Leseprobenheft Romane Frühjahr 2015

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Leseproben romane



Leseproben Romane Lynn Austin, Hüter des Erbes ................................................. 2 Elizabeth Musser, Das Hugenottenkreuz .............................. 13 Dani Pettrey, Wilde Wasser.................................................... 22 Cathy Marie Hake, Eine bittersüße Liebe ............................. 32 Amanda Cabot, Ein verheißungsvoller Frühling .................. 39 Tamera Alexander, Das Foto meines Lebens ......................... 47 Dee Henderson, Jennifer ....................................................... 52 Kristen Heitzmann, Im frühen Morgenlicht ......................... 56


Lynn Austin

Hüter des Erbes

ISBN 978-3-86827-482-0 480 Seiten, Paperback Format 13,5 x 20,5 cm erscheint im Januar 2015

Susa, Persien, im Jahr 473 v. Chr.: König Xerxes gibt den Befehl, alle Juden in seinem Herrschaftsbereich töten zu lassen. Esra, bislang ein friedfertiger Gelehrter in Babylon, wird mit einem Mal zum Anführer im Überlebenskampf des jüdischen Volkes. In einer Zeit voller gewaltiger Wagnisse findet er in Deborah, der Witwe seines Bruders, eine Seelenfreundin und die Liebe seines Lebens. Als König Artaxerxes den babylonischen Juden die Rückkehr nach Jerusalem erlaubt, scheint für Esra und Deborah ein Traum wahr zu werden. Doch das neue Leben bringt seine ganz eigenen Herausforderungen mit sich … Lynn Austin versteht es meisterhaft, mit ihren Romanhelden und -heldinnen den epischen Erzählungen des Alten Testaments neues Leben einzuhauchen. Sie erzählt eindrucksvoll von der bewegten Phase der Rückführung des Volkes Israel in seine Heimat und von Gottes Treue und Erbarmen. 4


Babylon Die Tür zu Esras Studierzimmer sprang ohne Vorwarnung auf. Erschrocken blickte er von seiner Schriftrolle hoch und sah seinen Bruder Judas atemlos auf der Schwelle stehen. Er trug noch seine Töpferschürze und Spuren von getrocknetem Ton zierten seine Arme und seine Stirn. „Du musst gleich kommen.“ Esra ließ den Zeigestab, den Jad, auf der Schriftrolle liegen, um sich die Stelle zu merken, an der er seine Lektüre unterbrochen hatte. „Kann es nicht noch ein paar Minuten warten? Wir sind mit diesem Abschnitt beinahe fertig und es ist ein besonders schwieriger.“ Judas durchquerte den Raum und riss Esra den Zeigestab aus der Hand. „Nein! Es kann nicht warten. Wenn die Gerüchte wahr sind, steht das Leben unserer Landsleute auf dem Spiel und deine Thorastudien sind dagegen erst einmal unwichtig!“ „Tut mir leid“, sagte Esra zu seinen drei Thoraschülern. „Ich komme wieder, sobald ich nachgesehen habe, was los ist.“ „Ihr müsst alle kommen“, sagte Judas mit einer Handbewegung zu den jungen Männern am Tisch. „Es betrifft uns alle.“ „Aber unsere Arbeit –“ „Das hier ist wichtiger.“ Judas zog an Esras Arm, bis er sich erhob. „Jetzt kommt!“ Esra würde seinen Bruder später dafür tadeln, dass er ihn und seine Kollegen so rüde unterbrochen und ihm noch nicht einmal Zeit gelassen hatte, die Rollen zu verstauen. Judas war einunddreißig und damit vier Jahre jünger als Esra. Sein Temperament konnte so heiß lodern wie der Brennofen, in dem er und ihr jüngerer Bruder Ascher ihre Töpfe brannten. „Wohin gehen wir?“, fragte Esra, als Judas ihn und die anderen aus dem Zimmer schob. „Zum Versammlungshaus. Die Ältesten haben wegen der besorgniserregenden Umstände eine außerordentliche Versammlung einberufen.“ „Kannst du mir nicht wenigstens sagen, worum es ungefähr geht, Judas? Wir haben wichtige Arbeit zu tun.“ Sein Bruder verstand die Ernsthaftigkeit von Esras Arbeit nicht, das Studieren und Deuten der heiligen Gesetze Gottes und die Übertragung dieser Gesetze in praktische Regeln, die Arbeiter wie Judas in ihrem Alltag anwenden konnten. Der Gott Ab5


rahams hatte seine Kinder berufen, ein heiliges Leben zu führen, und Esras Arbeit würde dafür sorgen, dass sie die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholten, durch die sie in die jetzige Gefangenschaft in Babylon geraten waren. „Ich weiß alles über deine wichtige Arbeit“, sagte Judas, während sie durch die schmalen Gassen liefen. „Was glaubst du, warum Ascher und ich dich unterstützen und du bei uns wohnen kannst?“ „Das gibt dir nicht das Recht, mich zu stören und herumzukommandieren –“ Judas blieb stehen, Esras Arm noch immer fest im Griff, und fuhr zu ihm herum. „Hast du gehört, was ich gesagt habe, Esra? Oder war dein Kopf in den Wolken bei den Engeln? Diese Neuigkeit betrifft unser Leben.“ „Du kannst meinen Arm loslassen“, sagte Esra und riss sich los. „Ich komme doch mit.“ Esra nahm nur selten an den Sitzungen des Rates teil, weil er sein Leben in gelehrter Einsamkeit vorzog. Aber er spürte die Dringlichkeit der Versammlung, sobald Judas und er sich in die voll gedrängte Halle schoben. Männer aus allen Gesellschaftsschichten hatten ihre Arbeit verlassen, um hierherzukommen. Rebbe Nathan, der Anführer der jüdischen Gemeinde im babylonischen Exil, stand auf dem Podium und bat um Ruhe. Neben ihm stand ein älterer Babylonier, in das Gewand eines königlichen Sterndeuters und Magiers gekleidet. Er wirkte in dem jüdischen Gebetshaus irgendwie fehl am Platz. Der Fremde blickte sich um, als suche er einen Fluchtweg – als könnte die Menge ihn jeden Augenblick in der Luft zerreißen. Der bloße Anblick eines Heiden, der so nahe an dem Ort stand, an dem die heiligen Schriftrollen aufbewahrt wurden, machte Esra wütend. „Was macht der heidnische Schamane in unserem Gebetshaus?“, fragte er Judas. „Das ist eine Entweihung –“ „Schhh!“ Judas stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen. „Kannst du deine heiligen Regeln vielleicht einmal vergessen und einfach nur zuhören?“ „Ruhe! Bitte!“, rief Rebbe Nathan. „Alle müssen zuhören!“ Als die Männer schließlich verstummten, wandte er sich an den Babylonier. „Sag ihnen, warum du gekommen bist. Sag ihnen alles, was du mir erzählt hast.“ Der Zauberer starrte zu Boden und nicht in die Menge, während er mit zögernder Stimme sprach. „Vor vielen Jahren, als ich jung war und 6


zu einem Magier des Königs ausgebildet wurde, hatte ich die Ehre, den Mann kennenzulernen, den ihr Daniel, den Gerechten, nennt – möge er in Frieden ruhen. Meine große Bewunderung für ihn hat mich dazu bewogen, euch unverzüglich von diesem königlichen Erlass zu berichten.“ Er hielt ein offiziell anmutendes Dokument hoch. „Der Erlass des Königs ist ein Gesetz für alle Provinzen, das nicht geändert werden kann –“ Die Stimme des alten Mannes brach und er verstummte. Er reichte Nathan das Dokument. „Hier, lies du es … und möge der Gott, dem ihr dient, sich erbarmen.“ Rebbe Nathan räusperte sich. „An einem einzigen Tag, am 13. Tag des 12. Monats, des Monats Adar, sollen alle Juden getötet werden – Junge und Alte, Kinder und Frauen.“ Entsetztes Gemurmel erhob sich in der Menge. Esra schüttelte den Kopf, als könnte er dadurch die Worte auslöschen, die er gerade gehört hatte. Alle Juden getötet? „Niemand darf überleben! Ihr Besitz ist zu beschlagnahmen“, fuhr Nathan fort. Esra wandte sich zu seinem Bruder um, in der Hoffnung, dass es sich um ein Versehen oder einen schrecklichen Scherz handelte oder er etwas falsch verstanden hatte. Das konnte nicht wahr sein. In wenigen Monaten würden sie alle abgeschlachtet werden? Judas, der verheiratet und Vater zweier kleiner Töchter war, hatte Tränen in den Augen. „Aber … warum?“, fragte Esra laut. „Warum sollen wir alle getötet werden?“ Wozu waren all die Jahre seiner Studien gut gewesen, all seine Kenntnisse der Thora, all die Arbeit der Großen Versammlung, wenn ihr Leben jetzt so endete? Warum sollte der Allmächtige das zulassen? „Was ist der Grund für diesen Erlass?“, rief jemand anders. „Was haben wir denn verbrochen?“ Rebbe Nathan fuhr sich mit der Hand zitternd über die Augen. „Es wird keine Erklärung genannt.“ „Wir haben keine Feinde hier in Babylon“, sagte ein anderer Mann. „Sie werden uns doch sicher nicht umbringen, oder?“ „Der Befehl besagt, dass unsere Mörder unser Hab und Gut plündern dürfen“, sagte Nathan. „Selbst diejenigen Männer, die uns nicht hassen, werden sich an dem Morden beteiligen, um alles an sich zu reißen, was wir besitzen – Häuser, Geschäfte …“ 7


„Und da dieser Erlass von König Xerxes selbst stammt“, fügte der babylonische Astrologe hinzu, „werden viele im Reich sich beeilen, ihm zu gehorchen, damit sie seine Gunst erlangen. Ihr seid zu Feinden des Königs erklärt worden.“ „Wir müssen fliehen!“, sagte einer der Ältesten. „Wir müssen unsere Familien auf der Stelle aus Babylonien herausbringen!“ Esra hatte den gleichen Gedanken. Er musste in sein Arbeitszimmer zurücklaufen und all die unbezahlbaren Thorarollen einpacken, all die historischen Berichte, die Weisheitsliteratur und die Rollen der Propheten, und sie an einen sicheren Ort bringen. „Wir können nirgends hin“, sagte Nathan und seine Stimme klang vor Trauer ganz heiser. „Die Hinrichtungen werden gleichzeitig stattfinden, überall im Reich. In jeder Provinz.“ „Gott Abrahams …“ Esra schlug sich die Hand vor den Mund. Er stützte sich auf seinen kräftigen Bruder, während das Entsetzen ihm den Magen umdrehte. Panik und Angst zogen wie Gewitterwolken durch den Saal. „Was sollen wir tun?“, jammerte jemand. „Unsere Frauen … unsere Kinder … wir können sie nicht sterben lassen!“ „Gott Abrahams, warum lässt du das geschehen?“ Klagerufe erfüllten den Raum. Nathan hob wieder die Hände, um die Unruhe zu bändigen. Er wandte sich an den babylonischen Zauberer. „Gibt es nichts, was wir tun können, um das alles zu verhindern? Kennst du jemanden, der uns Zuflucht gewähren würde, bei dem wir uns verstecken könnten? Wir würden überallhin reisen, egal, wie weit.“ „Wenn ich jemanden wüsste, würde ich es euch sagen. Ich will doch auch nicht, dass das geschieht. Ich bin wegen meiner Achtung vor Rebbe Daniel gekommen, aber jetzt muss ich wirklich gehen. Ich wollte gar nicht so lange bleiben.“ Nathan half ihm von dem Podest und die Menge teilte sich, um ihn durchzulassen, als er davoneilte. „Wie kann das sein?“ Esra zog verzweifelt an seinen Haaren und seinem Bart und der Schmerz war eine Erinnerung daran, dass dies Wirklichkeit war und kein Albtraum. Als er aufblickte, sah er, dass Nathan den Erlass des Königs überflog und die Worte beim Lesen vor sich hinmurmelte. 8


Die Menge verstummte, um zu lauschen. „Es gibt keine andere mögliche Deutung“, sagte Nathan. „Der Erlass ist endgültig, unterzeichnet und besiegelt mit dem Ring von König Xerxes ... und bezeugt durch Haman, den Sohn von Hammedata, dem Agagiter.“ Esra stöhnte. „Oh nein! Da haben wir unseren Grund.“ „Kennst du diesen Namen?“, fragte Judas. Esra konnte nur nicken, weil die Erkenntnis, um wen es sich bei diesem mächtigen Feind handelte, ihn überwältigte. „Erzähl es uns allen, Esra“, sagte Judas und schob ihn nach vorne. „Hört alle her! Mein Bruder weiß etwas. Lasst ihn sprechen!“ „Du kennst diesen Mann Haman?“, fragte Nathan. „Nein, ich bin nur ein Gelehrter. Ich war noch nie außerhalb der Mauern dieser Stadt.“ Esra stieg mit schleppenden Schritten die Stufen der Bima hinauf. „Aber ich kenne die Thora und die Geschichte unseres Volkes und glaubt mir, der Mann hinter diesem mörderischen Erlass – dieser Haman, der Agagiter – ist unser Feind.“ „Erzähl uns, was du weißt.“ Esra brauchte einen Augenblick, um zu Atem zu kommen. „Agag war der König der Amalekiter – eines Volksstammes, der von Esaus Enkel Amalek abstammt. Wenn Haman sich als Agagiter bezeichnet, dann muss er aus der königlichen Familie dieses Volkes kommen. Er ist ihr König – und jetzt hat er eine Position inne, die ihm Macht über das ganze persische Reich verleiht. Natürlich will er diese Macht dazu nutzen, um uns zu vernichten.“ Wieder musste Esra innehalten vor lauter Entsetzen über das, was er sich sagen hörte. „Die Amalekiter sind schon lange Feinde unseres Volkes. Sie haben unsere Vorfahren angegriffen, sobald wir mit Mose aus Ägypten geflohen waren. Sie scherten sich nicht darum, dass wir unbewaffnet waren oder mit Frauen und Kindern reisten.“ „Feiglinge!“, ertönte ein Ruf aus der Menge. „So ist es“, sagte Esra. „Der Allmächtige befahl unserem ersten König Saul, alle Amalekiter vollständig auszurotten. Als Saul ungehorsam war, wurde ihm seine Herrschaft genommen und an David übergeben. Unsere ganze Geschichte ist vom Krieg gegen die Amalekiter geprägt. Diese Nachkommen Esaus glauben, wenn sie alle Nachkommen Jakobs umbringen, werden sie den Segen des Bundes von Gott bekommen, der rechtmäßig uns gehört.“ 9


„Müssen wir tatenlos zusehen und dieses Schicksal akzeptieren?“, fragte Judas. „Wir könnten uns doch bewaffnen und uns wehren!“ Nathan stand eine Zeitlang mit gesenktem Haupt da, bevor er wieder aufblickte. „Der König wird den Erlass mit Hilfe der persischen Armee in die Tat umsetzen. Selbst wenn wir versuchen würden zu kämpfen, könnten wir unmöglich gewinnen. Wenn der dreizehnte Adar kommt …“ Er konnte nicht weitersprechen. Weinend lehnte er sich an Esra, als stände er kurz davor zusammenzubrechen. „Holt eine Bank!“, rief Esra. „Er muss sich setzen.“ Die Männer hoben eine Bank auf das Podium und Esra half dem alten Rebbe, darauf Platz zu nehmen. „Geht es wieder?“, fragte er. Nathan antwortete nicht. Er weinte immer noch, den Körper vornübergebeugt, den Kopf in den Händen. „Gibt es niemanden in der Regierung, der uns helfen kann?“, fragte einer der Ältesten. Esra wurde bewusst, dass der Mann sich an ihn gewandt hatte. Alle erwarteten, dass er Nathans Platz einnahm. „Nicht, dass ich wüsste“, erwiderte er. „Daniel, der Gerechte, war ein Berater des Königs, als er noch lebte, aber jetzt haben wir keinen Fürsprecher mehr in Babylon oder Susa oder sonst irgendwo. Selbst wenn wir jemanden hätten – der König hat den Erlass besiegelt und die Gesetze der Meder und Perser können nicht geändert werden.“ Wieder erhob sich ein Klagen und Weinen im Saal. „Ich weigere mich, dieses Todesurteil zu akzeptieren!“, schrie Judas über den Lärm hinweg. „Es muss etwas geben, das wir tun können, außer hier zu sitzen und auf unseren Tod zu warten!“ „Wir können fasten und beten“, sagte Esra. „Wir können mit Gott ringen, so wie Jakob es am Fluss Jabbok getan hat, als er sich darauf vorbereitete, Esau gegenüberzutreten.“ Er gab all die richtigen Antworten, die ein Mann des Glaubens bieten konnte. Und dennoch war Esras Glaube in diesem Moment erschüttert. Sein Herz und sein Verstand drohten von der ansteigenden Flut der Hoffnungslosigkeit ertränkt zu werden. Er wusste nicht, wie Gott sie aus dieser Situation retten sollte. Sie waren alle zum Tode verurteilt. (…) *** Deborah war noch wach, als sich Judas endlich zu ihr ins Bett legte. So müde sie auch von der Arbeit des Tages war, die beunruhigenden Neuig10


keiten ließen sie nicht einschlafen. Ihre Gedanken flatterten umher wie die Taube, die Noah aus der Arche entsandt und die vergeblich einen Platz gesucht hatte, auf dem sie landen konnte. Geschichten aus der Vergangenheit ihrer Vorfahren kamen ihr in den Sinn und sie versuchte zu verstehen, was der Allmächtige tat. Und was er als Nächstes tun würde. „Soll ich die Lampe für dich anzünden?“, fragte sie, während sie zusah, wie Judas sein Hemd auszog. „Nein. Es könnte die Mädchen wecken.“ Er streifte auch die anderen Kleider ab, legte sich aber nicht neben sie. Selbst ohne den Schein der Öllampe konnte Deborah die Verwirrung und Angst in seiner Miene sehen. In den vier Jahren, die Judas und sie jetzt verheiratet waren, hatte Deborah ihren starken, furchtlosen Mann noch nie so blass und verunsichert gesehen. Als er mitten am Nachmittag den Innenhof ihres Hauses betreten hatte, war ihr sofort klar gewesen, dass etwas Schreckliches geschehen war. „Was ist los?“, hatte sie gefragt und ihren Teig, den sie gerade knetete, im Backtrog liegen lassen. „Ist etwas mit einem deiner Brüder? Ist jemand verletzt?“ Sie konnte sich keinen anderen Grund denken, warum er so früh und so außer sich nach Hause kommen sollte. „Der persische König hat unser ganzes Volk zum Tode verurteilt. Männer, Frauen und Kinder. Wir werden alle sterben.“ „Was? … Nein …“ Sie hatte versucht, ihn in den Arm zu nehmen, aber er hatte sie auf Abstand gehalten, so als wäre er zu angespannt, um Trost zuzulassen. „Aber warum, Judas? Was ist der Grund dafür?“ Er schüttelte den Kopf, unfähig zu sprechen, dann floh er ins Haus und weigerte sich, noch ein Wort zu sagen. Als ihr Schwager Esra nach Hause kam, Stunden früher als sonst, hatte sie ihn mit Fragen bestürmt. Esra wusste mehr über den Allmächtigen als jeder andere in Babylon, aber auch er hatte unter Schock gestanden und ihr nicht versichern können, dass Gott die Zügel weiterhin fest in der Hand hielt. Jetzt wartete sie darauf, dass Judas sich neben sie legte. Doch er ging ständig auf und ab, so als überlege er krampfhaft, was er tun konnte, um die Situation zu ändern. Deborah erhob sich von ihrem Lager und schmiegte sich in seine Arme, den Kopf an seinen breiten, kräftigen Brustkorb gelegt. „Ich will die Wahrheit wissen, Judas. Erzähl mir alles über dieses Todesurteil und was wir dagegen tun können. Du darfst mich nicht davon abschirmen.“ Er war ein Bär von einem Mann, ein Riese im 11


Vergleich zu ihrer zierlichen Gestalt. An diesem Abend hielt er sie, als könnte sie zerbrechen, als hätte er Angst, sich mit der ganzen Macht seiner Gefühle an sie zu klammern. Er strich über ihre dunklen Haare, deren Farbe dem Mitternachtshimmel glich, wie er immer sagte. „Es ist meine Pflicht, dich abzuschirmen“, sagte er. „Männer sollen ihre Frauen in Situationen wie dieser beschützen.“ Sie ließ ihn los und blickte im Dunkeln zu ihm auf, während sie dem Drang widerstand, ihn anzuschreien. „Ich will nicht beschützt werden! Ich habe dir vor unserer Hochzeit gesagt, dass ich nicht wie andere Frauen bin. Ich bin nicht damit zufrieden, in Unwissenheit zu leben und nicht zu wissen, was los ist. Ich will nicht, dass mein Mann alles tut und entscheidet. Ich habe dir gesagt, dass ich von unserer Ehe mehr erwarte, als nur dein Essen zu kochen und deine Kinder zur Welt zu bringen – und du warst damit einverstanden, Judas. Du warst damit einverstanden, dass ich nicht nur deine Ehefrau bin, sondern auch deine Partnerin. Du hast versprochen, dass du nie etwas vor mir geheim halten wirst –“ Er legte seine Finger auf ihre Lippen, um sie zum Schweigen zu bringen, und atmete hörbar aus. Sie merkte, dass er um Worte rang und sie in seinem Kopf zu formen versuchte, so wie er seine Tontöpfe formte. Er war ein Mann, der lieber handelte als redete. Aber Deborah wollte alles wissen, weil sie sich sicher war, dass ihr Glaube stark genug sein würde, um die Wahrheit zu verkraften. Sie war als geliebtes, einziges Kind eines gelehrten Vaters aufgewachsen, der sie wie einen Sohn behandelt, ihr die Geschichten ihrer Vorfahren erzählt und mit ihr über den Allmächtigen und seine Thora diskutiert hatte. Andere Töchter hatten dagegen von ihren Müttern Haushaltspflichten gelernt. Deborah aber hätte lieber gar nicht geheiratet, als mit einem Mann zusammenzuleben, der sich ihr nicht anvertraute und sie nicht als gleichberechtigte Partnerin betrachtete. „Wenn ich dir sage, was ich weiß, wird dich das betrüben“, sagte Judas schließlich. „Und ich will nicht, dass du Kummer hast. Es tut mir leid, dass ich überhaupt etwas gesagt habe.“ Er wandte sich ab und sank aufs Bett. Deborah fragte sich, ob er stur sein würde, aber er gab ihr ein Zeichen, sich zu ihr zu setzen. „Der Erlass kommt vom persischen König“, sagte er, als sie sich an ihn geschmiegt hatte. „Er kann niemals geändert oder aufgehoben werden.“ Er hielt inne, brachte seine Erzählung dann aber hastig zu Ende. „Mit diesem Gesetz 12


dürfen unsere Feinde jeden Juden auf der Welt am dreizehnten Adar dieses Jahres töten – Männer, Frauen und Kinder.“ Deborahs Magen zog sich zusammen. Sie würden selbst Kinder umbringen? „Unsere Feinde?“, fragte sie, als sie wieder sprechen konnte. „Wir haben hier in Babylonien doch keine Feinde.“ Er seufzte wieder. „Hast du schon mal von den Amalekitern gehört?“ „Ja, sie haben unser Volk angegriffen, als wir hilflos durch die Wüste wanderten.“ „Esra hat herausgefunden, dass ein amalekitischer Prinz hinter diesem Hinrichtungsbefehl steckt. Dieser Prinz – unser Feind – ist die rechte Hand des persischen Königs.“ Allmählich verstand Deborah die Hoffnungslosigkeit der Situation, vor die sie gestellt waren, und sie begann auch die Tiefe von Judas’ Verzweiflung zu erfassen. Sie lehnte den Kopf an seine Brust und lauschte dem gleichmäßigen Schlag seines Herzens. Sie atmete seinen vertrauten Duft ein, roch den Schweiß seiner schweren Arbeit und den Ton und wünschte, sie könnte aufwachen und feststellen, dass all dies nur ein Albtraum gewesen war. „Was sagen die Ältesten? Haben sie beschlossen, was sie tun wollen?“ „Dazu war keine Zeit. Der Erlass kam ohne Vorwarnung. Die Ältesten stehen unter Schock. Wir alle sind schockiert. Rebbe Nathan ist völlig zusammengebrochen. Ich hoffe, dass Esra an Nathans Stelle tritt. Wenn jemand Gott und seine Wege kennt, dann ist es mein Bruder. Vielleicht kann er eine Lösung finden und herausbekommen, was wir getan haben, um Gott zu erzürnen und dieses Unglück über uns zu bringen.“ Judas’ Worte und die Angst in seiner zögerlichen Stimme erschütterten Deborah. Sie holte zitternd Luft und versuchte dennoch, stark zu sein. „Gott hat für unsere Vorfahren Wunder vollbracht, Judas. Wir kennen beide die Geschichten, wie er das Meer geteilt hat, wie er Wasser aus einem Felsen hat hervorquellen lassen und uns in der Wüste Manna zu essen gegeben hat. Er hat einen Bund mit uns geschlossen und versprochen, immer unser Gott zu sein – und dieses Versprechen wird er halten. Das wird er ganz sicher!“ Sie versuchte ebenso sehr sich selbst zu überzeugen wie Judas. „Ich weiß, dass es im Augenblick schlimm aussieht, aber wir brauchen einfach etwas Zeit, um einen Ausweg zu finden. Unsere Armeen waren in der Vergangenheit auch in der Minderheit, aber Gott hat uns immer den Sieg geschenkt und uns gerettet.“ 13


„Nicht immer“, sagte Judas. „Sieh dir doch an, wo wir leben.“ Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Judas hatte recht: nicht immer. Nicht, wenn ihr Volk sich von Gott abgewandt und seine Gesetze missachtet hatte. War das nicht der Grund, warum sie hier in Babylon lebten, ins Exil verschleppt unter dem Schwert von Gottes Zorn? „Wir werden eine Lösung finden“, wiederholte sie. „Vielleicht solltest du anstelle von Rebbe Nathan unser Volk anführen. Dann wärst du wie deine Namensvetterin, die Feldherrin Deborah.“ „Machst du dich über mich lustig?“ „Nein, Liebes“, sagte er und zog sie näher. „Wenn irgendeine Frau im Reich eine Armee anführen könnte, dann bist du es.“ Das Baby rührte sich. Die Kleine warf sich unruhig hin und her und fing irgendwann an zu wimmern. „Haben wir sie geweckt?“, flüsterte Judas. „Nein, ein neuer Zahn bereitet ihr Kummer. Ich werde ihr Zahnfleisch einreiben.“ Diese geplante Hinrichtung ihres Volkes würde niemals geschehen, sagte Deborah sich, als sie die einjährige Michal auf den Arm nahm. Gott würde es nicht zulassen. Wenn all die Geschichten in den heiligen Schriften wahr waren, dann hatte der Allmächtige einen Plan. Ihr Volk konnte Gott vertrauen, komme, was wolle. Trotzdem konnte Deborah nicht leugnen, dass sie schreckliche Angst hatte, während sie ihre Tochter wieder in den Schlaf wiegte – nicht um sich selbst, sondern um ihre Kinder. Sie verstand Judas’ Bedürfnis, sie zu beschützen, denn sie selbst würde ihr Leben geben, um Michal und die dreijährige Abigail zu beschützen. Tränen brannten in Deborahs Augen, aber sie hielt sie zurück, während sie das Baby an sich gedrückt hielt. Sie würde nicht weinen. Und sie würde ihre Töchter lehren, stark zu sein. Und Gott zu vertrauen.

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Elizabeth Musser

Das Hugenottenkreuz

ISBN 978-3-86827-483-7 384 Seiten, gebunden Format 13,5 x 20,5 cm erscheint im Januar 2015

Die Missionarstochter Gabriella wird zum Studium nach Frankreich geschickt. Im romantischen, verschlafenen Städtchen Castelnau lernt sie den attraktiven amerikanischen Professor David kennen. Er kann mit ihrem unerschütterlichen Glauben an Gott nichts anfangen, dennoch fühlt sich Gabriella zu ihm hingezogen. Doch warum verschwindet er immer wieder in geheimer Mission? Wer ist David wirklich? Und was hat es mit der mysteriösen „Operation Hugo“ auf sich? Elizabeth Musser entführt den Leser in ein spannendes Kapitel französischalgerischer Geschichte und an faszinierende Orte. Ein mitreißendes, zu Herzen gehendes Buch! Von der Autorin komplett überarbeitete und neu übersetzte Version des beliebten Bestsellers. 15


September 1961 Castelnau, Frankreich Über dem gemütlichen Städtchen Castelnau in Südfrankreich ging sanft die Sonne auf. Gabriella schlüpfte leise aus dem Bett, streckte sich und fuhr mit den Fingern durch ihre dichten, roten Haare. Der Fliesenboden fühlte sich kühl unter ihren nackten Füßen an. Sie spähte aus ihrem winzigen Zimmer und beobachtete, wie sich die leeren Straßen unter ihr nach und nach mit Menschen füllten. Mme. Leclerc, ihre Vermieterin, betrat als Erste die Boulangerie, die Gabriella ein Stück weiter unten in der Straße gerade noch sehen konnte. Wahrscheinlich wollte sie Baguettes und Gros Pains kaufen – ein unverzichtbarer Bestandteil des Frühstücks für die drei Studentinnen, die bei ihr wohnten. Sie schaute noch ein wenig länger aus dem Fenster, bis ein großer, schlanker Mann Mitte zwanzig selbstsicher die Straße heraufkam und die Boulangerie betrat. Gabriella hatte ihn anhand der Beschreibung ihrer Mitbewohnerinnen sofort erkannt, als sie ihn vor ein paar Tagen das erste Mal Brot hatte kaufen sehen. Es war David Hoffmann, der attraktive amerikanische Professor der Universität. Gabriella strengte ihre Augen an, um ihn besser sehen zu können. Castelnau war eine angenehme Kleinstadt, dachte sie, während sie vom Fenster wegtrat. Sie zog die Daunendecke ordentlich über das Bett und schüttelte das Kissen auf. Hier war nichts so wie in Dakar oder an irgendeinem anderen Ort im Senegal. Abgesehen natürlich davon, dass der Strand und das Meer nicht weit entfernt waren. Aber hier war es das Mittelmeer und nicht der Atlantik. Gabriella band ihre ungezähmten Haare mit einem breiten Band zurück und wusch sich dann in dem kleinen Porzellanwaschbecken in der Zimmerecke das Gesicht. Sie öffnete einen großen Eichenkleiderschrank und holte eine frisch gebügelte Bluse und einen einfachen Matrosenrock mit geradem Schnitt heraus. Beim Anziehen fiel ihr auf, dass der Rock lose um ihre Hüfte hing – trotz des Brotes und des Kuchens aus der Boulangerie. Sie war erst vor zwei Wochen aufgeregt und zuversichtlich nach Castelnau gekommen und hatte es nicht erwarten können, ein neues Land zu erkunden und seine Menschen kennenzulernen. Aber je mehr Tage sie 16


von ihrer Familie trennten, umso stärker wurde zu ihrer eigenen Überraschung ihr Heimweh. Bis zum Nachmittag würde es draußen glühend heiß werden, aber der Morgen war frisch und kühl und ein Hauch von Herbst lag in der Luft. Zu Hause gäbe es keine Herbstgerüche. Und zu Hause würde sie heute nicht ihren ersten Tag an der Universität erleben. Aber sie war jetzt hier, in diesem kleinen französischen Ort, der durch ein ganzes Meer von der afrikanischen Welt, die sie liebte, getrennt war. Gabriella wusste, dass sie die Gedanken an die Vergangenheit verdrängen musste. Mit ihren einundzwanzig Jahren sollte sie schon wissen, dass nichts Gutes dabei herauskäme, wenn sie dem Heimweh zu viel Raum gäbe. Sie griff nach der großen, ledergebundenen Bibel, die auf ihrem Nachttisch lag, und blätterte in den vertrauten Seiten, bis sie die Stelle fand, die sie suchte. (…) Gabriella beendete ihr Frühstück, wischte die Brotkrümel von ihrem Rock, räumte den Tisch ab und stellte das Geschirr klappernd in das kleine Spülbecken. „Gabriella, bitte! Du bist immer die Letzte, weil du mir hilfst. Aber heute darfst du nicht zu spät kommen. Vite! Geh jetzt, damit du die anderen einholst.“ Mme. Leclerc scheuchte sie aus dem Haus. Stephanie und Caroline, die zwei anderen Mieterinnen, waren schon vor einigen Minuten aufgebrochen. Gabriella nahm ihre kleine Tasche, die neben der Wohnungstür lag. Als sie die Tür öffnete, drehte sie sich noch einmal schnell um, sagte „Au revoir“ und gab ihrer Vermieterin zum Abschied die erwarteten flüchtigen Wangenküsse. „Und merci!“ Sie stieg die dunkle, schmale Treppe hinab, trat ins Sonnenlicht und blinzelte. Schnell eilte sie los, vorbei an der Boulangerie, aus der ein Duft von frischem Brot wehte, vorbei am Café, in dem einige dickere Männer bereits einen frühen Apéritif tranken, vorbei an ein paar Frauen, die sich lautstark unterhielten. Sie liebte den kurzen Spaziergang durch den Ort, der zu der kleinen, aber eindrucksvollen Kirche St. Joseph führte. Als sie in der Kirche ankam, füllte diese sich langsam mit jungen Frauen. Gabriella rutschte in eine Holzbank ziemlich weit vorne neben Stephanie. „Du hast es geschafft!“, stellte ihre Mitbewohnerin laut fest. „Ich dachte schon, du kämst zu spät.“ 17


Gabriella lächelte. „Zum Glück ist der Weg sehr kurz.“ „Ich habe gehört, dass der erste Tag ein wenig langweilig ist“, bemerkte Stephanie. Ihre flüsternde Stimme hallte im Raum wider. Gabriella nickte und legte einen Finger an ihre Lippen. Eine kleine Frau in schwarzer Nonnentracht trat durch den Mittelgang nach vorne und drehte sich dann zu ihnen um. Gabriella hatte gehört, dass sie über siebzig war, aber die grünen Augen der Nonne sprühten nur so vor Leben. Sie sprach Englisch mit einem starken französischen Akzent. „Guten Morgen, Mesdemoiselles, und willkommen in der Kirche St. Joseph. Ich bin Mutter Griolet, die Leiterin des franko-amerikanischen Austauschprogramms hier in Castelnau. Wie Sie bereits herausgefunden haben, versammeln Sie sich jeden Morgen um acht Uhr dreißig hier in dieser Kirche, wo die Abkündigungen gemacht werden. Danach gehen Sie in Ihren Morgenunterricht. Ich arbeite jetzt im vierzehnten Jahr in diesem Programm und habe mich inzwischen an die, sagen wir, besondere Art amerikanischer Frauen gewöhnt.“ Sie zog vielsagend die Augenbrauen in die Höhe und ein gedämpftes Lachen hallte in der Kirche wider. „Wir bemühen uns, nicht zu viele Regeln aufzustellen, denn wir wollen, dass Sie diese Gegend Frankreichs kennenlernen und dass Sie unsere Sprache lernen. Trotzdem erwarten wir, dass Sie sich Ihrem Alter entsprechend benehmen und daran denken, dass Sie Ihr Land repräsentieren. In diesem Jahr sind Sie zweiundvierzig Studentinnen von sieben verschiedenen Universitäten und aus drei unterschiedlichen Ländern. Wir freuen uns, dass wir Sie in diesem Schuljahr bei uns haben. Ich gehe davon aus, dass Sie alle Ihren Stundenplan bekommen haben und wissen, wo Sie die Unterrichtsräume finden.“ Sie ließ ihren Blick über die Menge schweifen. „Abschließend möchte ich noch sagen, dass ich eine alte Frau bin und schon vieles gesehen habe. Junge Damen können in die verschiedensten Schwierigkeiten geraten. Das kann ich nicht verhindern, aber ich habe immer eine offene Tür und ein offenes Ohr, falls Sie jemanden zum Reden brauchen. Sie dürfen jetzt gehen.“ Sie verließ das Podium mit einem Gesicht, aus dem eine Mischung aus Herzlichkeit und freundlicher Besorgnis sprach. Die Mädchen klatschten höflich, bevor sie aufstanden und aus der Kirche in das angrenzende Gebäude strömten. Gabriella gefiel die klare Art der Direktorin. Ich verstehe, warum Mutter 18


sie so gernhatte, dachte sie. Dann eilte sie hinter Stephanie her, um in M. Hoffmanns Unterrichtsraum einen Platz zu finden. *** Mutter Griolet schloss die Tür ihres kleinen Büros und setzte sich hinter den Mahagonischreibtisch. Sie nahm die Liste, die vor ihr lag, und überflog die Namen der zweiundvierzig Studentinnen. Im Laufe der nächsten Monate würden sie ihr genauso vertraut werden wie ihr eigener Name. Aber einen Namen kannte sie bereits. Gabriella Madison. Sie schloss die Augen und sah diese erwachsene, junge Frau mit den feuerroten Haaren als sechsjähriges Kind, das sich schluchzend und zitternd und mit schmutzigem Gesicht an Mutter Griolets schwarzen Rock geklammert hatte. Mutter Griolet weinte nicht oft, aber die Erinnerung an diese Szene löste ein unerwartetes Brennen in ihren grünen Augen aus und jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken. „Liebes Kind. Warum bist du hierher zurückgekommen?“ Sie war überzeugt, dass das ein Fehler war. Genauso sicher wusste sie, dass sie Tag und Nacht dafür beten würde, dass Gabriella Madison nie die Geschichte herausfinden würde, die eine alte Nonne so lange für sich behalten hatte. *** David Hoffmann stand mit dem Anflug eines Lächelns auf den Lippen vor seinem Kurs. Die jungen Frauen strömten aufgeregt in den Raum und waren trotz ihrer Bemühungen, reif und attraktiv zu wirken, unübersehbar nervös. Zweifellos kursierten die gleichen Gerüchte wie letztes Jahr: M. Hoffmann wäre der ideale Mann für eine dieser angehenden Debütantinnen. „Mesdemoiselles“, sagte er streng, „bitte setzen Sie sich. Sie können später über die Unzulänglichkeiten Ihrer Professeurs diskutieren.“ Ein nervöses Lachen und ein paar hochgezogene Augenbrauen waren die Reaktion. „Ich habe die große Freude, diesen faszinierenden Kurs ‚Visionen des Menschen: Vergangenheit und Gegenwart‘ zu leiten. Der Kurs ist eine Zusammenstellung mehrerer Themenbereiche und fordert Ihr Denken auf den Gebieten französische und englische Literatur, Lyrik, Kunstgeschichte und Lernpsychologie heraus. Sie werden bald sehen, wie faszinierend diese Themen ineinander übergehen. Habe ich nicht recht, Mlle. Loudermilk?“ 19


Eine makellos gekleidete Blondine in der dritten Reihe blickte überrascht auf und strahlte ihn dann an. „Natürlich, M. Hoffmann. Es klingt reizvoll.“ Gut, dachte er. Sie sind sich nicht ganz sicher, was sie von mir halten sollen. Aber sein Blick wanderte immer wieder zu der jungen Frau, die wie eine Statue rechts von ihm saß. Sie war ihm sofort aufgefallen: Eine wilde rote Mähne, die sich ungebändigt um ihren Kopf lockte, und strahlende, klare, blaue Augen mit einer Unschuld und Leuchtkraft, die an einen Engel in einem Gemälde von Raffael erinnerten. Im Gegensatz zu den anderen Mädchen wirkte sie kindlich und zart. Ein Engel, dachte er. Ein raffaelitischer Engel. Plötzlich wurde ihm bewusst, wer die junge Frau sein musste, die zwischen diesen künftigen Damen der höheren Gesellschaft so fehl am Platz wirkte. Ja, das muss die Missionarstochter von der afrikanischen Westküste sein. Ein reicher Verwandter zahlte ihr erstes Studienjahr im Ausland, bevor sie ihr Studium an einer Universität in den Vereinigten Staaten fortsetzte. Jedenfalls erzählte man sich das. Das arme Mädchen war wahrscheinlich starr vor Angst. David räusperte sich, kam um sein Pult herum und setzte sich halb darauf. Seine dunklen Augen funkelten, als er zu rezitieren begann: „Erkenne dich selbst; maß dir nicht an, Gott begreifen zu wollen, denn der Mensch ist es, den die Menschen erforschen sollen ... Erschaffen zum Aufstieg und zum Fall; großer Meister aller Dinge, doch leichte Beute überall; einziger Richter über die Wahrheit, aber endlosem Irrtum anheimgestellt: der Ruhm, der Reiz und das Rätsel der ganzen Welt!“ Als er geendet hatte, kehrte er hinter das Pult zurück und schaute die staunenden Mädchen an, die anscheinend kein Wort seines Monologs verstanden hatten, aber trotzdem seinen Charme und seine Ausstrahlung bewunderten. „Mesdemoiselles, bitte! Wer kann mir den Namen des Dichters und den Titel des Werks nennen?“ Zweiundvierzig Köpfe schauten sich nervös um. Dann ging eine Hand in die Höhe. Er sah sie fast nicht, so wenig rechnete er mit einer Antwort. „Ja, Miss …“ Seine Stimme brach ab, während er auf der Liste nach dem Namen der Missionarstochter suchte. „Madison. Gabriella Madison.“ Ihre Stimme war leise, aber ruhig. 20


Gabriella! Sie hieß sogar wie ein Engel. „Das stammt aus Alexander Popes Essay on Man!“, verkündete sie aufgeregt, als sei sie entzückt, dass sie jemanden gefunden hatte, der ihre Begeisterung für den Dichter teilte. David merkte, dass er leicht errötete, fasste sich aber schnell wieder und begann mit seiner Vorlesung. Aber nach der Vorlesung wanderten seine Gedanken zu dem Engel rechts von ihm zurück. Es lohnte sich, diese Gabriella Madison genauer kennenzulernen. *** Alles in Frankreich schien zwischen zwölf und vierzehn Uhr geschlossen zu haben. Gabriella hatte den sich täglich wiederholenden Ablauf beobachtet: Die Ladenbesitzer bedeckten ihre Schaufenster mit gewelltem Aluminium und sperrten ihre Türen zu und die Arbeiter und Angestellten begegneten sich auf ihrem Weg nach Hause auf dem Kopfsteinpflaster in der Innenstadt. Die Hauptmahlzeit des Tages dauerte zwei volle Stunden und wurde gemütlich mit reichlich Brot und Wein verspeist, der zu jedem der vier Gänge getrunken wurde. Gabriella errötete leicht, als sie an ihren ersten Schluck Wein in Mme. Leclercs Esszimmer dachte. „Mais bien sûr, natürlich müssen Sie ein wenig Rotwein probieren, ma chérie“, hatte ihre Vermieterin beharrt. „Was ist ein Essen ohne Wein?“ Um höflich zu sein, hatte Gabriella das Glas an die Lippen gehoben und an der kräftigen roten Flüssigkeit genippt. Sie hatte in ihrem Mund gebrannt und ihr Tränen in die Augen getrieben und sie hatte heftig husten müssen. Mme. Leclerc, Stephanie und Caroline hatten laut gelacht. „Der erste Schluck ist immer überraschend. Aber machen Sie sich keine Sorgen, ma chérie. Sie werden ihn lieben lernen, glauben Sie mir.“ Bis jetzt faszinierte Gabriella an dem Rotwein und dem üppigen Mittagessen jedoch am meisten, wie schwer es ihr danach fiel, am Nachmittag die Augen offen zu halten. Sie wollte in ihrer ersten Stunde in europäischer Geschichte nicht einschlafen. Stephanie hatte berichtet, dass der Geschichtslehrer in einer langsamen, monotonen Stimme sprach, die selbst den eisernsten Antialkoholiker ins Reich der Träume versetzte. Wenn sie nach dem Mittagessen nur M. Hoffmann hätte! In seinem Unterricht konnte niemand, der richtig im Kopf war, schwere Augenlider bekommen. 21


Heute Vormittag war es ihr dennoch schwergefallen, sich auf seinen Unterricht zu konzentrieren. Er wirkte scharfsinnig und anspruchsvoll und seine dunklen, tiefgründigen Augen lösten ein spürbares Unbehagen in ihr aus. Waren sie dunkelblau, kaffeebraun oder pechschwarz? Jedenfalls waren sie durchdringend. Die anderen Mädchen bezeichneten ihn als attraktiv und geheimnisvoll, aber Gabriella sah etwas anderes in seinen Augen. Brillant und traurig, lautete ihre Schlussfolgerung. *** „Miss Madison! Könnte ich Sie kurz sprechen?“ Gabriella drehte sich um und sah, dass M. Hoffmann auf sie zukam. Leichte Panik machte sich in ihr breit und sie merkte, dass ihre Wangen sich rot färbten. Was konnte er von ihr wollen? Hatte er ihre Gedanken gelesen? Sie dachte daran, seine Frage zu ignorieren und, ohne ihn zu beachten, zur Tür von Mme. Leclercs Wohnung zu eilen. Stattdessen verlangsamte sie jedoch ihre Schritte und wartete, bis er sie eingeholt hatte. Die warme Sonne und ihre Verlegenheit machten sie plötzlich ganz schwindelig. Sie blieb mit dem Schuh am Kopfsteinpflaster hängen und stolperte unbeholfen. M. Hoffmanns starke Hand fasste sie am Arm und stützte sie. Sie stöhnte innerlich. Jedes Mädchen an der Universität sehnte sich nach einem Tête-à-Tête mit diesem Mann und sie benahm sich bei dieser einmaligen Gelegenheit wie ein unbeholfenes Kind! Er ließ sich jedoch nichts anmerken und passte seine Schritte ihrem Tempo an. „Wohin gehen Sie? Sie essen nicht in der Cafeteria in der Stadt, nehme ich an?“ „Nein. Ich wohne bei Mme. Leclerc. Wir nehmen alle unsere Mahlzeiten bei ihr ein. Sie freut sich, wenn wir ihr Gesellschaft leisten. Das Essen schmeckt immer köstlich, aber der Wein und das Essen machen mich müde.“ Sie merkte, dass sie zu viel plapperte. Er schmunzelte. „Dann sollten Sie Streichhölzer zu M. Vidals Unterricht mitbringen. Sie werden sie brauchen, um die Augen offen halten zu können!“ Obwohl Gabriella M. Hoffmanns abfällige Bemerkung missbilligte, hatte sie Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. Wieder schien M. Hoffmann ihr Unbehagen nicht zu bemerken. „Ich war beeindruckt, dass Sie Alexander Pope und sein Gedicht kannten. Ich 22


habe nicht erwartet, dass es jemand kennt … oder sich für meine Einleitung interessiert.“ „Oh, ich bin mir sicher, dass alle sich dafür interessiert haben. Die anderen kannten nur das Gedicht nicht. Meine Mutter hat uns viel vorgelesen – die Klassiker, Gedichte und alle Bücher, an die sie herankommen konnte. Es war manchmal schwer, Bücher zu bekommen … wo wir wohnten … auf Englisch.“ Sie plapperte schon wieder. „Jedenfalls liebe ich Alexander Popes Gedichte wirklich sehr.“ „Sie kommen aus Afrika, habe ich gehört. Welchen Eindruck haben Sie von St. Joseph und seinen charmanten jungen Damen?“ „Ich denke, das Jahr hier wird schön und interessant werden. Oh, Mme. Leclerc steht am Fenster und wartet schon auf mich. Auf Wiedersehen.“ Damit ließ sie ihn stehen und schritt eilig auf die Tür zu. Als sie die Treppe hinaufraste und die Wohnung betrat, erhaschte sie im Spiegel in der Garderobe einen kurzen Blick auf ihr gerötetes Gesicht. Ihr Herz klopfte so laut, dass die anderen Mädchen das sicher bemerkten. *** Am Abend desselben Tages marschierte David schnellen Schrittes durch die dunkle Straße. Seine Absätze hallten auf dem menschenleeren Kopfsteinpflaster wider. Er schlüpfte in eine Telefonzelle, steckte einen Franc in den Schlitz und wählte eine Nummer. „Ich bin es“, flüsterte er. „Ich komme. Und ich bringe eine Frau mit.“ „Eine Frau! Bist du verrückt? Wir können es uns nicht leisten, dass noch jemand hineingezogen wird.“ „Keine Sorge! Sie ist die perfekte Deckung für uns. Es wird gut ausgehen.“ „Davon bin ich nicht überzeugt.“ „Mach dir keine Sorgen. Sie weiß nichts.“ Er sprach schnell weiter, um der Stimme am anderen Ende keine Gelegenheit zu geben, ihn zu unterbrechen. „Wir sind in zwei Tagen in Aigues-Mortes. Oh, und meine Freundin hat rote Haare. Viele rote Haare. A bientôt, mon ami.“ Er legte den Hörer wieder auf und ging dann, tief in Gedanken versunken, den Weg zurück, den er gekommen war.

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Dani Pettrey

Wilde Wasser

ISBN 978-3-86827-484-4 336 Seiten, Paperback Format 13,5 x 20,5 cm erscheint im Januar 2015

Ein Flugzeugabsturz, zwei tote Tiefseetaucher und nur ein einziger Hinweis … Bailey Craig hat sich geschworen, niemals nach Yancey zurückzukehren. Doch ein mysteriöser Flugzeugabsturz lässt der erfolgreichen Hochschuldozentin keine andere Wahl: Sie muss sich den Schatten der Vergangenheit stellen … Cole McKenna hat keine Angst vor gefährlichen Rettungsmissionen. Auch der Verdacht, dass ein gefährlicher Mörder in seiner Heimatstadt sein Unwesen treiben könnte, versetzt den passionierten Tiefseetaucher nicht in Panik. Doch das Zusammentreffen mit seiner Jugendliebe Bailey Craig lässt das Blut in seinen Adern stocken. Gut, dass Cole den ganzen McKenna-Clan an seiner Seite weiß. Zusammen mit seinen Geschwistern und dem Polizisten Landon versucht er Licht in die rätselhaften Vorfälle in Yancey zu bringen … nicht ahnend, dass er sich damit in wilde Wasser begibt – und Bailey gleich mit. 24


Prolog Wette nie, wenn du das Ergebnis nicht kontrollieren kannst. Und sie hatte gedacht, sie hätte so gute Karten. Agnes Grey drückte den Kopf gegen die vibrierende Rückenlehne und umklammerte die Armlehnen mit solcher Kraft, dass ihre Fingernägel abbrachen. Ihre Stirn war in Schweiß gebadet, er lief ihr in die Augen, aber sie weigerte sich zu weinen. Sie war zu alt, um zu weinen. Das Flugzeug stürzte aufs Wasser zu, obwohl sie schon fast zu Hause war. Ihr Zuhause – warm, sicher, trocken. Sie würde es nie wiedersehen. Ihr Freund Henry Reid versuchte sich umzudrehen, die weißen Knöchel auf dem Steuer, während er alles tat, um die Kontrolle über die ins Trudeln geratene Cessna wiederzuerlangen, aber das brennende Flugzeug schien auf Zerstörung programmiert zu sein. Panik flammte in seinen Augen auf. „Legt die Sicherheitsgurte an. Und nehmt den Kopf zwischen die Knie.“ Seine Sorge war rührend, aber sie würde nichts an dem Ergebnis ändern. Ihr Schicksal war besiegelt. Sie stürzten ab – schnell und gnadenlos. Die entsetzten Mienen ihrer Mitpassagiere verrieten, dass sie es auch wussten. Dabei sind sie allesamt unschuldig, dachte Agnes, und die Wut, die um der anderen willen in ihr aufloderte, übertrumpfte ihre Angst. Sie war die Einzige an Bord, die wusste, dass der Grund für dieses Unglück kein technisches Versagen war. Er war es. Das wusste sie so sicher, wie sie wusste, dass sie ihren letzten Sonnenuntergang gesehen hatte. Ein bitterer Schrei entwich ihren spröden Lippen. Jeder Anschein von Kontrolle ihrerseits war eine Illusion gewesen. Sie hatte ihre Karten gespielt und er hatte sie übertrumpft. Wenn sie nicht so stur gewesen wäre, wenn sie den Mund gehalten und ihm gegeben hätte, was er wollte … Aber so hatte ihre Mutter sie nicht erzogen. Sie hatte richtig gehandelt. Sie wünschte nur, sie hätte die anderen nicht mit hineingezogen. Es gelang ihr, den Hals ein wenig nach links zu drehen, und sie betrachtete die eng umschlungenen Hände des verliebten Paares, das sich weinend letzte Worte zuflüsterte. Agnes’ Magen verkrampfte sich. Sie hatte die beiden auf diese Reise mitgenommen und damit zu einem Wassergrab verurteilt. 25


Wenigstens würde er jetzt zufrieden sein. Sie war gleich tot. Die anderen waren gleich tot. Niemand blieb übrig, der … Säure brannte in ihrer Kehle. Bailey. 1 Vor der Küste von Tariuk Island, Alaska Cole McKenna tauschte das Chaos über der Wasseroberfläche gegen das Chaos darunter. Das schwarze Wasser erstickte schon bald das Flutlicht, das von den Rettungsbooten aus auf ihn gerichtet war. Nach nur wenigen Sekunden gab es nur noch ihn, das blinkende Licht an seinem Gürtel und die unermessliche Finsternis der See. Sein Herz schien im Gleichtakt mit dem rhythmischen Aufleuchten der Lampe zu schlagen. Bumm. Bumm. Es war erstaunlich, was man alles hörte, wenn man von Dunkelheit umgeben war. Bumm. Bumm. Cole überprüfte mit der linken Hand seinen Tiefenmesser, während er mit der rechten die Rettungsleine umklammerte. Wenn er in Tiefen tauchte, in denen es kein natürliches Licht und keine Orientierungshilfen gab, dafür aber eine ständig wechselnde Strömung, reichten ein paar Sekunden ohne die Leine, um die Orientierung zu verlieren. Und diese Sekunden konnten den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten. Dreißig Fuß. Fünfunddreißig. „Taucher zwei im Wasser“, gab Gage oben über die Sprechanlage durch. Cole war froh, dass er heute Abend Landon Grainger an seiner Seite hatte. Er würde alle Hilfe brauchen, die er bekam. Das Echolot hatte angezeigt, dass die Überreste von Henry Reids Wasserflugzeug an dem Grat von Outerman’s Ridge festhing, vierzig Fuß unter der Meeresoberfläche. Er wünschte, sie hätten die Passagierliste schon bekommen, dann hätten sie gewusst, wie viele Menschen an Bord gewesen waren. Er hasste Überraschungen. 26


Vierzig Fuß. Cole zog den Scheinwerfer von seinem Werkzeuggürtel und schaltete ihn ein. Die Cessna schimmerte weißlich im Lichtschein. „Ich klinke mich aus“, gab er nach oben durch. „Pass auf dich auf, Cole. Taucher Nummer drei ist im Wasser.“ Cole schluckte. „Roger.“ Er sollte sich um Kayden nicht mehr Sorgen machen als um Landon. Als Leiter der Tauchaktion war er für jedes Mitglied seiner Rettungsmannschaft verantwortlich. Er durfte sich von der Tatsache, dass Kayden seine Schwester war, nicht beeinflussen lassen. Das wäre der restlichen Mannschaft und den Opfern gegenüber nicht fair. Aber der brüderliche Beschützerinstinkt ließ sich nicht so einfach unterdrücken. Cole atmete ein und der Atemregler entließ automatisch einen Stoß mit Sauerstoff angereicherter Luft in seine Atemmaske. Mit dieser Maske klang er wie Darth Vader. Sein schwarzer Neoprenanzug, die Handschuhe und die Schläuche verstärkten dieses Bild nur noch. Das Glühen im Flugzeugrumpf war erloschen, aber die Tatsache, dass das Feuer so lange angedauert hatte, ließ die Hoffnung aufkeimen, dass es im Flugzeug immer noch Luft gab. Cole betete, dass ihre Suche an diesem Abend mit einer Rettung enden würde und nicht nur mit einer Bergung. Er ließ seinen Lichtstrahl über das Flugzeug wandern, wobei er seine Inspektion am Heck begann – das zerrissen war und zackig nach oben ragte – und sich langsam bis zum Cockpit vorarbeitete. Ihm stockte der Atem, als er das zusammengeschobene Metall sah. „Ich klinke mich aus“, verkündete Landon, kurz bevor er an Coles Seite erschien. „Am besten kommen wir durch diese Tür dort rein“, sagte Cole. „Das sehe ich auch so.“ Landon zog das Brecheisen aus der Werkzeugtasche. Kayden stieß zu ihnen und der Lichtstrahl ihres Scheinwerfers spiegelte sich in Coles Maske, bevor sie ihn auf den Flugzeugrumpf richtete. „Landon, du kommst mit mir“, wies Cole an. „Kayden, du achtest auf die Strömung und auf die Bewegungen des Wracks. Und mach dich bereit, um beim Transport nach oben zu helfen.“ „Alles klar, Boss.“ Cole schob die Brechstange in den Türrahmen und lehnte sich gegen 27


die Rumpfwand, um Druck auszuüben. Vor Anstrengung wurden seine Finger und Arme ganz warm. Drei Minuten später hing die Tür offen in ihren Angeln. Cole begann den Weg frei zu machen. Er sah auf seine Taucheruhr. Fünf Minuten näher am Ablauf der Goldenen Stunde – der Zeitspanne, in der ein in kaltem Wasser Ertrinkender noch wiederbelebt werden konnte. Dauerte es länger, war alle Hoffnung dahin. Nicht heute Abend. Nicht in seiner Schicht. (…) Plötzlich nahm Cole aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Sofort schwenkte er seine Lampe herum. Als er sich zum Ende des Flugzeugrumpfes begab, wurde er getreten. Jemand versuchte verzweifelt, sich an eine Luftblase im aufragenden Heck des Flugzeugs zu klammern. „Ich habe noch jemanden – bei Bewusstsein“, alarmierte er Landon. Eine eisige Hand traf ihn im Gesicht. Diesmal packte er zu und hielt sie fest. Er hob seine Lampe und sah in ein Augenpaar, das ihn panisch anstarrte. „Ich habe Agnes Grey!“ Sie stand auf der Kopfstütze des letzten Sitzes und reckte den Kopf in eine Luftblase, die kaum eine Handbreit groß war. Cole riss die Zusatzflasche von seiner Weste, zog den Verschluss auf, damit die Druckluft fließen konnte, und legte ihre kalte Hand darum, um sie dann zu ihrem Mund zu führen. Er schob seine Maske zurück und legte den Kopf schief, um in die Luftblase zu gelangen, damit sie ihn hören konnte. „Atme langsam und verhalte dich so ruhig wie möglich. Ich hole dich hier raus.“ Sie nickte hektisch, während sie tief einatmete. Das Wasser schlug ihr ins Gesicht und er war sich nicht sicher, wie lange sie in dem kalten Wasser noch aufrecht würde stehen können. Ihre Lippen waren blau und ihre Haut bleich. Es würde eine Herausforderung sein, sie dazu zu bringen, freiwillig unterzutauchen, damit sie das Wrack verlassen konnte. „Du, zwei andere Passagiere und Henry, der Pilot? Sind das die Personen, die wir suchen? Vier insgesamt?“ Widerwillig ließ sie den Atemschlauch los, um zu antworten. „Fünf. Ein weiterer Passagier ist nach vorne gegangen, um Henry zu helfen.“ Sie schluckte. „Ich habe ihn draußen vorbeitreiben sehen, nachdem wir abgestürzt sind.“ „Bleib hier. Ich komme gleich wieder. Versprochen.“ 28


Er wartete, bis sie nickte, dann setzte er seine Maske wieder auf und benutzte die Kopfstütze des Sitzes, um sich wieder in Richtung Landon abzustoßen. „Bringen wir zuerst den Mann hier raus. Agnes ist wach genug – ich werde versuchen, sie mit meinem Atemgerät nach oben zu bringen.“ Landon nickte. Sie hoben den bewusstlosen Mann über die Sitze und in den Gang. Das Flugzeug bewegte sich, sodass Cole nach vorn kippte und Landon das Gleichgewicht verlor. Der Flugzeugrumpf neigte sich um weitere fünf Grad. „Los!“ Landon schob sich rückwärts weiter und trug die Beine des Mannes, während Cole ihn an den Schultern hielt. Draußen neben dem Wrack leuchtete ein Schweinwerfer auf und der Lichtstrahl wanderte über die Fenster. „Kayden ist zurück.“ „Wie sieht es aus?“ Landon verschwand durch die Tür. „Eng, aber es müsste gehen.“ Cole senkte den Mann ab, während Landon ihn aus dem Flugzeug manövrierte. „Wir sind durch.“ Cole wartete nicht auf die Bestätigung, dass sie mit dem Transport des Mannes beginnen konnten, sondern drehte um und verschwand im Flugzeug, um Agnes zu holen. Er würde sie nicht vorausgehen lassen können, das war zu gefährlich, also musste er sie aus dem Wrack ziehen. Und er würde nicht mit ihr kommunizieren können, wenn sie erst einmal die Luftblase verlassen hatte. Er hoffte, sie würde nicht so in Panik geraten, dass er sie bewusstlos schlagen musste, um sie in Sicherheit zu bringen. Sie war jetzt ganz unter Wasser und hatte die Augen geschlossen. Die Druckluftflasche presste sie an ihre Brust. Cole leuchtete mit der Lampe in ihr Gesicht. Erschrocken riss sie die Augen auf. Er umfasste ihr Handgelenk und nickte, als sie seines ergriff. Er signalisierte, dass sie sich nach unten bewegen würden. Wieder bewegte das Flugzeug sich. Er ließ Agnes keine Zeit, auf die Gefahr zu reagieren, sondern zog sie so schnell er konnte durch das Wasser, wobei er den Abstand der Sitzreihen als Maßstab für die Entfernung benutzte. Sie blieb bei ihm, sein Handgelenk krampfhaft umklammert. Ein unheilvolles Stöhnen erfüllte den Flugzeugrumpf. Das Wasser um 29


sie herum vibrierte und Coles Messgeräte schwankten genauso wie die Rückenlehnen. „Cole.“ Mehr brauchte Kayden nicht zu sagen. Ihr Ton sagte alles. Der Grat würde das Flugzeug nicht mehr lange halten. Er zerrte Agnes mit sich zur Türöffnung. Drei Meter. Zweieinhalb. Zwei. „Cole, komm da raus!“ Sein Herz zog sich zusammen, als er die Angst in der Stimme seiner Schwester hörte. Das Ende des Flugzeugrumpfes machte einen Satz nach vorn und das Metall kratzte mit einem unheimlichen Geräusch über die Korallen, während der mit Wasser gefüllte Rumpf über dem dunklen Abgrund schwebte. Diesmal blieb er nicht hängen. Agnes ließ sein Handgelenk los und riss den Arm fort. Sie fuhr herum, die Augen wild im Licht des Scheinwerfers. Cole streckte die Hand nach ihr aus, aber sie stieß sich von einem Sitz ab und versuchte, durch die Tür zu gelangen. Ohne Licht und mit dem sich bewegenden Flugzeug um sie herum, stieß sie gegen einen Schrank. Ihr Körper wurde schlaff und die Druckluftflasche trieb davon. Cole hechtete auf sie zu und bekam ihren Arm zu fassen. Mit einem Brüllen brach die rechte Seite des Flugzeugs auseinander und die Strömung wirbelte von außen herein. Cole kämpfte gegen die Kraft des Wassers an, indem er sein Bein zwischen die Sitze klemmte und die Hebelwirkung nutzte, um Agnes an sich zu ziehen. „Ich komme rein.“ „Auf keinen Fall, Kayden. Bleib, wo du bist. Das ist ein Befehl!“ Er schwamm nach unten in Richtung Tür, wobei seine Flasche am Türrahmen hängen blieb. Während er versuchte, Agnes so gut wie möglich zu schützen, tastete er nach einem Halt am Türrahmen. Eine andere Hand begegnete seiner. Kayden. Er schlang Kaydens Hand um Agnes’ Handgelenk. „Sie ist bewusstlos.“ „Ich habe sie!“ 30


Cole ließ Agnes von seiner Schwester durch die Tür ziehen, dann schob er sich hinter ihr aus dem Flugzeugwrack. Kayden sicherte Agnes für den Transport nach oben. „Geh mit rauf“, wies er sie an. „Du hängst dich an uns dran.“ Das war keine Frage. Cole hob den Daumen. Die Suche nach Henry und dem fehlenden Passagier würde warten müssen, bis das Wrack sich gesetzt hatte. Er begann den Aufstieg und während das Flugzeug unter ihm langsam kleiner wurde, sah er, wie es von dem Grat in die Dunkelheit rutschte. Er verspürte ein flaues Gefühl im Magen. Das war ziemlich knapp gewesen. *** Cole verabscheute den Geruch von Desinfektionsmittel, aber das war schon immer so gewesen. Das grelle Licht der hässlichen Deckenleuchten und die geweißten Wände verstärkten sein Unbehagen noch. Das Krankenhaus weckte böse Erinnerungen und es sah so aus, als würde es das auch in Zukunft tun. Peggy Wilson lehnte am Empfangstresen, die Stirn in Falten gelegt, und sprach ins Telefon. „Das verstehe ich. Laut Versicherungskarte ist eine vorherige Vollmacht nötig, aber wie soll man bei einem Notfall eine Vollmacht einholen?“ Sie seufzte und ihre Wangen röteten sich. Sie blickte auf, sah Cole an und bedeckte den Hörer mit einer Hand. „Tut mir leid. Diese Versicherungsgesellschaften machen mich wahnsinnig. Was kann ich für dich tun?“ „Ich bin hier, um nach Agnes Grey zu sehen. Sie wurde hergebracht …“ „Vor einer Stunde, ich weiß.“ Peggys Miene verdüsterte sich. „Es tut mir leid, sie hat es nicht geschafft.“ Cole ballte die Hände zu Fäusten. Wenn er schneller gewesen wäre … stärker … „Wir haben versucht, sie wiederzubeleben, aber es hat nichts genützt. Ihr Herz wollte einfach nicht schlagen.“ Cole schluckte. „Was ist mit dem Paar, das wir aus dem Flugzeug gezogen haben?“ Peggy biss sich auf die Unterlippe. „Es tut mir sehr leid, aber sie sind 31


leider auch nicht durchgekommen. Bei der Ankunft hier konnte nur noch der Tod festgestellt werden.“ Er schloss die Augen. Die Enttäuschung traf ihn zutiefst. „Ich dachte wirklich, sie hätten eine Chance.“ Vielleicht, wenn er sie in anderer Reihenfolge herausgeholt hätte … Ihre kräftige Hand legte sich auf seine. „Tut mir leid, Schätzchen.“ „Mir auch.“ Durch die sich automatisch öffnende Tür ging Cole in die klare, schwarze Nacht hinaus, und sein Herz war schwer. Agnes Grey war tot. Er ging die menschenleere Straße hinunter, vorbei an dunklen Schaufenstern und dem russisch-amerikanischen Handelskontor, in dem Agnes gelebt und gearbeitet hatte. Yancey würde ohne die ehrwürdige Lady Grey nicht mehr dieselbe Stadt sein. Und Bailey? Seine Schritte stockten, als ihr schönes Gesicht vor seinem geistigen Auge auftauchte. Wie würde sie die Nachricht vom Tod ihrer geliebten Tante aufnehmen? *** Die Nachricht versetzte Bailey Craig in die Vergangenheit zurück. Sie hatte gehört, was Gus gesagt hatte, hatte gehört, dass Agnes tot war, aber anstelle von Erinnerungen an ihre geliebte Tante stiegen in ihr Erinnerungen an den Grund auf, warum sie Yancey verlassen hatte. Zwölf Jahre verstrichen in einem Augenblick und plötzlich war sie wieder sechzehn … „Bailey, bist du noch dran?“ Gus’ Stimme holte sie in die Gegenwart zurück. Sie blinzelte und versuchte die Erinnerungen an ihre Jugend und die damit verbundenen Albträume zu verdrängen. „Ja.“ Sie räusperte sich. „Tut mir leid.“ „Hast du gehört, was ich gesagt habe?“ Agnes. Tot. „Ja.“ Sie sank auf die Sofakante und wäre dabei beinahe auf den Boden gerutscht. „Sie hat dir das Handelskontor vermacht. Genau genommen bist du 32


ihre Alleinerbin. Die Einzelheiten können wir besprechen, wenn du nach Yancey kommst.“ Ihre Kehle zog sich zusammen. „Yancey?“ „Ja. Wenn du zur Beerdigung nach Hause kommst.“ Nach Hause. Sie würde hinfahren müssen. Die albtraumartigen Bilder aus ihrer Highschoolzeit hämmerten in ihrem Kopf. „Wie bald kannst du dort weg?“, fragte er. Ich kann Oregon nicht verlassen. Kann nicht nach Alaska fahren. Angst packte sie. „Bailey?“ „Ja, Gus, ich bin noch da.“ Sie schluckte die Galle hinunter, die in ihrer Kehle brannte. „Ich werde mich darum kümmern.“ „Agnes hat Vorkehrungen getroffen, weil sie niemandem zur Last fallen wollte, schon gar nicht dir. Du musst einfach nur herkommen.“ „Ist gut.“ „Ich freue mich darauf, dich wiederzusehen.“ Bailey nickte, weil ihr die Worte fehlten, und legte das Telefon zurück auf die Ladestation. Yancey, Alaska. Sie hatte vorgehabt, nie wieder einen Fuß in die Stadt zu setzen. Aber jetzt blieb ihr nichts anderes übrig.

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Cathy Marie Hake

Eine bittersüße Liebe

ISBN 978-3-86827-485-1 384 Seiten, Paperback Format 13,5 x 20,5 cm erscheint im Februar 2015

Insgeheim schwärmt Laney schon lange für den gutaussehenden Galen von der Nachbarranch. Doch wird er in ihr jemals mehr sehen als nur die kleine Schwester seines besten Freundes? Als Galen sich Laney endlich zu öffnen beginnt, scheint ihr Glück perfekt. Doch durch die Ankunft zweier verwahrloster Jugendlicher, die Galen aus den Fängen ihres durchtriebenen Vaters retten will, werden die Karten neu gemischt. Er gibt den beiden Arbeit auf seiner Farm und kümmert sich darum, dass sie ein Dach über dem Kopf haben. Doch was als gutgemeinter Akt christlicher Nächstenliebe beginnt, endet in einem Fiasko. Wie bittersüß kann die Liebe sein? 34


Sacramento, Kalifornien September 1860 Am liebsten hätte sich Laney McCain auch noch die Finger abgeleckt, so köstlich schmeckte der Schokoladenriegel. Schließlich hatte er den weiten Weg von England bis hierher nach Kalifornien hinter sich gebracht und es schien ihr reine Verschwendung, auch nur das kleinste bisschen von etwas so Köstlichem zu vergeuden. Hinter dem Schutz ihres Taschentuches gab sie schließlich der Versuchung nach. Ein … zwei … drei schnelle Bewegungen. Gleichzeitig süß und herb, einfach lecker. Sie sehnte sich nach mehr davon. Entschlossen wandte sie sich an den Nachbarsjungen, Dale O’Sullivan. „Wir müssen auf jeden Fall noch mal zum Süßigkeitenstand gehen!“ „Jetzt sofort?“ Voller Verlangen strahlten sie die Augen des Sechsjährigen an. „Ja!“, rief sein Bruder Sean zustimmend. „Nein.“ Laney benutzte ihr Taschentuch, um Sean seinen Schokoladenbart abzuwischen. Dale leckte sich hastig die Lippen ab und grinste. „Ich habe alles erwischt, Laney.“ „Ja, das hast du.“ Sie streckte sich und sah sich im überfüllten Pavillon des riesigen kalifornischen Volksfestes um, während sie ihr Taschentuch zurück in den Ärmel ihrer Bluse steckte. „Ihr Jungs bleibt dicht bei mir. Komm, Sean. Ich trage jetzt den Eimer.“ „Weißt du denn, wohin wir als Nächstes gehen sollen?“ Dale zupfte sie am Rock. „Nein, aber ich sehe da einen Mann mit einem Namensschild. Bestimmt kann er uns weiterhelfen.“ Laney ging auf den bärtigen Mann zu. „Entschuldigen Sie bitte. Ich habe hier Marmelade und Dosengemü–“ „Da sind Sie hier falsch.“ Ärgerlich zog der Mann die Augenbrauen zusammen und seine Stimme nahm einen scharfen Unterton an. „Landwirtschaftliche Erzeugnisse sind auf der Westseite des Pavillons. Talg, Schmalz und konserviertes Fleisch hier. Milch, Butter und Käse auf der Südseite. Getreide und stärkehaltige Nahrungsmittel im Norden.“ Sean O’Sullivan kratzte sich an seinem knochigen Ellbogen. „Sind Kartoffeln landwirtschaftliche Erzeugnisse oder stärkehaltige Lebensmittel?“, fragte er. 35


„Komm mir nicht dumm, Junge“, rügte ihn der Mann. Laney legte ihren Arm um Seans Schulter und zog ihn an sich. Dabei berührten ihre Finger das schwarze Trauerband am Oberarm des Zehnjährigen, während sie auch seinen kleinen Bruder näher an sich zog, der auf der anderen Seite neben ihr stand. „Ich habe mich das Gleiche gefragt, aber da ich keine Kartoffeln habe, ist das wahrscheinlich nicht so wichtig.“ „Wahrscheinlich nicht.“ Sean zuckte mit den Schultern – eine kleine Geste, die aber deutlich zeigte, wie traurig er war. „Deine Mutter ist dort drüben bei Hilda. Siehst du sie? Sie tragen gerade die Bottiche mit Schmalz und Speck herein.“ „Mhm.“ „Ich muss mit meiner Marmelade auf die andere Seite des Pavillons. Warum läufst du nicht zu deiner Mutter, Sean, und sagst ihr, dass Dale und ich euch nachher draußen bei der Bank treffen, wo wir vorhin Schokolade gegessen haben?“ Sean sah sie an und dabei füllten sich seine Augen mit einer Mischung aus Trauer und Wut. „Ja, Laney.“ „Vielen Dank, du bist mir eine große Hilfe.“ Einen Augenblick, nachdem der Kleine weggerannt war, grummelte der Mann: „Ich hab die Trauerbinde an seinem Arm gar nicht gesehen. Wollte ihn nicht erschrecken.“ Laney warf Dale einen bedeutsamen Blick zu. Die Jungen hatten erst vor Kurzem ihren Vater verloren. Dann versuchte sie, ihrer Stimme einen fröhlichen Unterton zu geben. „Ich habe die O’Sullivans dazu überredet, mit mir hierherzukommen. Zwei deiner Brüder und deine Mutter sind hier, nicht wahr, Dale?“ „Mhm. Aber mein großer Bruder Galen ist zum Arbeiten zu Hause geblieben.“ „Gute Idee.“ Der alte Mann nickte wissend. „Behandle deine Bediensteten gut und sie arbeiten besser.“ „Die O’Sullivans arbeiten härter als jeder andere, den ich kenne.“ Laney rückte seine falsche Annahme gerade, indem sie hinzufügte: „Es ist eine Freude, sie als Nachbarn zu haben.“ Und irgendwann will ich mehr sein als nur ihre Nachbarin. Ein Jahr Trauerzeit ist angemessen, dann wird Galen hoffentlich erkennen, dass ich nicht nur die kleine Schwester seines besten Freundes bin. Er wird sehen, wie sehr ich ihn und seine Familie 36


liebe. Laney zog das Stofftuch von ihrem Eimer und reichte ihr Gemüse und ihre Marmelade beim Wettbewerb ein, als sie endlich den richtigen Stand erreicht hatten. Ein stolzes Gefühl des Erfolgs durchzuckte sie. Vor gerade einmal sechs Monaten hatte sie nicht die geringste Ahnung vom Kochen gehabt. Nur ein einziges Mal hatte sie versucht, Marmelade zu kochen – mit desaströsem Erfolg. Dank liebevoller Unterstützung von Galens Mutter, Kelly O’Sullivan, kannte sich Laney nun jedoch in der Küche und rundherum perfekt aus. Als Dale und sie den Stand wieder verließen, zupfte er sie am Ärmel. „Laney?“ „Ja?“ Er winkte sie mit dem Finger zu sich herunter. „Hast du noch etwas von dem Traubengelee?“ „Zu Hause schon. Warum?“ Er sah niedergeschlagen aus. „Schon gut.“ „Hast du Hunger?“ Als er den Kopf schüttelte, zog sie Dale mit sich zur Seite und setzte sich auf eine Bank. Nachdem sie ihre Röcke sortiert hatte, nahm sie Dale auf den Schoß. „Meine Schuhe werden dein neues Kleid schmutzig machen.“ „Ein bisschen Schmutz hat noch niemandem geschadet.“ Liebevoll schlang sie ihre Arme um ihn. „Und jetzt sag mir, warum du wissen wolltest, ob ich noch Gelee zu Hause habe.“ „Ich dachte, wenn ich was davon auf Hortense schmiere, will sie niemand haben.“ Dabei blinzelte er und ließ den Kopf hängen. „Ach so“, sagte sie leise und zog ihn näher an sich. Hortense war Dales Schwein. Es sollte heute verkauft werden. „Ich verstehe.“ Laney lächelte und erinnerte sich an ihr erstes Marmeladenexperiment, das darin geendet hatte, dass sie die Marmelade im Schweinetrog entsorgt hatte. Ihr Bruder Josh hatte gedacht, die Tiere litten unter einer seltenen Krankheit, als sie über und über mit lila Flecken bedeckt gewesen waren. Laney fuhr mit den Fingern durch Dales rote Locken. Um sie herum ging das Fest weiter. Aber Dales kleine Welt stürzt in sich zusammen. Endlich hob Dale wieder den Kopf. „Galen sagt, dass ich tapfer sein muss.“ Allein schon bei der Erwähnung von Galens Name machte ihr Herz 37


einen aufgeregten Satz. „Wenn jemand weiß, wie man stark ist, dann dein Bruder.“ Langsam strich Laney mit der Hand über Dales knochigen Rücken. „‚Farmer bauen Gemüse an und züchten Vieh, um es zu verkaufen. Das ist unser Job‘“, zitierte der Kleine mit zitternder Stimme. „Es gibt keinen Zweifel daran, dass du dich hervorragend um Hortense gekümmert hast. Ich erinnere mich gut daran, als sie noch ein kleines Ferkel war.“ Dale nickte. Seine Locken hatten sich in den Perlen ihres Kleides verfangen. Einige Minuten lang saßen sie schweigend da. Laney dachte darüber nach, was sie tun könnte, damit Dale nicht sein geliebtes Haustier verlor. „Ich muss sagen“, sagte sie, während sie ihn noch einmal drückte, „dass du wirklich ausgesprochen tapfer warst. Dein großer Bruder und meiner könnten sich eine Scheibe von dir abschneiden. Noch nie habe ich gesehen, dass zwei erwachsene Männer sich so verhalten, wie die beiden es wegen der Eisenbahn getan haben!“ Dale sah sie an und kicherte. „Hortense hat ihnen wirklich das Leben schwer gemacht, als sie nicht in den Zug wollte, nicht wahr?“ „Ich kann nicht sagen, wer sich am schlimmsten benommen hat: mein Bruder oder deiner oder Hortense.“ „Hortense kannst du nicht die Schuld geben. Sie hatte vorher noch nie einen Zug gesehen.“ „Das ist ein guter Punkt zu ihrer Verteidigung. Josh und Galen haben diese Ausrede nicht. Und dann hast du“ – Laney tippte ihm auf die sommersprossige Nase – „einfach einen zerkrümelten Keks genommen und dafür gesorgt, dass sie ohne Widerstand die Rampe zum Viehwaggon hochging. Das war clever von dir.“ „Nicht wirklich. Danach hatte ich selbst nämlich keinen Keks mehr zu essen.“ Bedrückt fügte er hinzu: „Und wenn ich meinen Keks für mich behalten hätte, wäre Hortense vielleicht immer noch zu Hause.“ Noch weiter darüber zu reden, würde den Kleinen nicht aufmuntern, deshalb flüsterte Laney ihm ins Ohr: „Nichts hält uns davon ab, uns jetzt ein paar Kekse zu gönnen. Ich habe welche draußen zum Verkauf gesehen – direkt neben dem Süßigkeitenstand. Wir könnten uns ein paar Schokoladenriegel und Kekse teilen.“ Als Dale sie mit seinen Augen anfunkelte, 38


sah sie sich im Pavillon um und beugte sich dann näher zu ihm. „Ich denke …“ Sie machte eine Pause, um die Spannung zu erhöhen. Aufgeregt rutschte Dale hin und her. „Was denkst du, Laney?“ „Ich denke“, sagt sie grinsend, „dass auch Hortense an ein oder zwei Keksen Gefallen hätte.“ Mit offenem Mund sah er sie an. „Du würdest meinem Schwein einen Keks kaufen?“ „Hortense ist ja kein gewöhnliches Schwein.“ „Das stimmt“, platzte Dale heraus. „Sie ist unheimlich klug.“ „Es gibt da nur ein Problem.“ „Welches denn?“ „Tja …“ Laney nickte langsam und traurig. „Ich weiß leider nicht, was Hortense lieber mag: Zuckerplätzchen oder Ingwerwaffeln.“ *** „Jungs!“ Laney versuchte, wenigstens ein Mindestmaß an Würde zu behalten, doch mit Dale und Sean, die links und rechts an ihren Händen zogen, war sie gerade noch dazu in der Lage, nicht über ihr Kleid zu stolpern. Jeden Moment konnte es dazu kommen, dass ihre Reifröcke sich selbstständig machten und einen unziemlichen Blick auf ihre Knöchel freigaben. „Wir dürfen nicht zu spät kommen, Laney!“, rief Sean und zog sie weiter. „Wir haben noch genug Zeit“, warf seine Mutter Kelly O’Sullivan ein. „Wenn ihr sie weiter so zieht, verfängt sie sich in ihren Röcken und landet im Staub.“ Colin, der Bruder von Dale und Sean, musste merklich ein Lachen unterdrücken. Das Geräusch zauberte Laney ein Lächeln aufs Gesicht, denn sie hatte den Jungen kaum fröhlich gesehen, seit sein Vater gestorben war. Die O’Sullivans mit auf den Jahrmarkt zu nehmen, war eine gute Idee gewesen. Besser als sie es sich ausgemalt hatte. Sie blieben am Zaun stehen und sahen zu, wie ein Mann Fett über einem quiekenden Schwein ausschüttete. „Das Schwein ist ja größer als du, Laney!“, rief Dale aus. „Dale!“ Kelly O’Sullivan zog streng die Augenbrauen zusammen. „Man 39


vergleicht eine Dame nicht mit einem Schwein!“ Dale zuckte verlegen mit den Schultern. Dann drückte er sein Gesicht gegen den Zaun und musterte das Schwein genau. „Ich werde diese Jagd gewinnen. Das werde ich.“ „Galen hat gesagt, bisher hat noch niemand aus seinem Bekanntenkreis den Schweinefangwettbewerb gewonnen, aber es hatten trotzdem alle viel Spaß.“ Laney zerzauste Dales rote Locken. „Du wirst jede Menge Spaß haben, egal wer gewinnt.“ „Um Spaß geht es nicht.“ Dale sah Laney an. „Ich muss gewinnen.“ „Um Himmels willen, Junge, warum musst du denn unbedingt gewinnen?“, wollte Kelly wissen. „Wenn ich das Geld gewinne, kann ich es dir geben und Hortense behalten.“ „Der Gewinner bekommt kein Geld, Junge.“ Kelly O’Sullivan kniete sich neben ihren Sohn. „Der Gewinner bekommt das Schwein.“ „Aber ich will kein anderes Schwein. Ich will Hortense.“ „Du wirst tapfer sein müssen, Kleiner.“ Colin sah seinen Bruder fest an. „Wir Farmer wissen, dass die Tiere, die wir züchten, irgendwann geschlachtet werden. Es sind keine Haustiere. Im Winter wird es ein neues kleines Ferkel geben, um das du dich kümmern kannst.“ „Aber es wäre ein anderes Ferkel.“ Dem Jungen liefen die Tränen über die Wangen. „Ich würde immer noch Hortense lieben und sie vermissen.“ Kelly O’Sullivan streichelte ihren jüngsten Sohn. Schmerz zeichnete die Züge der Frau, die gerade erst Witwe geworden war. „Du bist traurig, das weiß ich. Dieser Schmerz kommt, wenn man wirklich liebt und das Geliebte verliert.“ Laney blinzelte ihre eigenen Tränen zurück und traf eine Entscheidung. Sie würde Hortense retten.

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Amanda Cabot

Ein verheißungsvoller Frühling

ISBN 978-3-86827-486-8 ca. 368 Seiten, Paperback Format 13,5 x 20,5 cm erscheint im Februar 2015

Charlotte Hardings Leben hat dramatische Wendungen genommen: Zuerst wurde ihr Mann ermordet, dann stellte sich heraus, dass ihr neugeborener Sohn blind ist. Doch Charlotte ist fest entschlossen, für sich und ihren Sohn eine neue Zukunft aufzubauen. Mit Fleiß und harter Arbeit schafft sie es, sich als Schneiderin zu etablieren. Sogar ein zarter Hoffnungsschimmer des Glücks fällt in ihr Leben, als sie dem charmanten Barrett Landry begegnet. Doch das Gefühl der Sicherheit ist trügerisch: Die dunklen Schatten der Vergangenheit drohen Charlotte bald einzuholen … 41


Cheyenne, Wyoming-Territorium, Oktober 1886 Es war nur der Wind. Charlotte schlang die Arme um sich und versuchte sich davon zu überzeugen, dass es keinen Grund gab, wie Espenlaub zu zittern. Das Knarren, das sie aufgeweckt hatte, kam vom Gebäude, das unter dem stürmischen Wind bebte. Das war alles. Niemand war eingebrochen. Niemand hatte sie gefunden. Sie und David waren sicher. Aber die beruhigenden Gedanken führten zu nichts. Das taten sie nie. Mit einem Seufzer machte Charlotte sich an der Lampe zu schaffen. Als die gedämpfte, gelbliche Flamme die Dunkelheit vertrieb, schlüpfte sie in ihre Hausschuhe und tappte durch den Raum. Vermutlich war es dumm von ihr. Sie konnte doch sehen, dass der Eindringling nicht mehr als ein Hirngespinst war, das Produkt ihrer Ängste. Ihr Schlafzimmer war – von David einmal abgesehen – leer. Liebster David. Die Liebe ihres Lebens. Charlotte stand neben seinem Gitterbett und sah auf die roten Haare hinab, die so sehr den Haaren seines Vaters ähnelten. Abgesehen von seinen Augen, die denselben Braunton hatten wie ihre eigenen, war ihr Sohn das Ebenbild seines Vaters. Das Zittern, das sie hatte unterdrücken können, kehrte zurück, als sie von Gedanken an Davids Vater überfallen wurde und von den Ängsten, die diese Gedanken immer begleiteten. Sie holte einmal tief Luft, um sich zu beruhigen, und schüttelte den Kopf. Sie musste aufhören, sich so viele Sorgen zu machen. Es war schon fast ein Jahr her, dass sie nach Cheyenne gezogen war, und niemand war gekommen, um nach ihr und David zu suchen. Sie hatte alles getan, was in ihrer Macht stand, um sicherzustellen, dass niemand von ihrem früheren Leben in Fort Laramie als Ehefrau von Oberleutnant Jeffrey Crowley erfuhr. Was sie am meisten fürchtete, würde nicht passieren. Der Baron würde sie nicht finden. Obwohl die Lampe, die sie über das Gitterbett hielt, David nicht stören konnte, regte er sich. Vielleicht hatte das Geräusch ihrer Atmung oder der Duft ihres Eau de Toilette ihn geweckt. „Mama“, murmelte er und streckte seine Arme aus. Charlotte lächelte und stellte die Lampe auf den Boden. Sie wusste, was ihr Sohn wollte. Langsam strich sie seine Arme entlang, dann ließ sie ihn nach ihren Händen greifen. „Ja, David, Mama ist wach, aber du musst 42


weiterschlafen.“ Sie summte leise, als sie ihm einen Kuss auf die Stirn drückte. „Schlaf jetzt.“ Als seine Atmung wieder tief und regelmäßig ging, verblasste Charlottes Lächeln. Heute war der erste Geburtstag ihres Sohnes. Obwohl sie nur dieses wundervolle Ereignis feiern wollte, konnte sie nicht vergessen, dass heute ebenfalls der Jahrestag von Jeffreys Tod war. Heute vor einem Jahr hatte sich ihr Leben für immer verändert. Die verwöhnte, verhätschelte Charlotte Crowley existierte nicht mehr. Sie war durch Charlotte Harding ersetzt worden, eine Frau, die gelernt hatte, dass das Leben zwar schwieriger sein konnte, als sie es für möglich gehalten hatte, aber auch viele unglaublich schöne Augenblicke enthielt. Obwohl dieses Jahr völlig anders verlaufen war, als sie es sich jemals erträumt hatte, bedauerte Charlotte nicht, was es gebracht hatte. Sie hatte neue Freunde gefunden und sich ein neues Leben in einer neuen Stadt aufgebaut. Sie hatte gelernt, dass sie unabhängig sein konnte. Und das beste von allem: Sie hatte ihren Sohn beschützt. Das war die Lügen wert. *** „Gentlemen, ich rufe diese Versammlung zur Ordnung.“ Barrett Landry schlug mit der Faust auf den Tisch. Seine Gäste blickten erstaunt auf. „Eine Versammlung?“ Warren Duncan zündete seine Zigarre an und nahm einen tiefen Zug. „Ich dachte, es wäre nur eine Gelegenheit, das hervorragende Essen von Mrs Melnor zu genießen.“ Warren, im Vergleich zu Barretts anderem Gast der Ältere, war ein vornehm aussehender Mann mit stahlgrauem Haar, hellblauen Augen und einer Nase, die jeden Habicht mit Stolz erfüllt hätte. Obwohl er – abgesehen von seinem Abschluss an einer nicht näher benannten juristischen Fakultät – nur wenig über seinen Hintergrund verriet, veranlasste seine kultivierte Sprache Barrett zu der Annahme, dass er ursprünglich aus dem Osten stammte, vielleicht sogar aus Boston. Aber Barrett war nicht neugierig. Wenn es etwas gab, das er seit seiner Ankunft in Cheyenne gelernt hatte, dann war es die Erkenntnis, dass die Vergangenheit eines Mannes am besten in der Vergangenheit aufgehoben war. Er verspürte ganz sicher nicht das Bedürfnis, zu viele Einzelheiten seines eigenen Lebens preiszugeben. Richard Eberhardt lehnte sich vor, wobei seine wachen braunen Augen 43


funkelten. „Bedeutet diese Ankündigung, dass du zur Vernunft gekommen bist und entschieden hast, unseren Rat anzunehmen?“ „Die Fahrt nach Rawlins war der letzte Schritt“, sagte Barrett zu seinen Ratgebern. Die Parteiversammlung hatte Richards und Warrens Behauptungen bestätigt: Die politischen Machthaber suchten tatsächlich nach Nachfolgern und räumten Barrett dabei gute Chancen ein. Wenn alles so verlief, wie er sich erhoffte, würden sogar die Bewohner von Northwick und Pennsylvania zugeben müssen, dass Barrett Landry ein wichtiger Mann war. „Und so, Gentlemen …“ Barrett hielt inne, als ein leises Klopfen die Ankunft des Butlers signalisierte. Erst als Mr Bradley das Tablett mit dem Kaffee und den Zimtrollen auf den niedrigen Tisch gestellt und die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte, fuhr Barrett mit seiner Ankündigung fort. „Ihr seht einen Mann vor sich, der darauf hofft, diesen ausgezeichneten Bezirk in Zukunft mitzuregieren.“ Richard lehnte sich in den gepolsterten Ledersessel zurück, wobei er einen Teller auf seinen Knien balancierte. „Es kommt mir so vor, als hättest du alles, was Wyoming von einem Senator erwartet. Du hast viel Geld und ein repräsentatives Haus, um Gäste einzuladen, wenn du nicht in Washington bist. Du siehst nicht allzu schlecht aus.“ Richard zuckte mit den Schultern. „Das Einzige, was dir fehlt, ist eine Frau.“ Warren nickte. „Ich stimme dir zu.“ Ihre Reaktion war nicht die, die Barrett erwartet hatte. Seine Freunde hatten ihn ermutigt – wenn nicht gar auf ihn eingeredet – in die Politik zu gehen. Sie hatten behauptet, dass die Menschen einen Mann wie ihn brauchen würden, der sie in Washington vertrat, wenn das Wyoming-Territorium zu einem Bundesstaat der Vereinigten Staaten werden würde. Er hatte Richard und Warren heute Morgen in sein Haus eingeladen, anstatt sie im Club zu treffen, weil er wollte, dass ihre Unterredung vertraulich blieb. Es schien, als hätte er sich keine Sorgen darüber machen müssen. Es würde keine Unterredung geben, zumindest nicht über wichtige Dinge. „Denkt denn keiner von euch, dass politische Ansichten und Pläne wichtig sind für den Staat – wenn wir mal davon ausgehen, dass wir unsere Bürger und den Kongress davon überzeugen können, dass Wyoming ein Staat werden sollte?“, wollte er wissen. Warren zog eine Augenbraue hoch, wodurch sich die Falten, die ein hal44


bes Lebensjahrhundert in seine Stirn eingegraben hatte, noch vertieften. „Glaubst du wirklich, dass die Wähler das interessiert? Ganz besonders dort, wo Frauen wählen, kommt es auf die äußere Erscheinung an.“ „Und das bedeutet, dass du eine Frau brauchst“, warf Richard ein. „Ganz genau“, stimmte Warren ihm zu. „Alles andere hast du. Jetzt brauchst du eine nette Frau, die dir zur Seite steht und die Wähler davon überzeugt, dass du ein Familienmensch bist.“ Das lief überhaupt nicht so, wie Barrett es geplant hatte. Er hatte sich Diskussionen über Rednertribünen, über politische Inhalte und öffentliche Auftritte vorgestellt, nicht über die Ehe. Der Rat seiner Freunde reichte aus, um ihn dazu zu bringen, die ganze Idee noch einmal kritisch zu überdenken. „Warum ist es auf einmal so wichtig, dass ich eine Frau brauche? Ich sehe nicht, dass einer von euch die Freuden der Ehe genießt.“ Richard trank einen Schluck Kaffee, wobei er Barrett nicht aus den Augen ließ, um seine Reaktion zu beobachten. „Wähler mögen Familienmenschen. Sie glauben, dass sie ihnen vertrauen können. Deshalb solltest du wirklich übers Heiraten nachdenken. Abgesehen davon wird eine hübsche Lady an deiner Seite dabei helfen, die Menschen anzuziehen.“ Richard hob eine Augenbraue. „Es ist nicht nur für die Kampagne. Eine Ehefrau würde dein Leben vereinfachen. Denk darüber nach.“ „Das habe ich schon“, räumte Barrett ein. Es waren nicht nur die Mahnungen seiner Freunde, die solche Gedanken ausgelöst hatten. Es hatte mit einem Brief von seinem Bruder Camden angefangen, der verkündet hatte, dass er und Susan Miller bereits verheiratet sein würden, wenn Barrett die Neuigkeiten erhielt. „Was haltet ihr von Miss Taggert?“, fragte Barrett. Von allen Frauen, die er in Cheyenne getroffen hatte, war sie die Einzige, die er sich als Ehefrau vorstellen konnte. Deshalb hatte er in letzter Zeit mehr Zeit mit ihr verbracht, auch wenn er ihr noch nicht offiziell den Hof machte. „Miss Miriam Taggert?“ Richards Stimme klang angespannt. Barrett nickte. „Ich glaube, sie ist die einzige Miss Taggert in Cheyenne.“ Warren drückte seine Zigarre aus. „Das ist eine hervorragende Wahl. Sie ist blond, du bist dunkelhaarig. Ihr werdet ein bemerkenswertes Paar abgeben. Außerdem wird die Tatsache, dass du die Zeitung ihres Vaters hinter dir hast, dir dabei helfen, unentschlossene Wähler zu überzeugen. 45


Ich bin nicht immer einverstanden mit Cyrus Taggerts Ansichten, aber es gibt keinen Zweifel daran, dass seine Leitartikel stark sind.“ Warren beugte sich vor und legte seine Hand auf Barretts Schulter. „Ich wusste, dass es richtig war, dich zu unterstützen.“ Barrett lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und warf seinem Anwalt ein schiefes Lächeln zu. „Und die Tatsache, dass ich dich üppig bezahle und dass es zweifellos mehr Arbeit für dich geben wird, wenn ich für ein Amt kandidiere, hat dich nicht beeinflusst?“ Warren schüttelte den Kopf. „Nicht eine Minute lang.“ Das war eine Lüge. „Sei vorsichtig, Warren. Du weißt, was ich von Lügnern halte.“ Barretts Freund rümpfte seine beeindruckende Nase. „Wie könnte ich das vergessen? Barrett Landry, der rechtschaffene Rinderbaron.“ Der leicht spöttelnde Ton ließ in Barrett den Wunsch entstehen, das Grinsen aus Warrens Gesicht zu vertreiben, aber bevor er etwas sagen konnte, jubelte Richard: „Das ist es! Warren, du bist ein Genie! Wir haben den Slogan für unsere Kampagne: Landry lügt nie.“ *** „Ich bin so froh, dass Barrett kommt.“ Miriam Taggert schnappte nach Luft, als Charlotte die Bänder des Korsetts festzog. Dank Miriams Unterstützung war Élan, Charlottes Modegeschäft, das beliebteste Atelier bei den wohlhabenden jungen Damen der Stadt. Die älteren Ladies bestellten ihre Kleider entweder direkt aus Paris, wie Miriams Mutter es tat, oder sie schlossen sich den weniger reichen Bürgern der Stadt an, die Miss Smiths Geschäft aufsuchten. Dieses Wissen linderte viele von Charlottes Ängsten. Da Élan eine reichere Kundschaft versorgte, bestand keine Gefahr, dass eine von den Offiziersfrauen aus Fort Laramie Charlottes neuen Aufenthaltsort in Cheyenne entdecken würde. Charlotte hatte gewusst, dass sie ein Risiko einging, wenn sie in Wyoming blieb. Doch das Gefühl von Frieden, das sie damals verspürt hatte, als sie in Cheyenne aus der Postkutsche gestiegen war, hatte zu ihrem Entschluss geführt, dass dies der Ort war, an dem sie leben wollte. „Warum kommt Mr Landry?“, erkundigte sie sich. Nur wenige Männer betraten Élan und die, die es taten, waren normalerweise Ehemänner. Miriam kicherte. „Ich habe ihm gesagt, dass ich es gern hätte, wenn er 46


die Farbe des Kleides sieht, aber in Wahrheit will ich, dass du ihn kennenlernst. Wir haben uns in letzter Zeit häufig gesehen. Mama denkt, dass er mir den Hof machen wird. Sie und Papa glauben, dass er der perfekte Schwiegersohn wäre, aber …“ Miriam zuckte zusammen, als Charlotte dem Korsett den letzten Zug verpasste. „Ich bin mir nicht so sicher. Ich möchte deine Meinung hören“, sagte sie, als sie wieder atmen konnte. „Manchmal denke ich, du kennst mich besser als meine Eltern.“ „Ist dieses Kleid für einen bestimmten Anlass gedacht?“ Als Charlotte die Seide bestellt hatte, hatte sie sofort ihre Freundin Miriam im Sinn gehabt. Sie wusste, dass das tiefe Waldgrün Miriams blondes Haar hervorheben und die Aufmerksamkeit auf ihre beeindruckenden grünen Augen lenken würde. Miriam nickte. „Wir gehen in ein Konzert.“ Das Lächeln, das ihr Gesicht erhellte, verwandelte sie in eine strahlend schöne Frau, wenn auch nur für einen Augenblick. „Das Sinfonieorchester spielt Beethovens Neunte. Das ist eines meiner Lieblingsstücke.“ „Meins auch. Wie ist es mit Mr Landry? Mag er Musik?“ Miriam zuckte die Achseln und verzog ihr Gesicht, als eine Nadel über ihre Schulter kratzte. „Ich weiß es nicht.“ Obwohl Charlotte Barrett Landry noch niemals persönlich getroffen hatte, war er von so vielen ihrer Kundinnen erwähnt worden, dass sie sich ein Bild von dem Viehbaron gemacht hatte, der vor fünf Jahren hierhergezogen war. Reich und ehrgeizig, wie er war, gehörte ihm eines der schönsten Häuser in Cheyenne. Von dem Gebäude, das Charlottes Laden und darüber ihre Wohnung beherbergte, befand sich Barrett Landrys Haus zwar nur drei Blocks entfernt. Trotzdem war es unerreichbar weit weg von dem einfachen Ziegelbau, den Charlotte ihr Zuhause nannte. Barrett Landrys Haus besaß vielleicht keinen Ballsaal, wie man es von einigen seiner Nachbarhäuser behauptete, doch es war genauso dazu bestimmt, Eindruck zu machen. Nachdem Charlotte den Prachtbau gesehen hatte, schenkte sie den Gerüchten Glauben, dass sein Besitzer plante, in die Politik zu gehen. Das Haus war der ideale Ort, um die einflussreichsten Männer des Territoriums zu Gast zu haben, eingeschlossen Miriams Vater. Bei dem Gedanken, dass Cyrus Taggert womöglich zum Teil der Grund war, weshalb Barrett Miriam den Hof machen wollte, verzog Charlotte das Gesicht. Wenn das denn tatsächlich Barrett Landrys Absicht war. Sie hoff47


te, dass das nicht zutraf, denn Miriam verdiente einen Mann, der sie um ihrer selbst willen liebte, nicht wegen der Wählerstimmen, die ihr Vater beeinflussen konnte. Die Glocke über der Eingangstür klingelte. „Das ist wahrscheinlich Barrett.“ Miriams Wangen färbten sich rosa. „Geh du schon mal raus. Molly kann helfen, mich zu Ende anzukleiden.“ „Bist du dir sicher?“, fragte Charlotte und trat zur Tür des Ankleidezimmers. Es stimmte, dass ihre Mitarbeiterin die drei Dutzend Perlenknöpfe schließen konnte, die die Rückseite des Kleides verzierten. Miriam nickte. „Ich will deine Meinung hören. Deine ehrliche Meinung.“ „Natürlich.“ Als Charlotte den großen Verkaufsraum ihres Ladens betrat, sah sie, dass Molly den Besuch mit großen Augen anstarrte. Das war kein Wunder. Der Mann, der Élan betreten hatte, sah noch besser aus, als allgemein behauptet wurde. Er war mindestens 1,80 m groß und hatte dunkelbraune Haare, blaue Augen und ein Gesicht, das nur durch eine Krümmung seiner Nase vor der Vollkommenheit bewahrt wurde. Obwohl er nicht so muskulös war wie die Farmer, die Charlotte zu Hause in Vermont gekannt hatte, ließ sein elegant geschnittener Mantel keinen Zweifel daran, dass dieser Mann ebenfalls körperliche Arbeit gewöhnt war. Das ließ ihn – in Kombination mit seiner ausgesuchten Kleidung und seiner tadellosen Haltung – unglaublich attraktiv und wie ein Gentleman aussehen. Wie ein wichtiger Gentleman. Barrett Landry war ein Mann, den niemand ignorieren würde.

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Tamera Alexander

Das Foto meines Lebens

ISBN 978-3-86827-481-3 ca. 368 Seiten, Paperback Format 13,5 x 20,5 cm erscheint im März 2015

Colorado 1875 Elizabeth Westbrook ist Fotografin aus Leidenschaft – und eine der wenigen Frauen in diesem Metier. Im Auftrag einer großen Zeitung reist sie ins wilde Colorado. Dort will sie die faszinierende Landschaft und Tierwelt einfangen. Doch nicht nur ihre angeschlagene Gesundheit funkt ihr dazwischen. Auch die Zusammenarbeit mit dem Jäger Daniel Ranslett, der sie durch die Wildnis führt, gestaltet sich schwieriger als erwartet. Der verschlossene, gutaussehende Südstaatler scheint ein trauriges Geheimnis mit sich herumzutragen. Als Elizabeth völlig unerwartet mit ihrer Kamera einen Mord einfängt, gerät sie in Lebensgefahr. Wird es Daniel gelingen, sie rechtzeitig aufzuspüren? Tamera Alexander fängt ihre vielschichtigen Charaktere vor der wunderschönen Landschaft Colorados ein und setzt sie effektvoll in Szene. Ein humorvoller, spannender und auch nachdenklicher Roman. 49


Rocky Mountains, Colorado-Territorium 15. April 1875 Elizabeth Garrett Westbrook ließ sich vom steilen Abfall hinunter in die Schlucht nicht im Geringsten einschüchtern, sondern trat näher an den Rand der Felswand heran. Sie hatte sich ihr ganzes Leben lang auf diesen Moment vorbereitet und wusste, dass sie es schaffen konnte. Trotz ihrer zweiunddreißig Jahre war sie immer noch nicht die Frau, die sie sein wollte. Das war einer der Gründe, warum sie dreitausend Kilometer in den Westen nach Timber Ridge im Colorado-Territorium gekommen war. Sie hatte ihr gewohntes Leben in Washington, D. C. hinter sich gelassen und wollte ihren Traum verwirklichen, auch wenn sie nicht wusste, wie viel Zeit ihr noch blieb. Der kalte Wind drang durch ihren Wollmantel. Sie zog den Mantel enger um sich und betrachtete den endlosen Fluss und das Tal, das sich tief unter ihr durch die Landschaft schnitt. Elizabeth ließ ihren Blick über die Berge gleiten, die zerklüftet in die Höhe ragten und in das strahlende Licht des frühen Morgens getaucht waren, so weit das Auge reichte. Dann sah sie nach unten, wo der Boden vor ihren Stiefelspitzen abrupt endete und die Schlucht in atemberaubende Tiefen abfiel. Das Chronicle-Verlagshaus in Washington, D. C. befand sich in einem hohen, vierstöckigen Gebäude. Dennoch, so schätzte sie, müssten mindestens zehn solche Gebäude aufeinandergestapelt werden, um auch nur annähernd die Höhe der Felswand zu erreichen, auf der sie jetzt stand. Sie kam sich plötzlich so klein vor. Gleichzeitig erfüllte sie eine große Ehrfurcht und die Gewissheit, dass derselbe Schöpfer, der dieses Wunderwerk der Natur geschaffen hatte, auch die bruchstückhaften, wenig schönen Teile ihres Lebens in der Hand hielt. Der Konkurrenzkampf war hart gewesen, aber sie hatte es geschafft: Sie gehörte zu den drei Kandidaten, die für die Stelle als Fotograf und Journalist beim Washington Daily Chronicle in Betracht gezogen wurden. Die anderen beiden Kandidaten waren Männer. Männer, die sie kennengelernt hatte, die sie mochte und achtete, und die es verstanden, die Welt sowohl durch ein Objektiv als auch mit Worten zu beschreiben. Das bedeutete, dass sie sich besonders anstrengen musste, um sich zu beweisen. Ein leichter Wind kam auf und sie schob sich eine Locke aus dem Ge50


sicht. Sie atmete die trockene, kalte Luft ein, füllte ihre Lunge damit und atmete dann langsam wieder aus, wie die Ärzte sie angewiesen hatten. Die Bergluft wurde wegen ihrer Reinheit und Heilungskräfte gelobt und war noch dünner und belebender, als sie erwartet hatte. Elizabeth konzentrierte sich wieder auf ihre Aufgabe, schnallte sich ihren Rucksack um und kontrollierte zum zweiten Mal das zusammengeknotete Seil um ihren Bauch. Dann löste sie die Schnürsenkel an ihren Schuhen und setzte in Strümpfen einen Fuß auf den gefällten Baum, der über den Abgrund gelegt worden war. Sie testete, ob die natürliche Brücke ihr Gewicht aushielt, und kam zu dem Ergebnis, dass der Baum sie problemlos tragen würde. Obwohl der Baumstamm stark aussah, hatte sie auf schmerzliche Weise gelernt, dass die Dinge nicht immer so waren, wie sie schienen. Ihr Blick wanderte über den knorrigen Stamm zu der Stelle, an der der Baum ungefähr sieben Meter weiter auf der gegenüberliegenden Seite auflag. Sie hatte noch nie Höhenangst gehabt, aber sobald sie den ersten Schritt machte, zwang sie sich, niemals nach unten zu schauen. Es war besser, den Blick auf das Ziel zu richten und nicht auf die Hindernisse. Sie rückte das Gewicht ihres Rucksacks zurecht, konzentrierte sich, richtete ihren Blick geradeaus und machte den entscheidenden ersten Schritt. „Fallen Sie mir nicht hinunter, Miss Westbrook!“ Durch diese Störung aufgeschreckt, sprang Elizabeth auf den festen Boden zurück. Dann drehte sie sich um. Josiah stand auf dem gewundenen Bergpfad und umklammerte das andere Ende des Seils, das an einem Baum hinter ihm gesichert war. Unsicherheit sprach aus seinen mahagonifarbenen Gesichtszügen. „Ich will Sie nur ein letztes Mal warnen, Madam. Bevor Sie losgehen.“ Obwohl ihr das Herz bis zum Hals schlug, bemühte sie sich um eine freundliche Stimme. „Mir passiert nichts, Josiah. Das versichere ich Ihnen. Ich habe das schon unzählige Male gemacht.“ Jedoch noch nie in so großer Höhe. Aber egal, ob es drei Meter oder dreihundert Meter tief hinunter ging, waren Konzentration und Gleichgewicht nötig, um eine Schlucht erfolgreich zu überbrücken. Wenigstens sagte sie sich das immer wieder. „Aber es wäre hilfreich, wenn Sie nicht so brüllen würden.“ Sein leises Lachen war genauso tief wie die Schlucht und genauso sanft 51


wie der Wind. „Ich brülle nicht, Madam. Löwen brüllen. Wir Männer schreien.“ Sie warf ihm einen tadelnden Blick zu. „Dann hören Sie bitte auf, so männlich zu schreien.“ Er zog an der Krempe seines abgetragenen Hutes. „Ich müsste nicht schreien, wenn Sie anfangen würden, sich wie eine normale Frau zu benehmen, und nicht wie eine Verrückte, die über einen Ast klettert, um ein Vogelnest zu fotografieren.“ Der gefällte Baum war breit, er hatte über einen Meter Durchmesser und war ganz gewiss kein Ast, wie Josiah behauptete. Nur wenn sie auf die andere Seite hinüber balancierte, bekäme sie einen besseren Blick auf den Adlerhorst. Der Horst war auf einem Felsvorsprung gebaut, der unterhalb der Felswand ungefähr zehn Meter von ihr entfernt aus der Seite des Berges hinausragte. Das Foto von dem Adlerhorst mit der Schlucht darunter und den Bergen im Hintergrund wäre atemberaubend – falls sie nicht vorher abstürzte und sich den Hals brach. Sie hatte schon auf schmaleren Baumbrücken viel breitere Abgründe überquert. Wenn sie so etwas tat, fühlte sie sich jedes Mal ein wenig wie ein kleines Mädchen und wurde in die Zeit zurückversetzt, in der man ihr noch nicht gesagt hatte, dass bestimmte Dinge unmöglich seien. „Darf ich Sie daran erinnern, dass ich Sie bezahle? Und das sehr gut!“ Sie zog eine Braue in die Höhe und genoss das fröhliche Geplänkel zwischen ihnen. „Ich zahle Sie dafür, dass Sie meine Ausrüstung tragen und mir bei meiner Arbeit helfen. Nicht dafür, dass Sie mir Ihre Meinung zu meinen Entscheidungen kundtun.“ „Die bekommen Sie kostenlos dazu, Madam. Dafür müssen Sie nichts zahlen.“ Über sein breites Grinsen konnte sie nur den Kopf schütteln. In der letzten Woche hatte Josiah Birch ihre Anweisungen genau befolgt und sich als zuverlässiger Mitarbeiter erwiesen. Der Washington Daily Chronicle stellte ihr das Geld für seinen Lohn zur Verfügung. Zwei andere Männer hatten sich für diese Stelle als Assistent beworben. Sie hatten ebenfalls einen fähigen Eindruck gemacht, aber sie hatte Josiah Birch auf Anhieb vertraut. Er war kein gebildeter Mann, aber er konnte lesen und schreiben und er hatte genauso schnell wie sie gelernt, mit den chemischen Lösungen, die sie für ihre Arbeit brauchte, richtig umzuge52


hen und sie zu mischen. Dass er doppelt so viel wog wie sie und kräftige Muskeln und einen ehrlichen, offenen Blick hatte, war ein zusätzlicher Pluspunkt gewesen. Elizabeth konzentrierte sich wieder und stellte ihren rechten Fuß auf den Baum. Wie eine Hochseiltänzerin streckte sie die Arme seitlich aus, um das Gewicht des Rucksacks auszugleichen, der schwerer als gewöhnlich war. Dann ging sie einen sorgfältig durchdachten ersten Schritt.

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Dee Henderson

Jennifer

ISBN 978-3-86827-487-5 ca. 208 Seiten, gebunden Format 12,5 x 18,7 cm erscheint im März 2015

Jennifer O’Malley ist Kinderärztin mit Leib und Seele und außerdem die Jüngste von sieben Geschwistern. Für ein Privatleben bleibt da nicht viel Zeit. Doch das ändert sich, als sie dem attraktiven Chirurg Tom Petersen begegnet. Ihm zuliebe beginnt Jennifer, sich mit dem Glauben an Gott auseinanderzusetzen. Die Zukunft liegt verheißungsvoll vor ihr – wäre da nicht eine Diagnose, die ihr Leben völlig auf den Kopf stellt … Das letzte Puzzle-Stück der O’Malley-Serie: Die Entscheidungen, die Jennifer trifft, lösen im Leben ihrer Geschwister tiefe Veränderungen aus. Wie wird ihre Familie reagieren? 54


Dr. Jennifer O’Malley rannte durch den Flur des Krankenhauses in Dallas, umkurvte geschickt die Ecken und stieß die Türen zur Notaufnahme mit ihrer Schulter auf. In ihren Armen hielt sie ein sich windendes, schreiendes Bündel. „Passt auf seine verbrannten Hände auf!“ Damit sie über die schmerzerfüllten Schreie des Jungen hinweg gehört werden konnte, musste ihre Stimme den Lärm wie ein scharfes Messer durchschneiden und sie strengte sich dementsprechend an. Sie rannte zum nächstbesten freien Untersuchungszimmer. Da sie den kleinen Jungen ganz gut im Blick hatte, war sie sich sicher, dass er mit seinen zappelnden Händen und Füßen nur sie treffen konnte. Es waren die Kopfstöße, die sie ins Taumeln bringen würden, wenn sie diese Situation nicht schnellstmöglich unter Kontrolle bekamen. „Verträgt er Beruhigungsmittel?“, schrie der diensthabende Krankenpfleger in der Notaufnahme, während er bereits den Medizinschrank aufriss und nach einer Spritze griff. „Drei Milligramm. Und gib ihm zwei Milligramm Schmerzmittel.“ Die Hände des Jungen, die in dicken Verbänden steckten, erholten sich gerade von Verbrennungen zweiten Grades. Jennifer war fest entschlossen, ihn daran zu hindern, damit einen Treffer zu landen. Sie konnte das Adrenalin in dem Kind förmlich spüren, gespeist von Angst, Wut und Schmerz. Der Junge schaffte es, einen Fuß gegen das Krankenbett zu stemmen und es beiseite zu stoßen. Ein weißer Kittel streifte ihre Schulter, gemeinsam mit einem leichten Hauch von Aftershave, als ein Mann sich zu ihr vorbeugte und ihr half, den Jungen festzuhalten. „Ganz ruhig, mein Junge. Was ist passiert?“ „Sein Bruder dachte, dass die Bettgitter eine Art Gefängnis seien, und hat sie geöffnet. Peter hüpfte aus dem Bett und machte sich auf den Weg, um seine Mutter zu suchen – ohne zu wissen, dass sie auf Intensiv liegt. Wir konnten ihn erst einfangen, nachdem er gerade durch eine Glastür gesprungen war.“ „Ja, das reicht vollkommen für einen Nachmittag.“ Dem Pfleger gelang es, zwei saubere Injektionen in den Arm des Kleinen zu setzen. Innerhalb weniger Augenblicke hatte Jennifer einen schlaftrunkenen Jungen in den Armen und hielt nun nicht länger Ausschau nach neuem Ärger, sondern nach einem Platz, um seinen Kopf bequem zu betten. „Alles in Ordnung?“ 55


Jennifer nickte. Der Arzt, der ihr zur Seite gesprungen war, ließ den Jungen los. Sie drehte sich um und legte den Kleinen vorsichtig auf das Bett, während sie mit einer Hand sanft über seine Wange fuhr und sein Haar zurückstrich. Er stieß einen letzten zitternden Seufzer aus. Am liebsten hätte sie selbst ein paar Tränen vergossen. „Es tut mir so leid, mein kleiner Schatz. Es ist einfach nicht deine Woche.“ Der Junge sank immer tiefer in den Dämmerschlaf, den die Medikamente verursachten. Sie hob seine linke Hand und sah die neuen Verletzungen unter den verschobenen alten Verbänden. Sie schaute zur rechten Hand hinüber. Die Haut war noch viel zu dünn, um dem Versuch, die Glastür zu durchqueren, standhalten zu können. „Carrie, bitte pieps John an. Wenn möglich, soll er aus dem OP direkt hierherkommen.“ Die Verbrennungen mussten noch einmal gesäubert und die offenen Schnittwunden verbunden werden, und das konnte nur gemacht werden, wenn der Junge eine Vollnarkose erhielt. Sie entfernte die vorhandenen Verbände und legte frische Gaze auf, um die offenen Wunden vor dem Austrocknen zu schützen. „Was ist mit seiner Mutter?“ Bei dieser Frage schaute Jennifer auf und nahm zum ersten Mal das Gesicht wahr, das zu dem weißen Kittel gehörte. Ein großgewachsener Mann, sandfarbene Haare, blaue Augen, ein wirklich nettes Gesicht. „Liegt mit schweren Verbrennungen auf der Intensivstation, ist aber glücklicherweise stabil. Eine Cousine, die sich nützlich machen wollte, brachte Peters Bruder mit, damit er ihn besuchen konnte.“ „Hat das Krankenhaus eine Bescheinigung ausgestellt, damit die Kinder eine Familienhelferin bekommen können?“ „Wenn das versäumt wurde, werde ich mir den Schuldigen vorknöpfen und dafür sorgen, dass er persönlich ihr Gehalt zahlt.“ Der Arzt lächelte und Jennifer dachte unwillkürlich, dass sie sein Lächeln mochte. Seit fast sechs Jahren hatte sie nicht mehr in der Notaufnahme gearbeitet. Die Tatsache, dass sie den Mann nicht kannte, überraschte sie deshalb nicht. Doch sie hatte die Vermutung – ausgehend von der Kleidung, die er trug – dass auch er normalerweise nicht hier arbeitete. Sie erkannte grüne Operationskleidung unter dem weißen Mantel. Carrie trat zu ihnen. „John hat gesagt, dass er in zehn Minuten hier ist, Jen. Ich werde mich um den Jungen kümmern.“ 56


„Danke.“ Jennifer spürte, wie ihr eigener Adrenalinspiegel zu sinken begann. Als sie aus dem Aufzug getreten war, hatte sie nicht erwartet, sich gleich an einer Jagd beteiligen zu müssen, um einen kleinen verzweifelten Jungen aufzuhalten, der seine Mutter suchte. Sie glättete liebevoll seinen Supermann-Schlafanzug und hoffte, dass er nicht böse auf sie sein würde, wenn er später erwachte. „Er wird bis dahin klarkommen. Es war einfach Pech für ihn, dass sie ihm nicht die Türen geöffnet und ihn einfach haben laufen lassen.“ „Sie haben auch einiges eingesteckt. Lassen Sie mich mal nach Ihrem Auge sehen.“ Jennifer hielt still, weil der Arzt sie bereits untersuchte. „Es ist nur eine Schramme. Und ich bin schon spät dran für meine Visite.“ „Es ist wirklich nur eine Schramme.“ Er schaute auf das Stethoskop in der Tasche ihres Arztkittels. „Welche Station?“ „Onkologie, Kinderstation.“ „Dann machen Sie Ihre Runde. Ich werde Carrie dabei helfen, unseren kleinen Schläfer sicher nach oben zu bringen.“ Doch er zögerte noch einen Moment und streckte ihr schließlich die Hand entgegen. „Ich bin übrigens Tom Peterson.“ Sie nahm seine angebotene Hand und stellte fest, dass ihre Finger völlig darin verschwanden. „Jennifer O’Malley.“ „Schön, Sie kennenzulernen, Jennifer.“ Sie war sich jetzt absolut sicher, dass sie dieses Lächeln mochte. Und sein Timing. Sie konnte nicht viel mehr tun, als das Lächeln zurückzugeben. Während sie sich beeilte, zurück an die Arbeit zu kommen, fragte sie sich, was für Überraschungen dieser Tag noch bereithalten würde.

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Kristen Heitzmann

Im frühen Morgenlicht

ISBN 978-3-86827-488-2 ca. 496 Seiten, Paperback Format 13,5 x 20,5 cm erscheint im März 2015

Morgan Spencer, der erfolgreich große Firmen saniert und für jedes Problem eine Lösung findet, fühlt sich seit dem Tod seiner Frau wie betäubt. Wenn seine kleine Tochter Livie nicht wäre, hätte sein Leben allen Sinn verloren. Doch dann trifft er Quinn Reilly und plötzlich überstürzen sich die Ereignisse. Denn Quinn wird verfolgt – und Morgan springt ihr heldenhaft zur Seite. Er ahnt nicht, dass diese Entscheidung sein Leben für immer verändern wird. 58


Morgan Spencer parkte den Range Rover, der in schweren Zeiten seinen Maserati ersetzte, vor dem Haus, das er sich ansehen wollte. Im Gegensatz zu dem schicken Holzhaus seines Bruders war diese Ranch nichts Besonderes, sondern ein einfaches Rechteck mit einem Spitzdach, das im Wohnzimmer eine hohe Decke vermuten ließ. Da es ihm nicht um etwas Dauerhaftes oder eine Geldanlage ging, war ihm nur wichtig, dass das Haus bewohnbar war und ihm und seiner Tochter den nächsten Schritt in Richtung Unabhängigkeit ermöglichte. Wenn Livie nicht gewesen wäre, hätte er sich ganz in seine Arbeit gestürzt und aus Kohlen Diamanten gemacht. Stattdessen hatte er die Grundsätze seines Erfolgs zu Papier gebracht und war damit zufrieden, dass jeder sie anwenden konnte. Vielleicht würde er in die Geschäftswelt zurückkehren, aber es durfte für Livie kein Trauma bedeuten. Und deshalb stieg er aus und begutachtete das Haus. Bislang wies kein Schild darauf hin, dass es zum Verkauf stand, und er würde ohnehin lieber ein Kaufangebot machen, bevor ein Makler mitverdiente. Sein Anwalt konnte sich um den Vertrag kümmern. Als er die Klingel betätigte, gab diese ein asthmatisches Keuchen von sich. Er war sich nicht sicher, ob es im Haus irgendeine Reaktion auslöste. Als niemand erschien, betätigte er den Knauf der Haustür und stellte fest, dass sie nicht verschlossen war. Er rief laut: „Hallo?“ Zu gerne hätte er sich umgesehen, um sich davon zu überzeugen, dass es keine gravierenden Mängel an dem Haus gab. Eine Frau, wahrscheinlich die Tochter der Verstorbenen, kam aus dem Schlafzimmer. Ihm fielen ihre elfengleichen Züge und der dunkle Lockenschopf auf, der von einer Haarspange zusammengehalten wurde. „Sie sind …?“ „Quinn.“ „Gibt es auch einen Vornamen dazu?“ „Quinn Reilly. Quinn nach dem Lieblingshund meines Großvaters.“ „Sie sind nach einem Hund benannt?“ Und sie gab es auch noch zu. „Nicht nach irgendeinem Hund. Ein Bluetick mit einer Nase, wie sie kein Hund vor oder nach ihm hatte.“ „Hm.“ Unwillkürlich musterte er ihre schmale Gestalt. Sie trug eine Jeans und ein ausgeblichenes Sweatshirt. „Wollten Sie etwas?“ Sie stemmte die Hände in die Hüften. 59


„Ich wollte mit der Besitzerin des Hauses sprechen. Sind Sie das?“ „Oh nein. Sie ist wieder nach Hause geflogen. Aber ich habe ihre Nummer.“ „Das wäre gut.“ Er ließ den Blick durch die Räume schweifen. „Kann ich mich mal umsehen?“ „Ist aber ziemlich chaotisch. Ich gehe gerade die Sachen der Verstorbenen durch.“ „Ich will mir nur einen Eindruck von der Aufteilung verschaffen, um zu sehen, ob es funktioniert.“ „Für Sie?“ In ihren Augen lag Erstaunen, obwohl er nicht wusste, was das mit ihr zu tun hatte. Er legte den Kopf schief. „Ist das ein Problem?“ „Für mich nicht. Ich mache hier nur meine Arbeit.“ Er nickte. „Ich sehe mich kurz um und lasse Sie dann wieder in Ruhe.“ Sie zuckte mit den Schultern und ging zurück ins Schlafzimmer; wenigstens glaubte er, ein Bett unter den Bergen von Kleidern entdeckt zu haben. Quinn zog eine Hose aus einer Schublade, untersuchte sie – Taschen, Futter, Nähte – und legte sie dann zu dem Stapel auf dem Bett. „Suchen Sie etwas?“ „Ich … sortiere.“ „Gründlich.“ Sie warf ihm einen Blick zu. „Stimmt.“ Ihren lakonischen Kommunikationsstil fand er interessant. Er kannte nicht viele Frauen, die nur so viel sagten, wie gerade nötig war. Als er sich in dem ebenerdigen Gebäude umgesehen hatte, das für ihn und seine kleine Tochter Livie bestens geeignet war, kehrte er zu Quinn zurück, die auf dem Boden saß und weiter Kleidung sortierte. „Gibt es auch ein Untergeschoss?“ „Einen Keller.“ Sie hockte sich auf die Fersen. „Soweit ich weiß, ist der aber nicht bewohnbar.“ „Ach ja?“ „Dieses Haus wurde auf dem Fundament einer psychiatrischen Anstalt erbaut.“ „Das ist nicht Ihr Ernst.“ „Doch. Früher hat man die Menschen in die Berge geschickt, um ‚ihren Geist auszuruhen’.“ Morgan war sich keineswegs sicher, dass er über einer Irrenanstalt leben 60


wollte, war aber trotzdem fasziniert und sagte: „Haben Sie den Keller schon gesehen?“ „Nein.“ „Wollen Sie?“ „Nein.“ Er lehnte sich in den Türrahmen. „Sind Sie denn gar nicht neugierig?“ „Ich habe schon viele Keller gesehen.“ Etwas entnervt ließ sie die Hände sinken. „Sehen Sie das hier alles? Die Verstorbene hat jedes einzelne Kleidungsstück aufgehoben, das sie je besessen hat.“ „Kommen Sie mit auf einen Erkundungsgang, dann helfe ich Ihnen, die Klamotten rauszutragen.“ Sie neigte den Kopf. „Haben Sie etwa Angst, alleine runterzugehen?“ „Einen Schutzschild könnte ich schon gebrauchen.“ Ihre Augen verengten sich. „Haben Sie eigentlich einen Namen?“ „Morgan.“ „Und gibt es auch einen Vornamen dazu?“ Ein Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. „Morgan Spencer. Und jetzt kommen Sie, sehen wir uns den Keller an.“ Widerwillig stand sie auf, woraufhin er eine schwungvolle Armbewegung machte. „Ladies first.“ Sie zog die Augenbrauen hoch, die ganz gewöhnlich hätten sein können, stattdessen aber die Farbe von Espresso hatten, mit hellen Lichtpunkten um die Pupillen. „Ich gehe nicht vor.“ „Angst?“ „Wer zuerst geht, kriegt alle Spinnweben ab.“ Belustigt sagte er: „Gut. Ich nehme die Spinnweben. Aber Sie zeigen mir, wo der Eingang ist.“ „Das weiß ich nicht.“ „Was?“ „Ich habe meine Arbeit gemacht und nicht das Haus ausgekundschaftet.“ „Vielleicht ist da unten ja auch noch etwas.“ Sie zuckte zusammen. „Das ist mir zu unheimlich.“ Da er nirgendwo sonst eine Tür gesehen hatte, war die Kellertreppe wahrscheinlich in der Küche. In dem Raum gab es neben all den Tischen, Regalen, Schränken und einem rollbaren Geschirrspüler nur wenig freie 61


Fläche auf dem Boden und an den Wänden. Das Linoleum unter ihren Füßen knisterte wie kleine Feuerwerkskörper. Quinn schlang die Arme um ihren Oberkörper. „Wissen Sie, ich bin nicht –“ „Jetzt können Sie keinen Rückzieher mehr machen“, sagte er. „Wir brauchen einen richtig guten Riecher.“ „Also gut. Ich glaube, ich habe etwas gesehen …“ Sie sah hinter eine riesige Mahagonitruhe. „Ist das da eine Tür?“ Er beugte sich vor und sah sie auch. „Sehen Sie, Sie machen Ihre Sache gut.“ Sie legte den Kopf schief und warf ihm einen finsteren Blick zu. Seine Mundwinkel zuckten. Gemeinsam zogen sie die Kiste auf einer Seite von der Wand weg. Die Tür öffnete sich, als sie einmal kräftig daran zerrten, und offenbarte eine Treppe, die viel älter war als das Haus. Ein kalter modriger Geruch strömte ihnen entgegen. Er betätigte den alten Lichtschalter, aber ohne Wirkung. „Hm.“ „Hier gibt es bestimmt etwas, das wir benutzen können.“ Quinn zog eine Schublade nach der anderen auf, bis sie eine Taschenlampe gefunden hatte. Dann schlug sie die Lampe ein paar Mal gegen die Tischkante, bis sie anging und einen schwachen Lichtstrahl von sich gab. „Das müsste gehen.“ Morgan nahm die Taschenlampe und setzte einen Fuß auf die Treppe, während er mit einer Hand Spinnweben beiseitewischte. „Sie scheint fest zu sein, aber seien Sie trotzdem lieber vorsichtig.“ Eine dicke Staubschicht bedeckte die Treppe, die schon jahrelang niemand mehr betreten hatte. Das eiserne Geländer wackelte, hielt aber. Als sie fast unten angekommen waren, schwenkte er den Lichtschein der Lampe herum. „He!“ Sie krallte die Finger in sein Hemd. „Wollen Sie mich veralbern?“ Der Keller stand voll mit eisernen Betten, Rollwagen, Nachtstühlen, Gummischläuchen und schwer zu identifizierenden Utensilien. Ihr Griff verkrampfte sich. „Sind das Ketten?“ Er richtete den Lichtstrahl auf ein Bettgestell. „Wahrscheinlich würde man sie als Fixierung bezeichnen.“ „Ist das unheimlich.“ Er ging die letzte Stufe hinunter. 62


„Warten Sie mal. Wir gehen da nicht rein.“ „Sie wollen doch wohl jetzt nicht kneifen.“ Langsam ließ er die Lampe durch die Dunkelheit wandern, bis der Lichtschein auf einem Vitrinenschrank an der Wand ruhte. „Sehen Sie mal!“ Er fühlte, wie sie sich vorstreckte, offenbar neugierig geworden, als das Licht auf die zugestaubten Flaschen auf den Regalböden fiel. „Molchtinktur und Fledermausaugen?“ Vorsichtig stützte sie sich mit ihrer Hand auf seinem Arm ab, aber die Aufregung siegte über die Angst. „Können wir nachsehen?“ „Ich dachte, wir gehen da nicht rein.“ Belustigt leuchtete er ihr mit der Lampe ins Gesicht und musterte sie in ihrer ganzen aufgestauten Energie und Ungeduld. „Glauben Sie, wir werden sterben?“ „Nein, aber wenn Sie noch fester zudrücken, verliere ich vielleicht diesen Arm.“ „Oh!“ Sie sah auf ihre Hand und ließ los. Er wischte ein paar staubige Spinnweben beiseite und ging zwischen übereinandergestapelten Betten hindurch. „Wer würde denn über einem solchen Ort ein Haus errichten?“ Ihre Stimme klang dünn. „Jemand, der nicht graben und ein neues Fundament legen wollte.“ „Mit all den Dingen hier drin?“ „Wissen Sie, wie viel Arbeit es ist, das alles auszumisten?“ „Nein, aber ich werde es wohl bald wissen.“ Er drehte sich halb zu ihr um. „Ich habe den Inhalt des Hauses gekauft, also ist es mein Problem.“ Morgan bahnte sich einen Weg zwischen all dem Gerümpel hindurch. „Sie könnten ja mal mit einem Museum Kontakt aufnehmen.“ „Als würde irgendjemand diesen Müll haben wollen.“ Aber als er den Medizinschrank beleuchtete, schob sie sich schnell an ihm vorbei und wischte mit ihrem Ärmel über die Glasscheibe. Soweit er das beurteilen konnte, bewirkte das gar nichts. Das Glas selbst sah milchig aus. Sie zog an dem Metallknauf. „Er ist verschlossen. Meinen Sie, wir könnten ihn ans Tageslicht bringen?“ Es schien ihr ernst zu sein. Der Schrank war fast 2 Meter hoch, aber schmal und aus Hartholz mit Facettenglas. „Dabei könnte aber der Inhalt kaputtgehen.“ 63


„Nicht, wenn wir ihn im richtigen Winkel halten.“ Er zuckte mit den Schultern. „Wollen Sie lieber oben oder unten gehen?“ Sie warf einen Blick über die Schulter. „Realistisch gesehen, würde ich oben sagen.“ „Vernünftige Entscheidung.“ Sie musste dann zwar rückwärts gehen, aber er würde den größten Teil des Gewichts tragen. „Kleinen Moment noch.“ Er steckte sich die Taschenlampe hinten in den Hosenbund, sodass wenigstens ein schwacher Lichtstrahl an die Decke fiel, während sie den Schrank von der Wand abrückten und ihn Stufe um Stufe hinauftrugen. Oben angekommen, suchten sie in der Küche eine freie Stelle, wo sie die Vitrine vorerst deponierten und sie langsam wieder aufrichteten. Trotzdem fielen die Flaschen um. „Ein Schmied würde den Schrank wohl aufbekommen.“ Quinn tastete über Knauf und Schlüsselloch. „Ich habe eine ganze Kiste mit Schlüsseln, die jemand im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte gesammelt hat. Davon könnte einer passen.“ Er fuhr mit dem Daumen eine Kante entlang. „Oder Sie könnten ihn zulassen. Dann kann er seine Geheimnisse behalten.“ Sie drehte sich um. „Warum?“ „Er hat so lange im Dunkeln gestanden.“ „Wollen Sie denn nicht wissen, was in den Flaschen ist?“ Nachdenklich sah er sie an und fragte: „Für wie viel wollen Sie den verkaufen?“ „Keine Ahnung. Normalerweise handle ich nicht mit Möbeln.“ „Ich gebe Ihnen tausend Dollar – so wie er ist.“ „Was?“ „Ich will ihn hier in die Küche stellen.“ „Aber die Küche gehört Ihnen doch gar nicht.“ „Das wird sie aber. Bald. Ich habe der Besitzerin ein Angebot gemacht. Bar auf die Hand.“ Offensichtlich frustriert verschränkte sie die Arme. „Aber wir haben den Schrank doch hochgeholt, um hineinzusehen.“ „Tausendfünfhundert, mit den Flaschen.“ „Sind Sie wahnsinnig?“ Seine Lippen zuckten. „Sie glauben wohl, ich gehöre da unten in den Keller, oder? Vielleicht sogar in Fesseln.“ 64


Ihre Miene ließ keinen Zweifel daran. „Ich will ihn aber aufmachen.“ „Dann können Sie mein Angebot ja ablehnen.“ Sie wand sich in der Falle, die er ihr gestellt hatte. Da er kaum etwas über sie wusste, hatte er keine Ahnung, wie sie sich entscheiden würde. Aber er konnte sie in eine Richtung stupsen. Er nahm sein Scheckbuch zur Hand, stellte einen Scheck über eintausendfünfhundert Dollar auf den Namen Quinn Reilly aus und riss ihn aus dem Buch. „Das ist das Geschäft – Sie können einschlagen oder es bleiben lassen.“ Sie griff nach dem Scheck. „In Zukunft zeige ich Ihnen nichts mehr, bevor ich es nicht selbst gesehen habe.“ „Ist gut“, sagte er. Jetzt, nachdem sie ihr kleines Abenteuer hinter sich hatten, kehrte der Schmerz in seinem Innern zurück, wie ein Wärter, der eine Sekunde lang weggesehen hatte und dann wieder aufmerksam Wache hielt. *** Als Quinn dabei zusah, wie Morgan die Küche verließ, überkam sie ein Gefühl der Trostlosigkeit. Gerade hatten diese dunkelblauen Augen noch geforscht und geneckt und im nächsten Augenblick brachen sie ein, wie auf zu dünnem Eis, sodass nur noch eine bodenlose, schwarze Tiefe blieb. Sie ging den Flur entlang und zuckte zusammen, als er hinter einem Berg Kleider aus dem Schlafzimmer kam. „Was machen Sie da?“ „Ich habe Ihnen doch angeboten, dass ich die Sachen für Sie raustrage.“ „Dass Sie das ernst meinten, damit hatte ich nicht gerechnet.“ „Dann hätte ich es gar nicht erst gesagt.“ In seinem düsteren Tonfall lag eine gewisse Schärfe. Quinn sah ihm dabei zu, wie er einen Armvoll nach dem anderen zu seinem Range Rover trug, bis er schließlich wieder hereinkam und sich die kalten Hände rieb. „Mehr passt nicht rein. Wohin soll ich es bringen?“ „In der Stadt gibt es eine Kirche, die die Kleidung für die Mission sammelt.“ Er nickte. „Ich bringe sie zu Pastor Tom.“ „Sie kennen ihn?“ Jetzt war auch in seinen Augen eine gewisse Schärfe erkennbar, aber Morgan wirkte auf sie nicht wie jemand, der mit einem Pastor auf Du und Du war. 65


„Gut.“ Sie wendete den Blick ab. „Danke für Ihre Hilfe und … für Ihren Einkauf.“ Sie war zu verblüfft gewesen, um mit ihm zu handeln. „Gern geschehen. Ich hoffe, Sie finden, wonach Sie suchen.“ Sie hatte nicht gesagt, dass sie etwas suchte, aber er hatte die Lage offensichtlich analysiert und seine Schlüsse gezogen. Wenn sie klug war, sollte sie das auch tun. Vielleicht hatte er die fünfzehnhundert Dollar gar nicht und sein Scheck platzte. Plötzlich beschlich sie dieser Verdacht und ließ sie nicht mehr los. Sie hatte immer noch die Vitrine, also spielte es nur theoretisch eine Rolle. Aber Unehrlichkeit konnte sie nicht leiden. Sie zog ihren Mantel an, eilte zu ihrem Wagen und fuhr nach Hause, wo sie mit eiskalten Fingern ihren Laptop hochfuhr und Morgan Spencer googelte. Wenige Augenblicke später fiel ihr die Kinnlade herunter. „Ach, du liebe Zeit.“ Videos, Bilder, Artikel und Blogs. Auszeichnungen, Veranstaltungen, internationale Geschäftsnachrichten. Sie las einen Artikel über seinen zweiten New York Times-Bestseller. Morgan Spencer meidet das Rampenlicht, während sein Ruhm und Erfolg zu neuen Höhen aufsteigen … Quinn sog scharf die Luft ein. In dem dunklen Keller hatte sie sich nichtsahnend an einen weltberühmten Mogul geklammert. Über so viel Unwissenheit musste sie leise lachen und dann schüttelte sie den Kopf. Sie hätte fünftausend verlangen sollen.

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