ZWILLING E UND PAARE
10 KÜNSTLER AUS AFRIKA
GABUN | KAMERUN | DEMOKRATISCHE REPUBLIK KONGO | MALI | NIGERIA | TOGO
10 KÜNSTLER.INNEN AUS MECKLENBURG-VORPOMMERN
GERTRAUDE BAUER | WOLFGANG FRIEDRICH | ANNE HILLE | JAN JASTRAM | ECKARD LABS BERNARD MISGAJSKI | HELMUT SENF | ANNE SEWCZ | JUTTA WINKLER | RUZICA ZAJEC
ZWILLING E UND PAARE DIESE PUBLIKATION ERSCHEINT ANLÄSSLICH DER AUSSTELLUNG 1+1=1, ZWILLINGE UND PAARE | OKT.–DEZ. 2010 KUNSTORT ALTE WASSERMÜHLE PUTBUS | WREECHEN [RÜGEN]
DER SCHLÜSSEL ZUM SCHATTEN DES ANDEREN Die Hand greift nach dem, was das Auge gesehen hat. Sprichwort der EWE
In diesem Sommer sah ich die afrikanischen Zwillingsfiguren von Bernard Misgajski zum ersten Mal. „Die Hand greift nach dem, was das Auge gesehen hat.“ – ein Sprichwort des westafrikanischen EWE-Volkes – es verwirklichte sich an diesem Tag augenblicklich: Ich musste diese geheimnisvollen, in sich ruhenden und manchmal auch expressiven Figuren berühren, begreifen, mit den Händen umschließen und ihre Wärme aufspüren, die Wärme ihrer Geschichte. Diese magischen Doppelwesen waren vollendet. Sie begegneten mir als in Holz und Metall gebannte Wesen in unterschiedlichen Bezugsdarstellungen – mit ihrer Geschichte fernab unserer Gegenwart. Fern von jeglichen Handlungsabsichten haben die Zwillinge Anteil an einer Form, sind sie ein Leib, ein Lebensgefäß – zweiköpfig und größenverhältnismäßig oft mit Kopfdominanz. Manchmal wirken sie als „Zwillings-Front“, ein kleines „Gebäude“, als Kompakt-Körper einander zugewandt. Dann wieder als janusköpfiges Körperwesen oder in Fühlung Rücken an Rücken, Kopf an Kopf. Immer einander nah, einander beschützend, als androgyne, zweigeschlechtliche – oder Doppelwesen. Schachfiguren jenseitiger Ahnen, mit teilweise reliefartig dem Körper eingeschriebenen Gliedmaßen, archaisch, feierlich, und – als Zeichen gleichen Ursprungs – aus dem gemeinsamen Sockel gewachsen. Oder schließlich als Einzelwesen, jedoch stets als Paar anmutend und so auch zu positionieren – zumeist in der FrauMann-Korrespondenz. Abbild, Spiegelbild, Double, Identität, Schatten – diese Begriffe bergen in sich kleine Differenzen und orientieren sich am Einzelwesen. Zwillingswesen dagegen sind als Einheit in der Zweisamkeit zwar gleichen Ursprungs, jedoch in ihren Eigenschaften weder deckungsgleich noch synchron. Ja, einer urreligiösen Theorie zufolge (Zurvanismus, 370–300 v.Chr.) sind die Polaritäten von Licht und Dunkel, Weisheit und Dummheit, Wahrheit und Lüge Zwillinge in der Schöpfung. Immer, wenn die Wirklichkeiten zweier Menschen auf der Welt zusammenkommen, entsteht eine dritte – gemeinsame – Wirklichkeit. Du bist der Spiegel des Anderen, doch reflektierst Du ein wieder Anderes zurück als jenes Gegenüber, das die Umwelt von Dir erwartet. Du besitzt Spiegelbild und Schatten, es gibt Dich als Original und
in tausenden von Fotoabbildungen im Lebensverlauf. In der Regel ist die Zweisamkeit eine Zweisam-Zeit. Paare, Freunde, Dialogpartner, ja, Geschwisterzwillinge verbringen in der Regel eine gewisse Lebenszeit miteinander, bis sie schicksalhaft, definitiv oder unvorhersehbaren Regeln zufolge voneinander getrennt werden. Das authentische Leben von Zwillingen – und ihre künstlerische Darstellung – sie finden jeweils in Parallelwelten statt. Es sei denn, beides findet zusammen in der rituellen Darstellung von Stellvertreterskulpturen, eingebunden in soziales und rituelles Leben und in seine fortlaufende Geschichte wie bei unseren Zwillingsskulpturen. Die Yoruba, ein Volk im Südwesten Nigerias und das Ewe-Volk aus dem westafrikanischen Ghana und Togo sowie weitere Stämme in Benin, Mali, Kamerun, im Kongo und an der Guinea-Küste, sind von dem Glauben beseelt, dass Zwillinge eine gemeinsame Seele besitzen. Bei diesen Stämmen gilt die Geburt von Zwillingen als ein mysteriöses, durch übernatürliche Kräfte herbeigeführtes Ereignis. Ihre gemeinsame Seele bleibt unteilbar. Zwillingsgeburten erhöhen das Prestige der ganzen Familie, gelten als besondere Auszeichnung. Stirbt ein Zwillingsteil, so beginnt das Ritual, die Geschichte in der Geschichte: Zwei Zwillingsfiguren werden geschnitzt. Dem überlebenden Zwilling oder seiner Mutter wird eine Holzfigur übereignet, in der die zweite Hälfte der Seele weiterleben wird. Erst nach der Fertigstellung der Figur beginnt ihr eigentliches Leben als Stellvertreterfigur. Sie ist der Schlüssel zum Schatten des Anderen. Sie wird wie das noch lebende Zwillingskind mit Kleidung und Schmuckelementen ausgestattet, wird von der Mutter überall hin mitgenommen, wird wie ein lebendes Wesen umsorgt, am Familienaltar gewaschen, beopfert und gefüttert. Die zweite Zwillingsfigur des noch Lebenden wird sorgfältig aufgehoben. Beide Figuren werden beim alljährlichen Zwillingsfest vom Priester geweiht. In zumeist vollendeter Erwachsenengestalt, bekleidet oder unbekleidet, mit Ketten, Schnüren und Muscheln geschmückt, ist die Zwillingsfigur stets präsent – nah dem Körper der Mutter oder des hinterbliebenen Zwillings – ein rituelles Überlebensversprechen. Die als „Venavi“ oder „Ibeji“ bezeichneten Holzfiguren sind keinesfalls als Porträts oder Abbilder der gestorbenen Zwillinge anzusehen. Sie strahlen eine autonome Kraft aus, die durch eine infolge häufiger Waschungen, Liebkosungen und Fütterungen entstandene Patina noch intensiviert wird. Sterben beide, so erhält die Mutter beide Figuren, die ihr ein Leben lang den Status innerhalb ihrer Stammesgemein-
schaft sichert, authentische Symbole für die spirituelle Verbindung zwischen Diesseits und Jenseits, transzendierende Garanten für Glück und Beistand durch die Ahnen. Schließlich betonen die kleinen Figuren den Stolz „ihrer“ Mütter über den Tod der Kinder hinaus.
Sandstein und Stahl sind die Stoffe, aus denen die skulptural-plastische Paardarstellung, ein stahlgerahmtes hohes Wandobjekt mit dem Titel 1+1=1 von BERNARD MISGAJSKI, gemacht ist: Schemen eines anonymen Gegenüber-Paares.
Dieser Kult lässt sich bis in die Anfänge des 19. Jahrhunderts verfolgen, als die Sterblichkeitsrate von Kindern sehr hoch war. Vor dieser Zeit wurden Zwillinge, die in den südwest- und westafrikanischen Regionen der Yoruba und EWE auffällig häufig geboren wurden, vermutlich mitsamt ihrer Mutter getötet – galt doch eine Doppelgeburt als Beweis für ihrer Untreue.
Einander zugewandt, frontal miteinander verwachsen sind die beiden Steingestalten des Doppeltorsos von GERTRAUDE BAUER, minimalistisch und komplex zugleich in ihren asketischen Formandeutungen.
Wie sehr die europäische Kunst von der Kunst des afrikanischen Kontinents profitierte, dürfen wir auch angesichts der Zwillings- und Paarinterpretationen unserer hiesigen Künstler im zweiten Teil der Ausstellung feststellen. Ist es der grundsätzliche Ritualcharakter der Kunst, der solche Nähen über Kontinente hinweg schaffen konnte, in dessen Zentrum zwischen staunender Distanznahme und magischer Anziehungskraft das Werk strahlt? „Ohr, höre die andere Seite der Frage, ehe du entscheidest“, lautet ein Sprichwort der Yoruba – und ich lausche dieser anderen Seite der Frage: Ist es nicht auch die Improvisation, der Aufbruch ins Ungewisse als das Gegenteil des Rituals, die jene besondere Zeitnische der Kunst bezaubert? Das holzgearbeitete, intensiv aufeinander bezogene Paar von JAN JASTRAM – scherenschnittartig wächst es, Mann und Frau, aus dem Sockel, die mächtigen Kronen sind vielleicht als Waffen zu verstehen. JUTTA WINKLERS feierliches Keramik-Paar spielt mit geometrischen Zuweisungen von Ellipse für den Mann und Kreis für die Frau, in ihrer Reduktion vielleicht eindringliche Schachfiguren der Gleichberechtigung? Bleiben wir beim Spiel, so erinnern WOLFGANG FRIEDRICHS 24 collagierte „Doppelkopf“ – Zwillings-Drucke an Spielkarten, multikulturelle Profilköpfe mit farbigen Blitz-Lichtern. Rücken an Rücken hockend, in der Körperregion des Sonnengeflechts miteinander verwachsen, so erleben wir ECKARD LABS Doppelfigur.
Bei HELMUT SENF ist es die poetisch-geometrische Paar-Metapher, eine dreidimensional kalkulierte Verschränkung halboffener Quadratformen in Holz, in den Wärme-Distanz-Farben von Leidenschaft und Finsternis: Rot und Schwarz. RUZICA ZAJEC’s Fotografie JAMAIS - VU, eine Fotomontage, zeigt zwei lässig posierende blau gekleidete Gestalten auf einem Wiesenstück, scheinbar Zwillinge, die von ein und der selben Person dargestellt werden mit identischen roten Masken. Eine Maske verbirgt immer die einzigartige Identität des Menschen. Zwei gelöcherte Aluminiumflaschen, aus denen patchworkartig vernähte Stoffschlangen auf den Boden „fließen“, präsentiert ANNE HILLE, eine materialbetonte Paar-Wandinstallation. Es ist „der Kuss“ von Brancusi, der für mich eine Verbindung zu ANNE SEWCZ’s Doppelkopfbronze herstellt, minimalistisch abstrahiert in organisch verarbeiteter Geometrisierung. Die unterschiedlichen Themeninterpretationen signalisieren die Kraft künstlerischen Tuns, wo auch immer auf dieser Welt. Kunst, das Raum und Zeit durchwandernde Medium wie Transportmittel zwischen den Menschen in abgelegenen Regionen der Welt, geboren aus einem gemeinsamen Gedächtnis unserer Geschichte, dem unfliehbaren Stoff aller nur denkbaren Bilder, mündet immer in einen Anfang, einen Beginn des Neuen. Ich wünsche dieser Ausstellung viele Betrachter und Besucher, viele Such- und Findewege der Gedanken in Bild- und Wortsprache. Dass Kunst – wie bei den Yoruba und EWE im Zwillingskult – zum Garant für glückliches Lebensgelingen geriert. Besseres kann uns Künstlern doch gar nicht begegnen: Aller Anfang ist Zeremonie! ANGELIKA JANZ Aschersleben im September 2010
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U NBEKANNTER KÜNSTLER DER EWE, TOGO VENAVI-FIGUR Holz . Teilbemalung . Glasperlenketten H: 255 mm
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JAN JASTRAM 2 »GESCHWISTER« 2010 Holz . H: 670 mm
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UNBEKANNTER KÜNSTLER DER EWE, TOGO Holz . Textil . Kaurischnecken . H: 160 mm ANNE SEWCZ »PAAR« 2003 Bronze . H: 260 mm
UNBEKANNTER KÜNSTLER DER MANGBETU, DEM. REP. KONGO Anthropomorphe Gefässkeramik H: 250 mm
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HELMUT SENF »JUMEAUX« 2010 Holz (MDF) . Acryl H: 80 mm L: 420 mm T: 420 mm UNBEKANNTER KÜNSTLER DER ADAN, TOGO Holz . Bemalung H: 245 mm
WOLFGANG FRIEDRICH »DOPPELKOPF« 2007/08 (24-teilig) Druck/Collage H: 850 mm . L: 1200 mm
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UNBEKANNTER KÜNSTLER AUS KAMERUN Terrakotta . H: 115 mm ECKARD LABS »SPIEGELUNG« 2010 Holz . H: 900 mm
UNBEKANNTER KÜNSTLER DER YORUBA, NIGERIA ERE IBEJI-FIGUR Holz . Textil . Kaurischnecken H: 280 mm . L: 210 mm
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ANNE HILLE »GEMEINSAME ERINNERUNG« 2010 Stahl . Textil H: 1750 mm
UNBEKANNTER KÜNSTLER DER YORUBA, NIGERIA ERE IBEJI-FIGUR Holz . Glasperlenketten . Leder H: 265 mm
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RUZICA ZAJEC »JAMAIS - VU« 2010 Fotomontage H: 300 L: 500
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UNBEKANNTER KÜNSTLER DER DOGON, MALI Bronze (Gelbguss- Verfahren) . H: 230 mm
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»PAAR« 2010 Sandstein H: 310 mm
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UNBEKANNTER KÜNSTLER DER TSCHAMBA, NIGERIA/KAMERUN Holz . Bemalung H: 325 mm BERNARD
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UNBEKANNTER KÜNSTLER AUS GABUN Holz . Schnur H: 200 mm JUTTA WINKLER »WÄCHTER« 2001 Keramik (Feldbrand) H: 650 mm
Konzeptionell wurde bei der Auswahl der afrikanischen Exponate vordergründig auf ästhetische Aspekte geachtet. Zusätzlich werden dem Betrachter Informationen über die bildnerischen Ausprägungen der unterschiedlichen Ethnien vermittelt. So befinden sich neben alten, im Kult und Alltag verwendeten Figuren auch für den Markt geschaffene Arbeiten neueren Datums.
IMPRESSUM: . Herausgeber BERNARD MISGAJSKI + KULTURSTIFTUNG RÜGEN EDITION NR. 4 . Projektidee | Projektleitung BERNARD MISGAJSKI . Auflage 500 . Druck | Verarbeitung RÜGENDRUCK GMBH | PUTBUS . Gestaltung FLORIAN MELZER . Fotografie MATTHES TRETTIN | PUTBUS . Dank für die fachliche Beratung: FRAU LENA NAUMANN, UNIVERSITÄT BAYREUTH – IWALEWA HAUS ETHNOLOGISCHES MUSEUM, Fachreferat Afrika, Berlin AFRICA ART GALLERY, Berlin . Besonderer Dank für die freundliche Förderung geht an die KulturStiftung Rügen . Kontakt Bernard Misgajski KUNSTORT ALTE WASSERMÜHLE Kastanienallee 2 D - 18581 Putbus/Wreechen fon +49 (0)38301-61516 post@kunstort.net www.kunstort.net