Dr. Martina Mettner
Wie man ein großartiger Fotograf wird Wegweiser in eine Fotopraxis mit Zukunft
fotofeinkost
Hobbyfotograf, Tokio, 2008
Dr. Martina Mettner
Wie man ein groĂ&#x;artiger Fotograf wird Wegweiser in eine Fotopraxis mit Zukunft
fotofeinkost
Mein Dank geht an Martin Gommel, Ulrich Grundstein, Ulla Schmitz, Annette Völckner, Hermann Will und Dr. Jörg Tykwer für ihre Hilfe und Unterstützung.
Alle Rechte, auch die der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Die Autorin übernimmt keine Haftung für eventuelle, aus dem Gebrauch des Buches und seiner Übungen resultierende Folgeschäden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen etc. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. © Copyright Text und Fotos Dr. Martina Mettner soweit nicht anders angegeben www.fotofeinkost.de
Gestaltung und Satz: Dr. Martina Mettner Druckproduktion: Annette Völckner, Köln, www.voelckner.de Printed in Germany 1. Auflage 2010 ISBN 978-3-00-029650-5
Inhalt Vorwort: Gleiche Chancen für alle Fotografierenden...............................................................................6 Was das Prinzip Fotografie praktisch bedeutet......................................................................................10 Warum Fototechnik keine große Rolle mehr spielt.................................................................................15 Warum jeder daran denkt, mit Fotos Geld zu verdienen........................................................................18 Wie das Internet die Fotografie verändert ............................................................................................20 Warum die wahre Fotografie des 20. im 21. Jahrhundert die falsche ist..................................................22 Warum, was professionell aussieht, nicht unbedingt professionell ist ......................................................25 Welche Richtungen das Fotohobby nehmen kann...................................................................................28 Wo die motivischen Fallstricke liegen....................................................................................................33 Warum die Reisefotografie ein Sonderfall ist.........................................................................................38 Warum das Fotografieren der eigenen Familie selten ernst genommen wird...........................................49 Warum die Bildbeurteilung (nicht) ganz einfach ist . ............................................................................57 Worauf bei Aufnahme und Bildbearbeitung (zusätzlich) geachtet werden sollte.....................................63 Wie man ein ganz kleines Fotoprojekt durchführt.................................................................................67 Wie man die Lizenz erwirbt, neugierig zu sein: Das Sommerprojekt....................................................79 Warum ein großes Fotoprojekt im Kopf beginnt....................................................................................91 Wie sich mein Fotoprojekt „Übergangszeit“ entwickelte ........................................................................96 Warum das Recherchieren so wichtig ist ............................................................................................. 113 Wie der Fotograf zum Regisseur wird................................................................................................ 114 Wie das freie Projekt zur Fotografie als Beruf führen kann................................................................. 122 Die häufigsten Einwände und vermeintlichen Hindernisse................................................................ 124 Womit Sie beginnen sollten ................................................................................................................ 126 Abbildungsverzeichnis ...................................................................................................................... 128 Über die Autorin ............................................................................................................................... 132
Vorwort Gleiche Chancen für alle Fotografierenden In der Fotografie dreht sich viel um die Entwicklung neuer Kameramodelle und den Vergleich ihrer Leistungsfähigkeit. In diesem Buch geht es stattdessen um die Entwicklung des Fotografierenden, um fotografische Arbeitsweisen, die dem Kamerabesitzer ungeheure Möglichkeiten eröffnen, aber auch um solche, die in eine Sackgasse führen. Es ist wichtig, sich klarzumachen, was Fotografie heute bedeutet – und nicht weiter überholten Mustern aus dem vergangenen Jahrhundert zu folgen. So stammt zum Beispiel die Unterscheidung zwischen Amateur und Profi noch aus den Zeiten der Handwerksverordnung. Heute ist als Unterscheidung wichtiger, ob man die Fotografie kommerziell, also als Dienstleister, oder frei, also als Hobbyist oder Künstler, ausübt. Mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts veränderte sich die Situation der Fotografie grundlegend – durch digitale Technologien und das Internet. Fotografisches Fachwissen ist heute frei verfügbar und der Bildermarkt durch die weltweite Zugänglichkeit für Jedermann demokratisiert. Da an jedem Ort zu jeder Zeit Menschen fotografieren und diese Fotos online verfügbar machen können, leben wir in einem Zeitalter der Augenzeugen. Die digitale Präsenz von Informationen führt zu einem starken Schrumpfen der klassischen Erwerbsbereiche von Fotografen, die sich im 20. Jahrhundert ausschließlich auf die Print-Medien bezogen: 6
Reportage-, Editorial-, Mode-, Werbefotografie. War und ist für den Druck das Stehbild nach wie vor zwingend, gewinnen „moving stills“, bewegte Bilder, in digitalen Publikationen rasch an Bedeutung. Diese weit reichenden Veränderungsprozesse zwingen dazu, die fotografische Praxis zu überdenken. Das gilt insbesondere für alle, die sich weiter entwickeln wollen, die Fotografie studieren oder als Beruf ausüben (möchten). Sich jetzt noch an den Ideen und fotografischen Idealen des vergangenen Jahrhunderts zu orientieren, wäre für sie besonders verhängnisvoll. Die gute Nachricht ist: Jeder überall auf der Welt hat heute die Chance, sich zu einem großartigen Fotografen zu entwickeln – und als solcher auch entdeckt zu werden. Man muss jedoch wissen, worauf es in der Fotografie ankommt. Und eben darüber sind irrige, weil überholte Ansichten vorherrschend. Auf viele sich aufdrängende Fragen gibt es in diesem Band nicht immer angenehme, aber klare, hilfreiche Antworten. Natürlich kann niemand die Zukunft voraussagen. Es ist aber durchaus möglich, Tendenzen zu erkennen und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Mit einer gewissen Atemlosigkeit hastet der Fotografierende den Neuheiten der Fotoindustrie hinterher, getrieben von der Idee technischer Perfektionierung. Dieses Buch möchte erreichen, dass Sie innehalten
und sich mit den Fotos statt mit der Kamera befassen; dass Sie sich überlegen, welche Arbeitsweise zu Ihnen passt statt zu Ihrer Ausrüstung, und dass Sie, statt immer wieder das Equipment auszutauschen, anfangen, interessantere Fotos zu machen. Fotografieren ist ein Abenteuer und zwar im Idealfall ein ganz und gar individuelles. Was ich hier erkläre
ist also nicht, was und wie man dieses fotografieren soll, sondern wie man sich einen Rahmen schafft, in dem man auf einem völlig anderen Niveau fotografieren kann. Die Voraussetzung, um so zu fotografieren, dass man selbst damit glücklich wird und anderen etwas Neues zeigt, ist nicht eine besonders kostspielige Kameraausrüstung, sondern, dass man etwas zu zeigen und zu sagen hat. 7
Die eigene Stimme in und mit der Fotografie zu finden, ist nicht leicht, zumal, wenn man gerade erst anfängt, sich für das Fotografieren zu begeistern. Es ist ganz normal, dass man anfangs experimentiert und die Technik kennen lernen will. Wichtig ist, dass man sich kontinuierlich mit seinen Fotos befasst und sich fragt, warum dieses eine Foto besser oder schlechter ist als ein anderes. Fatalerweise delegieren immer mehr Anfänger die Beurteilung ihrer Arbeiten an andere Laien statt sich selbst Gedanken zu machen. Die Anregungen, wie man seine Fähigkeiten der Beurteilung eigener Fotos trainiert, sind leicht umzusetzen. Fotograf gilt als Traumberuf. Immer mehr Menschen sind in ihrem Berufsalltag unglücklich. Die Aussicht, mit Fotografie Geld zu verdienen, erscheint ihnen überaus verlockend. In meiner Beratungspraxis werde ich immer häufiger mit der Illusion konfrontiert, ein paar Urlaubsfotos würden etwas über Begabung aussagen oder gar zum Berufswechsel qualifizieren. Dass von Fotografen heute viel mehr erwartet wird als technische Perfektion, verkennen nicht nur Laien. Auch gestandenen Profis fällt es schwer, umzudenken, und sich Zeit für die Entwicklung ihrer eigenen Kreativität zu nehmen. Braut beim Fotografen, Meji-Schrein, Tokio 2008 Aus der Reihe „Rolle und Identität“ (siehe auch Seite 72-73) Man beachte den Badezimmerteppich. Vorherige Seite: Kunstführung im IBC, Frankfurt, 2009. Fotografierender Junge vor Fotografie eines Jungen mit Gitarre von Sharon Lockhart.
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Technik Know-how, der handwerkliche Aspekt, ist bereits jedem jederzeit zugänglich. Ergänzend zum fotografischen Basiswissen wird hier die Arbeitsweise erläutert, die vielen Fotostudenten durchaus selbstverständliche Praxis ist, die traditionell geprägten Berufsfotografen aber ebenso ungewohnt erscheint wie Hobbyisten.
Etwas über die Struktur fotografischer Arbeit zu und berichtet über die Durchführung von Projekten erfahren, eröffnet jedem eine bessere Chance, ein aus erster Hand. großartiger Fotograf oder eine großartige Fotografin „Wie man ein großartiger Fotograf wird“ soll anizu werden. Um erklären zu können, „wie‘s geht“, mieren, sich das zu gönnen, was mit Fotografie so war ich schon immer bemüht, der fotografischen oft verbunden und so selten eingelöst wird: Die Praxis auch theoretisch auf die Spur zu kommen. Freiheit, sich zu verwirklichen, und das schöne Bereits meine Diplomarbeit handelte von Gefühl, etwas erkannt und erreicht zu der „Amateurfotografie als Ausdrucksmithaben. Das gelingt nur selten bei der Kreativ sein tel und Wirklichkeitserfassung“. 1987 „Motivsuche“, sehr oft jedoch durch ein heißt nicht, die erschien mein erstes Buch, „Die Autokleineres oder größeres Fotoprojekt. Statt Brennweite zu nomisierung der Fotografie“, für das ich wechseln, sondern ziellos durch die Realität zu knipsen, mehrstündige Interviews mit freien Fo- die eigene Stimme schafft man sich einen Rahmen, setzt tografen geführt und deren Arbeitsweise Anfang, Mitte und Ende. Statt Motive zum Ausdruck untersucht hatte. Das freie Fotoprojekt zu suchen, findet man sie. Statt Fotos zu zu bringen. ist, so viel war mir klar, der Königsweg, machen, wie es sie bereits im Überfluss sich als Fotograf zu entwickeln und zu etablieren. gibt, fotografiert man das, wozu es einen persönliSeitdem habe ich mit einigen hundert Fotografen chen Bezug gibt, womit man sich auskennt, worin gearbeitet. Dabei hat sich immer wieder bestätigt, man sich einfühlen kann. So entstehen Unikate. Wer etwas zu sehen und mitzuteilen hat, wird auch wie wichtig freie fotografische Serien sind. Aufmerksamkeit bekommen. Aus dem intensiven Die Anleitungen in diesem Band sind eine gute persönlichen Erleben, das oft erfordert, die eigenen Möglichkeit, zu testen, ob der eigene Enthusiasmus Grenzen auszuloten, entstehen Fotografien, wie sie fürs Fotografieren – fürs Fotostudium, für den Foto- geschätzt und gesucht werden, Bilder, die auch in grafenberuf – groß genug ist, bevor weit reichende Zukunft gebraucht werden – ob still oder bewegt. Entscheidungen hinsichtlich Ausbildung oder Jobwechsel getroffen werden. Nicht-kommerzielle Paul Foster von Getty Images sagte im August 2009: Fotoprojekte sind eine tolle Erfahrung für jeden „Es gibt ein Überangebot einer bestimmten Art Fotografierenden, in jedem Alter. Es ist verblüffend, von Bild, das bislang als gut genug eingeschätzt festzustellen, dass die Grenzen, die man sich selbst wurde. Aber es gibt einen Mangel an wirklich unauferlegte, ganz leicht überwunden werden können verwechselbaren Bildern. Diese unverwechselbare und man viel bessere Fotos macht. Fotografie wird sich durchsetzen.“ Um zu zeigen: „Seht her, es geht ganz leicht“, ist dieses Buch mit eigenem Fotomaterial illustriert
Und auf den folgenden Seiten steht, wie man sie macht. Jetzt. 9
Was das Prinzip Fotografie praktisch bedeutet Wie das menschliche Sehen ist das Fotografieren vom Licht abhängig. Es wird von den Objekten reflektiert und lässt auf diese Weise die Abbildung auf der Netzhaut des Auges, in der lichtempfindlichen Schicht des Films oder auf dem Sensor entstehen. Durch die Kamera ergibt sich eine Reihe von Variablen für die Abbildung. Mit der Wahl des räumlichen Ausschnitts geht die Festlegung der relativen Abbildungsgröße einher, die sich durch den Abstand der Kamera zum Motiv oder durch die Wahl der Objektivbrennweite bestimmt. Mit der Veränderung des Aufnahmeabstandes wird auch die Perspektive beeinflusst. Das Objektiv muss sodann, wie das Auge auch, auf eine bestimmte Entfernung scharf gestellt werden. Doch durch die Blende im Objektiv besteht bei diesem, im Unterschied zum Auge, die Möglichkeit, in verschiedener Entfernung zur Kamera befindliche Punkte gleichzeitig scharf abzubilden. Zusätzlich kann mittels der Verschlusszeit, welche die Dauer des Lichteinfalls regelt, bestimmt werden, ob ein sich bewegendes Objekt in der Bewegung eingefroren oder die Bewegung durch die Verwischung des Objektes dargestellt werden soll. Durch die Wahl der Kamera-Film-Kombination, respektive der Sensorgröße und der Empfindlichkeitseinstellung hat der Fotografierende über den Detailreichtum der Abbildung zu entscheiden. Ob das Motiv schwarzweiß oder farbig gezeigt werden soll, ist eine weitere Variable. Die fotografische Abbildung stellt also eine Projek10
tion real existierender dreidimensionaler Objekte auf eine Fläche dar und bedeutet notwendigerweise eine Abstraktion von dem mit bloßem Auge Sichtbaren. Eine Fotografie bestätigt zwar, dass die Gegenstände zum Zeitpunkt der Aufnahme real existiert haben (wenn auch vielleicht nicht gleichzeitig), mehr auch nicht. Das Foto entspricht nicht einmal dem eigenen Erleben vor dem Motiv. Der immer wieder zu hörende, Bücher füllende Vorwurf, eine Fotografie zeige einen manipulierten Eindruck der Wirklichkeit, ist von vornherein absurd, da in keinem Fall, auch wenn sie noch so naturgetreu ist, die Fotografie Realität reproduziert. Mit der Abbildung von Wirklichkeitsausschnitten, bei denen das Dreidimensionale zum Zweidimensionalen wird und andere sinnliche Eindrücke wie Geräusche und Gerüche entfallen, schafft die Kamera oder der Fotograf, eine eigene, eben fotografische Realität. Worum es bei diesem Punkt geht, wird einfacher, wenn man sich einen Spielfilm vorstellt. Der ist nur packend, wenn wir in die Handlung hineingezogen werden und überzeugt sind, dass die Probleme der Helden einer Lösung bedürfen. Sonst könnten wir nicht mitfiebern. Trotzdem wissen wir, dass es Schauspieler sind, die Sätze aus einem Drehbuch sprechen, und die gezeigte Welt im Studio gebaut oder im Rechner erzeugt wurde. Dieses Wissen ist beim Film selbstverständlich. Die technologische
Voraussetzung des Films ist die Fotografie. Bei ihr gilt das gleichermaßen. Es geht darum, eine Situation überzeugend zu verdichten oder zu inszenieren, um den Betrachter in das Foto zu ziehen.
Wenn aber Fotografen immer wieder versuchen, die bildende Kunst zu imitieren, muss sich niemand wundern, dass eine Nachahmung eben nicht so wirkt wie das Original und natürlich auch nicht so viel gilt. Der Versuch, mit der Kamera „Bilder“ zu Wissen, was eine Fotografie ist machen, gar „malerisch“ zu sein, tut der Kunst ebenIn der vorfotografischen Zeit war ein „Bild“, das, so unrecht wie der Fotografie. Gerade in Deutschwas jemand mit seiner Phantasie oder seiner Beob- land, oder wohl auch in Mitteleuropa, wo in Insachtungsgabe erfasst und mit seinen titutionen wie Museen, Galerien Fotografie braucht einen Händen mittels Stift oder Pinsel auf (auf dem Kunstmarkt generell), Zweck, zu dem sie gemacht eine Fläche übertragen hatte. Eine Kunsthistoriker sich der Fotografie und ausgewählt wird. annehmen, wird die Fotografie einigermaßen naturalistische Darstellung gelang dabei selten und so immer wie die minderbemittelte forschte man nach Möglichkeiten, genaue Abbilder Schwester der bildenden Künste behandelt und zu erhalten. 1839 wurde das fotografische Verfahren nicht als eigenständiges Medium mit eigenen Geveröffentlicht. setzmäßigkeiten. Mit der Fotografie wurde erstmals das für ein Bild bestimmte Kriterium der Herstellung mit der Hand Der fotografische Prozess eines Menschen durch einen physikalisch-che- Man sollte sich im Klaren sein, dass der Druck auf mischen Prozess ersetzt. Der Begriff „Bild“ aber den Auslöser noch kein (künstlerischer, kreativer) wurde auf diese „Abbilder“ übertragen – mit weit Prozess ist; erst recht keiner, dem Malen eines Bilreichenden Folgen bis in unsere Zeit. Denn auch des vergleichbarer. Auf den Auslöser drücken kann heute noch gilt, was die Fotografin Lisette Model jeder, sogar die Kamera selbst. Was fehlt, ist die 1951 in einem Artikel für die New York Times fest- zeitliche Dauer, die unter anderem die Möglichkeit eröffnet, über das, was man macht, nachzudenken, stellte: „Ein wesentlicher Teil der heutigen Probleme in der es zu modifizieren, seine Persönlichkeit einfließen Fotografie resultiert aus der Tatsache, dass nur sehr zu lassen, wie es zweifellos beim Malen der Fall ist. wenige, die das Medium benutzen, auch wissen, Jetzt die große Frage: Kann man das beim Fotograwas eigentlich eine Fotografie ist. Dies trifft insbe- fieren auch, und wenn ja, wozu soll das gut sein? sondere auf die so genannten ‚kreativen’ Fotografen Nicht zuletzt davon handelt dieses Buch. zu. Viele machen Anleihen bei der Malerei, Zeichnung und Bildhauerei. Auf diese Weise imitieren Das Prinzip der Auswahl sie andere Künste, anstatt ihr eigenes Medium, die Die Praxis zeigt, dass Fotografen hunderte BelichKunst der Fotografie zu entfalten.“ tungen eines Motivs aufnehmen. Technisch wäre 11
das sicherlich nicht nötig, aber selbst wenn die stellt werden, wann er was in welcher Form und in totale Bildkontrolle mittels Monitor möglich ist, welchem Umfang abzuliefern hat. Der Auftraggeber wird es erforderlich sein, aus vielen Belichtungen gibt ein direktes oder indirektes Feedback, indem er lobt, Nachbesserung verlangt, oder im schlechtesten eine oder mehrere auszuwählen. Leider bleibt es oft dabei, und das fotografische Prin- Fall keinen weiteren Auftrag vergibt. zip der fortschreitenden Selektion wird bereits an Der Fotograf bewegt sich in einem relativ klar definierten Rahmen, in dem er dieser Stelle verlassen. Wichtig aber wäre, aus diesen Motiven Statt Motive irgendwo zu suchen, sich mehr oder minder entfalwiederum auszuwählen, sie zu wäre es doch besser, man wüsste, ten kann, es gibt ein definiertes Gruppen zusammenzustellen, Ende des Auftrags. Der Fotograf wo und wie man sie findet. und, besonders entscheidend: kennt den Zweck seiner Arbeit sie auszudrucken! Allein schon die Frage, ob man und weiß in der Regel auch, in welcher Form sie die teure Druckertinte für ein Motiv verspritzt – oder öffentlich werden wird, weil er das bei der Auswahl lieber für ein anderes – ist ein wichtiger Prüfstein. seiner Arbeitsmittel berücksichtigen muss. Hält man selbst seine Motive nicht für Wert, geprintet oder belichtet zu werden, mithin auf Papier Kein Plan, nirgends oder einem anderen Trägermaterial eine haptisch Der Amateur, guten Willens und bereit zu aufreerfahrbare Form zu finden, wie kann man dann genden Taten, was geschieht mit ihm? Er geht auf glauben, andere würden diese Fotografie zu schät- Motivsuche! Was soll das bedeuten? Dass Motive zen wissen? rumliegen, und man sie nur finden muss? Was Das führt unmittelbar zur Frage der Auswahlkriteri- sollen das für Motive sein? Und wen sollen die en und damit zu einem weiteren, entscheidenden Fotos interessieren? Welchen Sinn oder Zweck Punkt: Fotografie braucht einen Zweck, auf den hin soll es haben, irgendwas zu fotografieren? Wo ist sie fotografiert und ausgewählt wird! Anfang, wo Ende? Wie und wo soll es veröffentlicht werden? Der normale Fall ist der Auftrag. Ein Fotograf soll Macht man sich das erst einmal in seiner ganzen eine Reportage über ein Ereignis fotografieren, Fragwürdigkeit klar, wundert es nicht, dass viele eine Modestrecke bebildern, eine Person porträtie- Hobbyisten frustriert sind, und sich allenfalls noch ren. Oder er hat die Aufgabe, mit seinen Fotos ein auf Reisen motivieren können, die Kamera in die Haarschampoo zu verkaufen, die Vorzüge einer Hand zu nehmen. Niemand, auch der tollste FoBohrmaschine zu illustrieren oder Schrauben für tograf nicht, bringt vom ziellosen Rumschlendern einen Katalog des Herstellers abzulichten. Immer vernünftige Fotos mit nach Hause. Und weil es weiß (oder ahnt) der Fotograf, was von ihm erwartet nicht klappt, sucht man den Fehler bei sich, denkt, wird, welche Qualitätsansprüche voraussichtlich ge- man sei Anfänger oder Amateur und könne nicht 12
Dieses Motiv entstand bei einem Spaziergang im Teutoburger Wald. Auf Seite 84/85 sieht man, wieviel spannender ein ähnlich aufgebautes Motiv sein kann, wenn es im Rahmen eines Projektes oder Auftrags fotografiert wird.
gut genug fotografieren. Es liegt auch nicht an der Ausrüstung, der fehlenden Zeit oder sonst etwas, sondern der „Motivsucher“ scheitert mit System. Damit Fotografie als Fotografie funktioniert und Spaß macht, sollte man das Arbeitsprinzip der professionellen Fotografen kopieren, statt nur ihre Aufnahmetechnik. Dieses Arbeitsprinzip ist der Auftrag, oder, in der freien Arbeit: das Projekt. Eine mehr oder minder klar umrissene Arbeit mit Anfang, Mitte und Ende. Ein Mini-Projekt kann zwei Stunden dauern oder einen Tag. Eine etwas größere Geschichte eine (Urlaubs-)Woche lang oder über Wochen verteilt jeweils ein paar Stunden, und ein
großes Projekt länger als ein Jahr. Am Ende wird man immer etwas in der Hand haben: Ein kleines Büchlein, einige Prints zum Aufhängen, vielleicht sogar eine Ausstellung in Aussicht. Prinzipiell ist alles fotografierbar. Statt in der unendlichen Vielfalt Motive zu suchen, nutzt man das Projekt als örtlichen und zeitlichen Rahmen, der die Unendlichkeit begrenzt. Hier wird man nun gezielt Motive finden, und damit die Qualität der eigenen Arbeit schlagartig verbessern. Hat man das erreicht, ist man vorbereitet, den nächsten Schritt zu gehen, und Motive zu planen. Nötig ist die Planung in der kommerziellen Fotografie, aber die ist nur am Rande Thema dieses Buches. 13
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Warum Fototechnik keine große Rolle mehr spielt Im 19. und im 20. Jahrhundert wies die Fotografie eine starke handwerkliche Komponente auf, unterteilt in die Schritte: Aufnahme, Entwicklung, Wiedergabe. Es war nicht unbedingt erforderlich, dass diese drei Schritte von der gleichen Person vollzogen wurden. Speziell kommerziell arbeitende Fotografen delegierten das Entwickeln und Vergrößern schon immer gerne an Fachlabore, und kümmerten sich nur um die Aufnahme, um den, wie sie meinten, kreativen Part, während die handwerkliche Ausarbeitung anderen überlassen blieb. Nur die künstlerischen Fotografen und einige Amateure reklamierten, dass auch die Entwicklung und das Vergrößern Teil des kreativen Verfahrens seien, und nur von ihnen selbst, oder unter ihrer direkten Aufsicht ausgeführt werden sollten.
Von der Dunkelkammerarbeit zum Workflow
Wer analog mit Mittelformat- oder Großbildkameras arbeitete (oder es noch tut), war und ist technisch immer näher an den Fotopionieren des 19. Jahrhunderts als an allen, die Fotos digital aufzeichnen. Und das nicht einmal in einem medienkritischen Sinne, sondern ganz praktisch. Der Akt des Fotografierens ändert sich vollständig, sobald man auf Nur durch die Displays beleuchtet und aus der Hand bei einer Feier fotografiert – mit einer hochwertigen Kompaktkamera kein Problem, Frankfurt 2009.
Film verzichtet. Einige Entscheidungen, die der analog Fotografierende vor der Aufnahme treffen muss, sind nun auf die Zeit nach der Aufnahme verlagert. Zum Beispiel die Frage, ob das Motiv monochrom oder farbig gezeigt werden soll. Wer einen Schwarzweißfilm in der Kamera hat, kann damit keine Farbaufnahme machen. Wer digital fotografiert, hält sich alle Optionen offen. Auch die Frage der richtigen Belichtung hat ihre Brisanz verloren. Etwas derartig Kompliziertes wie das Zonensystem von Ansel Adams wirkt inzwischen völlig anachronistisch. Mit vergleichsweise einfach zu bedienenden Programmen lassen sich aus RAWDateien Tonwertumfänge zaubern, von denen jeder Analogfotograf nur träumen kann. Der so genannte Workflow wird von jedem Fotografen am liebsten vollständig selbst dirigiert. Und weil sie am Rechner sitzen, während sie früher beim Abendessen im Restaurant auf den Kurier mit den fertigen Dias oder Prints aus dem Labor warteten, müssen Berufsfotografen heute länger und mehr arbeiten als früher. Der bisweilen doch recht ausgeprägte handwerkliche Aspekt des Fotografierens ist jedenfalls verloren gegangen und der Bedienung elektronischer Komponenten gewichen: Man hantiert mit einem Computer vor dem Motiv, man verarbeitet die Daten elektronisch und speichert sie in den dunklen Tiefen einer Festplatte, bei der man nie sicher weiß, ob 15
grafen oder die Fotografin zur Seite und sagte: „So, jetzt zeige ich dir mal wie das geht!“ Die Geheimnisse der Dunkelkammer oder des Ausleuchtens wurden von Mund zu Mund weitergegeben. Die persönliche Erfahrung des Lehrenden war dabei ein individueller Filter: Es wurde das vermittelt, was der Lehrer für bewährt und praktisch hielt, und ausgelassen, was als Unsinn oder überflüssig galt. Das ersparte dem Lernenden manches an eigenen Fehlern, aber er erfuhr natürlich nicht, was der Lehrherr selbst ignorierte, was aber eventuell wichtig gewesen wäre.
Wissen ist frei verfügbar
sie die Daten unversehrt wieder herausgeben wird. Die wenigsten Fotos kommen über das Stadium des Datenklumpens hinaus und werden sinnlich erfahrbare Fotografie in Form eines Tintenstrahldrucks oder chemischen Prints. Früher brauchte man jahrelange Erfahrung, um gute Prints zu machen. Und jeder sah ein wenig anders aus. Heute kommen die Prints aus dem Drucker wie die Printen aus der Lebkuchenfabrik – genormt. Früher nahm der Lehrherr den angehenden Foto16
Heute gibt es keine Geheimnisse um die fotografischen Prozesse mehr. Jeder kann, jeder darf fotografieren. Und jeder kann sich, was er nicht weiß, in handlichen Häppchen in pädagogisch perfekt aufbereiteten Video-Tutorials aneignen. Technisches Wissen ist leicht vermittelbar, und größtenteils sogar kostenlos verfügbar. Wenn aber jeder Zugang zu den gleichen Informationen hat, dann verlieren handwerklich-technische Fähigkeiten an Wert. Oder anders gesagt: Darauf, dass man „die Technik beherrscht“, lässt sich heute nur noch schwer eine Karriere als Fotograf begründen. Die beherrscht heute jeder (der es will), und wer nicht, nimmt sich einen Assistenten, der es kann. Hinzu kommt, dass im Consumer-Bereich immer hochwertigere Prozessoren verbaut und die Programme immer „raffinierter“ werden, mithin also auch Laien die ungewöhnlichsten Fotosituationen meistern können – einfach so, ohne überhaupt über Fotokenntnisse zu verfügen. Und man sollte nicht
vergessen: Die meisten Fotos müssen nicht größer werden als DIN A3. Der Trend wird vermutlich dahin gehen, kleine Kameras für spezielle Zwecke (Unterwasser- und Outdoor-Sports, Nachtaufnahmen, 3D- oder Gigapixel-Fotos) zu haben, so ungefähr wie man früher verschiedene Filme für verschiedene Anwendungen hatte. Die bis jetzt noch für Hobbyisten übliche schwere Ausrüstung mit Spiegelreflexkamera und diversen Wechselobjektiven ist technisch längst nicht mehr absolut zwingend, sondern vielfach eher dem Wunschselbstbild als Profi geschuldet. Natürlich kann man mit kleinen Kameras verschiedene Bildwirkungen und optische Qualitäten nicht erreichen, die man mit der idealen Kombination von einer Top-SLR und hochwertiger Festbrennweite erzielen kann. Deshalb sollte man fototechnisch so weit kundig sein, beispielsweise zu wissen, dass man einen unscharfen Hintergrund mit einer „Knipse“ mit Weitwinkel kaum hinbekommen wird. Paradoxerweise ziehen oft jene, die alle Schärfentiefe-Optionen zur Verfügung haben, es vor, Fotos zu machen, die von vorne bis hinten scharf sind. Es ist viel Fototechnik und Optik auf dem Markt, und es macht bestimmt Spaß, eine umfangreiche Ausrüstung sein eigen zu nennen, aber man muss keine Vollformatsensorkamera kaufen, um ein tolles Projekt fotografieren zu können. Man sollte sich jedoch bewusst sein, was die Geräte, die man verwendet, können, und wo ihre Grenzen liegen. Oft steht die Freude des Besitzens vor dem eigentlichen Nutzwert. Ausrüstung ohne einen bestimmten Verwendungszweck anzuhäufen ist zwar üblich,
aber nicht vernünftig. Sinnvollerweise kauft (oder leiht) man sich gerade als Hobbyist die Ausrüstung, die man für ein Fotoprojekt braucht und trennt sich hinterher wieder davon. Das ist allemal ökonomischer, als davon zu träumen, man könne die Investitionen über den Verkauf von Fotos wieder „reinholen“. 17