Kopf. Die philosophischen Diskussionen über Freiheit und Selbstbestimmung, über die Französische Republik mit ihrem Ersten Konsul Bonaparte, über die Erziehung der deutschen Nation, das ganze Studentenleben, nicht zuletzt das Bier wühlten ihn auf. Er verlor die Übersicht, die Richtung und fand sich wegen seiner Schulden im Karzer wieder, aus dem ihn sein Vater erst auslöste, als er auf sein Erbteil verzichtete. Gedemütigt kam er ins Elternhaus zurück nach Oberweißbach. Der Vater sah seine alten Vorurteile ihm gegenüber ein letztes Mal bestätigt, erkrankte wenig später und starb im Jahr darauf. Kann sein Geist jetzt, denkt Fröbel, beruhigt und segnend auf mich herabsehen? Kann er jetzt schon mit dem Sohne, der ihn so sehr liebte, zufrieden sein? P rof i lsy stem i m /in th e F röbel- K i nderga r ten „Ca mpu s Ad ler shof “ B erl i n

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Wie weit war sein Weg bis hierher nach Berlin ans Mineralogische Institut des fast gleichaltrigen Professoren Weiß? Und wie schwer war sein Weg als jüngstes von sechs Kindern? Natürlich, der frühe Tod der Mutter, die er gar nicht kannte, deren Liebe er nie bewusst empfangen hatte. Friederike Sophie, die zweite Frau des Vaters, neigte sich ihm nur wenige Monate zu, bis sie eigene Kinder gebar und ihm mit dem Du jegliche Aufmerksamkeit entzog. Hatte er nicht Recht, zu verstummen, zurückzubleiben, das Interesse an jeglicher Gesellschaft zu verlieren, sein Leid in die Wiesen und Wälder zu tragen, seinen Trübsinn in der Naturbetrachtung aufzulösen? In der Einsamkeit sang er die Lieder, von denen die anderen nicht dachten, dass er sie überhaupt hörte, geschweige denn behielt. Spät erst riefen ihn die Menschen, als er mit elf zu seinem Onkel nach Stadt-Ilm kam und ein neues Leben begann, als er in der Schule das erste Mal etwas lernte. Natürlich konnte er nicht alles aufholen. Erst nach langen Überredungen ließ ihn der Vater, der strenge Pfarrer, studieren wie seine älteren Brüder. Das geht ihm durch den Kopf, hält ihn fest im Bett, obwohl der Tag längst begonnen hat und schön zu werden verspricht, so, wie die Sonne hineinschaut in seine Kammer, wie die Vögel draußen zwitschern und der Frühling sich weiter Bahn bricht. Das Wetter ist dem Plan günstig, am Nachmittag mit seinen Freunden Middendorff und Langethal und mit Henriette Klöpper einen Spaziergang zu unternehmen von der Spandauer Vorstadt zum Schloss Schönhausen. Seit Caroline von Holzhausen, seit der schmerzlichen Liebe zu seiner Frankfurter Lilie, hat ihn keine Frau mehr so stark angezogen. Henriette, die Tochter des Königlichen Kriegsrats Hoffmeister, besuchte ihn vor drei Jahren das erste Mal am Mineralogischen Institut in Begleitung von Middendorff. Wie Caroline ist auch Henriette verheiratet, jedoch unglücklich. Sie ist die schönste und klügste Frau, die er kennt. Gemeinsam mit Middendorff und Langethal hörten sie die letzte Vorlesung Fichtes, bevor der am Lazarettfieber starb. Gemeinsam hören sie jetzt Schleiermacher. Henriettes Ehe ist durch einen anhaltenden Streit, durch Vorwürfe und Unverständnis vergiftet. Die Gespräche mit ihm, hat die Patrizier­

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tochter Fröbel gestanden, geben ihr Halt und Kraft. Immer gezielter hat Fröbel in den letzten Monaten versucht, ihre bewundernswerten Geistesgaben, ihre tiefe Empfindsamkeit auf die Ideen zu lenken, die ihn begeistern und bewegen. Die Gespräche bedeuteten ihm bald mehr als die Worte. Im letzten Herbst konnten sie ihre Gefühle voreinander nicht länger verbergen, gestanden sie sich ihre Liebe. Aber wohin sollen sie jetzt damit? Endlich steht Fröbel auf. Er wäscht sich das Gesicht über der Schüssel, verrichtet seine Morgentoilette. Unten in der dunklen Küche auf dem Tisch steht ein kleiner Krug mit blühendem Scharbockskraut für ihn. Die alte Haushälterin wünscht ihm Gottes Segen in all seinem Tun und verbeugt sich sogar ein wenig. Dann setzt sie ihm wie gewöhnlich eine Schüssel Milch mit hineingeschnittenem Brot vor. Auch nach dem Frühstück ist Fröbel unruhig. Er zieht sich die Infantristenstiefel des Freikorps an. Er muss hinaus aus der Stadt, hinaus aufs Feld, um seine Gedanken zu klären. Auch wegen und für Henriette muss er eine Lebensentscheidung treffen. Er geht in den frischen Morgen der Sonne entgegen. Kahl und flach liegen die ersten Wiesen und Felder hinter der Stadtmauer. Wohin führt sein Weg? Wozu hatte er sich herausgearbeitet aus der Enge seiner Herkunft, aus der emotionalen und geistigen Vereinzelung? Zu welchem Behuf war er unabhängig geworden nach dem gescheiterten Studium in Jena mit den ersten Anstellungen als Landvermesser in Braunach und Bamberg, als Privat­ sekretär auf Gut Groß-Miltzow, als Lehrer, Hauslehrer und Erzieher bei den von Holzhausens in Frankfurt und später mit seinen drei Zöglingen bei Pestalozzi im schweizerischen Iferten. Er hatte ja nicht aus Stolz noch einmal zu studieren angefangen in Göttingen und weiter in Berlin, um allen zu beweisen, was wirklich in ihm steckte. Er selbst weiß ja noch immer nicht, wohin es ihn am stärksten zieht. Langsam geht er einen Feldweg entlang. In der Ferne weidet eine Herde Schafe. Fröbels Gedanken kreisen. Stets hat ihm die Betrachtung des Landes, die Harmonie des Belebten und Unbelebten zu sich finden lassen, hat ihm der weise Aufbau der Schöpfung Trost gespendet in den frühen


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» K i nderga r ten? Viel leicht ist da s neue Wor t doch genau so schön, w ie es k la ng u nd k l i ng t . Viel leicht muss ich es i h m nu r schen ken. So seh r möchte er i n sei ner Päda gog ik au f d ie K i nder hören u nd k a n n k au m er st au f d ie Frauen hören. «

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Tagen seiner Kindheit, seiner Jugend, Ruhe verschafft als Mann, als ihn die Schriften Arndts, Novalis’ und Schellings, als ihn die Seelenbeziehung zu Caroline aufwühlten. Jetzt sieht er auch den Schäfer und den schwarzen Hund, der die Herde zusammenhält und weiß, was jeder Pfiff, was jedes Zischen seines Herrn bedeutet. Welche Freude hatte er, Fröbel, als Junge empfunden über der weiblichen Blüte der Haselnuss, bei der Zergliederung von Bohnenkernen, welche Sehnsucht des Herzens, den Grund dieser Freude zu finden, welch innigste Freude beim Anblick geometrischer Figuren und Körper. Fröbel grüßt den auf einen langen, knorpeligen Stock gestützten Mann in dem zylinderförmigen Mantel. Der Alte zwinkert ihm zu. Fröbel bleibt vor ihm auf dem Weg stehen. Unter dem hohen, grauen Filzhut schwenkt der Alte einladend den Kopf, als wolle er den Fremden einbeziehen in seinen Horizont, als gehörte ihm ringsum die Luft. Steht hier nicht Fröbels altes Lebensideal des Landmannes, der ein Leben in der Ruhe mit sich und im Einklang mit der Natur führt? Andererseits: Welch großer äußere Zwang, welch herbe familiäre Zurückweisung hatte ihn selbst so früh in den kleinen Raum seines inneren Lebens genötigt? In welch phantastisch sprachloser Innerlichkeit hatte er sich damals eingerichtet? Wie in sich gedrängt und stille konnte er sich lange Zeit nur bilden? Natürlich spricht der Heiland von den geistig Armen, ihrer Seligkeit. Aber war es nicht ein Vergehen an der eigenen Natur, das Wachstum, das Auf­ begehren in sich einzuschließen und dadurch letztlich zu ersticken? Und wie gärte es in ihm noch immer, wie stark erregte ihn die neue Zeit, das neue Menschenbild. Müssen wir nicht zu der Sphäre streben, die sich uns jeweils am höchsten öffnet? Der Alte fragt ihn nach seinem Weg. Nachdem Fröbel nur ausweichend antwortet, aber auch nicht weitergeht, beginnt er von sich zu erzählen. Fröbel sieht in seine verschmitzt zusammengekniffenen Augen, hört jedoch kaum hin, was der Mann sagt. Denn was ist der Bereich, in dem er, Friedrich Fröbel, sein Höchstes tun kann? Sind es die Erden und Fest­gestalten, aus denen er die göttlichen Gesetze, die symbolisch Mikro- und Makro­kosmos beherrschen,

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lesen soll? Nach zwei Jahren als Assistent bei Weiß ist ihm jetzt eine eigene Professur angetragen worden. Doch gerade ist sein geliebter Bruder Christoph, der Lehrer und Pfarrer in Griesheim bei Stadt-Ilm, an Typhus gestorben. Was wird aus seinen drei Söhnen? Kann die Witwe ihre Erziehung übernehmen, so wie er und Christoph sie in ihrer intensiven Korrespondenz entwarfen? Soll er, Fröbel, eine akademische oder eine praktisch-pädagogische Laufbahn einschlagen, wie es ihn seit Jahren drängt? Könnte er wirklich in Berlin glücklich werden? Soll er auf dem Lande umgeben von Mitstreitern ein freieres Wachstum des Menschen befördern? „Ein Leben ohne Hund“, sagt der Alte, „ist ein Fehler.“ Erst jetzt wird Fröbel klar, dass der Schäfer die ganze Zeit von seinen Tieren und vor allem von seinem Hund, seiner Klugheit, ihrer Vertrautheit gesprochen hat. Wie der große schwarze Hund heißt, hat Fröbel nicht mitbekommen. Er möchte den Alten schon fragen, ob er denn keine Frau, keine Kinder habe, als ein Schaf merkwürdig blökt und Fröbel die Überflüssigkeit und mehr noch die Unschicklichkeit der Frage bewusst wird. Das Schaf blökt dringlicher, doch der Hund schlägt nicht an, sondern kommt zu seinem Herrn und blickt hilflos zu ihm auf. „Es ist soweit,“ sagt der Schäfer, dessen Bewegungen unter dem steifen Mantel kaum zu sehen sind, und stapft über die Wiese, neben ihm der Hund. Neugierig folgt ihnen Fröbel in seinen Lützowschen Stiefeln. Die Herde teilt sich vor dem Schäfer. Dann sieht auch Fröbel das gebärende Schaf. Die vier Beine schräg in den Boden gestemmt, steht es da, als wolle es sich keinen Zoll mehr vom Fleck bewegen, als könne nichts und niemand es umwerfen. Wellen durchlaufen von der Schulter her sein dichtes Winterfell. Das Schaf blökt lang und tief. Genauso tief, aber kürzer antworten einige andere Schafe. Der Schäfer knöpft sich den Mantel auf, krempelt sich die Ärmel des langen Hemdes hoch und wartet ab, ob er eingreifen muss. Da kommt der blutig dunkle Kopf aus dem Leib der Mutter hervor. Noch ehe sich der Schäfer den Mantel von der Schulter wirft, rutscht das Neuge­ borene bis zu den Hinterbeinen aus dem Bauch. Das Mutterschaf schüttelt sich,

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bewegt sich, geht vorwärts. Das Lamm schleift mit dem Kopf und den Vorderläufen auf dem Boden, dann fällt es ganz herunter. Die Mutter dreht sich um, leckt die durchsichtige Haut von dem Jungen, das sich aufzurappeln versucht. Der Hund rennt los und bringt die Herde zusammen. Das Lamm steht. Wenn das Leben, denkt Fröbel, ohne Hund schon ein Fehler sein soll, wie viel größer muss nicht der Fehler sein ohne Kinder. „Das erste in diesem Jahr.“ Stolz knöpft sich der Schäfer den Mantel wieder zu. Warum wurde nichts erfüllt? fragt sich Fröbel noch einmal. Was ihm mehr als zwanzig Jahre gesagt werden musste, erkennt er nun klar: Ich muss tun und nicht reden. Fröbel wünscht dem Schäfer Gottes Segen und fette Wiesen. Er hat sich entschieden. Leicht geht Fröbel zurück zur Stadt. Die Sonne wärmt ihn. Die Wege sind fast trocken. In Berlin kommen die Menschen aus der Kirche. Auch er hatte eben Teil an einem Mysterium. Das Herz schlägt ihm nicht zu hoch, seine Gedanken schwirren nicht umher, verwirren ihn nicht länger. Er ist nicht mehr der Wirrkopf, der hilflos zwischen Lethargie und Überstürzung schwankt. Alles fügt sich wie zu einem vorbestimmten Plan. Er sieht ihn mit einer fast schmerzlichen Nüchternheit. Festen Blickes kann er und wird er einen neuen Weg einschlagen, seinen Weg. Es hat schon begonnen. Er muss mit den Freunden, er muss mit Henriette sprechen. In dieser Reihenfolge: zuerst die liebge­ wonnene Frau. Wird sie das Haus beseelen, das er zu gründen entschlossen ist? Zurück in seiner bescheidenen Wohnung hinter dem Hackeschen Markt, setzt er sich an den Tisch am Fenster und schreibt sein Entlassungsgesuch an den Rektor der Berliner Universität, den hochverehrten Theologieprofessor Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Natürlich wird er sich zuerst Weiß erklären, wird dem Freund seine Entscheidung, seine Vorsätze erläutern. Weiß weiß, worauf Fröbels Streben seit Langem geht. An seinem Institut hatte Fröbel so deutlich wie noch nie erkannt, dass das Göttliche nicht nur im Größten, sondern in ganzer Fülle und Kraft auch im Kleinsten erscheint. Die Kristalle wurden ihm ein Spiegel für die Menschen, ja die Menschheitsentwicklung und Geschichte. Nun, in der Mitte seines


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Lebens, angelangt am tiefsten Punkt der Einsicht in die göttlichen Durchdringungsgesetze des Festen, des Wachsenden und des Belebten, kann er zurückkehren zu den Menschen und zwar zu den Kleinsten und Reinsten. Zum Mittag setzt ihm die Haushälterin Kartoffeln mit Klopsen in Senfsauce vor. Fröbel ist hungrig. Wein oder Bier trinkt er nie. Nur Wasser. Als die Alte kommt, um das Geschirr abzutragen, fragt er sie nach der Sonntagspredigt. Doch sie hat sich dieses Mal nur die Lieder gemerkt. Er gibt ihr die Stiefel, behält die Fußlappen in den Holzpantoffeln an. Einen Moment bleibt er noch sitzen in der Stube, dann begibt er sich nach oben zu seinen Papieren, um nach Griesheim zu schreiben. Gerade als Fröbel müde zu werden beginnt, meldet die Haushälterin die Herrschaften. Fröbel unterbricht den Brief an die Schwägerin, zieht seinen guten Rock über, wickelt die Lappen neu um die Füße und steigt in die geputzten Stiefel. Es ist ein wichtiger Tag, sein Tag. Wie er sich freut auf die lieben Gesichter. Sie warten in der Stube. Middendorff und Langethal stehen mit dem Rücken zu ihm, als er den Raum betritt. Zwischen den beiden sitzt Henriette auf dem neubezogenen gelben Sofa. Wie sie ihm mit ihren dunklen, erwartungsvollen Augen winkt. Sie hat als einzige den Mantel abgelegt. Unter dem grünen Jäckchen trägt sie eine weiße Bluse und um den Hals das seidene Tuch, das er ihr zu Epiphanias verehrte. Die schwarzen Haare sind kunstvoll zu beiden Seiten des Scheitels getürmt. Ihre anmutige Stirn, ihre hold geröteten Wangen strahlen. Und der freche Mund scheint zu wissen, dass er bald schon geküsst sein wird. Fröbel hängt noch an ihrem Anblick, als ihn die Freunde umarmen. Beide Männer hat er im Krieg kennengelernt. Sie sind zehn Jahre jünger als er. Zusammen zogen sie unter Jahn im Lützowschen Freikorps gegen Napoleon. Mit seinem thüringischen Landsmann Langethal und dem Westfalen Middendorff kämpfte er in der Schlacht von Groß-Görschen und Lützen in den preußischen Reihen für das deutsche Land und Volk. Middendorff zieht ein Geschenk aus der Manteltasche. Aus dem raschelnden Papier wickelt Fröbel entzückt den zweiten Band der Grimmschen Kinder- und

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Hausmärchen, den Reimer in Berlin vor einem guten Jahr verlegte. Langethal, Theologiestudent wie Middendorff, überreicht Fröbel ein schlichter verpacktes Geschenk: Johann Christoph Greilings Jesus von Nazareth. Nun steht auch Henriette auf und legt Fröbel einen duftenden Brief in die Hand. Vorsichtig öffnet Fröbel den Umschlag: Ein feines Blatt mit einem Gedicht Eichendorffs von ihrer Hand: Neue Liebe, die Schrift umrankt und umf lattert von Pf lanzen und Vögelein. Henriette errötet und Friedrich schiebt das teure Blatt zurück in die schützende Hülle. Gerührt nimmt er die Hand der Frau zwischen seine Hände und dankt den Dreien für ihre herzliche Aufmerksamkeit. Sie brechen auf, verlassen die Stadt durchs Rosenthaler Tor. Fröbel liebt das Spazierengehen, wenngleich er in Brandenburg die Berge und Täler seiner Heimat vermisst. Er erzählt den Freunden, wie er vor fast zehn Jahren das erste Mal Pestalozzi auf Schloss Iferten besuchte, zu Fuß von Frankfurt am Main. „Bei Pestalozzi“, beginnt Fröbel, das Gespräch auf sein Thema zu lenken, „war mir, als wäre ich schon immer Lehrer gewesen und recht eigentlich zu diesem Geschäfte geboren. Was ich sah, wirkte erhebend und niederdrückend, erweckend und betäubend auf mich.“ Er erzählt von den Konflikten unter den Schülern des großen Pädagogen, dem Richtungsstreit innerhalb des Erziehungsinstituts zwischen den pädagogisch-theoretischen Grundlegungsbestrebungen Niederers und den didaktisch-praktischen Bemühungen Schmids, zu dem er sich stärker hingezogen fühlte. „Das Nachteilige des Lehrplans lag meiner Meinung nach in seiner Unvollständigkeit und Einseitigkeit. Mehrere, zur allseitigen und harmonischen Entwicklung des Menschen ganz wesentliche Lehr- und Unterrichtsgegenstände erschienen mir viel zu sehr zurückgedrängt, zu stiefmütterlich behandelt und zu unvollkommen bearbeitet zu sein.“ „Was genau denn, Friedrich?,“ möchte Henriette wissen. „Die Lehrgänge in Rechnen, Zeichnen, Erdkunde und Naturgeschichte waren mechanisch und unvollkommen. Noch immer zersplittern und zerteilen die Pestalozzianer alles, töten die Natur und

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setzten hernach aus den Teilen ein Präparat zusammen.“ „All unser Wissen muss von der Erfahrung ausgehen“, gibt ihm Langethal, der das Haar genauso lang und gescheitelt trägt wie Fröbel, das Stichwort. „Mehr noch“, übernimmt sogleich wieder Fröbel, „der Unterricht muss das Kind mit eigenen, vom Kinde selbst gemachten Erfahrungen bereichern, durch die richtige Entwicklung der in ihm selbst schon liegenden Anschauungs-, Auffassungs- und Darstellungskunst. Man muss bei der Erziehung etwas aus dem Menschen herausbringen und nicht in ihn hinein.“ „Erziehung ist Beispiel und Liebe“, sagt Middendorff, „sonst nichts.“ Er ist etwas blasser und schmächtiger als die anderen beiden Männer. „Aber was für ein Beispiel?“, fragt Langethal. „Bei-Spiel, meine Herren“, sagt Fröbel. „Bei-Spiel, nicht Vorbild. Im Spiel lässt sich eine ganze Welt entdecken. Es ist die höchste Stufe der Kindesentwicklung, der Menschenentwicklung dieser Zeit; denn es ist freitätige Darstellung des Inneren.“ Middendorff, dessen ebenfalls langes, gescheiteltes Haar höher auf der Stirn ansetzt und in großen Locken endet, verweist auf Jesus Christus als Urbild der Kindererziehung. Langethal gibt seinem Kommilitonen darin recht, dass der Pädagoge dem Kinde für ein ganzes Leben eine Tür ins Paradies, in Gottes Garten öffnen könne. „In den Kindergarten“, ruft Henriette. Die Männer schauen sie verblüfft an. Es lässt sich an ihren Gesichtern ablesen, wie das neue Wort in ihren Köpfen arbeitet. So lange schon beschäftigt sie die frühkindliche Erziehung, so oft haben sie darüber diskutiert und jetzt fliegt ihren Gedanken dieses erstaunliche Wort aus dem Munde einer Frau zu. Fröbel blickt irritiert. Ihm ist sofort klar, welch w underbaren Namen sie gefunden hat. Aber wie soll er ein Werk beginnen, ein Lebenswerk schaffen, ohne ihm selbst den Namen zu geben? Wie könnte er auf dieses Vorrecht verzichten? Was würden Langethal und Middendorff von ihm denken, wenn er sich dieses Wortes bediente? Für wie schwach, wie P rof i lsy stem i m /in th e F röbel- K i nderga r ten „Ca mpu s Ad ler shof “ B erl i n

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einfallslos müssten sie ihn halten? Er fasst sich sogleich wieder und holt aus zu einer umfassenden Darstellung seines Ansatzes. „Dasjenige, was uns Pestalozzi wirklich als Unterrichtsmittel gibt, Zeichnen, Formenund Größenlehre, Kopfrechnen, Nägelis Gesangsunterricht, darf nicht früher als im achten Jahr gegeben und muss auf jeden Fall durch einen früheren lebendigeren, natürlicheren, kindlicheren Unterricht begründet werden. Und zu dem muss neben dem Unterricht durchs Wort das Beschäftigen und Belehren durch Arbeiten gehören, um so die physische Kraft zu üben, zu stärken, auszubilden und frei gebrauchen zu lernen. Dazu gehören das Sammeln, Ordnen, Kennen- und Beschreibenlernen von Naturkörpern, Steinen, Pflanzen, Insekten, das Arbeiten in kleinen Gärten, das Beschäftigen mit sogenannten mechanischen Arbeiten, welches jedoch oft dem Geiste viele Gelegenheiten zum Nachdenken gibt, zum Beispiel Schreinern, Drehen, das Besuchen der Werkstätten der Handwerker, kleine Reisen.“ Er hat ihr Wort wieder in seine zwei Bestandteile zerlegt und dabei soll es bleiben. Langethal, der breitschultrige Sohn eines Schuhmachers, hat noch konkretere Ideen, welche Materialien, welche Handarbeiten Eingang in die Erziehungsanstalt finden sollen. „Und Spiele“, betont Fröbel, der froh ist, dass Langethal Henriettes Wort nicht in den Mund nimmt. „Wir werden das Spielen lernen.“ Und er spricht von ganz einfachen Spielgaben aus Holz, von Kugeln, Würfeln und Walzen, die die Sinne des kleinen Kindes so natürlich wie lehrreich anzusprechen vermögen. „Und Lieder, Reime“, bestärkt ihn Henriette, die an seinem Geburtstag nicht eingeschnappt sein möchte darüber, dass die Männer ihr neues Wort nicht goutieren. Vielleicht war es nicht so schön, wie sie im ersten Moment fand. Auf das Wort kommt es ja nicht an, sondern auf Taten. „Und körperliche Übung“, fällt Middendorff, der durch Jahn zum Turnen in der Hasenheide und zum Freikorps kam, ein in den Reigen. Fröbel ist beruhigt und beglückt vom Zuspruch seiner engsten Freunde. Noch immer hat er ihnen allerdings seinen Entschluss nicht mitgeteilt. Ein wenig ängstigt

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es ihn jetzt doch, Henriette die entscheidende Frage zu stellen. Sie diskutieren weiter pädagogische Fragen, sprechen über Rousseaus Weckruf Zurück zur Natur, über die Verpflichtungen der Mütter und des Staates, über die verschiedenen Alter und Auffassungsgaben des Kindes, wie sie es schon oft getan haben. Middendorff und Langethal disputieren darüber, ob es in der neuen Erziehungsanstalt Strafen geben darf. Fröbel berührt Henriette am Arm und lässt sich mit ihr zurückfallen. Den ganzen Mittag schon hat sie gespürt, von welchem Ernst Fröbel ergriffen ist, dass er eine Sendung hat. Sie kennt seine Kraft. Er hat sie und andere schon oft angesteckt mit seinem Geist, seiner Rede. „Meine verehrte Freundin“, Fröbel bleibt stehen, nimmt ihre Hände in seine, „Henriette, Sie kennen meine Gefühle und ich bin glücklich, die Ihren zu kennen. Ein großes, ein himmelöffnendes, ein bislang allerdings nur ganz stilles Glück, das wir in unserer beider Herzen hegen. Mit dieser Heimlichkeit soll es, meine Liebe, nun vorbei sein. Nach zehn Lehrjahren in der Fremde möchte ich in meine thüringische Heimat zurückgehen, um eine neuartige Lehranstalt für Kinder zu begründen. Sie sind die erste, der ich meinen Entschluss mitteile, denn Sie sind die für mich wichtigste Person. Möchten Sie mit mir kommen, an meiner Seite leben, mir Kinder schenken, unsere Kinder aufziehen?“ Henriettes Mund zuckt. Sie zieht die Augen schmerzlich zusammen. „Natürlich“, beeilt sich Fröbel, „werden wir warten mit einer Heirat. Klöpper wird sich gegen eine Scheidung nicht sperren, so oft, wie er Sie damit bedrohte. Und Ihr Vater liebt Sie zu sehr, als dass er Ihnen ein neues Leben verwehren könnte. Schreckt Sie die Provinz, Henriette? Möchten Sie die Stadt doch nicht verlassen, das Leben in der Nähe des Hofes?“ „Aber, bitte! So lassen Sie uns doch weitergehen, Friedrich! Wo ist denn Middendorff? Die Freunde müssen ja schon auf uns warten.“ „Was ist mit Ihnen, Henriette? Warum so ungehalten? Sie kennen doch die Pläne, mit denen ich mich trage seit geraumer Zeit. Bitte, bleiben Sie stehen. Bitte, erklären Sie sich mir. Sie entscheiden über mein künftiges Leben!“

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Henriette beginnt zu weinen. „Ach, mein Friedrich.“ Sie ist untröstlich. „Du weißt ja nicht, was Klöpper so sehr gegen mich auf bringt, was meine Ehe vergiftet. Ich habe dir nicht alles gesagt. Armer Fröbel, du willst Lehrer, Erzieher werden, willst Kinder haben und um dich scharen.“ Sie hat ihre Fassung wiedergewonnen, tupft sich mit einem Tuch das gerötete Gesicht. „Aber ich kann keine Kinder bekommen.“ Fröbel steht steif da. Sein Herz krampft sich kurz zusammen. Er denkt an den Schäfer und seinen schwarzen Hund. „Nun kommen Sie, lieber Fröbel. Wir müssen unsere Freunde nicht auch in Aufregung versetzen. Sie werden Ihr Glück, Sie werden Ihre Frau in Ihrer Heimat finden.“ Sie zieht an seiner Hand. Sie will gehen. Was für eine starke Frau, denkt Fröbel. Er hält sie fest. „Henriette, meine liebe Henriette. Alles liegt in Gottes Hand. Vertrauen wir ihm. Komm mit mir und du sollst mehr Kinder um dich haben, als eine Frau gebären kann.“ Fröbel hofft, dass sie sich umdreht, ihn erhört. „Nur in der Ehe“, sagt er fast bittend, „ist vollkommene Wissenschaft“, und ärgert sich, weil er diesen Satz, der richtig ist, jetzt nicht erklären kann. Henriette Wilhelmine Klöpper, geborene Hoffmeister, wendet sich ihm ganz zu. Wissenschaft? Fröbel steht ein wenig schief da, wie in einer Bewegung oder einem Gedanken gefangen. Er ist stur, denkt sie, und fest im Glauben. Er liebt mich und er liebt seine Ideen. Ich habe ein leichtes, aber unglückliches Leben. Vor mir steht ein schweres, vielleicht glückliches. Kindergarten? Vielleicht ist das neue Wort doch genau so schön, wie es klang und klingt. Vielleicht muss ich es ihm nur schenken. So sehr möchte er in seiner Pädagogik auf die Kinder hören und kann kaum erst auf die Frauen hören. Als ob die Erziehung der Kinder allein Sache der Männer, die Aufgabe sokratischer Philosophen sei. Ohne Frauen können sie das Kinderreich niemals schaffen. Vielleicht kann ich ihm das zeigen. Vielleicht ist das eine Aufgabe, die eine große Liebe braucht, die ein Leben lohnt. Sie greift mit ihrer freien rechten Hand nach seiner linken. Sie schauen einander an. „Ich werde mit dir gehen, Friedrich.“

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Er küsst sie. Sie drücken sich die Hände und eilen zu den Freunden, die ihnen entgegenkommen. „Wo bleibt ihr denn?“, ruft Langethal. „Dort vorn an der nächsten Biegung fließt die Panke. Wir haben sogar Fische gesehen.“ „Welch glücklicher Geburtstag“, ruft Fröbel und umarmt zuerst Middendorff, dann Langethal. „Lasst uns Menschen bilden“, sagt er in die gerührte Runde und erzählt von den gerade gefassten Entschlüssen. Er muss die Freunde nicht überzeugen. Schon lange teilen sie seine Ansichten, erkennen ihn und seine pädagogischen Prinzipien an. Sie versprechen, ihm nach Thüringen zu folgen.

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„Bringen wir zusammen“, sagt Fröbel, „was geteilt ist: Schule und Leben, Spiel und Arbeit. Kommt, lasst uns unsern Kindern leben!“, und greift nach ihrer Hand. Ab 1840, ein Jahr nach Henriettes Tod, nennt Fröbel die von ihm geschaffenen Einrichtungen Kindergärten.

„C ampus Adlershof Berl in,“ Fröbel-K indergarten K indergarten/K indertagesstät te Produk te: Prof ilsystem T ische und Stühle, Schr änke, Garderobenmodule, E igentumsfächer, L iegen A rchi tek t: Büro l arssonarchi tek ten 2010

» A ls ob d ie Erziehu ng der K i nder a l lei n Sache der Mä n ner, die Aufga be sok rat ischer Philosophen sei. Oh ne Frauen kön nen sie da s K i nder reich n iema ls scha f fen. «


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P rof i lsy stem i m /in th e F röbel- K i nderga r ten „Ca mpu s Ad ler shof “ B erl i n

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» ›A l i fe w it hout a dog,‹ say s t he old ma n, ›is a m ist a ke.‹ […] I f l i fe, t h i n k s Fröbel, is a m ist a ke w it hout a dog, how much g reater must t he m ist a ke be w it hout ch i ld ren. «

Fröbel’s Path Pat r ick Hof ma n n

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April 21, 1816 is the first Sunday after Easter. It is Fröbel’s birthday. He is 34 years old. Although the bells of the Sophienkirche have already struck seven Fröbel is still lying in bed. This rarely happens. Not that he is ill, or that he wants to relax a little today. The times when he was able to even play with the idea of a little leisure are long gone. And he has never known luxury. Instead, he has been afflicted by a heavy attack of earnestness as he lies in bed this morning. His life passes through his mind. Nothing that I said I will do has been realized, thinks Fröbel: Why? The way his life reveals itself to him, the way it has converged to the point at which he now finds himself, forces him to make a decision. He has been in Berlin for four years now. Friedrich Wilhelm August Fröbel, the country boy from the Thuringian Forest, the autodidact, private tutor, Pestalozzian, proponent of a spherical philosophy, liberation fighter, and crystallographer. The lone wolf has turned into a late bloomer. As he enrolled at the Berlin University in November 1812, which had been founded just two years previously, he was one of the oldest students at the age of 30. He had studied once before, at the turn of the century, four semesters, at Jena. However, back then he dissipated his energies with his newly awakened thirst for knowledge, his inquisitiveness, his excitement. That he, like Goethe, was a member of Jena’s Naturforschende Gesellschaft went to his head. The philosophical discussions on freedom and self-determination, on the French Republic with its First Consul Bonaparte, on the education of the German nation, student life in its entirety, and not least the beer, put him in a state of turmoil. He lost the plot, his sense of direction, and landed back in the Karzer, the student arrest cell, due to debts, which his father only freed him from once he had relinquished his inheritance. Humiliated, he returned to the family home in Oberweißbach. The father saw his prejudices in respect of his son confirmed for a last time, fell ill shortly afterwards, and died the following year. Can his spirit now look down upon me, thinks Fröbel, calmed and beneficent? Is he now at peace with the son who loved him so much? How long was the road that brought him here to Berlin and to the Mineralogical

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Institute under Professor Weiß, a man almost his age? And how hard was his journey as the youngest of six children? The early death of his mother, who he never knew, whose love he never consciously received. Friederike Sophie, his father’s second wife, only nurtured him for a few months until she bore her own children, and withdrew all her attention, along with the personal form of address. Was he not justified in falling silent, in lagging behind, losing interest in all forms of social contact, taking his suffering out into the fields and woods, dissipating his melancholy in the study of nature? In this isolation he sang songs the others never imagined he had even heard, let alone remembered. He felt the call of people late: when he went to live with his uncle in Stadtilm and started a new life, when he learnt something in the school for the first time. Naturally he was unable to catch up with everything. Only after much persuasion did his father, the strict pastor, allow him to study like his older brothers. This goes through his head, keeps him chained to his bed although the day has long begun and promises to be pleasant: the way the sun peers into his chamber, the way the birds chirp outside and spring is gaining ground. The weather is conducive to the plan to take an afternoon walk from the Spandauer Vorstadt to Schönhausen Palace with his friends Midden­ dorff, Langethal, and Henriette Klöpper. Since Caroline von Holzhausen, since the painful love for his Frankfurt lily, no other woman has held such an attraction for him. Henriette, the daughter of the Royal War Councilor Hoffmeister, visited him at the Mineralogical Institute for the first time three years ago, accompanied by Midden­d orff. Like Caroline, Henriette is married, although unhappily. She is the most beautiful and intelligent woman he knows. Together with Middendorff and Langethal they heard Fichte’s last lecture, before he died from typhus. Together they are now attending Schleiermacher’s lectures. Henriette’s marriage is poisoned by an ongoing dispute, by accusations, and a lack of understanding. The patrician’s daughter confessed to Fröbel that their conversations gave her security and strength. Over the last months Fröbel had attempted, in an evermore conscious

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fashion, to direct her admirable intellectual talents and deep sensibility to the ideas that inspired and moved him. The conversations soon began to mean more to him than the words. Last fall they were no longer able to conceal their feelings and confessed their love for each another. But where should they go with it? At last Fröbel gets up. He washes his face over a bowl, performs his morning ablutions. Downstairs on the table in the dark kitchen stands a small jug with a sprig of lesser celandine in bloom for him. The old housekeeper wishes him God’s blessing in all his undertakings and even gives a little bow. Then, as usual, she places a bowl of milk with bread cut into it in front of him. Even after breakfast Fröbel remains restless. He pulls on his Free Corp infantryman boots. He has to get out of the city, into the open countryside, in order to clear his thoughts. He has to make a decision concerning his life, for Henriette’s sake too. He walks out into the fresh morning in the direction of the sun. The first fields and meadows lie bare and flat beyond the city walls. Where is his journey taking him? For what has he freed himself from the constrictions of his origin, from the emotional and intellectual isolation? To what end has he gained his independence following his failed studies in Jena and his first appointments as land surveyor in Graunach and Bamberg, as private secretary on the Groß-Miltzow estate, as teacher, private tutor, and educator at the von Holzhausens in Frankfurt, and later with his three pupils at Pestalozzi’s establishment in Iferten in Switzerland. It wasn’t out of pride that he began to study again in Göttingen and then in Berlin, as a means to prove to everyone what he was really capable of; he still didn’t know himself in which direction his strengths lay. He slowly walks down a field path. In the distance a flock of sheep are grazing. Fröbel’s thoughts wander. Contemplation of the countryside, the harmony of the animate and inanimate, has always put him in touch with himself; the wise constitution of creation consoled him in the early days of his childhood, his youth, and gave him peace as a man when the writings of Arndt, Novalis, and Schelling, and the spiritual kinship with Caroline, stirred his

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» I n f ront of me is a ha rd, maybe happy l i fe. K i nderga r ten? Maybe t he new word is exact ly a s prett y a s it sounded a nd sou nds. Maybe a l l I have to do is g ive it to h i m. He so wa nt s to l isten to t he ch i ld ren w it h h is peda gog y, but is ha rd ly even capa ble of l isten i ng to women. «


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heart. Now he also sees the shepherd and the black dog who keeps the flock together, and knows what every whistle, every hiss of his master means. What joy he, Fröbel, felt as a boy at the hazelnut’s female flowers, at the dissection of bean kernels, what heartfelt longing to discover the basis of this happiness, what intimate joy at the sight of geometrical figures and bodies. Fröbel greets the man in the cylinder-­ shaped coat, supporting himself on a long knotty stick. The old man winks at him. Fröbel remains on the path in front of him. Under the high, gray felt hat the old man tilts his head in invitation, as if he wanted to include the stranger in his horizon, as if the surrounding air belonged to him. Was this not Fröbel’s old ideal of the country man who led a life at peace with himself and in harmony with nature? On the other hand: which great external compulsion, which bitter familial rejection had forced Fröbel into the confined space of his own inner life? In what fanciful, speechless inwardness did he accommodate himself back then? How tightly enclosed upon himself and silent was he for much of his education? Naturally, the savior speaks of the intellectually poor, their blessedness. But wouldn’t it be a crime against one’s own nature to lock up growth and the rebellion within oneself, and ultimately to suffocate as a consequence? And how it still ferments within him, how strongly the new age excites him, the new idea of man. Shouldn’t we aspire to the highest sphere accessible to each of us? The old man asks him where he is going. After Fröbel has given an evasive answer, but without moving on, the man begins to speak of himself. Fröbel looks into his cunningly narrowed eyes, but hardly listens to what the man says. What is the area in which he, Fredrich Fröbel, can fulfill his highest calling? Is it from the earths and solid forms that he should read the divine laws which symbolically rule the micro- and macrocosm? After two years as assistant to Weiß he has now been offered his own professorship. However, his beloved brother Christoph, a teacher and minister in Griesheim near Stadtilm, has just died from typhus. What will happen to his three sons? Can the widow take on their education, as planned in the intensive correspondence between

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Christoph and himself? Should he, Fröbel, pursue an academic or a practical pedagogic career, an issue that has pursued him for years? Could he really be happy in Berlin? Should he promote the free growth of people in the countryside, surrounded by comrades-in-arms? “A life without a dog,” says the old man, “is a mistake.” Only now is it clear to Fröbel that the shepherd has been talking about his animals the whole time, above all about his dog, its intelligence, their intimacy. Fröbel hasn’t caught the name of the big black dog. He wants to ask the old man whether he has a wife and children, as a sheep bleats strangely and he becomes aware of the superf luity, in fact the indecorous nature of his question. The sheep bleats with greater urgency, but the dog doesn’t react, instead it comes to its master and looks up at him helplessly. “The time has come,” says the shepherd, whose movements under the stiff coat are hardly visible, and trudges across the field, the dog at his side. Curious, Fröbel follows him in his Lützow Free Corp boots. The flock parts in front of the shepherd. Now Fröbel can also see the sheep about to give birth. With its four legs braced at an angle, it stands there as if it didn’t want to move another inch from the spot, as if nothing and nobody could knock it over. Waves, extending from the shoulder, pass through its thick winter coat. The sheep bleats long and deep. Just as deep, but shorter, a number of other sheep answer. The shepherd unbuttons his coat, rolls up the arms of his long shirt, and waits to see if he has to intervene. The dark, bloody head emerges from the mother sheep’s body. Before the shepherd can throw the cloak from his shoulders the newly born slips out of the mother’s belly down to its back legs. The mother shakes herself, moves, walks forwards. The lamb drags along the ground with its head and front legs and then falls out completely. The mother turns around, licks the transparent skin from the ma le la mb which attempts to pick itself up. The dog runs off and gathers the flock. The lamb, is now standing. If life, thinks Fröbel, is a mistake without a dog, how much greater must the mistake be without children. “The first this

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year.” Proud, the shepherd re-buttons his cloak. Why has nothing been fulfilled? Fröbel asks himself again. He now sees clearly what people have impressed upon him for more than 20 years: I must act and not speak. Fröbel wishes the shepherd God’s blessing and rich fields. He has decided. With a sense of lightness Fröbel walks back to the city. The sun warms him. The paths are almost dry. In Berlin the people are coming out of church. He too has been party to a mystery. His heart is not beating wildly, his thoughts are not swirling around, are no longer bewildering him. He is no longer the scatterbrain who helplessly swings from lethargy to ill-considered action. Everything fits together as if part of a preordained plan. He can see it with an almost painful sobriety. With a resolute gaze he can and will take a new path, his path. It has already begun. He must speak to his friends, to Henriette. In this order: first the beloved woman. Would she add soul to the establishment he had decided to found? Back in his modest apartment behind the Hackescher Markt, he sits down at the table by the window and writes his resignation to the rector of the Berlin University, the highly esteemed professor of theology, Friedrich Daniel Ernst Schleier­­macher. Naturally he will explain things to Weiß first, will announce his decision, his plans to his friend. Weiß knows the direction in which Fröbel has long been focusing his energies. At his institute Fröbel recognized more clearly than at any other time that the divine does not just manifest itself in the largest phenomena, but also in the smallest, in all its breadth and power. For him the crystals were a mirror of humanity, indeed for human development and history. Now, in the middle of his life, having arrived at the profoundest insight into the divine laws permeating the solid, the organic, and the animate, he can return to people, to the smallest and the purest. For lunch the housekeeper serves him potatoes and meatballs in mustard sauce. Fröbel is hungry. He never drinks wine or beer. Only water. As the old lady comes to remove the dishes he asks her about the Sunday sermon. However this time she only remembers the hymns. He gives her his boots, keeping the foot-cloths on inside his clogs. He remains seated in the parlor

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for a moment, then goes upstairs to his papers in order to write to Griesheim. Just as Fröbel begins to tire the housekeeper announces the arrival of the visitors. Fröbel interrupts the letter to his sister-in-law, pulls on his good jacket, re-wraps the foot-cloths about his feet and steps into the cleaned boots. It is an important day, his day. How excited he is to see the cherished faces. They are waiting in the parlor. Middendorff and Langethal are standing with their backs to him as he enters the room. Henriette is seated between them on the newly upholstered yellow sofa. How she greets him with her dark, expectant eyes. She is the only one to have removed her coat. Under a green camisole she is wearing a white blouse, and about her neck the silk scarf that he presented to her at Epiphany. Her black hair is artistically piled high each side of her parting. Her graceful brow, her lovely reddened cheeks glow. And the cheeky mouth appears to know that it will soon be kissed. Fröbel clings to the sight of her as the friends embrace. He met both men during the war. They are ten years younger than he. Together they fought against Napoleon under Jahn in the Lützow Free Corp. With his fellow Thuringian Langethal and the West­phalian Middendorff he fought in the Prussian ranks at the battle of Groß-Görschen and Lützen for the German country and people. Middendorff takes out a present from his coat pocket. Delighted, Fröbel unwraps the second volume of Grimm’s Children’s and Household Tales from the rustling paper which Reimer in Berlin published just over a year ago. Langethal, theology student like Middendorff, presents Fröbel with a plainly wrapped gift: Johann Christoph Greiling’s Jesus of Nazareth. Now Henriette also stands up and places a scented letter in Fröbel’s hand. Fröbel carefully opens the envelope: a fine sheet of paper with a poem from Eichendorff: New Love, the writing entwined and encircled by plants and small birds. Henriette blushes and Friedrich slides the precious sheet back into the protective envelope. Moved, he takes the hand of the woman between his own and thanks the three of them for their heartfelt attentions. They depart, leaving the city through Rosen­ thaler Tor.

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Fröbel loves walking, although he misses the mountains and valleys of his homeland in Brandenburg. He recounts to his friends how he visited Pestalozzi for the first time at Iferten Castle almost ten years ago, travel­ ing on foot from Frankfurt am Main. “At Pestalozzi’s,” Fröbel begins, directing the conversation to his theme, “it was as if I had always been a teacher and actually born to exercise this profession. What I saw was both elevating and oppressive, inspiring and numbing.” He speaks of the conflicts between the pupils of the great pedagogue, the factional struggle within the educational institute between the fundamental pedagogic-theoretical ambitions of Niederer and the didactic-practical efforts of Schmid, who he felt more strongly drawn towards. “In my opinion, the adverse character of the curriculum was its incompleteness and one-sidedness. Numerous educational and teaching subjects for the all-round and harmonious development of the individual appear to me to be suppressed, treated in a step-­motherly way and insufficiently developed.” “What exactly then, Friedrich?” Henriette inquired. “The subjects of mathematics, drawing, geography, and natural history are mechanical and incomplete. The Pestalozzians still fragment and divide everything, killing nature and subsequently forming a concoction from the parts.” Langethal, who wears his hair as long and with the same parting as Fröbel, provides him with a clue by saying that “All our knowledge must stem from experience.” “Furthermore,” says Fröbel, immediately taking up the thread, “the lesson must enrich the child with experiences he has made himself, through the correct development of the perceptual, conceptual, and representational abilities which reside within himself. Education must draw something out of people as opposed to putting something in.” “Education is example and love,” says Middendorff, “nothing else.” He is paler and slimmer than the other two men. “But what for an example?” asks Langethal. “ Through play, gentlemen,” says Fröbel. “Through play, not a role model. In play it is possible to discover an entire world. It is the highest stage of a child’s

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development, of human development of our age; for it is the free expression of our inner life.” Middendorff, whose equally long, parted hair begins higher on his brow and ends in large curls, points to Jesus Christ’s example as the archetype of child education. Langethal concurs with his fellow student that the pedagogue was capable of opening a door to paradise, to God’s garden, for the child, for their entire life. “To the kindergarten,” cries Henriette. The men look at her astounded. One can see in their faces how the new word is working in their minds. They have long been occupied with the subject of early childhood education, they have discussed it so often, and now this astonishing word “children’s garden” has flown to join their thoughts from the mouth of a woman. Fröbel looks irritated. It is immediately apparent to him what a wonderful name she has found. But how can he start an undertaking, create a life’s work, without giving it the name himself? How can he renounce this prerogative? What would Langethal and Middendorff think of him if he were to make use of this word? How weak, how unimaginative would they think him to be? He pulls himself together again and embarks on a comprehensive presentation of his approach. “That which Pestalozzi actually provides us with as teaching material: drawing, geometry, mathematics, mental arithmetic, Nägeli’s singing lessons, should not be given before the eighth year and must under all circumstances be built on an earlier, livelier, more natural, more childlike curriculum. Furthermore, alongside teaching through the word, there must be activities and teaching through work in order to exercise the physical powers, to strengthen them, to train them, and to learn how to employ them freely. This includes the collection of, arrangement of, familiarization with, and development of the ability to describe, natural bodies, stones, plants, insects; work in a small garden, mechanical work, which often provides the mind with, many opportunities for reflection, for example carpentry, lathe work, visiting the workshops of craftsmen, short journeys.” He has broken down her word into its two components, and that is the end of the matter.


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Langethal, the broad-shouldered son of a shoemaker, has even more concrete ideas as to which materials, which manual work should find its way into the educational establishment. “And games,” emphasizes Fröbel, who is happy that Langethal has not uttered Henriette’s word. “We will teach how to play.” And he speaks of very simple wooden Spielgaben, gifts of balls, cubes, and cylinders which are capable of addressing the senses of the small child so naturally and instructively. “And songs, rhymes,” Henriette adds encouragingly, who, on Fröbel’s birthday, does not want to be sour at the fact that the men haven’t appreciated her new word. Maybe it isn’t as nice as she initially thought it was. It isn’t about the word but about actions. “And physical exercise,” chimes in Middendorff, who through Jahn became involved in gymnastics at the Hasenheide and the Free Corp. Fröbel is relieved and happy at the encouragement from his closest friends. However, he still hasn’t told them of his decision. He is still a little nervous about asking Henriette the decisive question. They continue to discuss p edagogic matters, speak of Rousseau’s wake-up call “Back to Nature,” about the responsibilities of the mother and the state, about a child’s different ages and powers of comprehension, as they have often done before. Middendorff and Langethal debate whether it would be permitted to have punish­m ents in the new educational establishment. Fröbel touches Henriette’s arm and together they fall behind the others. Throughout the whole of midday she has felt how earnest Fröbel is, that he has a mission. She knows his power. He has often infected others with his spirit, his talk. “My dear friend,” Fröbel stops, takes her hand in his, “Henriette, you know my feelings and I am happy to know yours. There is a great, heavenly happiness that we both foster in our hearts, but up to now it has been an entirely silent happiness. My love, now it is time to put an end to this secrecy. After ten years of apprenticeship in foreign parts I want to return to my Thuringian homeland in order to found a new type of educational institution for

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children. You are the first person I have shared my decision with, for you are the most important person to me. Would you like to come with me, to live at my side, provide me with the gift of children, bring up our children?” Henriette’s mouth twitches. She closes her eyes painfully. “Naturally,” Fröbel adds quickly, “we will wait with marriage. Klöpper will not object to a divorce, considering how often he has threatened you with it. And your father loves you too much to stand in the way of a new life for you. Does provincial life frighten you, Henriette? Are you not yet prepared to leave the city, the life close to the court?” “But please! Let us continue walking, Friedrich! Where is Middendorff ? Our friends must be waiting for us.” “What is wrong Henriette? Why are you so indignant? You know of the plans that I have carried around with me for some time. Please, stop. Please, explain yourself to me. You are deciding about my future life!” Henriette begins to cry. “Ah, my Friedrich.” She is inconsolable. “You have no idea what it is that turns Klöpper so against me, what poisons my marriage. I haven’t told you everything. Poor Fröbel, you want to be a teacher, a pedagogue, you want to have children, to gather them around you.” She has regained her composure, dabbing at her reddened face with a handkerchief. “But I can’t have any children.” Fröbel is standing stiffly. His heart constricts briefly. He thinks of the shepherd and his black dog. “Now come, dearest Fröbel. We mustn’t get our friends all excited too. You will find your happiness, you will find your wife in your homeland.” She pulls his hand. She wants to walk. What a strong woman, thinks Fröbel. He holds her to the spot. “Henriette, my darling Henriette. Everything is in God’s hands. Let us place our trust in him. Come with me and you will be surrounded by more children than any woman could give birth to.” Fröbel hopes that she will turn around, that she will hear him. “Only in marriage,” he says almost pleadingly, “there is absolute science,” and is angry at himself as he is unable to explain this sentence at this moment, although it is correct.

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Henriette Wilhelmine K löpper, born Hoffmeister, turns to face him directly. Science? Fröbel is standing somewhat crookedly, as if caught in a movement or thought. He is stubborn, she thinks, and secure in his faith. He loves me and he loves his ideas. I have an easy but unhappy life. In front of me is a hard, maybe happy life. Kindergarten? Maybe the new word is exactly as pretty as it sounded and sounds. Maybe all I have to do is give it to him. He so wants to listen to the children with his pedagog y, but is hardly even capable of listening to women. As if the education of children is solely the business of men, the task of Socratic philosophers. Without women they can never create the kingdom of children. Maybe I can show him that. Maybe that is a task that a great love needs, which is worthy of a life. She reaches for his left hand with her free right hand. They look at each another. “I will go with you Friedrich.” He kisses her. They press each other’s hands and hurry to their friends who are walking towards them. “Where have you been?” cries Langethal. “Up there, at the next bend flows the Panke. We have even seen fish.” “What a happy birthday,” cries Fröbel, embracing Middendorff and then Langethal. “Let us educate people,” he exclaims to the moved gathering and speaks of the decisions he has just made. He does not need to convince his friends. They have long shared his views, acknowledging him and his pedagogical principles. They promise to follow him to Thuringia. “Let us bring together,” says Fröbel, “that which has been divided: School and life, play and work. Come, let us give life to our children!” and he reaches for her hand. From 1840 onwards, a year after Henriette’s death, Fröbel named the institutions created by him Kindergartens.

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F riedrich F r ö bel

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» A s i f t he educat ion of ch i ld ren is solely t he bu si ness of men, t he t a sk of Socrat ic ph i losopher s. Wit hout women t hey ca n never create t he k ingdom of ch i ld ren. « FRÖBEL-K indergarten “C ampus Adlershof,” Berl in K indergarten/nursery Products: Prof ilsystem tables and cha irs, cupboards, cloakroom furni ture, compartments for personal belongings, recl iners Archi tect: Büro l arssonarchi tek ten 2010


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» Es geht u ns n icht so seh r u m Erziehu ng z u best i m mten Fer t igkeiten, a ls v iel meh r u m Beg leit u ng der K i nder bei i h rer Entdeck u ng der Welt . «

Melanie Ehnert Pat r ick Hof ma n n

Im Südosten Berlins, am rechten Rand desjenigen Teils von Adlershof, der sich seit ein paar Jahren als Stadt für Wissenschaft, Wirtschaft und Medien profiliert, steht der Fröbel-Kindergarten „Campus Adlershof“. Schon vom hohen Damm der S-Bahnstation ist er hinter einer großen Wiese an den grünen bis gelbroten Flächen in der weißen Fassade zu erkennen. Zwischen den übriggebliebenen Stabsgebäuden des Wachregiments Felik s Dzierzynski, das 1953 hinter sowjetischen Panzern den Aufstand vom 17. Juni niederschlug und bis zum Ende der DDR Botschaften, Staats- und Parteiobjekte bewachte, öffnet sich die komplexe Form des zweistöckigen Neubaus nicht zur Straße, sondern zur Seite. Er ist dadurch weniger repräsentativ als schützend, macht also weniger Eindruck als vielmehr neugierig. An einem eingezäunten Gärtchen mit schmächtigen Obstbäumen vorbei gelange ich zum Hauseingang. Gleich dahinter, die erste Tür links, erwartet mich, als wäre sie die Pförtnerin, Melanie Ehnert in ihrem Büro. Die junge, grazile Leiterin des Kindergartens ähnelt mit ihrer schmalen Nase und den langen braunen Haaren Charlotte Roche, ein Vergleich, wie mir sogleich bewusst wird, mit dem hier natürlich überhaupt nichts weiter anzufangen ist.

„Wissen Sie, wir in den Fröbel-Kindergärten“, sagt Melanie Ehnert, „halten ganz viel vom Learning by doing. Begreifen durch angreifen, wie Fröbel sagen würde. Also zeige ich Ihnen am besten gleich unser Haus. Wir müssen unten allerdings leise sein, da die Kinder jetzt schlafen.“ Mich freut nicht nur ihre Art, sondern auch ihr leichter Berliner Dialekt. Dass Berlinerisch einfach nur freundlich klingen kann, war mir bislang gar nicht klar gewesen. „Wo sind Sie geboren?“ „Hier in Berlin. In Buch.“ „Im Osten. War das eher ländlich oder vorstädtisch?“ „Komplett ländlich, obwohl nur fünf S-Bahnstationen von Pankow entfernt, mit viel Wald, dem Bucher Forst, dem Gorinsee, dem Liepnitzsee, also sehr, sehr grün.“ Ich werfe im Foyer einen Blick auf die Holzdecke im Obergeschoss mit den Lichtkuppeln. „Und dort sind Sie noch in einen Kindergarten gegangen?“ „Ja. Ich wäre damals auch gern Jungpionier geworden, um so ein Halstuch zu bekommen wie meine Schwester. Aber das hat die DDR nicht mehr geschafft.“ Mela n ie E h ner t orga n i sier t den erlebn i sreichen A l lt a g der K i nder.

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„Womit haben Sie als Kind am liebsten gespielt?“ „Hm. Also ich war schon immer ein Träumer und habe am liebsten mit mir alleine gespielt, beziehungsweise noch mit meiner Schwester. Bei uns kam damals diese Pony-Zeit so hoch. Und ich war ein totaler Pony-Fan. Diese kleinen, superkitschigen Ponys, rosa, lila, blau. Die gab es in ganz, ganz vielen verschiedenen Farben.“ „Wie hießen die gleich?“ „Mein kleines Pony. Die hatten alle eine unglaublich lange Mähne, länger als der Pferde-, also der Ponyschwanz.“ „Oh, ja. Die glorreichen Tage des Pop.“ „Wenn man vorher ganz viel Holzspielzeug hatte und Eltern, mit denen man ständig im Grünen war jedes Wochenende, im Wald, dann fand man so was total Kitschiges, Buntes eine Zeit lang ganz toll.“ Wir – ich entsinne mich ganz kurz meiner Zeit als Möchtegern-Popper – lachen beide und betreten die vom Foyer durch einen Gartenzaun abgegrenzte Garderobe mit Einzelfächern für jedes Kind. „Die Garderobe unten ist für fünfzig Kinder. Oben die noch einmal für fast genauso viele. In die Fächer passt super viel rein. Die gehen auch nicht kaputt. Unsere Kinder kriegen ja alles kaputt. Aber diese Möbel nicht.“ „Wann haben Sie den Entschluss gefasst, Kindergärtnerin zu werden?“ „Eigentlich schon mit zehn Jahren. Da fing ich bei der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft an, meine Bronze-, Silber-, Goldstufe zu machen im Rettungsschwimmverein, und bekam dann die Möglichkeit, in der Bucher Schwimmhalle selbst Unterricht zu geben. Weil die kleinen Kinder immer gern mit mir spielten und ich einen Draht zu ihnen hatte, bin ich dabei geblieben, bis ich siebzehn war, und habe dann nach meinem Abitur die Erzieherausbildung gemacht.“ „Wie lange dauerte die?“ „Damals dreieinhalb Jahre mit Praktika.“ „Und nach der Ausbildung?“ „Habe ich sechs Jahre als Erzieherin gearbeitet in verschiedenen Einrichtungen, bis ich die Fröbel-Kindergärten entdeckte, deren Ansatz mir gefiel. Da war ich zuerst in Alt-Stralau Erzieherin, dann in Steglitz Leiterin eines kleinen Kindergartens und seit 2010 leite ich hier den ‚Campus Adlershof‘. Rechts, das ist unsere hauseigene Küche, die alles für uns kocht. Und das hier ist unser Restaurant.“ Wir betreten einen großen, hellen Raum. An zusammengerückten Tischchen, artig auf ihren Stühlchen sitzend, essen fünfzehn Kinder gerade zu Mittag von ihren Tellerchen. „Ich würde mir wie Schneewittchen vorkommen, wenn es hier nicht so“ – ich sehe mich um – „geräumig und, ja, leise wäre.“ Melanie Ehnert weist zur Decke mit den ausgestanzten Holztafeln. „Die Schallschutzdecke und die Holzumrandung der Regale, überhaupt die Möbel und ihr Design, die passen einfach gut zu unserem Fröbel-Ansatz. Uns geht es darum, eine klare und dabei leichte Linie zu haben, nicht zu viele Reize anzusprechen.“ „Sitzen Kinder eigentlich gern?“ „Ja. Kinder lieben es, am Tisch gemeinsam zu sein. Und legen viel Wert auf ihren Platz. Der wird auch verteidigt. Andererseits:

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In dem einen Raum, hier gleich neben dem Restaurant, da haben wir auch Tische und Stühle. Und die werden jeden Morgen, also wirklich jeden Morgen werden diese Stühle von den Tischen weggezogen und als Eisenbahn aufgebaut. Oft werfen die Kinder auch noch eine Decke drüber und spielen Höhle.“ Wir betreten den nächsten Raum, gehen ganz leise durch den übernächsten. Kinder schlafen auf Matratzen, zwischen denen dicke, rote Matratzenwände aufgestellt sind, um ihren Schlaf zu schützen. „Was ist das Besondere an Fröbel-Kindergärten?“, frage ich, als wir wieder im Foyer sind und die Treppe hochgehen. „Unser Träger heißt Fröbel e. V. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir klassisch nach der Fröbel-Pädagogik arbeiten. Wir orientieren uns an den Grundgedanken Friedrich Fröbels, die Kinder wirklich als eine Blume zu sehen, die gegossen und gepflegt sein will, um wachsen und gedeihen zu können. Es fließen aber auch andere pädagogische Ansätze mit ein. Es geht uns nicht so sehr um Erziehung zu bestimmten Fertigkeiten, als vielmehr um Begleitung der Kinder bei ihrer Entdeckung der Welt, das heißt zuerst einmal ihrer Umgebung. Dabei spielt der Raum drinnen und draußen eine große Rolle. Die Innenräume mit ihrer Einrichtung sollen nicht nur Geborgenheit geben, sondern auch herausfordern und aktivieren.“ „Können Sie mir ein Beispiel geben?“ „Hier im Bau-Raum befindet sich alles auf Kinderhöhe, nicht nur die Tische und Stühle, sondern auch die offenen Regalfächer mit den Kisten. Denn wenn ich die Scheren im Regal ganz nach oben lege und die Kinder jedes Mal betteln müssen, dann werden sie irgendwann gar nicht mehr danach fragen und sich mit dem System Schere-Schneiden niemals auseinandersetzen. Hier oben im Elementarbereich haben wir die Räume eher nach Funktionen eingeteilt. Es gibt noch einen Rollenspiel-, einen Motorik-Raum und ein Atelier. Jeder Raum hat etwas Bestimmtes, das die Kinder entdecken und spielen lässt. Im Rollenspiel-Raum gibt es eine Verkleide-Ecke. Dabei ist das Ganze gruppenoffen, das heißt die Kinder können jeden Morgen selbst entscheiden, mit welchen Kindern, bei welchem Erzieher und wo sie spielen möchten. Natürlich gibt es trotzdem eine Zuordnung. Wir nennen das das Stammgruppensystem: Jeder Erzieher hat so und so viele Kinder in seiner Verantwortung. Wenn nämlich am Nachmittag eine Mutter oder ein Vater fragt: So, wo ist mein Kind? Was hat es heute gemacht? – können wir nicht sagen: Weiß ich nicht. Ich glaube, das war heute da. Müssen Sie mal suchen. So eine Aussage kommt nicht gut an bei den Eltern. Also haben wir uns ein System mit Mitteilungsboxen ausgedacht, wo man sich auch kleine Entwicklungsschritte eines Kindes im Team zukommen lässt, beispielsweise welches Wort es heute gelernt hat.“ „Bei Fröbel spielte ja auch die Arbeit eine große erzieherische Rolle. Gibt es die bei Ihnen noch?“ „Einmal die Woche findet die Koch-AG statt. Dort haben wir gemerkt, dass die Kinder auch die Naturalien mitbringen möchten. Also fingen wir an, mit den Kindern einkaufen zu gehen, um zu sehen, wo kriegen wir denn das Obst her, die Milch, den Honig. Wir haben auch einen Imker besucht und sind dann einen Schritt weiter gegangen und haben gemeinsam mit den Eltern einen Garten angelegt, mit Kräuter- und Hochbeeten. Um den

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kümmern sich die Kinder natürlich mit, indem sie pflanzen und gießen. Und was wir ernten, Petersilie, Tomaten, Kräuter, das verarbeiten wir dann in der Koch-AG. So lernen die Kinder am meisten: Wenn sie selbst aktiv sind und ausprobieren.“ „Welche Rolle spielen die fröbelschen Spielgaben noch?“ „Mit seinen Klassikern, den Holzbausteinen, arbeiten wir täglich. Genauso mit den Stäbchen oder Legetäfelchen. Und natürlich singen wir viele seiner Lieder. Das Taubenhaus kennen die Kinder hier in- und auswendig. Und Reime, Zaubersprüche, die binden wir tagtäglich mit ein.“ Melanie Ehnert zeigt mir das Erzieher-Zimmer mit drei laut lachenden Kolleginnen, zuletzt berichtet sie von der schwierigen Kindergartensituation in Berlin, in Adlershof, von Wartelisten, Firmenpartnerschaften und der üblichen Bevorzugung von Geschwistern. Bei allen Problemen ist der Stolz auf ihr neues Haus, ihre Kinder und ihr Team nicht zu überhören. „Eine letzte Frage: Haben Sie selbst Kinder?“ „Nein, aber zwei Neffen, die mich jedes Wochenende völlig in Beschlag nehmen.“ Unten sind die Kinder längst aufgewacht. „Wir öffnen jetzt das Taubenhaus“, höre ich aus einem Raum ihre Stimmchen und die sachte Stimme einer Kindergärtnerin, „die Täubchen, die fliegen so froh hinaus“, während ich mich von Melanie Ehnert verabschiede. „Sie fliegen hin aufs grüne Feld, wo’s ihnen gar zu wohl gefällt.“ Ich gehe quer über die riesige Wiese, den einstigen Exerzierplatz des Wachregiments, zurück zur S-Bahn. Vielleicht sind Melanie Ehnert und ihre Kollegen ja wirklich Pförtner. Keine Wächter, sondern Pförtner in ein Reich des Spiels und der Freiheit.

» K i nder l ieben es, a m T isch gemei nsa m z u sei n. Und legen v iel Wer t au f i h ren Plat z. Der w i rd auch ver teid ig t . «

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» We a re not so concer ned w it h educat ion to ga i n speci f ic a bi l it ies; i nstead it is a bout accompa ny i ng t he ch i ld ren i n t hei r d iscover y of t he world. «

Melanie Ehnert Pat r ick Hof ma n n

In the southeast of Berlin, on the right-hand fringe of the part of Adlershof which has established itself over the last few years as the “City of Science, Business, and Media,” is the Fröbel-Kindergarten, “Campus Adlershof.” From the high embankment of the urban railway station the kindergarten can already be recognized with its characteristic panels, from green to yellow-red, set into a white façade—behind a large field. Between the remaining staff buildings of the Felix Dzerzhinsky Guards Regiment, which in 1953 put down the June 17 uprising behind Soviet tanks, and guarded embassies, state and party buildings up until the end of the GDR — the complex form of the two-story new building opens to the side as opposed to the street. As a result, it appears more protective than representative, making one curious as opposed to making a big impression. Passing a small fenced garden with spindly fruit trees I reach the main entrance. Immediately behind it, at the first door to the left, as if she were the gatekeeper, Melanie Ehnert awaits me in her office. The young, slender director of the kindergarten with her narrow nose and long brown hair resembles Charlotte Roche, a comparison which, as I immediately became conscious of, naturally finds no echo here. Mel an i e Eh n er t organ i zes th e e x i t in g e ver y d ay lives of th e ch i l dren .

“You know, we in the Fröbel kindergartens,” says Melanie Ehnert, “put a great deal of store in learning by doing. Understanding by grasping, as Fröbel would say. So the best thing is if I show you our building first. However, we have to be very quiet downstairs as the children are sleeping.” It is not just her manner that appeals to me, but her light Berlin dialect. It had never occurred to me before that the Berlin dialect could simply sound friendly. “Where were you born?” “Here in Berlin. In Buch.” “In the East. Was it more rural or suburban?” “Completely rural, although it is only five stops on the urban railway from Pankow, with a lot of woods, the Buch Forest, Lake Gorin, Lake Liepnitz, very very green.” In the foyer I take a glance at the wooden ceiling on the top floor with the rooflight domes. “And you went to a kindergarten there?” “Yes. Back then I would also have liked to have been a Young Pioneer, in order to have a neckerchief like my sister. But the GDR didn’t survive that long.” “What did you like playing with most of all as a child?”


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“Hmm. I have always been a dreamer and I liked playing by myself most of all, or with my sister. At this time the pony thing was all the rage. And I was a complete pony fan. These small, super kitschy ponies, pink, purple, blue. You could get them in many different colors.” “What were they called again?” “My Little Pony. They all had an incredibly long mane, longer than the horse’s, I mean the pony’s tail.” “Oh yes. The glorious days of pop.” “When one was used to having a lot of wooden toys and spending all one’s time in the countryside with one’s parents, every weekend, in the woods, then for a while one thought these totally kitsch and colorful things were really great.” We — I briefly recount my time as a would-be bopper — both laugh and enter the cloakroom, which is separated from the foyer by a garden fence and has individual compartments. “The downstairs cloakroom is for 50 children. The one upstairs caters for the same number. You can fit an incredible amount in the compartments. They don’t break either. Our children manage to break everything. But not this furniture.” “When did you make the decision to become a kindergarten teacher?” “Actually as young as the age of ten. I had joined the German Lifesaving Society and began to take my bronze, silver, and gold levels at the lifesaving association, and then had the opportunity to give my own lessons at the Buch swimming pool. As the little children liked playing with me and I had a connection with them I kept it up until I was 17, and then following my school leaving examination I trained as a kindergarten teacher.” “How long did it take?” “Back then three and a half years, with work experience.” “And after your training?” “I worked for six years as a kindergarten teacher in different establishments until I discovered the Fröbel kindergartens, whose approach appealed to me. First I worked as a teacher in Alt-Stralau, then as director of a small kindergarten in Steglitz, and since 2010 as the director here at “Campus Adlershof.” To the right is our in-house kitchen, where everything is cooked for us. And this here is our restaurant.” We enter a large, bright room. Sitting on their little chairs at a group of tables pushed together 15 children are just eating lunch from their little plates. “I would feel like Snow White if it wasn’t so”—I look around me — “spacious and, yes, quiet here.” Melanie Ehnert points to the ceiling with the perforated wooden panels. “The sound insulation ceiling and the wooden edging of the shelves, the furniture and its design, they simply fit well to our Fröbel approach. It is about having a clear and at the same time discrete line, not generating too much stimulus.” “Do children actually like sitting?” “Yes. Children love sitting together at a table. They place great importance on their place. They also defend it. On the other hand: In the room directly next to the restaurant we also have tables and chairs. And every morning, and I mean every morning, these chairs are pulled away from the tables and made into a train. The children often throw a blanket over them and play at being in a cave.”

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We enter the next room, pass very quietly through the one after that. Children sleep on mattresses, between which thick red mattress walls have been erected in order to protect their sleep. “What is special about Fröbel kindergartens?” I ask as we find ourselves back in the foyer and ascend the stairs. “Our umbrella organization is called Fröbel e.V. However, that does not mean that we work according to the classic Fröbel pedagogy. We orientate ourselves on Friedrich Fröbel’s fundamental ideas, we really see the children as f lowers that need to be watered and nurtured in order to grow and flourish. However, other pedagogical approaches flow into this. We are not so concerned with education to gain specific abilities, instead it is about accompanying the children in their discovery of the world, which initially means their environment. Space inside and outside plays a great role in this. The interiors and their furnishings should not just provide security, they should also challenge and activate.” “Can you give me an example?” “Here in the craft room everything is at the children’s height, not just the tables and chairs, but also the open-shelf compartments with the boxes. If I was to place the scissors at the very top of the shelf and the children had to beg me every time, then at some point they would simply stop asking and never engage in the act of cutting with scissors. And upstairs in the elementary section we have divided the rooms according to functions. There is a role-play and a motor skills room and an art room. Each room has something specific that allows the children to discover and play. In the role-play room there is a dressing-up corner. The whole thing is based on open groups, which means that each morning the children can decide for themselves which children they want to play with, with which teacher, and where they want to play. Naturally the children are still allocated. We call it the core group system: Each teacher is responsible for a specific number of children. For example, when a mother or father asks in the afternoon: so, where is my child? What did they do today?— we can’t say: I don’t know. I think they were there today. You will have to go and look. Such a statement isn’t received well by the parents. So we have devised a system of message boxes where one can also record a child’s small developmental steps for the group, for example which word they have learnt today.” “For Fröbel work also played a great educational role. Does this still play a role with you?” “Once per week we have the cooking work group. Here we noticed that the children want to bring the natural produce with them. So we started going shopping with the children in order to see where we get the fruit, the milk, the honey. We also visited a beekeeper and then went a step further and planted a garden with the parents, with herbs and raised beds. Naturally the children tend to them by planting and watering. And what we harvest, parsley, tomatoes, herbs, we then use in the cooking work group. Children learn more when they are active themselves and try things out.” “What role do Fröbel Gifts still play?” “We work with his classics, the wooden blocks, every day. The same applies to the sticks and mosaic tiles. And naturally we sing a lot of his songs. The children here know The Dovecot inside out. And rhymes, spells, we integrate these on a daily basis.”

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Melanie Ehnert showed me the staff room with three female colleagues heartily laughing; finally she spoke of the difficult situation with kindergartens in Berlin, in Adlershof, of waiting lists, company partnerships, and the customary priority given to siblings. Despite all the problems, her pride in her new establishment, her children, and her team is unmistakable. “A last question: do you have children yourself?” “No, but I have two nephews who take up all my time at the weekends.” Downstairs the children have long since woken up. From one of the rooms I can hear their little voices and the gentle voice of a kindergarten teacher singing “Now we open the dovecot, the doves they fly so happily out,” as I say goodbye to Melanie Ehnert. “They fly out onto the green field, where they so love to be.” I walk straight across the huge field, the former parade ground of the guards regiment, back to the urban railway station. Maybe Melanie Ehnert and her colleagues really are gatekeepers. Not guards, but gatekeepers in a kingdom of play and freedom.

» Ch i ld ren love sit t i ng toget her at a t a ble. They place g reat i mpor t a nce on t hei r place. They a lso defend it . «


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Zur Sch旦nen Aussicht R esidenztheater M 端nchen

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Ein Besuch im Residenztheater M端nchen Pat r ick Hof ma n n

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Sebastian Huber, der Chefdramaturg und stellvertretende Intendant des Münchner Residenztheaters, will mich am Hintereingang des Hauses abholen. Ich kenne München schlecht. Von der Alfons-Goppel-Straße gelange ich durch eine der breiten Zufahrten in einen schattig kühlen Hoftrakt des einstigen Stadtschlosses der Wittelsbacher. Mauern, Türen, Tore: Wie soll ich hier die Pförtnerloge finden? Vor dem akkuraten Kabinettsgarten weiß ich nicht mehr weiter. Ich rufe an, warte vor der Allerheiligen-Hofkirche keine Minute, schon kommt mir Sebastian Huber entgegen. Türen auf und zu, Treppen hoch, Gänge, links rechts links: Keine Führung seinerseits, wachsende Verwirrung meinerseits, dafür aber unterwegs eine Einführung in die Baugeschichte des Theaters: Die Zerstörung der ursprünglichen Rokoko-Oper 1944, die ausgelagerte Innendekoration findet im Neubau 1950 keine Wiederverwendung. Wir kommen an einigen Mitarbeitern und der Kantine vorbei. „Kaffee?“ – „Nein, danke.“ Zwar ist das Theater in den 1950er-Jahren technisch eines der modernsten. Seine Architektur jedoch wird im Wirtschaftswunderland bald als zu schlicht und kühl empfunden im Vergleich zu den wiedererstandenen Nachbar-Prachtbauten. Auch die Renovierung Ende der 1980er-Jahre ändert nichts an der Tatsache, dass die Münchner die Hauptspielstätte des Bayrischen Staatsschauspiels als Zweckbau empfinden und ein wenig mitleidig das Resi nennen. Durch dämmrige Gänge gelangen wir zur Galerie der Eingangshalle und weiter bis ganz nach vorn in eine verglaste Terrasse. „Hier sind wir“, sagt Sebastian Huber und lässt mir Zeit zur Bewunderung: Eine hohe Scheibenfront über die ganze Breite der Außenfassade zum Max-Joseph-Platz mit Blick auf Fassaden reicher Bürgerhäuser und dahinter das Wahrzeichen der Stadt, die Doppeltürme der Frauenkirche. Innen herrscht das Weiß der Stühle, Sofa-Bezüge, Fenster- und Türrahmen vor. Die Transparenz des Ganzen wird durch die seitlichen Spiegelwände noch vermehrt und bekommt durch das helle Holz der langen Tische eine warme Note. „Jedenfalls blieb auch im Haus und nach der Renovierung eine gewisse Unzufriedenheit mit dem Bau bestehen, was dazu führte, dass da und dort Dinge geändert, Kunstwerke zugebaut oder Ansichten verstellt wurden. Mit der neuen Intendanz von Martin Kušej haben wir uns vor zwei Jahren gefragt, wie wir mit der Situation umgehen. Was wir da machen können? Und da sind wir auf den Konstantin verfallen.“ Den haben Sie sich ausgesucht? Der hatte vorher mit dem Haus nichts zu tun? Richtig. Natürlich lebt er in München und ist ein toller Designer. Er hat in der Stadt schon einige schöne Orte gemacht und ist einem, was die Gegenstände und Objekte angeht, einfach im Kopf, wenn man hier herkommt. Uns hat total gefreut, das er sich für die Sache interessierte, obwohl wir ja erst einmal ganz schön viel Kunst produzieren mussten und wollten und deshalb nicht sagen konnten: Jetzt fang mal an. Hier hast du einen Riesenauftrag. Das war eine Nebenbaustelle. Genau. Das ging in kleinen Schritten los, was ja eine ganz sinnvolle und angemessene Herangehensweise ist. Konstantin hat viele Ideen und Vorschläge präsentiert, so dass man immer sehen

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konnte, in welche Richtung man weitergehen möchte. Das war sehr offen und angenehm. Wir wollten ja einen Kommunikationsort schaffen und konzentrierten uns bald auf diesen Raum hier über dem Windfang des Foyers als ein auch optisches Verbindungsglied zwischen Stadt und Theater. Durch diese Glasfront lässt sich genau so gut hinein- wie hinausschauen. Die Grundidee stand relativ schnell fest: eine lange Tafel, an die sich jeder setzen kann, nach dem Vorbild einer table d’hôte, wo alle aus großen Schüsseln das Gleiche essen. Jetzt sind es aber drei Tische. Das geht feuerpolizeilich nicht anders, weil die Fluchtwege sonst zu lang gewesen wären. Wie viele Stühle sind das insgesamt? Fünfzig? So was. Sechzig. Die Tische sind auch von Grcic? Extra für uns angefertigt. Und dieses Ensemble ist das neue Aushängeschild des Residenztheaters, das Gesicht der Intendanz Kušej? Ja. Das Spannende an der Zusammenarbeit mit Konstantin ist diese Mischung von extremer Sensibilität für so einen Raum und die Bedürfnisse des Theaters einerseits und andererseits die pragmatische Professionalität im Umgang mit dem Vorhandenen, also dafür, was man jetzt erreichen und perspektivisch denken kann. Das ist, wenn ich so sagen darf, extrem unversponnen. Der Konstantin hat auch nicht gesagt: Äh, was machen wir denn jetzt mit dieser komischen Spiegelwand da? Sondern meinte: Wenn man auf diese Bogenstruktur diese Punkte setzt, dann haben wir schon was geschafft. Und das hat auch mit der Gestaltung der Außenseite zu tun, weswegen wir das Zur schönen Aussicht genannt haben. Früher hieß das Wintergarten. Natürlich ist es auch einer der tollsten Plätze in der Stadt. Und funktioniert der Ort? Ja. Man kann das gastronomisch noch verbessern. Und das hoffen wir auch hinzukriegen. Dann wird die Aussicht noch mehr Zuspruch bekommen. Gibt es einen normalen Café-Betrieb? Nein. Aber das ist eigentlich das Ziel. Was da aber alles zu bedenken und zu regeln ist, erkläre ich Ihnen jetzt nicht. Und wie sah das früher aus? Es gab schwarze Holzsessel und brusthohe, schwarze Stehtische, auf denen man in der Pause sein Gläschen abstellen konnte. Also recht steif. Hm. Jetzt hat das so eine Arbeitsatmosphäre, die Stühle, die Tischbank … Wir nutzen das auch tagsüber ständig, machen Leseproben, Konzeptionsgespräche, Sitzungen.

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» Der Konst a nt i n hat auch n icht gesa g t : Ä h, wa s machen w i r den n jet zt m it d ieser kom ischen Spiegelwa nd da? Sonder n mei nte: Wen n ma n au f d iese Bogenst r u k t u r d iese P u n k te set zt , da n n ha ben w i r schon wa s gescha f f t . «

Wie viele Leute nehmen an solchen Proben teil? Das ist sehr unterschiedlich, je nachdem, wie groß die Produktion ist. Das sind dann nicht nur die Schauspieler, sondern auch der ganze Stab mit allen Assistenten, Praktikanten, Abteilungsleitern, die die Chance haben, dazuzukommen. Dann stehen große Modellkästen herum. Modelle wovon? Vom Bühnenbild, das den Schauspielern zum ersten Mal gezeigt wird. Und Kostümfigurinen kleben an der Wand. Also, da ist ganz schön was los. Auch für Besprechungen ist das hier sehr beliebt. Denn der Raum bietet nicht nur Platz. Es kommen auch alle einmal aus ihren Büros raus; man ist fast schon an der Luft. Der Bühnenraum ist ja an sich dunkel. Der hat keine Fenster. Genau. Und der PRO von Konstantin hier ist auch das Gegenteil eines Theatersessels – federleicht, hellwach, sprungbereit. Das ideale Möbel nicht nur für das schnelle Glas in der Pause, sondern genauso für Proben oder lange Debatten nach den Vorstellungen.

Können Sie sich den Stuhl auch auf der Bühne vorstellen? Dieser Stuhl (Sebastian Huber klopft in die Lehne) fände nicht so wahnsinnig leicht den Weg auf die Bühne. Er spielt sich nicht auf. Es kommt hier niemand rein in die Aussicht und sagt: Wow, die Stühle! Wohingegen Stühle auf der Bühne immer versuchen, Aufhebens von sich zu machen und eine Geschichte zu transportieren. Sie sind immer ein Zeichen. Und die hier sind das nicht. Die sind total angenehm zu sitzen und bestimmen natürlich stark den Charakter des Raums, ohne sich aber als Einzelne groß zu machen. Auf der Bühne hat man immer entweder einen Thron, einen Küchenstuhl oder einen Schemel, wobei nur eine bestimmte Dramatik überhaupt Stühle vorsieht. Also das antike Theater zum Beispiel nicht. Da steht man oder ist tot. Dass Stühle auf die Bühne kommen, ist eine historische Entwicklung. Der PRO auf der Bühne würde uns zweifellos ein modernes Stück erwarten lassen. Ja, natürlich ist der modern und elegant. Aber im Gegensatz zu den im Theater üblichen Stühlen würden wir nicht wissen, wer darauf sitzen könnte.


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Der ehema l ige W in tergar ten hei ßt seit der neuen G est a lt u n g von Grcic Zur Sch ön en Au s s i ch t . Au sgest at tet m it PRO.

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Si nce Kon st a nt i n Grcic gave t he for mer W in tergar ten a new look , it i s ca l led Zur Sch ön en Au s s i ch t ( The Beaut i f u l V iew) . F u r n i shed w it h PRO.

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Also ich finde ihn recht individuell mit dem schmalen, griffig auslaufenden Rücken. Ich glaube, er ist gerade nicht so voller Zeichen. Deswegen passt er ja genauso gut in eine Schule. Also ich finde ihn besonders toll in der Reihe und in der Menge. Das Charakteristische an ihm ist meiner Meinung nach das Serielle, ich meine, wie sich in ihm das Intelligente und Stapelbare treffen. Herr Huber, Sie haben mich nicht am Haupteingang abgeholt, wodurch ich schon vom Licht und von der Großzügigkeit der Publikumsräume beeindruckt und geblendet in eine bequeme Erwartungshaltung gerutscht wäre. Sondern Sie haben mich durch den Eingang für die Schauspieler, Angestellten, Arbeiter gewissermaßen durch das Dunkle einer unübersichtlichen Produktionsmaschine hierher ins Schaufenster der Ideen, Gespräche und Einsichten geführt. Ist das die Arbeit eines Dramaturgen? Sind das die Wege, die ein Dramaturg zu finden hat? Ja, das ist eine ganz schöne Beschreibung. Der Dramaturg pendelt immer zwischen‚„vorne“ und „hinten“, zwischen Produktion und Rezeption. Eine unserer wichtigeren Funktionen ist, dafür zu sorgen, dass das Theater nicht an der Rampe endet, dass es durchlässig bleibt, sich nach außen wendet und Eindrücke von außen empfängt. Man versucht auch immer zu reflektieren, wie das Verhältnis des Theaters zur Außenwelt ist, aber meist nicht durch langes, intensives Nachdenken, sondern durch schnelles, reflexartiges Spiegeln: Wie reagiert das, was wir tun, auf die Welt, und wie reagiert die Welt auf das, was wir tun? Insofern sind Denken und Machen im Theater nicht zwei Dinge, die nacheinander passieren, sondern immer gleichzeitig. Wir machen gemeinsam mit dem Intendanten den Spielplan. Wir bereden, welcher Regisseur zu welcher Zeit welches Stück mit welchen Schauspielern inszenieren soll. Das ist die wesentliche Aufgabe, was das künstlerische Profil des Gesamthauses angeht. Und dann ist man beteiligt an den einzelnen Produktionen, bei der Vorbereitung, Konzeption, Strichfassung, beim Material. Mit dem Regisseur, dem Bühnenbildner fragt man sich: Was soll erzählt werden? Wo will man hin? Wie soll das gelesen und verstanden werden? Und dann ist man natürlich auf den Proben. Als was? Als drittes, viertes Auge des Regisseurs? Eher als erster Zuschauer. Natürlich als relativ informierter. Aber eine wesentliche Eigenschaft ist auch, sich wieder dumm zu machen. Sich reinzusetzen und zu fragen: Was seh’ ich überhaupt? Was vermittelt sich überhaupt von dem, was man sich vorgenommen hatte? Man ist so eine erste Rückmeldestation, auch für die Schauspieler, zu denen man ein vertrauensvolles Verhältnis haben muss. Und dann ist man viel mit der Öffentlichkeitsarbeit beschäftigt, mit Programmheften, Zuschauergesprächen, Einführungen. Dann hängen Sie also überall mit drin, bis hin zur Gestaltung dieses Raumes. Wenn ein Dramaturg so unentbehrlich ist, warum gibt es dann diesen Beruf nur in der deutschen Theaterlandschaft?

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Weil die anderen Länder keinen Bertolt Brecht hatten. Und überhaupt ein anderes System haben. Natürlich hängt dem Dramaturgen ein wenig der Ruch des Überflüssigen an. Jemand, der überall seine Finger mit drin hat, was macht der eigentlich konkret den ganzen Tag? (Wir lachen beide) Aber nein. Der Beruf hat sich sehr stark mit dem deutschen Stadttheatersystem und der Vorstellung eines Ensembles entwickelt. In Frankreich zum Beispiel gibt es ja außer an der Comédie-Française wenige richtig stehende Ensembles, die so wie wir fünfzig Schauspieler mit festen Verträgen haben, die das ganze Jahr hier sind und arbeiten. Dadurch entstehen ja auch Aufgaben, die mit Ensemblebildung und -entwicklung zu tun haben, weil man sich eben nicht immer die Truppe zusammenholt, die man gerade für die Produktion braucht, sondern weil man die ganze Planung auf ein Ensemble hin abstellt. Man entwickelt also viel stärker das eine aus dem anderen und stellt darüber das Gesicht eines Hauses her. Und das wirkt auch, insofern nämlich die Zuschauer sich sehr schnell mit den Schauspielern zu verbinden gewohnt sind und nicht darauf spitz sind, dass als nächstes hier Bruno Ganz auftritt. Das ist schon etwas sehr Schönes. Man entwickelt sich als Haus mit seinen Zuschauern zusammen. Wir hatten da einen relativ harten Übergang gehabt jetzt. Vor zwei Jahren. Fast zwei. Das Dorn-Ensemble war ja sehr beliebt und aus guten Gründen. Aber die neuen Schauspieler wurden zu unserer großen Freude sehr schnell akzeptiert. Das Programm nicht gleich, aber die Leute um den neuen Intendanten Martin Kušej, ihre Qualität, das wurde gleich gesehen. Und jetzt wachsen wir auch zusammen. Das dauert natürlich eine Weile. Man muss sich ja menschlich und künstlerisch kennenlernen und gemeinsame Erfahrungen machen. Und so irre das irgendwie auch ist als Betrieb mit allen Problemen, Fliehkräften, Persönlichkeiten, einzelnen Ansprüchen, externen Angeboten, so schwierig es ist, das immer unter einen Hut zu bekommen, so einzigartig und lohnend ist es auch. Die Wirkung, die das hat, dass ein Publikum sagt: Ja, das sind die Leute, mit denen wir hier Theater verbinden, das ist schon eine extreme Qualität, die uns auch weiterhin auszeichnet vor Italien oder Frankreich oder anderen Ländern, wo es einzelne Stars gibt, um die sich das andere so ein bisschen herumgruppiert. Herr Huber, und wo lassen Sie mich jetzt heraus? Vorn natürlich. Durch den Haupteingang.

Residenz the ater München Ba r/C a fÉ/Restaur ant: PRO V ierbe in, Stühle A rchi tek t: Konstant in Grcic 2011

« Ja , nat ü rl ich ist der moder n u nd elega nt . A ber i m G egensat z z u den i m Theater ü bl ichen St ü h len w ü rden w i r n icht w issen, wer da rau f sit zen kön nte. »

S eba st ia n Hu ber, Chefd ra mat u rg des Mü nch ner Residen z t heater s


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Zur Schönen Aussicht (T he Beautiful V iew)

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A V isit to Munich’s Residenztheater Pat r ick Hof ma n n

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I have arranged to meet Sebastian Huber, chief dramatic advisor (Chefdramaturg) and acting director of Munich’s Residenztheater, at the theatre’s rear entrance. I don’t know Munich very well. I enter a cool, shady courtyard of the former City Palace of the House of Wittelsbach through one of the wide avenues extending from Alfons-Goppel-Straße. Walls, doors, gates: how will I find the porter’s office here? Standing in front of the meticulously tended Kabinettsgarten, I give up. I make a call, wait in front of the Allerheiligen-Hof kirche, and less than a minute later Sebastian Huber is walking to meet me. Doors open and close, we ascend steps, corridors, left right left. He doesn’t provide a guided tour and I am increasingly confused, however, en route I am treated to an introduction to the theatre’s history: the destruction of the original rococo opera house in 1944, the new building from 1950 in which no use could be found for the original interior decoration held in storage. We pass a number of employees and the canteen. “Coffee?”—“No thanks.” In the 1950s the theatre was state-of-the-art technically, but in the country of the economic miracle its architecture was soon considered too plain and cool in comparison to the magnificence of the neighboring restored buildings. Even the renovation at the end of the 1980s did nothing to alter the fact that the people of Munich consider the Bavarian State Theatre’s main venue a functional building, calling it, a little pityingly, das Resi. Through dim corridors we enter the gallery of the entrance hall, proceeding to the very front and onto a glazed terrace. “Here we are,” says Sebastian Huber, giving me time to take it all in: a high glass front extending across the whole width of the façade facing Max-Joseph-Platz, with a view of the façades of rich town houses, and beyond them, the city’s landmark, the Frauenkirche. The interior is dominated by the white of the chairs, sofa covers, and door frames. The transparency of the ensemble is intensified by the mirrored side walls, and is lent a warm accent by the light wood of the long tables. “At any rate, a certain dissatisfaction with the building following the renovation also persisted internally, which meant that things were changed here and there, art works were built over or views were altered. Two year’s ago, under the new director Martin Kušej, we asked ourselves how we could deal with the situation. What could we do? And then we came across Konstantin.”

above the foyer’s vestibule as an optical connecting element between city and theatre. You can look in through this glass front as easily as you can look out. The basic idea was established quite quickly: a long table at which everyone can sit, according to the model of the table d’hôte, where everyone eats the same thing from large bowls.

You chose him? He hadn’t had anything to do with the theatre before then? Correct. Naturally he lives in Munich and is a great designer. He had already created a number of beautiful places in the city, and if you come from here you think of him when it comes to the items and objects. We were delighted that he was interested in the matter, although our first task was to produce a lot of art, so we couldn’t simply say: Get started. You have a huge contract here.

And what did it used to look like? There were black wooden chairs and chest-high standing tables where one could place a glass during the intermission.

It was an auxiliary project. Exactly. It initially proceeded in small steps, which is a sensible and appropriate approach. Konstantin presented many ideas and suggestions so that one could always see which direction one wanted to go. It was very open and pleasant. We wanted to create a communication site and quickly concentrated on this room

But now it is three tables. This is necessary due to fire regulations, otherwise the escape routes would be too long. How many chairs are there in total? 50? Something like that. 60. Are the tables also from Grcic? Made specially for us. And this ensemble is the Residenztheater’s new figurehead, the public face of Kušej’s directorship? Yes. The exciting thing about the collaboration with Konstantin is this mixture of an extreme sensitivity for such a room and the needs of the theatre on the one side, and a pragmatic professionalism in dealing with the existing on the other, that is, what one can achieve now and which perspectives there are for the future. If I may say so, this is extremely down-to-earth. Konstantin didn’t say: oh dear, what shall we do with this strange mirrored wall there? Instead, his approach was to say: if one sets this accent on top of this arch structure, then we have already achieved something. And this is also linked with the view of outside, which is why we have called it Zur schönen Aussicht (The Beautiful View). It used to be called Wintergarten. Naturally it is also one of the city’s greatest squares. And does it work? Yes. It could be improved gastronomically. And we hope to achieve this. Then the Aussicht will be even more popular. Does it function as a normal café business? No. But that is actually the goal. I won’t explain to you now all the things that need to be considered and managed.

So really stiff. Hmm. Now it has something of a work atmosphere, the chairs, the bench … We also use it constantly during the day, for reading rehearsals, conceptual discussions, meetings. How many people take part in such rehearsals? That varies greatly, depending on the size of the production. This doesn’t just include the actors, but the whole staff with all the

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» Konst a nt i n d id n’t say : oh dea r, what sha l l we do w it h t h is st ra nge mirrored wa ll t here? Instead, his approach wa s to say : i f one set s t h is accent on top of t h is a rch st r uct u re, t hen we have a l ready ach ieved somet h i ng. «

assistants, trainees, heads of department, those who have the chance to attend. Then there are large model boxes standing around. Models of what? Of the stage set, which the actors are shown for the first time. And costume figurines are hung on the walls. So there is a lot going on. It is also very popular for meetings. The room doesn’t just offer space. Everyone also has an opportunity to get out of their offices; it is almost like being outside. The stage itself is dark. It doesn’t have any windows. Exactly. And the PRO here from Konstantin is also the opposite of a theatre chair — light as a feather, wide awake, ready for action. The ideal furniture, not just for a quick drink during the intermission, but also for rehearsals or long debates following performances. Can you also imagine the chair on the stage? This chair (Sebastian Huber pats the backrest) doesn’t find its way very easily onto the stage. It doesn’t put on airs. No one comes into the Aussicht and says: Wow, the chairs! Whereas chairs on

the stage always attempt to make a fuss about themselves and convey a story. They are always symbolic. And these here are not. They are extremely comfortable to sit in and naturally exert a strong influence on the character of the room, but without standing out as individuals. On the stage there is always either a throne, a kitchen chair, or a stool, although it is only certain types of drama that actually call for a chair. The ancient theatre, for example, does not. One either stands or one is dead. That chairs found their way onto the stage is a historical development. Seeing the PRO on the stage would definitely lead us to expect a modern piece. Yes, naturally, it is modern and elegant. However, in contrast to the chairs usually found in a theatre, it doesn’t tell us who could sit in it. I find it highly individual with its narrow, grippable, curved back. Because it is not so full of symbols it fits so well in a school. I especially like it in a row and en masse. In my opinion its characteristic feature is the serial, I mean the manner in which it combines intelligence and ‘stackability.’


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Mr Huber, you didn’t meet me at the main entrance, which, blinded by the light and the lavishness of the public spaces, would have instilled in me a reassuring sense of expectation. Instead, you met me at an entrance for actors, employees, workers so to speak, leading me through the darkness of a confusing production machine to this display window for ideas, discussions, and insights. Is that the work of a dramatic advisor? Are those the paths that a Dramaturg has to take? Yes, that is a very good description. The Dramaturg always commutes between “front” and “back,” between production and reception. One of our most important functions is ensuring that the theatre doesn’t end at the footlights, that it remains permeable, that it turns outwards and receives impressions from outside. One always attempts to reflect on the relationship of the theatre to the outside world, but generally through quick, reflexlike mirroring as opposed to long, intensive contemplation: how does what we do react to the world, and how does the world react to what we do. To this extent, thinking and doing in the theatre are not two things that occur one after the other. They always occur simultaneously. We work out the program together with the artistic director. We discuss which director is to stage which piece with which actors and when. That is the essential task in respect of the theatre’s overall artistic profile. And then one is involved in the individual productions, during the preparation, conception, adaptation, and selection of material. Together with the director and the stage designer, one asks: What is to be told? Where does one want to go? How is it to be read and understood? And then naturally one is at the rehearsals.

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one from the other to a far greater extent, thus creating the theatre’s public face. And this also functions, namely to the extent that the audience are accustomed to quickly establishing a connection with the actors, and are not gagging to see Bruno Ganz as the next star performer. That is something really beautiful. One develops as a theatre, together with one’s audience. We have just had a very tough transition. Two years ago. Almost two. The Dorn ensemble was very popular, and for good reason. However, to our great delight, the new actors were well received very quickly. The program took longer to be accepted, but the quality of the people around the new artistic director Martin Kušej was recognized immediately. And now we are also growing together. Naturally this takes some time. One has to get to know one another artistically and as people, experiencing things together. And as crazy as it is somehow as a theatre company, with all the problems, centrifugal forces, personalities, individual demands, external offers, as difficult as it is continually trying to reconcile everything, it is equally unique and rewarding too. The effect that this has, that a public says: yes, these are the people that we associate with theatre here, is a remarkable quality which continues to distinguish us from Italy or France or other countries where there are individual stars around which everything else is loosely grouped. Mr Huber, where are you going to let me out now? The front naturally. Through the main entrance.

As what? As the director’s third, fourth eye? More like the first member of the audience. Naturally a relatively well-informed one. However, an important characteristic is making oneself ignorant again. Placing oneself in their position and asking: What am I actually seeing? To what extent are our intentions actually being conveyed? One is thus a type of first feedback station, for the actors too, who one has to have a trusting relationship with. And then one is heavily involved with public relations work, with programs, audience discussions, introductions. Then you are involved with everything, down to the design of this room. If a Dramaturg is so indispensable, why is this profession only found in the German theatre landscape? Because the other countries didn’t have a Bertolt Brecht. Because they have a different system. Naturally, the Dramaturg has the reputation of being somewhat superfluous. Someone who has a finger in every pie, what does he actually do all day? (We both laugh.) But no. The profession developed in close connection with the German city theatre system and the idea of an ensemble. In France for example, apart from the Comédie-Française, there are few genuine permanent ensembles like ours, which has around 50 actors with fixed contracts who work throughout the year. This results in tasks associated with the formation and development of an ensemble. One doesn’t simply bring together the troupe one needs each time for the current production, instead one tailors the entire planning to an ensemble. One develops the S eba st ia n Hu ber, ch ief d ra mat ic adv i sor at Mu n ich’s Residen z t heater.

Munich’s Residenz the ater Bar/c afÉ/restaur ant: PRO 6 four-legged, cha irs A rchi tect: Konstant in Grcic 2011


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» Seei ng t he PRO on t he st a ge wou ld def i n itely lead us to ex pect a moder n piece. «

» Yes, nat u ra l ly, it is moder n a nd elega nt . However, i n cont ra st to t he cha i r s usua l ly fou nd i n a t heat re, it doesn’t tel l us who cou ld sit i n it . «

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Fel i x-Fechenbach-Berufskolleg, De tmold Kl assenr 채ume Produk te: PRO 6 C-Gestell, PRO T ische Rechteck, Quadr at, Dre ieck A rchi tek t: pape oder semke, Bieser Berg 37, 32758 De tmold 2011 + 2012

Fel i x-Fechenbach-College, De tmold Cl assrooms Products: PRO 6 C-fr ame, PRO tables oblong, square, tr i angul ar A rchi tect: pape oder semke, Bieser Berg 37, 32758 De tmold 2011 + 2012

Feli x-FechenbachBerufskolleg

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D ie Gr u nd for m von PRO – a l s S chu l st u h l . The ba sic model of PRO — a s school chair.

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Z a h l reiche PRO T i sch for men u nd -kom bi nat ionen er mรถg l ichen seh r f lex i ble Rau m sit uat ionen .

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Nu merou s PRO t a ble models a nd com bi nat ion s ma ke f lex i ble space - a r ra n gement s possi ble.

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A nders hell und anders still

Rebecca Ma r t i n

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Da steht er. M it d iesem hä ssl ichen Ruck sack , den sei ne Cousi ne i h m z u sei nem let zten G ebu r t st a g geschen k t hat , u nd ei ner T üte Ch ips i n der Ha nd. Guck t i n d ie Ha m bu rger Nach m it t a g slu f t u nd den vorbei lau fenden Frauen h i nterher. Gä h nt , u nd hä lt sich er st d ie Ha nd vor den Mu nd, a ls er m ich entdeck t . D u rch da s G ew i m mel u nd den Großst adt st au b h i ndu rch.

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„Hi“, sage ich, zögere kurz und schlinge dann meine Arme um seinen Hals. „Hi“, sagt er. Streicht mir das Haar aus der Stirn. Küsst mich auf die Wange. Hält mich ein paar Sekunden fest. In der U-Bahn der Geruch nach Frühjahrsmüdigkeit. Die Menschen kleben träge an ihren Sitzen, nicken über ihren Büchern und Zeitungen ein oder starren gelangweilt auf das Display ihres Smartphones. Ich denke an den Inhalt meines Kühlschrankfachs im Wohnheim und ob wir nicht vielleicht doch noch einkaufen gehen sollten. Aber später. Wenn Jakob die Sachen abgelegt hat. Zuhause. Es fühlt sich seltsam an, diesen Begriff überhaupt zu denken. In Zusammenhang mit dieser Stadt. Mit dieser Station, zu der wir gerade fahren, mit dieser Straße, durch die wir bald gehen werden. Vielleicht im Gespräch, vielleicht gedankenverloren, vielleicht nichts von beidem. „Willst du?“ Jakob hält mir die Tüte Chips vor die Nase und ich greife hinein, greife eine ganze Handvoll und schiebe sie mir in den Mund, sodass rechts und links Chipsbrösel auf den Sitz fallen. Vor den Fahrradständern spielen ein paar Kinder Ball, eine Frau mit roten und blonden Strähnen im Haar steht an einen Poller gelehnt und raucht eine Zigarette. Ich lege meine Hand auf Jakobs Arm und lenke ihn mit sanftem Druck in die richtige Richtung, und wir gehen schweigend die Straße hinunter, schweigend an aufblühenden Büschen und an Klinkerbauten vorbei. Und an Fenstern, hinter denen Frauen vor laufendem Fernseher in der Küche herumhantieren. Deren Kinder bei den Nachbarn im Hof spielen. Deren Männer im Wohnzimmer hocken und den defekten DVD-Player reparieren, oder erst abends aus dem Büro wiederkehren werden. Wir schweigen, und das Schweigen wird nur von Jakobs gelegentlichem Husten durchbrochen, oder wenn er ächzend den Rucksack auf seinem Rücken nach oben hievt. Den ganzen Weg über kommt uns nur ein einziger Mensch entgegen, ein Mann mit Glatze und winzigem Hund. „So“, sage ich, zum meinem eigenen Erstaunen etwas verlegen. „Da sind wir.“ Jakob schaut sich um. Er wirkt groß unter der niedrigen Decke, oder die Decke wirkt niedrig bei seiner Größe. Ich folge Jakobs Blick über die Küchenzeile, wo sich auf der Arbeitsfläche benutzte Teller und Töpfe stapeln, … zu dem Wäscheständer, der zwischen zwei Topfpflanzen eingequetscht steht, folge ihm Richtung Fenster und auf das Sofa mit dem grell gemusterten Stoff, das traurig aussieht, weil der Stoff so grell gemustert ist. „Und das“, ich ziehe ihn am Ärmel, „ist mein Zimmer. Nichts Besonderes … aber … na ja. Immerhin meins.“ Ich bleibe im Türrahmen stehen, die Beine überkreuzt, die Hände vor meinem Schambein verschränkt. Durch Jakobs Augen betrachtet sticht in meiner Wahrnehmung jedes Detail unangenehm hervor. Die Fotos, die ich pubertär an der weißen Wand über dem Bett drapiert habe. Die schlichten Regale, vollgestopft mit meinen Habseligkeiten aus Kindheitstagen. Jakob lässt sich auf den Stuhl am Schreibtisch plumpsen und zieht mich zu sich auf den Schoß. Ich vergrabe mein Gesicht in seinem Pullover und atme sein Parfum ein. Murmle: „Schön, dass

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du da bist.“ Und spüre Jakobs Nicken, das sich bis in seine Brust hinein zieht. Jakob hat vorgeschlagen, essen zu gehen. Ich habe in einem Restaurant angerufen, das mir von einer Kommilitonin empfohlen wurde, einen Tisch für zwei Personen reserviert und bin mir dabei albern vorgekommen. Jetzt sitzen wir hier, mit Blick auf den Hafen, über den sich eine milde Frühlingsdämmerung legt. Schauen aus dem Fenster, und nippen an unseren Wassergläsern. „Und, wie fühlt es sich an?“, fragt Jakob. „Was?“ „Na, Hamburg.“ „Ah so. Das meinst du.“ Ich zupfe an meiner Serviette. „Gut. Fühlt sich gut an. Glaube ich. Anders. Neu.“ Wenig später bringt der Kellner unser Essen. Jakob hat das Wildkräuterrisotto mit gebratenen Scampi bestellt, ich den Lachs an Vanillesoße. Zur Feier des Tages. „Warum bist du erst jetzt gekommen, Jakob?“ Jakob, der gerade dabei ist, eine Scampi auf seine Gabel aufzuspießen, hält inne und schaut zu mir hoch. „Habe ich dir doch erklärt. Das Projekt an der Uni. Jeden Tag 15, 16 Stunden. War echt heftig.“ Ich nicke und ärgere mich, dass es mir nicht gelingt, mich zusammenzureißen. „Es ist nur … Ich habe mich so allein gelassen gefühlt, weißt du.“ „Ja. Ich weiß.“ „Ich meine, die Leute sind wirklich nett. Auch meine Mitbewohner. Vor allem Marina, also die, die uns vorhin im Treppenhaus entgegengekommen ist. Hat genau wie ich zum Sommersemester angefangen. Überhaupt ist dort alles total international. Finde ich toll. Aber ...“ Ich reiße die Serviette in der Mitte durch. „Ja, ich hätte mir halt gewünscht, dass du mal da bist. Nicht nur am Telefon. Sondern da. So richtig da.“ „Anna, ich hatte wirklich keine Zeit. Ich war froh, dass ich mir dieses Wochenende freischaufeln konnte.“ „Natürlich. Tut mir leid, ich bin ein bisschen erschöpft“, sage ich und widme mich meinem Lachs. Die Lichter des Hafens, die riesigen, majestätisch vorbeiziehenden Tanker. Die kühle Luft. Die Menschen, eingepackt in Fleecepullover und grellfarbene Multifunktionsjacken. Das Gedudel aus den überteuerten Touristen-Kneipen. Wir lassen uns vom Strom der Spaziergänger mitziehen, schauen den Kindern beim Streiten zu und den Hunden beim Bellen und den Teenagern beim Händchenhalten. Und ich denke: Irgendetwas fühlt sich anders an. Als ob die Zeit sich wie ein Fremdkörper zwischen uns geschoben und eine Lücke in unsere Nähe gerissen hat. „Hast du mich überhaupt vermisst?“ „Klar hab ich dich vermisst.“ „Aber nicht von ganzem Herzen.“ „Ich hab mir schon öfters mal gewünscht, dich bei mir zu haben.“ „Hast du dich in eine andere verliebt?“ „Wie kommst du denn jetzt darauf?“

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„Ach, nur so … Du, Jakob –“ „Ja?“ „Ich glaub, ich mag nicht mehr.“ „Was meinst du?“ „Uns. Dich. Das alles.“ „Komm, es ist spät, lass uns nachhause fahren.“ Irgendeine Elektro-Rock-Compilation in der Anlage. Auf volle Lautstärke. Ich tanze, die Matratze sinkt unter meinem Gewicht ein, das Einzelbettgestell wackelt. Fülle die zwölf Quadratmeter mit meiner Körperhitze und meinem Atem. Jakob wieder auf dem Stuhl, mit dem Rücken zum Schreibtisch. Schaut mir zu und wippt mit den Füßen im Takt der Musik. Ich trinke Zitronenlimonade aus einer Mehrweg-Flasche in großen Schlucken. Ich löse meinen Dutt, schüttle mein Haar. Verliere das Gleichgewicht, stütze mich ab, spüre die raue Tapete, tanze weiter. Mein Rock rutscht hoch, ich lasse es geschehen. So dass ich unten beinahe nackt bin, nur noch mit dieser albernen roten Spitzenunterhose bekleidet, die ich Anfang der Woche in einem Anfall von Geistesgestörtheit erstanden habe. Ich finde mich selbst durchschaubar, und es ist mir unangenehm vor Jakob, derart durchschaubar zu sein. Andererseits: Die Musik ist laut, und Jakob, der da in meinem Zimmer auf meinem Stuhl sitzt, ist ein Fremder. Graues Morgenlicht, verwischte Bewegungen. Die Traumgedanken noch präsenter als alles andere. Präsenter als die noch immer fremden Möbel zum Beispiel, oder das nervöse Knacken der Heizungsrohre. Da waren Schneelandschaften, Zuckerguss-Fichtenwälder und Puderzucker-Waldwege. Da war vollkommene Stille. Und da waren Erinnerungsbruchstücke aus Jakobs und meinem letzten Urlaub. Wo Jakob sich den Arm beim Snowboarden brach und ins Krankenhaus musste. Und im Krankenhaus: Auch alles so hell. Auch alles so still. Nur noch mal anders: Anders hell und anders still. Ich neben Jakobs Bett, in Norwegerpulli und Wanderstiefeln, in ein Buch vertieft, die Hand auf seinem Bein. Ich rolle mich auf die Seite, blinzle in den Raum hinein. Wo Jakob mein Aufwachen bemerkt hat und sich zu mir umdreht. Kurz denke ich, er trägt seinen Skianzug, aber es ist nur die Übergangsjacke, die mit den blauen Streifen am Ärmel. Seine Mütze hat er auf. Und auf dem Boden neben ihm steht sein Rucksack, fertig gepackt. Ich fühle mich eigenartig ruhig. Das ist bestimmt der Schnee, denke ich. Wegen dem Schnee bin ich so ruhig. Und auch gar nicht erstaunt. „Was machst du da?“ frage ich. Sicherheitshalber. Meine Stimme ist noch von Schlaftrunkenheit belegt. „Ich fahr heim“, sagt Jakob. „Aha.“ „Anna ...“ „Schon okay. Machʼs gut, Jakob.“ Jakob schaut zur Seite, sieht aus, als ob er noch etwas sagen will. Nickt dann nur. Nimmt den Rucksack in die Hand, wirft ihn sich über die Schulter und verlässt den Raum. Ich drehe mich auf den Rücken, starre an die Decke. Versuche,

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melancholisch zu werden. Stattdessen fange ich an zu kichern, immer weiter und immer stärker, um schließlich in einen hysterischen Lachkrampf zu verfallen. Hat Jakob wirklich gerade versucht, sich einfach davonzuschleichen? Marina sitzt im Pyjama in der Wohnküche und schält einen Apfel, als ich aus der Dusche komme. Das Handtuch zu einem Turban um den Kopf geschlungen. „Guten Morgen“, sagt sie mit ihrem weichen Akzent. „Habt ihr schon gefrühstückt?“ „Hast du Lust, heute mit mir zum Elbstrand zu fahren?“, frage ich, gehe zum Kühlschrank und nehme eine Milchschnitte aus meinem Fach. Das einzige, was da ist. „Mit deinem Freund zusammen?“ „Ah so, nee, der ist schon weg.“ „Weg?“ „Ja, genau. Weg.“ „Ah, verstehe. Alles in Ordnung?“ Ich zucke die Schultern. „Aber es wird doch wieder in Ordnung sein?“ Ich schaue aus dem Fenster, schräg auf die Straße, wo eine Gruppe von Studenten auf dem Weg zur Bahn ist. „Vielleicht“, sage ich. „Vielleicht auch nicht. Keine Ahnung.“ Und nach einer Pause: „Kommst du jetzt mit?“ Möwen kreischen. Ein verhangener Himmel schmiegt sich an den Horizont. Marina singt ein polnisches Lied vor sich hin. Jakob schickt mir eine Sms: Anna. Ich weiß nicht, was mit mir los ist zurzeit. Melde mich morgen. Wir schaffen das. Ich grabe meine Hand in den Sand. Der Sand ist kalt.


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A DIFFERENT BRIGHTNESS

There he st a nds.

A DIFFEREN T BRIGHTNESS A ND A DIFFEREN T SILENCE

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Wit h t hat u g ly r uck sack h is cousi n gave h i m for h is la st bi r t hday, a nd a packet of cr isps i n h is ha nd. He ga zes a rou nd h i m on t h is Ha m bu rg a f ter noon, check i ng out t he pa ssi ng women. He yaw ns a nd places a ha nd i n f ront of h is mout h a s he d iscover s me, t hrough t he bust le a nd dust of t he city.

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A DIFFERENT BRIGHTNESS

“Hi,” I say, hesitate briefly, then throw my arms around his neck. “Hi,” he says. He strokes the hair from my brow. Kisses me on the cheek. Hugs me tight for a few seconds. In the underground there is a smell of spring weariness. People sit glued listlessly to their seats, nodding over their books and newspapers or staring with a look of boredom at their smartphone displays. I think of the contents of my fridge compartment at the residential accommodation and whether we shouldn’t go shopping after all. But later, at home, when Jakob has put down his things, it will feel strange to have even thought this, in connection with this city, with this station we are now traveling to, this street which we will shortly pass through. Maybe talking, maybe lost in thought, maybe neither. “Want some?” Jakob holds the bag of crisps in front of my face and I grab inside, grab a handful of crisps and stuff them in my mouth so that crumbs fall onto the seat to my left and right. A few children are playing ball in front of the bike stands, a woman with red and blond streaks in her hair is stood leaning against a bollard smoking a cigarette. I place my hand on Jakob’s arm and lead him with a gentle pressure in the right direction, and we walk down the street in silence, past blossoming bushes and brick buildings. And past windows behind which women potter around in kitchens in front of televisions, while their children play in the neighbor’s courtyard. Whose husbands are sat in the living room mending the broken DVD player, or will return from the office in the evening. We are silent and the silence is broken by Jakob’s occasional cough, or when he heaves the rucksack up his back with a groan. We only pass one person the whole way, a bald man with a miniscule dog. “So,” I say, somewhat embarrassed, to my own surprise. “Here we are.” Jakob looks around. He looks tall under the low ceiling, or the ceiling looks low relative to his height. I follow Jakob’s gaze over the kitchenette, where used plates and pots are piled on the work surface, to the clothes stand, squeezed between two pot plants, and in the direction of the window and the sofa with the gaudily patterned fabric that looks so sad because the fabric is so gaudily patterned. “And that,” I pull him by the arm, “is my room. Nothing special … However … Well. At least itʼs mine.” I remain standing in the door frame, my legs crossed, my hands folded in front of my pubis. Seen through Jakob’s eyes every detail stands out unpleasantly. The photos, which I have pubescently pinned on the white wall above my bed. The plane shelves, crammed full with my childhood belongings. Jakob drops down onto the chair at the desk and pulls me onto his lap. I bury my face in his pullover and breathe in his scent. I murmur “great that you are here.” And I feel Jakob’s nod, which travels down into his breast. Jakob had suggested we go out to eat. I called a restaurant which a fellow student recommended, reserved a table for two, and felt ridiculous doing it.

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Now we are sitting here, with a view of the harbor, over which a mild spring twilight has descended. We look out the window and sip at our wine glasses. “And how does it feel?” asks Jakob. “What?” “Hamburg of course.” “Oh. That’s what you mean.” I pick at my serviette. “Good. It feels good. I think. Different. New.” A little while later the waiter brings our food. Jakob had ordered the wild herb risotto with fried scampi, I had ordered the salmon on vanilla sauce. In celebration. “Why haven’t you visited me before now, Jakob?” Jakob, who is in the process of skewering a scampi with his fork, pauses and looks up at me. “I already told you. The project at uni. 15, 16 hours every day. Was really hard.” I nod and am annoyed that I am unable to pull myself together. “It is just … I felt so left alone, you know.” “Yes. I know.” “I mean, the people are really nice. The people I live with too. Especially Marina, the one we met on the staircase earlier. She began at the start of the summer term, just like me. It is all really international. Iʼm really enjoying it. However …” I tear the serviette in half. “Yes, I would have liked you to have been there for me sometimes. Not just on the telephone. But there. Really there.” “Anna, I really didn’t have any time. I was happy that I could free up this weekend.” “Naturally. Sorry, I am a little exhausted,” I say, and concentrate on the salmon. The harbor lights, the huge, majestic passing tankers. The cool air. The people, packed in fleece pullovers and brightly colored multifunctional jackets. The piped music from the overpriced tourist bars. We drift along with the stream of pedestrians, observing the children arguing and the dogs barking and the teenagers holding hands. And I think: Something feels different. As if time had intruded between us, tearing our closeness apart. “Did you miss me at all?” “Of course I missed you.” “But not with all your heart.” “I often wished you were with me.” “Have you fallen in love with someone else?” “What gives you that idea?” “No reason … Jakob, you know —” “Yes?” “I don’t think I want this anymore.” “What do you mean?” “Us. You. All of this.” “Come on, it’s late, let’s go home.” Some kind of electro-rock compilation on the stereo. At full volume. I dance, the mattress sinks under my weight, the frame of the single bed shakes. I fill the 12 square meters with my body heat and breath.

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A DIFFERENT BRIGHTNESS

Jakob is sitting on the chair again, his back to the desk. He watches me, tapping his foot in time with the music. I drink lemonade from a bottle in large gulps. I loosen my bun, shake my hair. I lose my balance, steady myself, feel the rough wallpaper and carry on dancing. My skirt rides up, I let it happen. I am almost naked underneath, wearing just these ridiculous red lace knickers which I bought in a fit of insanity at the beginning of the week. I find myself obvious, and it is unpleasant being so obvious in front of Jakob. But the music is loud, and Jakob, who is sitting there on my chair in my room, is a stranger. Gray morning light, blurred movements. The dream thoughts are more real than anything else. More real than the furniture that still appears foreign, or the nervous creaking of the heating pipes. There were snow-covered landscapes, glacé pine forests and icing sugar woodland paths. There was complete silence. And there were memory fragments from my last holiday with Jakob. When Jakob broke his arm snowboarding and had to go to hospital. And in hospital: everything so bright. And all silent too. Just different: a different brightness and a different silence. Me, next to Jakob’s bed, in a Norwegian pullover and hiking boots, engrossed in a book, my hand on his leg. I roll onto my side, squinting into the room, where Jakob has noticed my awakening and turns towards me. For a moment I thought he was wearing his ski suit, but it is just the spring jacket, the one with the blue stripes on the arms. He has his cap on. And on the floor next to him stands his rucksack, already packed. I feel strangely calm. It has got to be the snow, I think. It is because of the snow that I am so calm. And not in the least surprised. “What are you doing?” I ask. Just to be sure. My voice is still heavy with sleep. “I am going home,” says Jakob. “Aha.” “Anna …” “It’s okay. Keep well, Jakob.” Jakob looks away, it appears as if he wants to say something else. Instead he just nods. He picks up the rucksack, throws it over his shoulder and leaves the room. I turn onto my back, stare at the ceiling, attempting to be melancholy. Instead I start to giggle, without stopping, harder and harder, culminating in a fit of hysterical laughter. Had Jakob really just tried to sneak away unnoticed? When I get out of the shower — a towel wrapped around my head like a turban — Marina is sitting in her pajamas in the kitchen­- cum-living room peeling an apple. “Good morning,” she says with her light accent. “Have you already had breakfast?” “Would you like to go to the Elbe beach with me today?” I ask as I proceed to the fridge and take a snack bar from my compartment. The only thing there. “Together with your boyfriend?” “Oh, no, he has already left.” “Gone?” “Yes, exactly. Gone.” “Oh, I see. Everything okay?”

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I shrug my shoulders. “But everything will be okay again, wont it?” I look out the window, diagonally at the street where a group of students are on their way to the train station. “Maybe,” I say, “Maybe not. No idea.” And then, after a pause: “Are you coming now?” Seagulls cry. A low sky nestles against the horizon. Marina sings a Polish song to herself. Jakob sends me a text message: Anna. I don’t know what is wrong with me at the moment. Will be in touch tomorrow. We will manage it. I bury my hand in the sand. The sand is cold.


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W ie ich meine Bücher und Tontr äger ordne Died r ich Dieder ich sen

Ich bin eigentlich kein großer Freund der Ordnung. Kleidung, Post und Zeitungen fliegen bei mir durcheinander: Einladungskarten, fremde Währungen und Reiseunterlagen stapeln sich zu unguten Haufen äußerst heterogener Gestalt auf Tischen, Sideboards und Fußböden. Sobald aber die Dinge die Horizontale verlassen, ändert sich meine Einstellung. Regale, deren Inhalt nicht einem ausgeklügelten Ordnungssystem gehorcht, kann ich nicht ertragen. Hier darf nun gerade nichts abgelegt oder ab­­ gestellt werden. Ein Autor, der nicht an der richtigen Stelle im Alphabet des Bücherregals steht, ist verloren. Falsch eingeordnet zu sein ist schlimmer als tot. Man bleibt für immer verschollen, niemand wird je das Schicksal eines Buches rekonstruieren können, das falsch platziert wurde. Jeder Gletscher gibt seine Beute früher preis als ein Bücherregal den oft nur geringfügig falsch einsortierten Folianten. In meinem Falle handelt es sich aber nicht nur um Bücher, sondern um Bücher, CDs und Schallplatten. Dreierlei Objekte,

die aber eines gemeinsam haben – Sonderfälle wie CD-Box-Sets eingerechnet: Sie erheben sich selten über eine Höhe von 35 cm. Unter zehntausend Tonträgern und ebenso vielen Büchern, inklusive Kunst-Katalogen und Coffee-Table-Wälzern besitze ich exakt fünf, die dieses Maß brechen: ein Atlas, den ich von meinem Großvater geerbt habe, ein Time / Life-Bildband, den meine Tante in den 1950er-Jahren erworben und mir in den 60ern geschenkt hat, die gesammelten Reprints von Andy Warhols „Interview“, eine Architektur-Angeberei und eine exzentrische Katalogbox eines profilneurotischen bayerischen Kunstvereins. Insofern ist mit diesem Standard schon eine Menge gewonnen, zumal Schallplatten mit ihren 30 cm gut Platz finden – bei CDs muss man sich was einfallen lassen. Schwieriger wird es mit den Sachgebieten. Bei Büchern scheint es eine Unterscheidung zu geben, die zumindest in den englischsprachigen Ländern die gesamte Welt in zwei säuberlich geschiedene Hälften teilt: Fiction /Non-Fiction. Man könnte sich

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ordnung

einfach ihrer bedienen und zwei große Alphabete bilden, das eine für die schöne Literatur, das andere für die Sachbücher. Doch sehr weit kommen wir damit nicht. Zum einen, weil der Geist, vor allem der französische, frei ist und sich an die englische Unterscheidung nicht hält. Georges Bataille, Michel Leiris, Jean-Paul Sartre, Pierre Klossowski haben Romane und Abhandlungen, wissenschaftliche und poetische Bücher geschrieben – und auch außerhalb des französischen Sprachraums haben Hubert Fichte, James Baldwin, Rafael Sánchez Ferlosio, David Foster Wallace oder Octavio Paz – neben vielen anderen – die Grenze zwischen Fiction und Non-Fiction nicht nur in ihrem Werkganzen, sondern oft schon in einzelnen Texten nicht respektiert. Doch zum anderen gibt es ein noch größeres Problem als die Aufteilung eines Autors und seines Werks auf zwei Regale. Ein Autorname hilft mir nicht viel, wenn ich eine Sachinformation suche; denn in der Regel geht es mir dann um ein bestimmtes Gebiet des Wissens, eine Disziplin, nicht um eine Person. Man müsste also einen Weg finden, die Wissensgebiete als solche so zu sortieren, dass sie aus kleinen übersichtlichen Sacheinheiten bestehen, die in sich überschaubar bleiben, so dass man sich innerhalb eines solchen Gebietes mit bloßem Auge zurechtfindet. Und ungefähr so machen es ja auch allgemeine und öffentliche Bücherhallen und Bibliotheken. Aber natürlich habe ich keine allgemeine Bibliothek, sondern eine, die meinen Interessen und Forschungsgebieten entspricht – und in diesen kenne ich mich auch ein bisschen aus. Ich brauche nicht allgemein nach Gegenständen zu suchen, die meisten Wissenseinheiten sind für mich durchaus mit Namen verbunden. Hinzu kommt, dass gerade in den Geisteswissenschaften, in der Philosophie, der zeitgenössischen Gesellschaftstheorie Namen und die dazugehörigen Personen das zentrale Orientierungsmerkmal sind. Ich schaue auf der Suche nach Texten von Stuart Hall, Jacques Derrida oder Theodor Adorno nicht bei theoretischer Soziologie, klassischer Philosophie, Komparatistik, Ethnografie und Musikwissenschaft nach, obwohl die Betreffenden in diesen und anderen Feldern unterwegs waren, sondern orientiere mich an ihren Namen: Ich weiß, bei wem etwas stand, nicht in welchem Gebiet ich etwas Bestimmtes gelesen habe. Was folgt daraus? Ich habe ein nach Personen geordnetes Fiction- und ein nach Personen geordnetes Non-Fiction-Regal. Bon. Aber bei bestimmten Spezialgebieten wie afroamerikanische Literaturwissenschaft, spanische Literatur und Kultur, Feminismus und technische Medien, Performance-Theorie, Jazz-Theorie etc. schaue ich nicht nach Namen. Die Autoren, die ich hierzu lese, sind so spezialisiert, wie ihre Gebiete oft isoliert sind. Sie arbeiten nicht am Ruhm und der Karriere eines öffentlichen Intellektuellen, sondern daran, einem von ihnen präzis erkannten und begrenzten Problemgebiet eine entscheidende neue Erkenntnis zu schenken. Ihre Namen vergessen wir schnell, wir hören sie zu selten. Aber ihre Bücher brauchen wir auch und müssen sie finden. Also gibt es neben den beiden großen Hauptströmen von nach Namen geordneter alphabetisch sortierter Fiction und Non-Fiction circa 30 kleinere Regal-Teile oder Mini-Regale, die einem solchen Sachgebiet gewidmet sind. Elegant ist das nicht, mehr als ein Kriterium zu verwenden. Man begibt sich zwangsläufig in ein Gebiet, wo man Äpfel, Obst,

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kugelförmige essbare Objekte und grüne Bälle in unterschied­ liche Körbe einordnet. Das wird bei der Musik aber noch viel schlimmer. Was für gemütliche Tage waren es, als es bei mir zuhause ein Rock- und ein Jazz-Regal gab und ein kleineres für Klassik? Von Rock’n’Roll über Beat und Pop der 60er, Progressive, Blues-Rock, Punk und Hardcore, Indie- und Alternative-Rock, auch Soul, Funk – alles passte ins Rock-Regal; New Orleans, Swing, Bop, Third Stream, Free Jazz, Improv, Fusion ging alles zu Jazz, jeweils alphabetisch nach dem Nachnamen oder Bandnamen. Doch schon Reggae, später HipHop und Techno, mit ihrer völlig anderen Idee von Autorschaft sprengten diese Ordnung: Es gab HipHop-Platten, die wegen ihres Autors wichtig waren, andere kaufte man, weil sie für eine Stadt oder ein Recording Studio standen; letzteres war vor allem bei Reggae wichtig. Techno sortierte ich fast immer nach Label oder Stadt. New Jersey House hatte eine andere Ecke als Chicago House, Ambient und Illbient strebten auseinander, Intelligent Techno wollte anders behandelt werden als Electronic Body Music. Keine Frage, dass jedes dieser Sub-Genres im nächsten Jahrzehnt weitere Sub-Genres gebar. Obwohl diese sich oft wieder an irgendetwas Früheres annäherten, sorgte das notorisch schlechte Gedächtnis der Subkulturen dafür, dass sich alles neu anfühlte und einsortiert werden wollte. Manchmal keimte die Hoffnung auf, es gäbe so etwas wie abgeschlossene Sammelgebiete. Irgendwann wollte ich mal Rock und HipHop schließen, interessierte mich nicht mehr. Doch ich hatte meine Rechnung ohne die Erneuerungskräfte, nicht zuletzt der aus Retro-Bewegungen entstandenen, gemacht. Hinzu kam, dass schon Ende der 1990er immer mehr Einzelakteure aus dem Zusammenhang von Techno und digitaler elektronischer Musik hervorgegangen waren, die sich nun immer mehr an experi­ menteller Musik orientierten und plötzlich in der E-Musik der 1950er- und 1960er-Jahre ihre Vorbilder fanden. Da schwoll der experimentelle Sektor des Klassikfaches derart an, dass man irgendwann auch diese Kategorie nicht mehr halten konnte und sie auseinanderbrach. Zumal in jeder Kategorie andere Verständnisse von Autorschaft gelten: Viele Klassiksammler sortieren ja auch nach Interpreten, ich bisher nur nach Komponisten, das meiste war eh 20. Jahrhundert und oft unter Beteiligung der Komponisten eingespielt. Die Konvergenz von Ensemble-basierten, ja improvisierenden oder programmierenden Verfahren im E-Musik-Bereich macht es schwer, dieses Prinzip aufrecht­ zuerhalten. An allen Fronten: Die lebendige Wirklichkeit kultureller Praxis kämpft gegen meine Ordnungssysteme. Irgendeine große Reform der Kategorienbildung steht unmittelbar bevor. Doch die Erfahrung lehrt eines: Jede neue Kategorie ist instabiler als die jeweils ältere. Die neuen Kategorien, weil sie so fein und historisch präzise entwickelt worden sind, altern schnell und bringen wieder neue hervor: eine Inflation. Die alten Kategorien – Rock, Jazz, Klassik – nehmen immer noch gut 75 Prozent der Bestände auf, sowie Fiction und Non-Fiction. Was tun?


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How I Organize m y Books and Music

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Died r ich Dieder ich sen

I am not really a big fan of orderliness. Clothes, mail, and newspapers are scattered everywhere: invitations, foreign currency, and travel documents form uneasy piles of an extremely heterogeneous character on tables, sideboards, and floor. However, as soon as things leave the horizontal plane my attitude changes. I cannot stand shelves that do not conform to a well-thought-out classification system. Nothing can be simply put or placed on them. An author that is not located at the correct point in the shelf ’s alphabetic sequence is lost. Being wrongly sorted is worse than being dead. One is lost forever, no one will ever be able to reconstruct the fate of a book that has been wrongly placed. Every glacier surrenders its booty sooner than a bookshelf relinquishes its misplaced folios—which frequently have only been placed slightly out of sequence. However, in my case this doesn’t just apply to books, but books, CDs, and records. Three objects which have one thing in common : they are seldom taller than 35 cm — including special

cases such as CD box sets. Of the ten thousand records and CDs, and an equal number of books including art catalogues and coffee table tomes, I have precisely five that exceed this size: an atlas that I inherited from my grandfather, a Time/Life illustrated book that my aunty bought in the 1950s and gave to me in the 1960s, the collected reprints of Andy Warhol’s “Interview,” an architectural extravagance, and an eccentric catalogue box from a self-aggrandizing Bavarian art association. To this extent, the standard size covers a lot of ground, especially as records, at 30 cm, are nicely accommodated —although one has to work something out for the CDs. However, things get more difficult with the subject areas. With books there appears to be a distinction, at least in the English-­ speaking countries, which divides the entire world into two neatly separated halves: fiction/non-fiction. One could simply employ this distinction and form two large alphabets, one for literature, the other for non-fiction. However, this does not get us very far.

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Firstly because the spirit is free, especially the French spirit, and does not stick to the English distinction. Georges Bataille, Michel Leiris, Jean-Paul Sartre, Pierre Klossowski have written novels and disquisitions, scientific and poetic books—and even beyond the French-speaking world Hubert Fichte, James Baldwin, Rafael Sánchez Ferlosio, David Foster Wallace, or Octavio Paz—alongside many others—also refuse to respect the boundary between fiction and non-fiction, both in their work as a whole and in individual texts. Secondly, because there is an even greater problem than the distribution of an author and his work across two shelves. An author’s name is not much help if I am looking for factual information. As a rule, in such cases I am concerned with a specific area of knowledge, a discipline, not a person. Thus one has to find a way of organizing the areas of knowledge so that they are composed of small circumscribed thematic units which remain manageable in themselves, enabling one to find one’s way around them with the naked eye. And this is roughly how general and public reading rooms and libraries do it. Naturally, I don’t have a general library, but one that serves my interests and areas of research — and I know my way around these fairly well. I don’t generally need to look for objects; for me, most units of knowledge are connected with names. On top of this is the fact that in the humanities, in philosophy, and contemporary social theory, the name and the corresponding person function as the central orientation point. When searching for texts by Stuart Hall, Jacques Derrida, or Theodor Adorno I don’t look under theoretical sociology, classical philosophy, comparative literature, ethnography and musicology, even though the persons concerned were active in these and other fields. Instead, I orient myself using their names. I know under which author something can be found, not the field in which I read something specific. What is the result of this? I have a fiction shelf and a non-­fiction shelf, both organized according to author. Bon. However, in the case of certain specialist areas such as Afro-American literary studies, Spanish literature and culture, feminism and technical media, performance theory, Jazz theory, etc. I don’t look for the names. The authors that I read on these subjects are often as specialized as their fields are isolated. They do not pursue fame and the career of a public intellectual; instead they strive to contribute new, decisive knowledge to their precisely delineated and restricted areas of research. We quickly forget their names, we hear them too infrequently. However, we need their books and must be able to find them. So, in addition to the two great main currents of fiction and non-fiction alphabetically organized according to names, there are circa 30 smaller shelf sections or mini shelves which are dedicated to such subject areas. Employing more than one criterion is not particularly elegant. One is inevitably faced with the task of sorting apples, fruit, spherical edible objects, and green balls into different baskets. However, this is even worse in the case of music. What pleasant days they were when my music occupied a Rock and a Jazz shelf, and a smaller one for Classical? From Rock’n’Roll and Beat to Pop of the 1960s, Progressive, Blues Rock, Punk and Hardcore, Indy and Alternative Rock, as well as Soul, Funk—everything fitted on the Rock shelf; New Orleans, Swing, Bop, Third Stream, Free

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Jazz, Improv, Fusion were all included under Jazz, with every­ thing organized alphabetically according to the last name or band name. But Reggae, later Hip-Hop and Techno, with their completely different idea of authorship, blew apart this order. There were Hip-Hop records which were important because of the artist, others were bought because they stood for a city or a recording studio, which was especially important in the case of Reggae. I nearly always sorted Techno according to label or city. New Jersey House had a different corner to Chicago House, Ambient and Illbient aspired to separate identities, Intelligent Techno demanded to be treated differently to Electronic Body Music. There was no question that each of these sub-genres would give birth to further sub-genres in the subsequent decade. Although they frequently resembled something from the past, subculture’s notoriously bad memory ensured that everything felt new and had to be rearranged. Sometimes the hope arose that there could be such a thing as a completed collection. There was a time when I wanted to finish Rock and Hip-Hop, they no longer interested me. However, I had failed to take into account their power of regeneration, not least that manifested in retro movements. On top of this, at the end of the 1990s, there was a growing number of soloists emerging from the Techno and digital electronic music scenes who where increasingly drawn to experimental music and now suddenly found their role models in the serious music of the 1950s and 1960s. The Classical section’s experimental sector expanded to such an extent that at some point it was no longer possible to maintain the category, and it broke apart. Not least because a different understanding of authorship applied in each category: many Classical music collectors sorted according to interpreters, up until then I had only sorted according to composers, the majority was 20th-century music and often recorded with the participation of the composers. The convergence of ensemble-based, improvisational, or programming procedures in the serious music field made it difficult to maintain this principle. On every front the living reality of cultural praxis rebels against my classification system. Some great, undefined reform of the categorization process is immanent. However, experience teaches us that every new category is more unstable than its predecessor. The new categories, because they are so differentiated and historically precise, age quickly and continually bring forth new ones: an exponential growth. The old categories — Rock, Jazz, Classical — still accommodate over 75 percent of the inventory, as do fiction and non-fiction. What is to be done?


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Autoren Dieser Ausgabe

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authors of this issue

Diedrich Diederichsen wurde 1957 in Hamburg geboren. Der Kulturwissenschaftler, Kritiker, Journalist, Kurator und Essayist gilt als einer der wichtigsten deutschen Poptheoretiker. Nach Lehraufträgen unter anderem an der Städelschule in Frankfurt am Main, am Art Center College of Design in Kalifornien und an der Bauhaus-Universität in Weimar ist der ehemalige Chefredakteur von Spex seit 2006 Professor an der Akademie der bildenden Künste Wien. Hubert Filser wurde 1966 in Ingolstadt geboren. Er ist Wissenschaftsjournalist, unter anderem für die Süddeutsche Zeitung und für die Sendung „Quarks & Co“ beim WDR, 2001 veröffentlichte er das Sachbuch Nobelpreis. Zuletzt erschien eine kurze Geschichte der Menschheit unter dem Titel Das erste Mal (2011, Ullstein Verlag). Der studierte Physiker und Absolvent der Deutschen Journalistenschule in München ist für seine Arbeiten mehrfach ausgezeichnet worden. Patrick Hofmann wurde 1971 im sächsischen Borna geboren. Er studierte Germanistik und Philosophie in Berlin, Leipzig, Paris, Moskau und Straßburg. Nach seiner Promotion über Edmund Husserls Beschreibungstheorie zog es ihn für sieben Jahre nach Athen, wo er in der Autovermietungsbranche, als Übersetzer, Journalist und Deutschlehrer arbeitete. Seit 2009 lebt er als Schriftsteller in Berlin. Im gleichen Jahr erschien sein Roman Die letzte Sau, der mit dem RobertWalser-Preis ausgezeichnet wurde. Rebecca Martin wurde 1990 in Berlin geboren. 2008 veröffentlichte sie den Roman Frühling und so, der es auf die SPIEGEL-Taschenbuch-Bestsellerliste schaffte. 2009 machte sie ihr Abitur an der Kreuzberger Waldorfschule, 2011 begann sie eine Ausbildung zur Werbetexterin an der Texterschmiede Hamburg. Im Sommer 2012 erschien der Roman Und alle so yeah im DuMont Buchverlag. Im September 2013 nimmt sie ein Studium an der Drehbuchakademie der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin – DFFB auf.

Diedrich Diederichsen was born in Hamburg in 1957. The cultural scientist, critic, journalist, curator, and essayist is one of Germany’s most important pop theorists. Following teaching assignments at institutions including the Städelschule in Frankfurt am Main, the Art Center College of Design in California, and the Bauhaus-Universität Weimar, the former editor-in-chief of Spex has been Professor at the Academy of Fine Arts Vienna since 2006. Hubert Filser was born in Ingolstadt in 1966. He is a science journalist, amongst others for the Süddeutsche Zeitung and the WDR’s TV program “Quarks & Co.” In 2001 he published the non-fiction book Nobelpreis. His most recent publication is a short history of mankind under the title Das erste Mal, published in 2011 by Ullstein Verlag. The physics major and graduate of the German School of Journalism in Munich has received numerous awards for his work. Patrick Hofmann was born in the Saxonian town of Borna in 1971. He studied German language and literature and philosophy in Berlin, Leipzig, Paris, Moscow, and Strasbourg. Following the conferral of a doctorate for his thesis on Edmund Husserl’s description theory, he lived in Athens for seven years where he worked in the car rental industry, as a translator, journalist, and German teacher. Since 2009 he has lived in Berlin as a writer. In the same year his novel Die letzte Sau was published, which was awarded the Robert Walser prize. Rebecca Martin was born in Berlin in 1990. In 2008 she published the novel Frühling und so, which made it onto the SPIEGEL’s paperback bestseller list. In 2009 she completed her university entrance exam at the Waldorfschule in Kreuzberg and in 2011 began studying to become an advertising copywriter at the Texterschmiede Hamburg. In the summer of 2012 her novel Und alle so yeah was published by DuMont. In September 2013 she will begin her studies at the German Film and Television Academy’s (DFFB) Screenwriting Academy.


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publisher Flötotto Systemmöbel GmbH Hauptstraße 70 33397 Rietberg Germany Tel + 49 (0)5244 9305 0 Fax + 49 (0)5244 9305 450 info@floetotto.de www.floetotto.de

C oncept / C reative D I RE C T I O N Florian Lambl, Birgitta Homburger Lambl / Homburger

R E DA K T I O N / E D I T I N G Martin Hager

A RT D I R E C T I O N Christoph Gabriel Lambl / Homburger

P hotography Gerhardt Kellermann

korrektur Claudius Prößer

P roofreading Joy Beecroft

©  2 0 1 3 Flöt ot t o System m öbel Gm bH De r Na chd r u ck u nserer A rtikel un d Bilder – auc h im In tern e t – i s t n u r m i t a u s d r ü c k l i c h e r G e n e h m i g u n g d e s Ve r l a g e s g e s t a t t e t . T h e r e p r i n t o f t e x t s a n d i m a g e s — a l s o i n d i g i t a l fo r m — i s o n l y permitted by express permission of the publishers.

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