P h y si c a l
2015
50 Ja hr e 1965
T h e at r e
Eine kleine Festschrift _mit Beitr채gen der StudiengangsleiterInnen _herausgegeben zum Festakt am 29. Mai 2015
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Inhaltsverzeichnis
Geschichte des Studiengangs Physical Theatre .............................................................................................................................................................. 4
History of the Physical Theatre Course .............................................................................................................................................................. 6
Ein Studiengang in Bewegung Prof. Thomas Stich .............................................................................................................................. 8
Grund zum Feiern Prof. Peter Siefert .............................................................................................................................. 14
Studiengangsgründerin Bettina Falckenberg und Studiengangsgründer Prof. Günter Titt über die Kunst der Pantomime Bettina Falckenberg & Prof. Günter Titt ............................................................................................ 20
Physical Theatre an Folkwang | Artist Diploma .............................................................................................................................................................. 22
Physical Theatre at Folkwang | Artist Diploma .............................................................................................................................................................. 23
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Geschichte des Studiengangs Physical Theatre
1962 1956
Jean Soubeyran erhält von der Folkwang Schule den Auftrag, Pantomimenkurse abzuhalten.
1957
Jean Soubeyran geht nach Ostberlin und Günter Titt setzt die Arbeit fort, sowohl für die Studierenden des Schauspielinstituts als auch für die Opernklasse.
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wird dieser, anfangs in Kursform durchgeführte Unterricht, als fester Bestandteil der Schauspielausbildung in den Lehrplan aufgenommen. Damit entsteht ein neues Ausbildungsmodell, das später von vielen Schauspielschulen übernommen wird.
1965
gründet Günter Titt zusammen mit Bettina Falckenberg die Hauptfachklasse Pantomime. Er leitet die Klasse bis 1987. Im selben Jahr wird ein Mimestudio gegründet, in dem sich die Klasse, in Solo-, Duo-, und Ensemblearbeiten künstlerisch der Öffentlichkeit präsentiert. Das hochschulinterne Forum dieser Veranstaltungen erweitert sich rasch. Publikum von außerhalb strömt an, zahlreiche Gastspiele quer durch die Republik folgen. Zunächst existiert die Möglichkeit des Doppelstudiums für Mimen und Schauspieler, die 1980 abgeschafft wird.
1994
1987
übernimmt Milan Sladek die Leitung des Studiengangs.
1993
unterrichtet wieder Günter Titt in Zusammenarbeit mit Karsten Itterbeck und Thomas Stich.
erhält Peter Siefert − 1962-64 Schüler von Günter Titt und Bettina Falckenberg, 1964-65 Schüler von Lecoq, Autor und Regisseur, bis 1993 Oberspielleiter am Staatstheater Kassel − den Ruf als Professor.
2005
übernimmt Thomas Stich, seit 1992 Hauptfachdozent, die Leitung des Studiengangs.
2006
erhält Thomas Stich den Ruf als Professor für Mime | Körpertheater.
2008
wird der Studiengang im Rahmen der Neukonzeption der Ausbildung infolge des Bologna-Prozesses modularisiert und erhält einen neuen Namen: Physical Theatre.
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History of the Physical Theatre Course
1962
1956
Jean Soubeyran was commissioned by the Folkwang School to conduct courses in pantomime.
1957
Jean Soubeyran goes to Berlin, G端nter Titt continued this work, both for students of the Drama Institute and for the Opera class.
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this tuition, initially implemented in the form of a course, was incorporated into the syllabus as a fixed component in acting training. This brought into being a new training model that was later adopted by many acting schools.
1965
G端nter Titt, together with Bettina Falckenberg, set up the Pantomime major. He directed the class until 1987. In the same year a mime studio was founded, where the class presented its art to the public in solo, duo and ensemble works. The in-house nature of these events was quickly expanded. Audiences from outside came streaming in, and numerous guest appearances all over the republic followed. Initially it was possible to take a double major in mime and acting, but 1980 this was abolished.
1994
1987
Milan Sladek took over the leadership of the programme.
1993
G端nter Titt taught again in cooperation with Karsten Itterbeck and Thomas Stich.
Peter Siefert appointed Professor. Siefert had been a student of G端nter Titt and Bettina Falckenberg from 1962-64 and a student of the filmmaker and director Lecoq from 196465; he was senior producer at the Staatstheater Kassel until 1993.
2005
Thomas Stich, a lecturer in the major since 1992, assumed leadership of the programme.
2006
Thomas Stich was appointed Professor of Mime | Physical Theatre.
2008
the course became modular in form as part of the redesign of the training programme in line with the Bologna Accords and was given a new name: Physical Theatre.
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50 Jahre Physical Theatre an der Folkwang Universität der Künste: Ein Studiengang im Wandel Physical Theatre ist eine überaus lebendige und stets auf neue ästhetische Formen zielende Spielart im Spannungsfeld der visuellen und szenischen Künste. Die Vielfalt der Bezeichnungen für diese Spielform weist auf die Bandbreite an Ausdrucksfindungen hin, die auf der Bühne künstlerische Gestalt finden: Bewegungstheater, Visuelles Theater, Körpertheater, Choreographisches Theater, Moderne Mime, Pantomime. Die englischen Pendants sind: Physical Theatre, Body-based Theatre, Movement Theatre, Mime, Post-Modern Mime, Contemporary Visual Theatre. Im Französischen spricht man von: Mime Corporel, Théâtre du Mouvement, Théâtre du Corps… Alle Labels verweisen auf einen gemeinsamen Ausgangspunkt der theatralen Recherche: den Körper, das körperliche Spiel.
Von der Pantomime zum komödiantischen Bewegungstheater bis zum heutigen Physical Theatre an der Folkwang Universität der Künste: Der 1965 von Bettina Falckenberg und Professor Günter Titt gegründete Studiengang an der Folkwang Universität der Künste, ist die einzige staatliche Ausbildungsstätte für KünstlerInnen des Physical Theatre in Deutschland. In den Jahren 1965 bis 1987 lag der Schwerpunkt der Ausbildung in der Vermittlung der Kunst der Pantomime. „Die Pantomime ist der Versuch und die Möglichkeit“, so Prof. Günter Titt in seinem Buch Die Kunst der Pantomime, „die Konflikte und Träume unseres Lebens in ihrer körperlichen Gebundenheit, ihrer direkten sinnlichen und sinnhaften Erfahrung, isoliert im Spiel, rein und ohne die Kulissen und Requisiten der Welt noch einmal zu erleben, als Keimzellen unseres Bewusstseins.“ Beide Gründer des Studiengangs wurden zunächst als Schauspieler ausgebildet. Günter Titt an der damaligen Folkwang Schule für Musik, Tanz und Sprechen. Bettina Falckenberg von ihrem Vater, Otto 8
Falckenberg, dem langjährigen Leiter der Münchner Kammerspiele. Als Schüler und Mitbegründer des Pantomimen-Ensembles um Jean Soubeyran sind beide wesentlich an der Verbreitung dieser damals noch jungen Kunstform im Deutschland der 1950er|60er Jahre beteiligt. Durch Jean Soubeyran, der selbst mit allen Größen der modernen Mime|Pantomime gearbeitet hat, besteht eine direkte Verbindung zur französischen Linie dieser Kunst, die mit den Namen Etienne Decroux, Jean-Louis Barrault und Marcel Marceau verbunden sind. Der Kernpunkt der Ausbildung lag in der Vermittlung der Techniken der modernen Mime, der Improvisation als originärem Gestaltungsprinzip und der Wiederentdeckung der Lust an körperlichem Spiel. So entstand ein folkwangspezifischer Spielstil. Die curriculare Vernetzung mit dem Studiengang Schauspiel – bis 1980 gab es die Möglichkeit eines Doppelstudiums Pantomime|Schauspiel – erweiterten die Möglichkeiten zeitgemäße, neue Spielformen jenseits der „klassischen“ Pantomime zu erproben. 1987 bis 1992 übernahm Professor Milan Sladek die Leitung des Studiengangs. Milan Sladek, weltweit gefragter Solo-Pantomime als auch Regisseur und Leiter seiner eigenen Compagnie und seines eigenen Theaters, war ebenfalls Initiator und Leiter des Pantomimenfestivals Gaukler, das von 1976 bis 1987 die ganze Bandbreite an Spielformen physischen Theaters auch jenseits der „klassischen“ Pantomime präsentierte. Sein Ausbildungsstil war der des „künstlerischen Begleiters“, der die individuellen Kreationen der Studierenden beförderte. Neben der schauspielerischen Grundausbildung bildete das Ensemblespiel einen besonderen Schwerpunkt seiner Lehre. Künstlerische Projekte mit dem deutsch-französischen Jugendwerk, Verbindung schaffen nach „draußen", waren ihm besondere Anliegen. In den Jahren 1994 bis 2005 unter der Leitung von Professor Peter Siefert veränderte sich das Profil der Ausbildung in Richtung eines komödiantischen Bewegungstheaters. Prof. Siefert war sowohl Schüler von Günter Titt und Bettina Falckenberg an Folkwang als auch von Jacques Lecoq in Paris. Ab Anfang der 1960er Jahre brachte er diesen neuen Impuls als Lehrbeauftragter in die Ausbildung ein. Die Schauspielpädagogik Jacques Lecoqs, wurde dann in den 1970er Jahren durch Pierre Byland, einem Meisterschüler und Mitarbeiter Lecoqs 9
und ‚Erfinder‘ des Theater-Clowns weitergeführt. Das führte dazu, das Bild der Mime an Folkwang zu erneuern und wurde nun wesentlicher Bestandteil der Ausbildung. Die Auseinandersetzung mit Spielformen wie die der Commedia dell`Arte, des Chorischen Theaters, des Clowns sowie intensive Untersuchungen des Spiels mit Masken ergänzten und bereicherten die Lehre. Mit meiner Berufung ins Professorenamt vor zehn Jahren beginnt der nächste Veränderungsprozess, der bis heute andauert und in Bewegung bleiben wird. Als Schüler von Günter Titt und Bettina Falckenberg und über eine Dekade Mitarbeiter von Peter Siefert bin ich seit 1992 im Studiengang engagiert. In meine Zeit als Studiengangsbeauftrager fiel auch die Aufgabe, im Rahmen des Bologna-Prozesses das Studienangebot zu modularisieren. Dies wurde zum Anlass genommen, einen Prozess der Neubefragung der Inhalte und Formen zu initiieren, in dessen Folge die Ausbildung neu konzipiert wurde. Wichtige, grundlegende Bausteine der Ausbildung, wie etwa das Spiel mit Masken, Improvisation, Mimetechnik etc. wurden bewahrt und um eine erhebliche Anzahl zusätzlicher Fächer ergänzt. Es wurde ein interdisziplinärer Grundunterricht im Fach „Spiel“ mit den Studiengängen Schauspiel, Regie und Musical eingerichtet. Diese erste Begegnung wird in Projekten, LABs, Seminaren bis hin zu gemeinsamen Artist Diploma-Abschlussarbeiten fortgeführt. Die Bandbreite an Inhalten der praxisbezogenen Körperausbildung wurde erweitert mit dem Ausbau angewandt-wissenschaftlicher Studienangebote, wie etwa der Theatergeschichte des Physischen Theaters, Dramaturgie und Projektmanagement. Als folgerichtige Konsequenz wurde der Studiengang in Physical Theatre umbenannt. Heute werden in unserem Studiengang junge TheatermacherInnen und KünstlerInnen ausgebildet, die die Fähigkeit entwickeln, eigene Stücke zu kreieren, Themen aufzuspüren, die sie brennend interessieren, diese konzeptuell zu erfassen, in großer Selbstständigkeit zu erarbeiten und auf hohem künstlerischem Niveau umzusetzen. Wesentliche Ausdrucksmittel sind – nach wie vor – die vielfältigen Erzählweisen mit und über den Körper, die Bewegung und die Geste.
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Auf den Wandel der darstellenden Künste im 21. Jahrhundert, auf die ästhetische Formenvielfalt reagiert der Studiengang. Er bleibt offen und flexibel und positioniert sich zugleich zur veränderten Theater- und Kunstlandschaft. Die Studierenden selbst werden zur Mitgestaltung einer neuen Theaterkunst herausgefordert und befähigt. Der Studiengang Physical Theatre hat sich zum Ziel gesetzt, die Entwicklung der individuellen Künstlerpersönlichkeit optimal zu fördern.
Prof. Thomas Stich, Studiengangsbeauftragter seit 2005
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Grund zum Feiern 50 Jahre! 50 Jahre was? Pantomime? Mime? Körpertheater? Physical Theatre? Was auch immer, es existiert schon seit 50 Jahren. Grund zum Feiern? Aber ja! Und zwar doppelt!! Denn es gibt noch ein Jubiläum, ebenso feiernswert: Zehn Jahre bevor es eine Pantomimenklasse gab, gab es schon Pantomime an Folkwang: in der Schauspielabteilung. Aber nicht als fakultativen Schnupperkurs, sondern als obligaten Grundunterricht für SchauspielschülerInnen. Das erste Jahr der Schauspielausbildung bestand aus Pantomime! Freilich war Pantomime damals nicht nachahmender one-man-Bühnenzauber, sie war vor allem Entdeckung, Erforschung, Schulung des Körpers als wichtigstes Instrument der SchauspielerInnen. Dieser Unterricht war die erste systematische Körperausbildung für SchauspielerInnen des deutschsprachigen Nachkriegstheaters. Ein Konzept, beispielhaft, stilbildend und inzwischen so selbstverständlich, dass ganz vergessen wird, wo diese Methode entstand (in der Folkwangschule), wer den Anstoß dazu gab (Jean Soubeyran) und wie sie zum Modell entwickelt wurde (durch Bettina Falckenberg und Günter Titt). Es ist Zeit, dieses Kapitel der deutschen Theatergeschichte zu erforschen. Höchste Zeit. Am besten fange ich gleich damit an. In Kurzfassung.
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Am Anfang war das Wort. Zumindest im deutschen Theater, denkt man. Aber das war nicht immer so. Es war eigentlich nie so. Erst als die Neuberin den Hanswurst von der Bühne verbannte, als Goethe die Klassik-Wort-Bühne in Weimar gründete, als der Herzog von Meiningen das historische Remake-Theater erfand und als schließlich Otto Brahms und Gerhart Hauptmann die Szene auf die naturalistische Wiedergabe beschränkten... Seitdem war und blieb das Wort. Dann kam allerdings Max Reinhardt und mischte die Wortbühne mit Raumtheater und Commedia dell’Arte auf. Es kam auch der Stummfilm und prägte durch sein expressionistisches Körperspiel RegisseurInnen wie Fehling und Jessner. Es kam der german dance mit Jooss, Laban, Wigman und Valeska Gert, den PionierInnen des heutigen Tanztheaters. Alle hatten sie dasselbe Ziel: Direktheit, Echtheit, Wahrheit auf die Bühne bringen. Durch den Körper. Und dann kam der Anstreicher. Und das Körpertheater ging. Zurück blieb das Wort. Nach der Katastrophe traute man ihm nicht mehr, dem Wort. Suchte ein neues Theater. Und da kam die Pantomime. Grade zum rechten Zeitpunkt. Nach Deutschland. Ins Ruhrgebiet. Sie kam erst nach Dortmund, wo Jean Soubeyran mit deutschen und französischen SchauspielerInnen ein Ensemble aufbaute. Dann kam sie mit Soubeyrans MitartbeiterInnen Titt-Falckenberg nach Essen. Hier begann, nein, nicht die Pantomime, es begann die stille, wortlose Revolution der Schauspielausbildung im deutschen Theater. Vor fünfzig, nein sechzig Jahren. An Folkwang.
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Man ging den Weg zurück. Vom Wort zum Mimus. So erfolgreich, dass nach zehn Jahren die Pantotmimenklasse gegründet wurde. Als Ausbildung für SpezialistInnen und als Fortbildung für einen neuen Schauspielertypus, die KörperschauspielerInnen, den „acteur complet“. Die Nachfrage nach dieser neuen Methode stieg deutschlandweit, und das hat neben Soubeyran und Titt-Falckenberg auch mit Marcel Marceau zu tun. Dessen Welterfolg begann ja in Deutschland und das ist kein Zufall. Weil man hier dem Wort ... siehe oben! Marceaus Auftritte begeisterten SchauspielerInnen und RegisseurInnen gleichermaßen. Alle wollten Pantomime lernen, nicht um Pantomime zu werden, sondern um besser oder zumindest anders Theater zu machen. Dazu musste allerdings die Ausbildung verändert werden. Bis dato bestand ja der Körperunterricht, wenn er überhaupt stattfand, aus Gymnastik, Fechten und Ballett. Hin und wieder wurden Fertigkeiten, wie Tanzformen oder Akrobatik, antrainiert. Nun wollte man mehr: Konzepte, Regeln, Handwerk, eine „Theaterrevolution“, wie sie zwischen den Weltkriegen in Russland begonnen und in Frankreich fortgesetzt worden war. Dort entdeckten die Reformer Copeau, Daste, Decroux die moderne Pantomime als Mittel zur Überwindung deklamatorischen Rumsteh-Theaters. Ihre Schüler waren Barrault, Marceau, Lecoq und Soubeyran. Der kam nach Dortmund und so... So kam es, dass ab 1955 der wichtigste Teil der Schauspiel-Ausbildung an der Folkwangschule in den Händen von zwei PantomimInnen lag. Günter Titt und Bettina Falckenberg. Aus den einzelnen Unterrichtsinhalten: Körpertraining Körpertechnik Körperausdruck Akrobatik Psychologische Etüden Improvisationen mit und ohne Text Stilübungen Maskenspiel entwickelten sie im Lauf der Zeit ihre Arbeitsmethode: Freilegung darstellerischer Kreativität durch spielerische Körperarbeit.
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Der Erfolg löste Nachfrage aus: die Schauspielschule Bochum, damals noch Folkwang-Konkurrenz, holte sich Klaus Boltze aus Paris, einen Decroux-Schüler. Auch Soubeyran verbreitete die Lehre: erst in Ostdeutschland, wo der die Tradition des Körperunterrichts an den Schauspielschulen begründete; dann im Westen als Dauergastdozent in Stuttgart und später als „ordentlicher“ Schauspielprofessor in Hannover. Der Mime Molcho leitete den Körperunterricht in Wien und auch Günter Titt hat regelmäßig in Zürich unterrichtet und so in der Schweiz den Startschuss zum methodischen Körperunterricht gegeben. Ab Mitte der 1970er Jahre gab es diesen Unterricht im gesamten deutschsprachigen Raum. Beigetragen haben dazu auch Titts Schüler: Martin Häupl in Berlin, Paco Gonzales mit seinen Clownskursen an fast allen deutschen Schauspielschulen. Apropos Clown: Die Methode war nicht nur übertragbar, sie war auch offen für Einflüsse von Außen. In den ersten Jahren schon erweiterten Lecoq-Schüler, wie Byland und Siefert, den Lehrstoff mit Clown und Commedia dell’Arte. Später gab es dann z. B. eine intensive Zusammenarbeit mit dem Tanztheater von Urs Dietrich und Susanne Linke. Das war der Schwerpunkt: die Ausbildung. Der andere: die Anwendung der Methode in der praktischen Theaterarbeit. Immer mehr RegisseurInnen freuten sich nicht nur über die neuen KörperschauspielerInnen, sie wollten auch deren AusbilderInnen als ChoreographInnen, Coaches, GagmasterInnen: Titt-Falckenberg und Boltze „choreographierten“ ruhr- und bundesweit, Soubeyran wurde schließlich der erste festangestellte Schauspiel-Choreograph an einem westdeutschen Theater. In Wuppertal. Quasi der Vorgänger von Pina Bausch. Später kamen dann auch Fachleute aus dem Ausland. Derrick Mendl aus London, Samy Molcho aus Tel Aviv, Lecoq aus Paris. Zurück zur Mimenklasse: Der große Einschnitt kam 1980. Das bis dahin mögliche Doppelstudium (Mime|Schauspiel) wurde abgeschafft. Für die SchauspielerInnen eher ein Fluch, für die Mimen ein Segen. Was sie gelernt hatten, ihre starke körperliche Ausdrucksfähigkeit inhaltlich, emotionell, dramaturgisch zu beglaubigen, das verloren sie auch nach der Trennung nicht. Gleichzeitig aber konnten sich ihnen ihre LehrerInnen noch intensiver widmen. So haben LehrerInnen und Studierende gemeinsam experimentiert, entdeckt, erfunden. 17
Die Folge: Welterfolge! Compagnia Buffo Pepusch Habbe und Mike Pacos Gonzales usw. Auch nach der Ära Titt-Falckenberg blieb der Studiengang seiner Bestimmung treu: neue Theaterformen anzuregen. Bestes Beispiel ist das Maskentheater Familie Flöz, das unter Milan Sladek, Titt-Falckenbergs Nachfolger, begann, dann von Peter Siefert und Thomas Stich weiter gefördert wurde und inzwischen weltweite Erfolge feiert. Seit 1994 brachte dann Peter Siefert, Titt-Falckenbergs erster Schüler, zusammen mit deren letztem Schüler, Thomas Stich, Schauspiel und Mime wieder zusammen. Spartenübergreifende Projekte, an denen auch Oper, Musical und Tanz mitwirkten, machten die Mimenklasse zum Botschafter des Folkwang Gedankens, innerhalb und außerhalb der Hochschule. Heutzutage sind die Studierenden des Studiengangs gesuchte all-round-DarstellerInnen im normal-off-Tanz und Kindertheater, spielen eigene Theaterstücke, gründen Ensembles, unterrichten und inszenieren landauf landab. Jahr für Jahr erringen sie die Folkwang Preise für kreative Darstellung. Sogar den deutschen Kabarett-Preis hat jüngst einer gekriegt. Der aktuelle Leiter, Thomas Stich, hat seit 2005 mit seinem Konzept des „Physical Theatre“ eine neue Tür zur Weiterentwicklung des Studiengangs geöffnet. Grund zum Feiern! Beim nächsten Jubiläum ... was wir dann wohl gefeiert?
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Physical Theatre Körpertheater Tanzpantomime Tanzgesang mit Obertönen Comictheater Clownsdramen oder vielleicht doch wieder einmal ein Mime der ohne technische Hilfsmittel auf einem Quadratmeter die ganze Welt darstellt? Nicht nur Günter und Bettina würden sich freuen.
Peter Siefert, Studiengangsleiter Mime von 1994 bis 2005
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Studiengangsgründerin Bettina Falckenberg und Studiengangsgründer Prof. Günter Titt über die Kunst der Pantomine * Die moderne Form der Pantomime ist wie ein Brennglas für die kreatürlichen Erfahrungen des Menschen, für sein sich selbst und der Welt ausgeliefert sein – für seine Lebensbrüche, bevor er sie sprachlich artikulieren kann – für seine Identität mit Materie, Pflanze und Tier, für sein Glück, sie zu begreifen und für seine Unfähigkeit, wieder ganz in sie zurückkehren zu können. Die Pantomime, frei von der Maschinerie des Theaters und so flexibel wie die Technik des Films, hat die Möglichkeit, in Winkel unserer Lebenswirklichkeit hineinzuleuchten und blitzartige Zusammenhänge herzustellen, die für die Sprache und andere Künste nicht erreichbar sind. Wir stehen noch sehr an ihrem Anfang, wie am Anfang unseres Menschseins.
* Aus: Bettina Falckenberg, Günter Titt: Die Kunst der Pantomime. 1987. Prometh Verlag, Köln. 20
Die Pantomime ist der Versuch und die Möglichkeit, die Konflikte und Träume unseres Lebens in ihrer körperlichen Gebundenheit, ihrer direkten sinnlichen und sinnhaften Erfahrung, isoliert im Spiel, rein und ohne die Kulissen und Requisiten der Welt noch einmal zu erleben, als Keimzellen unseres Bewusstseins. Wir glauben, ihre Möglichkeiten sind noch lange nicht erschöpft.
Bettina Falckenberg und Prof. Günter Titt, Studiengangsleiter und Studiengangsleiterin von 1965 bis 1987
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Physical Theatre an Folkwang | Artist Diploma Den 1965 gegründeten Studiengang Physical Theatre gibt es in Deutschland nur an der Folkwang Universität der Künste in Essen. Er ist in dieser Form auch europaweit einmalig und einzigartig. Hervorgegangen aus der Tradition des Mimischen Theaters – verbunden mit den Lehrerpersönlichkeiten Jean Soubeyran, Jacques Lecoq, Pierre Byland, Bettina Falckenberg, Günter Titt und Peter Siefert – hat der Studiengang eine Entwicklung erfahren von der Pantomime über das komödiantische Bewegungstheater zum Physical Theatre. Heute werden junge TheatermacherInnen ausgebildet, die die Fähigkeit entwickeln, eigene Stücke zu kreieren: Unterstützt werden sie insbesondere darin, ihre eigene Theaterhandschrift durch Spiel, Autorenschaft und Inszenierung zu entwickeln. In einem vierjährigen Intensivstudium mit dem Abschluss Artist Diploma werden vier StudentInnen pro Jahrgang fundierte Kenntnisse in den Bereichen Körper, Stimme, Darstellung, Stückentwicklung und Theorie vermittelt. Curriculare Vernetzungen – mit den Studiengängen Schauspiel und Regie und im Rahmen von Projekten mit dem Studiengang Tanz und Studiengängen der Musik oder in Folkwang LABs – erweitern und vertiefen die Lehre und das Lernen. Der Folkwang Campus in Essen-Werden bietet hierfür zahlreiche spannende Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Angestrebt wird die Ausbildung von kreativen, verantwortungs- und selbstbewussten KünstlerInnen, die ihren Weg in der freien Szene, in der Verwirklichung eigener Projekte oder innerhalb des etablierten Theaterbetriebs finden. Weitere Informationen unter: www.folkwang-uni.de/physical-theatre
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Physical Theatre at Folkwang | Artist Diploma The Folkwang University of the Arts Physical Theatre study course in Essen, founded in 1965, is unique in Germany. In this form it is also unique in Europe. Born from the tradition of mime theatre, and shaped by the personalities of the teachers Jean Soubeyran, Jacques Lecoq, Pierre Byland, Bettina Falckenberg, Günter Titt and Peter Siefert, this study course has developed from pantomime, via comedic movement theatre and finally culminating in what is now known as Physical Theatre. The course caters to young theatre makers, who are taught to develop the skills to create their own original pieces. They are particularly encouraged to develop their own theatre signature by means of performances, authorship and staging productions. In a four-year intensive study course culminating in an Artist Diploma, four students per academic year are provided with in-depth knowledge in the fields of Body, Voice, Representation, Play Development and Theory. Curricular interlinking – with the Acting and Directing study courses, and with projects in the realm of Dance and Music or in Folkwang LABs – enhances and broadens the scope of the learning and teaching. The Folkwang Campus in Essen-Werden offers a large number of exciting collaboration opportunities for this purpose. The objective is the development of a creative, responsible and self-assured artist, who will be able to find their own path in the independent theatre world, by realising their own projects or within established theatre scenes. More information at: www.folkwang-uni.de/physical-theatre
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Herausgeber Folkwang Universität der Künste, KdöR, vertreten durch ihren Rektor Prof. Kurt Mehnert Klemensborn 39 45239 Essen Tel +49 (0)201_4903-0 Fax +49 (0)201_4903-288 info@folkwang-uni.de www.folkwang-uni.de www.facebook.com/folkwang Redaktion Dezernat 3: Kommunikation & Medien: Maiken-Ilke Groß (V.i.S.d.P.), Wiebke Büsch in Zusammenarbeit mit der Studiengangsleitung Prof. Thomas Stich Bildrechte Michael Aufenfehn, Oldie Baumann, Sebastian Gisy, Heike Kandalowski, Gerno Michalke, Alexander Reuter, Georg Schreiber, Mats Süthoff Gestaltung Dipl.-Des. Clara Pörtner, Dezernat 3: Kommuniation & Medien Übersetzung TE-KAAT . COM Stand 04|2015
www.folkwang-uni.de/physical-theatre
Impressum
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