Leseproben Romane Frühjahr 2018

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Leseproben Romane



Tamera Alexander, Wer sein Herz riskiert ................................. 4 Cathy Liggett, Der kleine Laden in Sugarcreek ..................... 12 Katie Ganshert, Das Motel der vergessenen Träume .......... 19 Ruth Axtell, Maskerade im Mondlicht ..................................... 27 Elizabeth Musser, Näher als du denkst ..................................... 34 Lynn Austin, Ein letzter Flug ...................................................... 41 Charles Martin, Ein langer Weg nach Hause .......................... 49 Rosslyn Elliott, Mit Herz, Mut und Verstand ......................... 56 Denise Hunter, Eine Woche im Gestern .................................. 62


Tamera Alexander

Wer sein Herz riskiert

ISBN 978-3-86827-707-4 352 Seiten, Pb. Format 13,5 x 20,5 cm erscheint im Januar 2018

Nashville, Tennessee, 1871 Alexandra Jamison ist eine junge Südstaatlerin aus gutem Hause. Seit ihr Verlobter David bei einem tragischen Eisenbahnunglück ums Leben kam, ist sie fest entschlossen, ihrem Leben eine neue Wendung zu geben. Gegen den Willen ihrer Eltern, die sie mit einem betagten Gentleman verheiraten wollen, bewirbt sich Alexandra um eine Stelle als Lehrerin. An einer neugegründeten Schule will sie ehemalige Sklaven unterrichten. Doch ihrem Traum stellen sich unerwartete Hindernisse entgegen. Da begegnet sie Sylas Rutledge, einem attraktiven, aber ungehobelten Eisenbahnbesitzer aus Colorado. Er nimmt ihre Berufung ernst und unterstützt sie. Doch kann es sein, dass Sylas in den mysteriösen Unfall verwickelt war, der David das Leben kostete? 4


Alexandras Kehle war vor wütender Erregung wie zugeschnürt. Sie ging weiter und weiter, bis ein Stechen in ihrer Seite sie schließlich veranlasste, ihr Tempo zu verlangsamen. Die Sonne war längst untergegangen, und obwohl sie kein bestimmtes Ziel hatte, lief sie weiter. Sie wollte einfach nur Abstand zwischen sich und ihren Vater bringen. Und zwischen sich und den alten Mr Horace Buford, der es zwar gut meinte, aber völlig irregeleitet war. Das Gespräch im Salon wiederholte sich ständig in ihrem Kopf und sie wurde zusehends wütender. Aber etwas in ihr wusste, dass ihr Vater recht hatte. Nicht damit, dass sie den Heiratsantrag von Mr Buford annehmen sollte, sondern damit, dass es höchste Zeit war, etwas aus ihrem Leben zu machen. Sie war fast sechsundzwanzig und wohnte immer noch bei ihren Eltern. Die meisten ihrer Freundinnen hatten schon vor Jahren geheiratet und Kinder bekommen. Wenn David bei jenem furchtbaren Unfall nicht gestorben wäre, wäre auch sie verheiratet und von den erdrückenden Forderungen ihres Vaters befreit. Aber sie hätte schon vorher eine Möglichkeit finden müssen, aus ihrem Elternhaus auszuziehen, auch, wenn eine solche Entscheidung mit Unannehmlichkeiten verbunden war. Diese möglichen Unannehmlichkeiten hatten dafür gesorgt, dass sie an ihrer Situation nichts geändert hatte. Sie hatte zu große Angst gehabt, um es allein zu versuchen. Dann war David in ihr Leben getreten. Er war alles gewesen, was sie je gewollt hatte. Er hatte ihr Liebe, Sicherheit und ein nettes, wenn auch bescheidenes Zuhause geboten. Sie hatte seinen Antrag, ohne zu zögern, angenommen. Aber das Leben, das sie gemeinsam geplant hatten, war ihnen ohne Vorwarnung entrissen worden, und das alles aufgrund des Flüchtigkeitsfehlers eines Lokführers. Harrison Kennedy. Würde sie diesen Namen und alles, was er ihr geraubt hatte, je vergessen? Davids Gesicht stand ihr deutlich vor Augen und sie erinnerte sich an ihr letztes Gespräch, bevor sie an jenem Morgen auf dem Bahnhof von Memphis in den Zug gestiegen waren. Nach zwei wundervollen Tagen, an denen sie eine Wohnung in der Nähe des Universitätsgeländes gesucht und gefunden hatten. „Die Arbeiter, mit denen ich gesprochen habe, können leider nicht 5


lesen, Alexandra. Sie wissen überhaupt nicht, was in dem Vertrag steht, den man ihnen gegeben hat. Aber sie müssen ihn unterschreiben, sobald sie nach Nashville zurückkommen. Geh doch bitte mit Melba schon los und setzt euch in den Damenwaggon. Da sie deine Begleitung ist, darf sie dort mitfahren. Ich fahre dann im vorderen Abteil mit den Arbeitern mit.“ Sie hatte den ständig verknitterten Aufschlag seines Jacketts glatt gestrichen, der irgendwie zu seinem Beruf als Universitätsprofessor gepasst hatte. „Glaubst du, dass man das erlaubt? Dass du im FreigelassenenWaggon mitfahren darfst?“ „Ich bezweifle, dass jemand etwas sagen wird. Aber wenn man mich hinauswirft, suche ich dich und Melba, bevor der Zug aus dem Bahnhof ausläuft.“ Sie hatte genickt und war so stolz auf ihn gewesen. Und dankbar für Melba, die in der Nähe gestanden hatte. Sie war die perfekte Anstandsdame und ihre Freundin. „Müssen Sie denn immer Lehrer sein, Mr Thompson?“, hatte sie ihn geneckt. Er hatte die Achseln gezuckt. „Jedem, der etwas lernen will, sollte der Zugang zu Bildung offenstehen.“ Sie liebte diesen Mann so sehr. Seine Großzügigkeit und Freundlichkeit, seinen Verstand, seine Weigerung, sich durch die gesellschaftlichen Gepflogenheiten von seinen Überzeugungen und seiner Berufung als Lehrer abbringen zu lassen. Er war in einer Familie aufgewachsen, die gegen die Sklaverei gewesen war. Das hatte seine Einstellung schon sehr früh geprägt und er hatte Alexandra sanft die Augen für die Wahrheit geöffnet, die schon lange in ihr geschlummert hatte. „Ich bin so stolz auf dich, David. Du bist ein ausgezeichneter Lehrer.“ „Was Letzteres angeht, bin ich mir nicht so sicher, aber wenigstens kann ich die Verträge lesen und diesen Leuten erklären, was sie unterschreiben. Aber was Ersteres angeht …“ Er schaute sich um, dann zwinkerte er und küsste sie schnell auf die Stirn. „Mir geht es mit dir genauso. Wir sehen uns zu Hause!“ Wir sehen uns zu Hause. Wir sehen uns zu Hause. Die Worte jenes Tages hallten in ihr wider. Sie hatte ihn danach nicht mehr lebendig gesehen. Alexandra wischte sich die Tränen von den Wangen, während sie 6


in der aufziehenden Dämmerung eine tiefe, grausame, gähnende Leere in sich spürte. Plötzlich hob sie ihren Kopf und lauschte. Gesang. Irgendwo in der Ferne. Sie schaute sich um und bemerkte schließlich das Licht, das aus den Fenstern eines Gebäudes am anderen Ende der Straße drang. Sie ging näher heran und blieb vor einem Plakatständer am Eingang stehen. Darauf stand zu lesen: Mittwoch, 9. August, 19 Uhr. Die Masonic Hall präsentiert Händels Esther-Oratorium. Von den majestätischen Stimmen angezogen, öffnete sie leise die Tür und trat ein. Die Eingangshalle war nur schwach beleuchtet. Sie war froh, dass sie ihre Handtasche mitgenommen hatte, und stellte sich darauf ein, Eintrittsgeld zu zahlen, aber der Eingangsbereich war leer. Niemand saß am Kassentisch. Die Klaviermusik schwoll an, ebenso wie eine Sopranstimme, die so voll und kräftig war, so himmlisch, dass Alexandra trotz der Wärme des Gebäudes eine Gänsehaut über die Arme lief. Dann stimmte ein Chor mit ein. Sie schloss die Augen und ließ die Schönheit der Harmonien ihren immer noch schwelenden Schmerz lindern. Von der Musik fasziniert, ging sie weiter durch einen Flur, der in einen kleinen Saal führte. Zu ihrer Überraschung war nur die Hälfte der Plätze mit Zuhörern gefüllt. Das war bei dieser wunderschönen Musik kaum zu glauben. Aber als ihr Blick zu den Interpreten auf der Bühne wanderte, erstarrte sie. Alle Sänger waren Schwarze. Außerdem bestand das Publikum zum größten Teil aus schwarzen Männern und Frauen. Nur eine Handvoll Weiße waren anwesend. Obwohl ihr diese Entdeckung nicht das geringste Unbehagen bereitete, fiel ihr unwillkürlich auf, dass sie noch nie zuvor bei einem Konzert gewesen war, das Schwarze und Weiße gemeinsam besucht hatten. David wäre begeistert. Erneut traf sie eine schmerzliche Sehnsucht. Sie suchte sich schnell im hinteren Teil des Raumes einen Platz, während sie sich fragte, ob sie je aufhören würde, ihn zu vermissen. David hatte ihr Leben auf eine Weise ausgefüllt wie kein anderer Mensch. Er hatte sie ermutigt, sich selbst herauszufordern, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Er hatte sie zu einem viel besseren Menschen gemacht, als sie es zuvor gewesen war. 7


Sie wollte nie wieder diese Frau von früher sein. Ihr Leben sollte einen Sinn haben. Einen Sinn, der über eine arrangierte Ehe, die sie unter keinen Umständen wollte, hinausging. Das Tempo der Klaviermusik veränderte sich und die starke Sopranstimme auf der Bühne stieg hinauf in höhere Sphären. Alexandras Aufmerksamkeit war wieder wie gebannt, genauso wie die aller anderen Zuhörer im Raum. Sie gab sich vollständig der Musik hin und war für diese Ablenkung dankbar. Eine Stimme von solcher Perfektion, die das Stück mit scheinbarer Leichtigkeit vortrug, war fast unglaublich. Nach und nach stimmte der Rest des Chores wieder ein. Viel zu früh verhallte der letzte Ton der Musik und das Publikum erhob sich, um zu applaudieren. Alexandra klatschte begeistert. Sie war erfüllt von Dankbarkeit und … Sie kniff die Augen zusammen. Was machte Mr Sylas Rutledge hier? Der ungehobelte Mann, dem sie gestern im Büro ihres Vaters begegnet war, hatte zwei Reihen vor ihr auf der anderen Seite gesessen. Im Sitzen hatte sie ihn nicht bemerkt, aber da er stehend über einen Meter achtzig groß war – und wie ein Revolverheld, für den er sich anscheinend hielt, wieder diesen dunklen Mantel trug –, stach der Mann aus der Menge heraus. Sie hätte ihn gewiss nicht für jemanden gehalten, der klassische Musik liebte. Aber wenigstens hatte er den Anstand besessen, dieses Mal seinen Hut abzunehmen. Vielleicht bestand für den Mann doch noch Hoffnung. In diesem Moment trat einer der Sänger vor und das Publikum setzte sich wieder. Alexandra nahm ebenfalls wieder Platz, drehte sich aber leicht zur Seite, um das Risiko, dass Mr Rutledge sie entdeckte, zu verringern. Sie war auf eine zweite Begegnung mit diesem Mann und dem, was auch immer er an krummen Geschäften planen mochte, nicht allzu erpicht. Aber diese Sorge hätte sie sich sparen können. Er nahm nicht wieder Platz, sondern verließ leise den Saal. „Danke, meine verehrten Damen und Herren.“ Der junge Mann auf der Bühne sprach mit tiefer, voller Stimme. „Danke, dass Sie sich an diesem warmen Sommerabend aufgemacht haben, um unsere Aufführung von Händels Esther-Oratorium zu hören. Als Studenten der Fisk-Universität danken wir Ihnen für Ihre Unterstützung. Jetzt möchte ich Ihnen den Präsidenten der Fisk-Universität vorstellen: Mr Adam Spence.“ Wieder erhob sich Applaus, als sich ein Mann im Publikum erhob und 8


auf die Bühne ging. „Guten Abend, meine Freunde. Wie Mr Green schon gesagt hat, sind wir Ihnen für Ihr Kommen dankbar und freuen uns, dass Sie dieses wunderbare Konzert besucht haben. Unsere Studenten an der Fisk-Universität sind alle Freigelassene, sowohl die weiblichen als auch die männlichen. Aber die Fisk-Universität hält für jeden, der lernbegierig ist, Bildungsangebote bereit, unabhängig von seiner Hautfarbe.“ Seine Aussage löste noch mehr Applaus aus und Alexandra klatschte ebenfalls. Bei Präsident Spences Worten regte sich etwas in ihr. Seine Worte hatten so viel Ähnlichkeit mit dem, was David gesagt hatte. „Wir sind allerdings noch auf zusätzliche Lehrer angewiesen. Falls Sie also auf diesem Gebiet Erfahrung haben, sprechen Sie mich bitte an, dann kann ich Ihnen mehr über diese Möglichkeiten erzählen.“ Nach weiteren Bemerkungen lud Präsident Spence alle ein, die Köpfe zu beugen, um den Abend mit einem Gebet abzuschließen. Alexandra kam seiner Aufforderung nach, konnte aber die Augen nicht geschlossen halten. Ihr Blick wanderte immer wieder zu den Fisk-Studenten hinauf und dann auf ihre eigenen Hände hinab. Sie versuchte, das Kribbeln in ihrem Bauch und das unerklärliche Gefühl der Nähe, das sie in diesem Moment zu David empfand, zu verstehen. Die Träume, die sie für ihr gemeinsames Leben gehabt hatten, schienen wieder etwas näher gerückt zu sein.

*** Später kehrte Alexandra in ein fast dunkles Haus zurück. Sie erwartete fast, eine verschlossene Haustür vorzufinden, da sie so abrupt das Haus verlassen hatte, aber der Türgriff drehte sich widerstandslos in ihrer Hand. Sie sperrte die Tür hinter sich zu, schlich leise in ihr Zimmer und zündete die Lampe auf ihrem Nachttisch an. Die Flamme warf einen warmen Schein auf Davids Fotografie auf ihrem Ankleidetisch. Sie setzte sich, nahm sein geliebtes Bild und starrte in seine freundlichen, offenen Augen, während ihr Verstand nach dem Gespräch mit Präsident Spence immer noch auf Hochtouren arbeitete. Hatte sie gefunden, was sie tun sollte? War sie deshalb heute Abend „zufällig“ auf das Konzert gestoßen? Ein aufgeregtes Kribbeln erfüllte sie, schnell gefolgt von einer starken Ungewissheit. 9


Sie warf einen Blick auf Davids Koffer am Fußende ihres Bettes, der voller Bücher und Lehrmaterial war, und wünschte sich zum hundertsten Mal, sie wäre bei ihren Studien mit ihm weiter gekommen. Er hatte ihr allerdings immer versichert, dass sie eine schnelle Auffassungsgabe habe und ihr Verstand neues Wissen wie ein trockener Schwamm aufsauge. Als Kind hatte sie natürlich eine Gouvernante gehabt, die dafür gesorgt hatte, dass sie die Grundlagen erlernte. Später, als junge Frau, hatte Alexandra zusammen mit einigen Freundinnen an die Nashviller Frauenakademie gehen wollen, aber ihr Vater hatte es ihr verboten. Doch sie hatte im Laufe der Jahre viele Kinder als Hauslehrerin unterrichtet und das Wissen, das sie erworben hatte, gut eingesetzt. „Wenn du mir nur sagen könntest, ob ich das tatsächlich tun soll“, flüsterte sie und strich mit einem Finger über den Bilderrahmen. „Ach, wenn du doch noch hier wärst!“ Aber in gewissem Sinn war er heute Abend bei ihr gewesen. Sie hatte seine Nähe gefühlt. Es klopfte an ihre Zimmertür. Alexandra stellte das Bild auf den Ankleidetisch zurück und ging zur Tür. Hoffentlich war es nicht ihr Vater. „Mutter.“ Erleichtert trat sie beiseite und ließ sie eintreten. Selbst im schwachen Licht konnte sie den rot umrandeten Augen ihrer Mutter ansehen, dass sie den ganzen Abend geweint hatte. Schuldgefühle trübten ihre innere Aufregung. „Liebling, ich habe auf dich gewartet.“ Ihre Mutter schloss die Tür. „Ich wollte noch einmal mit dir reden. Dein Vater hat nur dein Bestes im Sinn. Das musst du mir glauben.“ „Ich glaube ja, dass er meint, er wüsste, was das Beste ist.“ Alexandra wog ihre nächsten Worte gut ab. „Aber ich bin einfach anderer Meinung.“ „Ich weiß, dass David und du Träume hattet. Aber die Tür zu diesen Träumen hat sich geschlossen, mein Liebling. Und so schmerzlich das auch ist, du musst es akzeptieren.“ „Ich akzeptiere es, Mutter. Wirklich. Ich weiß, dass die Träume, die David und ich teilten, der Vergangenheit angehören. Aber das heißt nicht, dass ich nicht meine eigene Version von diesen Träumen haben kann. Frauen stehen heutzutage viel mehr Möglichkeiten offen als früher. Der 10


Krieg hat so viele Veränderungen gebracht. Frauen arbeiten jetzt in Büros und in Fabriken.“ Ihre Mutter starrte sie an. „Du denkst daran, in einem Büro zu arbeiten? Oder in einer Fabrik? Als was? Als Näherin? Alexandra, du stammst aus einer der besten Familien von Nashville. Wir müssen uns in den Grenzen der Welt bewegen, in der wir leben. Und das, meine Liebste, ist nicht deine Welt.“ Alexandra wollte ihr schon widersprechen, überlegte es sich dann aber anders. „Es wird höchste Zeit, Alexandra, dass du heiratest und Kinder bekommst. Und da der Krieg so viele unserer Männer geraubt hat …“ Das Kinn ihrer Mutter zitterte. „… sind deine Auswahlmöglichkeiten stark eingeschränkt. Darin musst selbst du mir zustimmen. Eine Frau kann nur aus den Möglichkeiten wählen, die ihr zur Verfügung stehen. Überlege dir deine Entscheidung also gut, meine Liebste.“ Sie drückte Alexandras Hand. „Nicht viele bekommen eine zweite Chance. Du bekommst eine, meine Liebe. Nutze sie. Solange noch Zeit dazu ist.“ Ihre Mutter stand auf, drückte Alexandra einen Kuss auf den Kopf und ging. Alexandra lag lange wach und wog den Rat ihrer Mutter gegen das Drängen ihres Herzens ab, während sie um Weisheit von Gott betete und auf das leiseste Flüstern des Herrn in ihrem Herzen lauschte. Oder sogar … auf ein Flüstern von David, falls der Himmel so etwas erlaubte. Nachdem sie nur wenig geschlafen hatte, stand sie lange vor Sonnenaufgang mit einer gestärkten Überzeugung auf und wusste ohne jeden Zweifel, was sie zu tun hatte. Die Jahre der Unterordnung und des blinden Gehorsams waren vorbei. Die Zeit war gekommen, dass sie ihren eigenen Weg gehen musste. Genau das hatte sie vor. Koste es, was es wolle.

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Cathy Liggett

Der kleine Laden in Sugarcreek

ISBN 978-3-86827-712-8 ca. 352 Seiten, Paperback Format 13,5 x 20,5 cm erscheint im Februar 2018

Nach dem Tod ihrer Tante erbt Jessica Holtz deren kleinen Handarbeitsladen in Sugarcreek. Nur blöd, dass Jessica überhaupt keine Ahnung vom Nähen hat. Trotzdem zieht sie mit ihrem sechsjährigen Sohn Cole in die kleine Wohnung über dem Geschäft – fest entschlossen, das Erbe ihrer Tante fortzuführen. Sie ahnt nicht, dass es noch ein weiteres Erbe fortzuführen gilt. Eines, das nicht nur ihr Leben, sondern auch das der Immobilienmaklerin Liz und das der jungen Amischwitwe Lydia für immer verändern wird … 12


„Der Babysitter ist gleich hier, Cole, und bringt dich zum Training“, sagte Jessica und sah kurz auf. Sie war gerade dabei, blaugrüne Garne in einen Kasten zu sortieren. „Hast du dir auch die Zähne geputzt?“ Cole saß mitten im Laden und war in ein Videospiel vertieft. Zumindest tat er so. Seine schmächtige Gestalt füllte den Sitz kaum aus. Deshalb konnte Jessica die in die Rückenlehne geschnitzten Worte gut erkennen. Aber sie wusste sowieso, was dort stand. Schon als Kind, und auch später noch hatte sie oft genug auf dieser Bank gesessen. Sie kannte den Lieblingsspruch ihrer Tante auswendig. „Freunde sind wie PatchworkDecken. Sie halten immer warm.“ „Cole“, wiederholte sie, als sie keine Antwort bekam. „Deine Zähne. Hast du sie geputzt?“ Ihr Sohn nickte bloß, ohne hochzusehen. Natürlich war ihr klar, warum ihr sonst so gesprächiger Sohn in letzter Zeit so einsilbig war. Er hatte ein Recht darauf, ein bisschen zu schmollen. Ging es ihr nicht oft genauso? In letzter Zeit hatte sich bei ihnen beiden einiges verändert. Seitdem sie den Laden geerbt hatte und er in die erste Klasse gekommen war, saßen sie oft in der Abenddämmerung am Küchentisch, Cole mit Hausaufgaben beschäftigt und Jessica mit liegen gebliebener Arbeit für den Laden. „Weißt du eigentlich, dass du mir schon lange keinen Witz mehr erzählt hast?“, versuchte sie es wieder. Doch Cole reagierte nur mit einem gleichgültigen Achselzucken und starrte weiter auf sein Videospiel. „Nun, dann habe ich einen für dich.“ Endlich konnte er sich von seinem Spiel losreißen. Neugierig sah er zu ihr hoch. „Ähem.“ Sie hüstelte dramatisch, um Zeit zu gewinnen, während sie sich den Witz in Erinnerung rief, den sie am frühen Morgen im Internet gefunden hatte. „Also Cole, äh …: Welcher Vogel hat keine Flügel, keine Federn und keinen Schnabel?“ Sie sah ihm an, dass er eifrig nachdachte und sich mögliche Antworten überlegte. Schließlich gab er auf und schüttelte den Kopf. „Der Spaßvogel!“ Sie grinste ihn an, voller Stolz über die lustige Scherzfrage. 13


„Mama, das ist doch nicht witzig.“ Aber trotzdem verzog sich Coles Mund zu einem Lächeln. Sie musste seufzen. Nun ja, wenigstens war das schon besser als vorher. Es hatte sich gelohnt, im Internet nach Scherzfragen für Erstklässler zu suchen. „Weißt du, manchmal ist ein Witz eben nur so witzig wie die Person, die ihn erzählt.“ Mit einem Achselzucken legte sie den letzten Strang Wolle zurück in den Kasten. „Du bist eben viel besser im Witze erzählen als ich.“ Doch von ihrem aufmunternden Lob ließ er sich nicht beeindrucken. „Wann kommt der Babysitter denn?“, fragte er stattdessen. Der Laden sollte erst in einer halben Stunde öffnen. Aber sie hatte die Ladentür trotzdem schon aufgeschlossen, denn es gab immer etwas zu tun, auch in der Zeit, in der sie beide auf Coles Babysitter und ihren Lebensretter warteten. „Er muss gleich hier sein.“ Kaum hatte sie es ausgesprochen, als sie das helle Klingeln der Ladenglocke hörte. Erwartungsvoll blickten sie beide zur Tür. Jessica reagierte jedes Mal mit einem ängstlichen Reflex, wenn die kleine Ladenglocke bimmelte. Natürlich war sie den Umgang mit Menschen gewohnt, denn sie hatte in einer Zahnarztpraxis am Empfang gearbeitet. Auch die Pressearbeit für die Praxis hatte ihr Spaß gemacht. Sie war für den Auftritt in den Sozialen Medien verantwortlich gewesen und hatte auch ein paar clevere Marketingstrategien eingeführt. Aber hier im Laden war sie nicht bloß für die Begrüßung und das Marketing zuständig. Jetzt war sie voll und ganz auf sich selbst gestellt. (…)

*** Während Cole beim Fußballtraining war, herrschte Hochbetrieb in Jessicas kleinem Handarbeitsladen. Ein ganzer Bus mit Frauen war nach Sugarcreek gekommen und hatte ihren Laden gestürmt, während sie mit einer Stammkundin telefonierte. Sie hatte sich den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt und machte sich Notizen. „Diesmal wird es klappen, das verspreche ich Ihnen, Mrs Grisham.“ Jessica klemmte sich das Telefon zwischen Ohr und Schulter und machte sich Notizen.“ Gleich14


zeitig tippte sie für eine Kundin vier Stränge dickes Strickgarn in die Kasse ein. „Ich sorge dafür, dass das richtige Garn so schnell wie möglich hier ist. Und bitte entschuldigen Sie meinen Fehler.“ Sie legte die Hand über das Telefon, als Mrs Grisham weiterplapperte. Die Tüte mit dem Garn reichte sie der Kundin, die an der Ladentheke lehnte. „Danke für Ihren Einkauf und kommen Sie bald wieder“, verabschiedete sie die ältere weißhaarige Dame. „Das machen wir immer.“ Die Kundin freute sich über die Aufmerksamkeit, die ihr entgegengebracht wurde. „Viele von uns kommen gern in Ihren kleinen Laden, wenn unsere Gruppe Ihr Städtchen besucht. Es ist heute bloß ein bisschen zu hektisch hier drin. Und der Kugelschreiber für das Gästebuch schreibt nicht. Normalerweise läuft hier alles viel reibungsloser.“ Ein wenig verunsichert sah sie sich im Laden um. „Na ja, ich …“ Jessica brachte es nicht fertig, der Frau von Tante Rose zu erzählen und dem wahren Grund für all die kleinen Probleme und Verzögerungen. Einerseits befürchtete sie, sie könnte in Tränen ausbrechen. Andererseits wurde die Schlange an der Kasse immer länger und Mrs Grisham hörte am Telefon einfach nicht auf zu reden. „Wir freuen uns, wenn Sie trotzdem wiederkommen“, sagte sie schließlich zu der Kundin. Wenn sie doch bloß früher von der Busladung Frauen aus einem Seniorenzentrum in Columbus erfahren hätte, dann wäre sie besser vorbereitet gewesen auf das Trommelfeuer von Fragen, das auf sie einprasselte. Zumindest hätte sie den älteren Damen besser helfen können. Aber jetzt stand sie wie festgenagelt an der Kasse, unfähig, etwas mehr Ordnung in das Chaos um sich herum zu bringen. Die Frauen belagerten den ganzen Laden und durchwühlten Schubladen und Kästen auf der Suche nach Wolle, Stricknadeln und Garn. Sie konnte auch nicht zu Marisa durchdringen. Die Schülerin stand am anderen Ende der langen Ladentheke an der Zuschneide-Station. Jessica tat ihr Bestes, um die Kundinnen so rasch wie möglich zu bedienen, aber sie konnte sich auch nicht in Stücke teilen. Sie musste mit einer Hand die Einkäufe der Frauen in die Kasse eintippen und gleichzeitig versuchen, am Telefon in ihrer anderen Hand eine der besten Kundinnen des Ladens zu beruhigen. „Ich habe verstanden, dass Ihre Gruppe das Garn für Ihr Projekt so 15


schnell wie möglich braucht, Mrs Grisham.“ Sie widmete sich wieder der Anruferin. „Deshalb bin ich ja auch bereit, die Kosten für die Expresslieferung zu übernehmen.“ „Ja, wir brauchen die Garne, Jessica – aber schon gestern.“ Die Stimme von Mrs Grisham wurde schriller. „Schließlich haben Sie uns versprochen, dass wir sie zu diesem Termin abholen können.“ „Wenn ich sie per Express liefern lasse, sind sie ganz schnell da“, beteuerte Jessica noch einmal. Wieder fragte sie sich, wie es zu dem Fehler bei der Bestellung hatte kommen können. Hatte sie Cole bei seinen Rechenaufgaben geholfen, während sie das Bestellformular ausgefüllt hatte, und deshalb die Nummern der Farbpartien vertauscht? „Also gut …“ Mrs Grisham schien zu überlegen. „Sie müssen mich aber sofort anrufen, wenn das Garn da ist.“ „Natürlich. Sobald die Ware da ist, melde ich mich bei Ihnen.“ Jessica lächelte ins Telefon. „Vielen Dank, Mrs Grisham. Und … dieser Fehler wird nicht wieder passieren.“ Obwohl es eine volle Viertelstunde gedauert hatte, bis Jessica die Kundin so weit hatte, dass sie auf die Lieferung wartete, fühlte es sich für sie wie ein kleiner Sieg an, als sie das Telefon endlich zur Seite legen konnte. Wie hatte es ihre Tante bloß geschafft, es allen recht zu machen? Sie wollte gerade den nächsten Einkauf in die Kasse eintippen, als Marisa von der Seite an sie herantrat. Mit ihren blaugrünen Augen sah sie Jessica verlegen an. „Du weißt, dass ich heute früher gehen muss? Eigentlich jetzt schon.“ Jessica war froh, dass Marisa heute früher aus der Schule gekommen war und ihr deshalb früher als sonst im Laden hatte helfen können. Aber die Schülerin musste jetzt zurück zu einer Vorbereitungsveranstaltung für das College. Wieder einmal hatte sie ihren Terminplan nicht im Griff. „Hmm … bist du dir sicher, Marisa?“ Sie machte einen Schritt auf die Schülerin zu und flüsterte: „Willst du wirklich aufs College gehen und das alles hier hinter dir lassen?“ Ihre Stimme klang scherzhaft. Marisa antwortete mit einem hellen Lachen: „Du machst Witze, oder?“ Sie warf einen Blick in den Laden und schüttelte den Kopf, als sie die endlos erscheinende Schlange von Kundinnen sah. „Ich lasse dich jetzt nicht gern allein, das kannst du mir glauben.“ 16


„Das wird schon klappen. Du musst ja pünktlich sein.“ Jessica zog an den Bändern der Schürze, die Marisa sich umgebunden hatte. Marisa trug gerne die elfenbeinfarbene Schürze von Tante Rose, weil sie sich damit wie eine Handarbeits-Expertin fühlte, wenn sie Stoff abmaß und zuschnitt. „Jetzt lauf schon los, Mädchen. Mach, dass du wegkommst.“ Es war Marisa sichtlich unangenehm, dass sie heute so früh Feierabend machte. Sie ließ sich Zeit, als sie die Schürze über ihre lockige Mähne zog. Es war wirklich der denkbar ungünstigste Zeitpunkt, Jessica allein zu lassen. Aber Jessica konnte ihr nicht böse sein. Sie wusste, was für ein Glück sie hatte, eine so gewissenhafte und engagierte Aushilfe gefunden zu haben. Marisa wollte aufs College und dafür legte sie sich das hart erarbeitete Geld zurück. Und natürlich auch für ein Kleid für den Abschlussball, obwohl der erst im nächsten Frühjahr war. Ein Hauch von Kirschblütenduft waberte durch die Luft, als Marisa die Schürze ausgezogen hatte und sie Jessica reichte. Dann holte sie ihr Sweatshirt und ihren Rucksack aus dem Schrank am anderen Ende des Ladens. Jessica holte tief Luft. Von ihrem Platz an der Ladentheke aus warf sie einen Blick auf die Schlange an der Kasse und dann auf das Gedränge am Zuschneide-Tisch. Gerade als sie die nächste Kundin abkassieren wollte, klingelte schon wieder das Telefon. „Jessica?“ Die Stimme von Mrs Graham klang jetzt schon vertraut. Diese Kundin hielt sich nur selten mit Formalitäten auf. „Ich habe es mir anders überlegt.“ „Sie meinen, ich soll eine andere Farbe bestellen?“ Jessica griff nach einem Kugelschreiber und einem Notizblock neben der Kasse. „Nein, ich habe es mir anders überlegt. Sie brauchen das Garn nicht noch einmal zu bestellen.“ „Aber das ist doch kein Problem.“ „Ja, schon … Aber der Laden in Coshocton hat genau das, was unsere Gruppe braucht, und deshalb kaufen wir alles dort ein.“ Coshocton? Waren das nicht über 80 Kilometer für die Hin- und Rückfahrt? Wollte die Kundin wirklich die weite Strecke fahren, anstatt die Ware bei Jessica zu kaufen? „Aber Sie brauchen deswegen doch nicht so weit zu fahren. Das Garn, das Sie brauchen, ist ganz schnell hier im Laden“, versprach sie erneut. „Bitte geben Sie mir die Chance, meinen Fehler auszubügeln.“ 17


„Ich kann mich nicht darauf verlassen, dass das auch geschieht. Der Laden in Coshocton ist die bessere Lösung.“ „Na gut … Wenn Sie meinen, Mrs Grisham.“ Ihr wurde es schwer ums Herz, aber sie wusste, dass es keinen Sinn hatte zu versuchen, die Kundin umzustimmen, weil sie sich schon entschieden hatte. „Alles Gute für Sie.“ Wie betäubt von dem Anruf legte sie auf. Gerade hatte sie eine Riesenbestellung verloren, aber sie musste versuchen, sich auf das Naheliegende zu konzentrieren. Sie wollte gerade die vor ihr stehende Kundin abkassieren, als sich eine Frau am Zuschneide-Tisch zu Wort meldete. „Können Sie mir drei Meter davon abschneiden?“, fragte sie und klopfte auf den Stoffballen, den sie auf den Tisch gelegt hatte. „Ich möchte noch zum Käseladen, bevor unser Bus abfährt.“ Jessica sah, dass die Frau einen Gehstock benutzte. Sie würde bestimmt etwas länger brauchen, bis sie den anderen Laden erreichen würde, und so wollte sie gerade zum anderen Ende der Ladentheke gehen. „Und ich, Millie?“ Die Brillenträgerin, die an der Kasse wartete, stemmte eine Hand in die Hüfte. „Du warst wenigstens schon im Geschenkeladen. Ich habe es noch nicht dorthin geschafft – vom Käseladen ganz zu schweigen.“ „Oh, du musst unbedingt zum Geschenkeladen, Lucy“, rief eine andere Frau aus der Schlange. „Sie haben wunderschöne Bilderrahmen dort, und sie sind sogar um vierzig Prozent reduziert.“ Jessicas Blick wanderte von einer Frau zur nächsten, und dann über ihre Köpfe hinweg zur Standuhr neben dem Eingang. Wie viele Stunden musste sie noch durchhalten? Mit einem Mal stand ihr vor Augen, was sie alles noch nach Ladenschluss zu erledigen hatte: Cole vom Hort abholen, das Abendessen zubereiten, mit ihrem Sohn zusammen Hausaufgaben machen und ihn zum Fußballtraining fahren. Im Vergleich zu ihrer Arbeit im Laden klang das alles wie ein Kinderspiel. Während Jessica sich von ihren negativen Gedanken emotional immer weiter hinunterziehen ließ, erblickte sie plötzlich vor dem Schaufenster ein bekanntes Gesicht. „Meine Damen, ich weiß, dass Sie es eilig haben. Aber geben Sie mir eine Sekunde Zeit, bitte. Ich glaube, Ihre Rettung naht“, verkündete sie. Sie eilte zur Ladentür und hoffte inständig, dass sie mit ihrer Ankündigung recht behalten würde. 18


Katie Ganshert

Das Motel der vergessenen Träume

ISBN 978-3-86827-709-8 ca. 352 Seiten, Paperback Format 13,5 x 20,5 cm erscheint im März 2018

Das Leben von Carmen Hart scheint perfekt: Sie ist die beliebteste Wetterfee seit Bestehen ihres Fernsehsenders, verheiratet mit einem Traummann, lebt in einem Traumhaus. Zum vollkommenen Glück fehlt ihr nur noch das Baby, von dem sie schon so lange träumt. Doch ein unbeherrschter Moment droht ihr alles zu nehmen, was sie sich mühevoll aufgebaut hat. Als Carmen sich in das alte Motel flüchtet, das seit Generationen im Besitz ihrer Familie ist, stößt sie dort zu ihrer Überraschung auf ihre Halbschwester. Carmen bleibt keine andere Wahl, als die 17-jährige bei sich aufzunehmen. Gemeinsam renovieren sie das alte Motel. Doch lassen sich zerbrochene Beziehungen genauso leicht reparieren wie zerbrochene Fenster? Und haben lang vergessene Träume tatsächlich die Macht, die Gegenwart zu ändern? 19


Ich stand mit laufendem Motor an der Kreuzung, während meine Gedanken zum Treasure Chest zurückwanderten, dem Motel, das seit Generationen im Besitz unserer Familie war. In den vergangenen Monaten hatte das Leben meine Zuneigung zu diesem Ort in den Winterschlaf gezwungen. Ich hatte das Motel und sein Schicksal in ein mentales Wartezimmer gesteckt – den Ort für all die Dinge, um die ich mich später kümmern würde. Aber dadurch, dass ich mit meiner Tante in Erinnerungen geschwelgt hatte, war diese Zuneigung wieder erwacht und hatte eine ganze Reihe Erinnerungen aufgerüttelt. Eine stach besonders aus den anderen hervor – die an damals, als Tante Ingrid mich gewarnt hatte, ich solle mich vor dem neuen Servicejungen in Acht nehmen. Ich hatte nur schnaubend gelacht. „Was denn für ein Servicejunge?“ Sie wischte mit einem feuchten Lappen die Oberfläche des Empfangstresens ab. Während der letzten drei Jahre hatte ich zwei unterschiedliche Identitäten entwickelt – von September bis Mai war ich Meteorologiestudentin und von Juni bis August war ich Tante Ingrids unkonventionelle rechte Hand, mit Sonnenbrand auf der Nase und Flipflops an den Füßen. In all meinen Jahren im Treasure Chest hatte Ingrid noch nie einen Servicejungen gebraucht. „Ich habe ihn für dich eingestellt.“ Sie zwinkerte mir über die Schulter hinweg zu. Dann verschwand sie im Hinterzimmer. Sie hat ihn für mich eingestellt? Was sollte das denn heißen? Die Frage ging mir nicht aus dem Kopf, während ich Anrufe entgegennahm, Zimmer buchte und Fragen von Gästen beantwortete, die wissen wollten, wo man am besten Meeresfrüchte essen oder am besten Golf spielen konnte. Erst gegen Ende meiner Schicht ergaben Tante Ingrids Worte einen Sinn. Ich war gerade hinten und räumte einen Haufen Laken von der Waschmaschine in den Trockner, als die Tür aufging. Hastig warf ich ein paar Trocknertücher ein, eilte ins Büro und blieb wie angewurzelt stehen. Vor dem Tresen stand ein Mann – groß und breitschultrig, mit der Sonnenbräune eines Surfers und der Frisur eines Elitestudenten, wobei die Haare teils braun, teils blond wirkten, je nachdem, wie die Sonne darauf fiel. „Willkommen im Treasure Chest“, sagte ich mit der besonders freundlichen Stimme, die ich für die Motelgäste reserviert hatte. Meine Worte klangen so unnatürlich hoch, dass ich mich räuspern musste. „Wollen Sie … äh … einchecken?“ 20


Einer seiner Mundwinkel zuckte. „Ingrid hat mich geschickt. Ich soll den Trockner reparieren.“ „Den Trockner? Aber der Trockner ist nicht …“ In diesem Moment hatte ich einen Geistesblitz. „Du bist der Servicejunge.“ „Servicejunge?“ Er grinste und zog zugleich die Stirn kraus. Beides stand ihm ausgesprochen gut. „Meine Tante hat mir gesagt, dass wir einen Servicejungen eingestellt haben. Ich vermute, das bist du?“ Er stützte einen Ellbogen auf den Tresen. „Ich bin kein Servicejunge.“ Ich zwang meine Füße, sich in Bewegung zu setzen, vorübergehend abgelenkt von dem intensiven Blau seiner Augen – leuchtend wie Saphire ohne einen Hauch von irgendetwas anderem, kein bisschen Grün oder Grau oder auch nur Hellblau. Nicht einmal die Carmen, deren Nase immer in Büchern steckte, hätte ihnen widerstehen können. „Also gut, und wer bist du dann?“ „Ben“, sagte er und streckte die Hand aus, „Sommerhausmeister.“ Ich ergriff seine Hand – seine Handfläche war die perfekte Mischung aus rau und warm. „Carmen, Sommergästebetreuerin.“ „Und berühmte Nichte.“ „Berühmt?“ „Ingrid redet viel von dir. Ich bin erst seit einer Woche hier und ich glaube, ich könnte allmählich deine Biografie schreiben.“ Ich schnitt eine Grimasse. „Tut mir leid.“ „Nicht nötig.“ „Ich glaube, sie versucht Amor zu spielen.“ „Wollen wir es ihr leicht machen?“ In meinem Bauch hoben ein paar Schmetterlinge ab. Der Servicejunge flirtete mit mir. Er zwinkerte. „Und was ist jetzt mit dem Trockner?“ „Der ist nicht kaputt.“ „Ich hatte schon so einen Verdacht.“ „Wirklich?“ „Deine Tante hatte ganz leuchtende Augen, als sie mich hergeschickt hat, um nach dem Gerät zu sehen. Ich merke ganz gut, wenn sie etwas ausheckt.“ Er trommelte ein paarmal mit den Zeigefingern auf den Tresen und beugte sich dann vor. „Carmen, Sommergästebetreuerin, es war mir ein Vergnügen.“ 21


Ein Auto hupte und riss mich aus meiner neun Jahre alten Erinnerung. Wie damals lächelte ich. Der Wagen hupte erneut. Ich traf rasch eine Entscheidung und bog in die Ninth Street ab. Zwanzig Minuten später fuhr ich auf den Parkplatz der Bay Breeze Highschool, nicht ganz sicher, warum ich eigentlich hier war. Nachdem ich mich am Empfang angemeldet hatte, ging ich zu Bens Klassenzimmer im Keller. Die meisten Menschen dachten, er wäre Sportlehrer, da er der Trainer der Footballmannschaft war. Aber Ben unterrichtete Töpfern und Bildhauerei, zwei der beliebtesten Wahlfächer der Schule. In unserem Keller zu Hause hatten wir sogar eine Töpferscheibe. Früher hatte Ben mir Privatstunden gegeben und dabei gewitzelt, wir würden unseren inneren Ghost heraufbeschwören. Dann lachte ich und nannte ihn gefühlsduselig. Aber in Wirklichkeit fand ich meinen Mann tausend Mal aufregender als Patrick Swayze, vor allem, wenn er ganz zart meinen Nacken küsste, sodass mir ein Schauer über den Rücken lief. Sobald ich die zweiflügelige Tür am Fuß der Treppe aufgestoßen hatte, stand ich vor Bens Klassenzimmer. Die Schüler arbeiteten fleißig an ihren Projekten, die aussahen wie Kaffeebecher. Ben stand mit dem Rücken zu mir an einem der Tische, noch immer mit breiten Schultern und schmaler Taille. Eine der Schülerinnen bemerkte mich und sagte etwas zu ihm. Er drehte sich um, legte den Kopf leicht schief und kam dann zu mir. Normalerweise tauchte ich nicht mitten am Tag in seiner Klasse auf. „Hi.“ Die Begrüßung wurde von einem Stirnrunzeln und einem fragenden Blick begleitet. Oft vergaß ich, wie beeindruckend das Blau seiner Augen war. Aber heute nicht. Nicht, nachdem ich mich an den Servicejungen erinnert hatte. „Was machst du denn hier?“ „Hast du kurz Zeit zu reden?“ „Ist alles in Ordnung?“ Er legte eine Hand in meinen Rücken und führte mich auf den Flur hinaus. „Hat die Sozialarbeiterin angerufen?“ Oh, Ben glaubt … Mein Herz zog sich zusammen. Er dachte, ich wäre mit guten Neuigkeiten gekommen. Er dachte, unser Warten wäre vorüber und wir hätten den Adoptionsprozess in Rekordzeit hinter uns gebracht. Als ich den hoffnungsvollen Blick in seinen Augen sah, bereute ich es, hergekommen zu sein. „Nein, sie hat nicht angerufen.“ 22


„Oh.“ Er rieb sich den Nacken. „Warum bist du dann hier?“ Weil ich ihn vermisste? Weil ich uns vermisste? Wegen einer Erinnerung, die Gefühle wiederbelebt hatte, die ich lange, zu lange nicht mehr gespürt hatte? Ben zog die Augenbrauen hoch und wartete. „Ich habe ein Schild umgefahren.“ „Ein Schild.“ „Heute Morgen. Auf dem Parkplatz von Toys-R-Us.“ „Wie bist du denn in ein Schild reingefahren?“ Die Herablassung in seiner Stimme war hörbar genug, um mich zu ärgern, aber gleichzeitig zu schwach, um eine ungehaltene Erwiderung meinerseits zu rechtfertigen. Ben hatte diese frustrierende Gratwanderung zu einer regelrechten Kunstform entwickelt, und ich war mir ziemlich sicher, dass es ihm nicht einmal bewusst war. „Es war für werdende Mütter.“ Er kratzte sich die Bartstoppeln am Kinn. „Also … soll ich irgendetwas machen?“ „Nein.“ „Warum bist du dann hergekommen, um es mir zu erzählen?“ „Ich weiß nicht, Ben.“ Vielleicht wollte ich diese Unterhaltung nicht später führen. Vielleicht hatte das Schwelgen in Erinnerungen mit Tante Ingrid mich nostalgisch gemacht. Oder vielleicht wollte ich in meinem tiefsten Innern ja doch, dass er irgendetwas tat, auch wenn ich mich mit Händen und Füßen dagegen wehrte. „Ist der Wagen beschädigt?“ „Die vordere Stoßstange hat eine Beule.“ „Wie schlimm?“ „Wahrscheinlich brauchen wir eine neue.“ Er presste die Lippen aufeinander. Ich tat es ihm gleich, um nicht laut zu schreien. So standen wir im Gang, mit aller Spannung der Welt zwischen uns, und unwillkürlich fragte ich mich, wie wir hierhergekommen waren. An diesen Ort ständiger Fehlschläge. Plötzlich klingelte mein Handy. Ich fischte es heraus und sagte Hallo, froh über die Ablenkung. „Carmen, Dad hier.“ 23


„Dad?“ Normalerweise rief er nicht mitten an einem Arbeitstag an. „Ist alles in Ordnung?“ „Nicht ganz. Das Sheriffbüro in Escambia County hat mich angerufen. Offenbar hat jemand einen Einbrecher beim Treasure Chest gesehen.“ „Einen Einbrecher?“ Ben beugte sich vor und versuchte das Gespräch mitzuverfolgen. „Sie haben einen Deputy hingeschickt, damit er nachsieht. Anscheinend gibt es tatsächlich Hinweise auf einen Einbruch. Könntest du hinfahren und dich darum kümmern?“ „Natürlich. Das mache ich.“ Nach der Unterhaltung mit Ben klang ein Ausflug in mein altes Revier perfekt. Außerdem war der letzte Besuch dort viel zu lange her. „Danke, Liebling.“ Dad zögerte und seufzte dann. „Weißt du, wir müssen bald entscheiden, was wir mit dem Gelände machen wollen.“ Obwohl sie sanft geklungen hatten, zerrten seine Worte an einer Naht der Sehnsucht in meinem Herzen.

*** Als ich auf der County Road 399 in Richtung Osten fuhr, konnte ich die Naht beinahe reißen hören. Die Urlaubshotels und Wohnanlagen wurden immer kleiner und seltener, je weiter ich mich vom Touristenzentrum Pensacola Beach entfernte, und gaben irgendwann den atemberaubenden Blick frei auf smaragdgrünes Wasser und weißen Sand, sich im Wind wiegende Gräser und Yuccapalmen und struppige kleine Büsche. Das Treasure Chest war 1939 von meinem Urgroßvater Frank Sideris eröffnet worden, damals unter dem Namen La Tresor Motel. Das Motel war das erste seiner Art auf Santa Rosa Island gewesen. Als Frank starb, hinterließ er das Motel seiner jüngsten Tochter, meiner Tante Ingrid. Sie liebte den Ort genauso wie ihr Vater und machte es zu ihrer Lebensaufgabe, ihn gedeihen zu lassen. Aber inzwischen gehörte das Treasure Chest einer aussterbenden Gattung an und war nicht nur das erste, sondern auch das letzte Motel seiner Art auf Santa Rosa Island. Zehn Minuten von Navarre Beach und den dortigen, in der Ferne bereits sichtbaren Hochhäusern entfernt, erblickte ich am Straßenrand das Schild des Motels, dessen Neonschriftzug jetzt schon seit Monaten nicht 24


mehr leuchtete. Selbst in der Haupttouristensaison war es dunkel geblieben. Als ich auf den Parkplatz einbog, der abgesehen von einem Streifenwagen verlassen dalag, zerbarst die Naht der Sehnsucht endgültig. Tante Ingrids ganzer Stolz ähnelte eher einem heruntergekommenen Stundenhotel als der familienfreundlichen Unterkunft, die es einmal gewesen war. Das ehemals charmante Art-Deco-trifft-auf-1960er-Jahre-Vintage-Motel mit seinen dreizehn Einheiten, komplett mit Neon- und Chromelementen, stand verlassen und baufällig auf einem Grundstück, das unglaublich teuer gewesen sein musste. Wie war es nur so weit gekommen? Ich dachte an die vergangenen vier Jahre – Onkel Geralds unerwarteten Tod, den Versuch, Tante Ingrid in ihrer Trauer beizustehen, die Zuversicht, dass ihre Vergesslichkeit sich mit der Zeit wieder legen würde, und die Erkenntnis, dass sie stattdessen immer schlimmer wurde. Die Diagnose des Arztes, Tante Ingrids Umzug ins Pine Ridge-Seniorenheim, meine Bemühungen, ihr bei der Eingewöhnung dort zu helfen, und das alles, während ich mit meinen eigenen geheimen Verlusten fertigwerden musste. Ich hatte Tante Ingrid versprochen, dass ich mich um ihr Baby kümmern würde, aber in den letzten zweieinhalb Jahren war ich so gut wie nie hier gewesen. Ich stieg aus, atmete die milde Luft ein und grüßte die Frau, die neben ihrem Streifenwagen stand. „Deputy Ernst“, sagte sie und streckte die Hand aus. „Sie sind die Tochter des Eigentümers?“ „Ich bin die Großnichte. Mein Vater, ihr Bevollmächtigter, lebt in Gainsville, deshalb hat er mich gebeten herzukommen. Er hat etwas von einem Einbruch gesagt?“ Deputy Ernst nickte. „Ein Tourist hat jemanden auf dem Gelände herumlungern sehen und fand das merkwürdig. Also hat er uns angerufen. Wer auch immer der Eindringling war, ist jetzt nicht mehr da, aber ich glaube, er hat einige Dinge zurückgelassen.“ „Einige Dinge?“ Sie bedeutete mir, ihr zu folgen. Als wir uns dem Eingang zur Rezeption näherten, verdorrte etwas in mir. Jemand hatte die Bretter losgerissen. Fenster waren eingeschlagen. Irgendwelche Vandalen hatten unflätige Worte über die Stuckfassade gesprüht. 25


Deputy Ernst stieß mit dem Fuß die Tür zur Rezeption auf. Als wir eintraten, knirschten Trümmer und Glasscherben unter unseren Füßen und ich schnappte hörbar nach Luft. „Hat der Einbrecher das gemacht?“ „Ich bin mir da nicht sicher. Das Graffiti ist nicht frisch. Ich wette, das waren irgendwelche gelangweilten Teenager im Sommer. Was den Rest betrifft, habe ich keine Ahnung.“ Wer auch immer die Täter gewesen waren, sie hatten sich große Mühe gegeben, das Wenige, das noch hier war, zu zerstören. Ein Band der Verzweiflung zog sich um meine gemischten Gefühle und schnürte sie zu einem Bündel zusammen, das erbärmlicher war als das Motel. Es war nicht so sehr der Vandalismus, der mich erschütterte, sondern vielmehr das, was hinter dem Vandalismus zu erkennen war – die Zeichen der Vernachlässigung, der Erosion, des langsamen Zerfalls. Dicke Staubschichten auf allen Oberflächen, schmutzige Scheiben in den unbeschädigten Fenstern, der zerschlissene Teppich, die Spinnweben und die abblätternde Farbe. All das traf mich ganz persönlich. „Ich glaube, der Einbrecher muss hier eine Zeitlang gehaust haben.“ Deputy Ernst ging zum Gemeinschaftsraum, der leer war, abgesehen von einer Decke und einem Kissen in der hinteren Ecke. „Wir haben viele Landstreicher hier in der Gegend, die sich niederlassen, wo immer sie ein Dach überm Kopf finden. Aber ich bin mir nicht sicher, dass das hier so ein Fall ist.“ „Warum nicht?“ Die Polizistin blieb vor einem Seesack stehen und hockte sich daneben. „Es ist überwiegend Kleidung drin. Nichts Außergewöhnliches. Aber ich habe das hier gefunden.“ Sie reichte mir eine Postkarte. Ich erkannte sie sofort. Während meiner Zeit als „Sommergästebetreuerin“ hatte ein ganzer Stapel davon hier am Empfang gelegen. Ich drehte die Postkarte um. Auf der Rückseite stand eine Nachricht von Tante Ingrid. Ihre runde Handschrift war mir nur zu vertraut. Bis zum nächsten Sommer, Gracie. Du bringst deine Frechheit mit, ich die Kekse. „Sie kennen diese Gracie nicht zufällig, oder?“ „Doch, das tue ich.“ Ich blickte von der Handschrift auf. „Sie ist meine Schwester.“

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Ruth Axtell

Maskerade im Mondlicht

ISBN 978-3-86827-713-5 368 Seiten, Paperback Format 13,5 x 20,5 cm erscheint im Februar 2018

London, 1813 Die Wirren der Französischen Revolution haben die junge Céline nach England ins Exil getrieben. Nach einer kurzen, unglücklichen Ehe bleiben ihr eine Menge Geld – und äußerst wertvolle Kontakte zur High Society. Doch wem gilt ihre wahre Loyalität? Den Franzosen oder den Briten? Das herauszufinden, ist die Aufgabe von Rees Phillips. Als Butler wird er in den Haushalt der jungen Witwe eingeschleust. Doch bald schon stellt er fest, dass die Dinge wesentlich komplizierter liegen als erwartet. Und das liegt nicht zuletzt an den Gefühlen, die Céline in ihm wachruft … 27


Noch nie hatte Rees so viele Kostbarkeiten auf einmal gesehen. Perlenschnüre, goldene Ketten, mit Edelsteinen besetzte Tiaras und Armreifen jeglicher Art lagen auf ihren Satinstoffen. Die Schmuckschatulle der Countess of Wexham enthielt genügend Juwelen, um halb London ernähren zu können. Aber ihn interessierte nicht, welche Preise der Schmuck auf dem Markt erzielen würde. Er suchte etwas anderes. Etwas viel Wertvolleres – und Belastenderes –, wenn es überhaupt zu finden war. Informationen. Rees warf einen schnellen Blick über die Schulter – schon den ganzen Abend lang bildete er sich ein, Schritte hinter sich zu hören –, bevor er jedes Schmuckstück hochhob, um sich zu vergewissern, dass darunter nichts verborgen war. Dann legte er die Stücke sorgfältig wieder in die Schatulle und bemühte sich dabei, alles so zurückzulassen, wie er es vorgefunden hatte. Ihm war bewusst, wie die Sekunden verstrichen, aber noch immer war er sich nicht sicher, wonach er suchte. Er wusste nur, dass er es erkennen würde, wenn er es sah. (…) Rees zwang sich, mit der unangenehmen Aufgabe weiterzumachen, in anderer Leute Privatangelegenheiten zu schnüffeln. Wo würde er etwas verstecken, wenn er eine Dame wäre? Mit leicht zusammengekniffenen Augen sah er sich in dem vornehmen Ankleidezimmer um und betrachtete die Einrichtung – zwei große Kleiderschränke an einer Wand, die Schubladenkommode, vor der er stand, ein Frisiertisch mit Spiegel und zwei bequeme Sessel rechts und links davon, ein weicher Teppich in Rosaund Grüntönen, der einen Großteil des Bodens bedeckte. Ein schwacher Parfümduft hing in der Luft, nichts Schweres, sondern ein ganz leichter Hauch, der ihn an ein Dorf in Sussex im Hochsommer erinnerte, wenn die Hecken von Rosenblüten übersät waren, die ihren Duft entfalteten, wenn man sie berührte. Er wandte sich wieder der Kommode zu. Ihm blieb nichts anderes übrig, als systematisch alle Schubladen und jeden Gegenstand darin durchzusehen, so wie er es im Schlafzimmer gemacht hatte. Diesen Aspekt seiner Arbeit hasste er – in den privaten Dingen einer Dame herumzuspionieren. Da zog er eine blutige Schlacht auf hoher See mit gekreuzten Schwertern an Deck einer Fregatte vor. Die tickende Uhr erinnerte Rees wieder daran, dass er sich besser an die 28


Arbeit machen sollte, damit er nicht entlarvt wurde, bevor seine erste Arbeitswoche vorüber war. Also stählte er sich für die Aufgabe und zog die nächste Lade heraus. Zum Glück war alles in dem eleganten Stadthaus der Lady Wexham neu und gut gepflegt. Er brauchte keine klebrigen Schubkästen oder knarrenden Scharniere zu fürchten. Aus ihrem Dossier wusste er, dass die Countess erst vor drei Jahren hierhergezogen war, nachdem ihr Mann gestorben war. Verwirrt und etwas verlegen betrachtete er den Inhalt der Schublade. Seidene und leinene Unterbekleidung. Gegen seinen Willen tauchte die Dame, der diese Dinge gehörten, vor seinem geistigen Auge auf. Eine schöne Frau mit dunklen Haaren und strahlenden Augen, eleganter und vornehmer als jede andere Frau, die Rees kannte. Und, bis auf Weiteres, seine Arbeitgeberin. Und höchstwahrscheinlich eine Spionin gegen Großbritannien. Seine Aufgabe war es, das herauszufinden. Rees starrte auf die spitzenbesetzten Hemdchen und Seidenstrümpfe, während er die Hände zu Fäusten ballte. Doch dann zwang er sich, weiterzumachen. Er wusste, dass jede Minute kostbar war. Er musste seine Suche beenden, so zuwider sie ihm auch war, und das Zimmer verlassen, bevor jemand ihn zufällig sah. Rees konzentrierte sich auf seine Aufgabe und tauchte die Hände in die Schublade, um jeden Gegenstand zu untersuchen, so wie er es bei der vorigen Lade getan hatte. Wieder tastete er den Boden nach etwas ab, das unter dem Papier versteckt sein könnte. Als er die Schublade zur Hälfte durchsucht hatte und bei einem Stapel Korsettstangen und Schnürmieder angekommen war, hörte er, wie die Tür im Nebenzimmer sich mit einem Klicken öffnete. Er erstarrte. Rees löschte seine Kerze, während sein Blick durch das Ankleidezimmer huschte und er sich einprägte, wo die Möbel standen, bevor der Raum ins Dunkel getaucht wurde. Seine einzige Hoffnung war einer der Kleiderschränke. Mit wenigen langen Schritten durchquerte er das Zimmer bis zu dem zweiten Schrank, der von der Tür zum Schlafzimmer am weitesten entfernt war. Es schien ihm am wenigsten wahrscheinlich, dass jemand die Tür zu diesem Schrank öffnen würde, wenn er das Ankleidezimmer betrat. Er öffnete eine der Türen und war erneut dankbar für die gut geölten 29


Scharniere. Eine Sekunde später war auch die zweite Schranktür auf. Ress tastete nach dem unteren Fach. Es war breit und tief und mindestens sechzig Zentimeter hoch. Er schob die Kleidung darin zur Seite und kroch hinein, auch wenn er mit seiner Körperlänge von einem Meter achtzig Mühe hatte, sich in das Fach zu zwängen. Er hörte weitere Bewegungen im Nebenzimmer, zog die Kerze näher zu sich und unterdrückte einen Schmerzensschrei, als heißes Wachs sich über seine Hand ergoss. Schnell legte er einige der Kleidungsstücke über sich und zog die beiden Türflügel von innen zu. Würde die Person nebenan den Geruch von heißem Wachs bemerken, den die gerade erst gelöschte Kerze ausströmte? Von seiner Position aus schaffte es Rees nicht, die Türen ganz zu schließen. Er konnte die zweite Tür nur mit den Fingerspitzen erreichen und betete inständig, dass niemand hereinkam und bemerkte, dass eine Schranktür ein wenig offen stand. (...) Lange hörte Rees in seinem engen Versteck nichts. Der Schweiß stand ihm inzwischen auf der Stirn und im Nacken. Der Duft von Walnüssen mischte sich mit dem Geruch von Rosen und Stärke, der von dem Kleidungsstück ausging, mit dem er sich bedeckt hatte. Er lockerte seine Finger ein wenig, die die Kerze fest umklammert hielten, und rieb den Saum des Gewandes zwischen Daumen und Zeigefinger, um sich von seiner unbequemen Haltung abzulenken. Seide. In der knappen Woche, die er jetzt im Haushalt der Lady Wexham angestellt war, hatte er sie in einem Dutzend verschiedener Garderoben gesehen, da sie sich mindestens drei Mal am Tag umzog. Morgenkleider, Reitkleidung, Besuchskleider, Ballroben. Schweißtropfen begannen Rees über die Schläfe und ins Auge zu rinnen. Er wagte nicht, sie fortzuwischen. Die Luft wurde stickig und er fragte sich unwillkürlich, ob ein Mensch in einem Kleiderschrank ersticken konnte. Er stellte sich die Schlagzeile vor: „Butler im Kleiderschrank zwischen den Unterröcken seiner Herrin tot aufgefunden.“ Sei nicht so ein Angsthase. Es ist auch nicht schlimmer, als im Bauch eines Schiffes zu schlafen. Das hast du jahrelang überlebt. Natürlich war er mehr als zehn Jahre jünger gewesen und ein paar Pfund leichter, als er in der Marine seiner Majestät gedient hatte. 30


Vielleicht war eines der Dienstmädchen hereingekommen, um das Bett aufzuschlagen, und es ging in wenigen Minuten wieder. Doch als Rees hörte, wie sich die Tür zum Ankleidezimmer öffnete, erstarrte sein Körper erneut, jeder Nerv alarmiert. Einigen Schritten folgte Stille. Der Eindringling musste den Teppich betreten haben. Eindringling?, sagte Rees sich. Er war der Eindringling. Ein leises Summen drang durch den Türspalt herein. Dieses Summen kannte er. Er hatte es schon gehört. Auf der anderen Seite der Kleiderschranktür stand Lady Wexham, nur wenige Zentimeter von der Stelle entfernt, an der er wie ein Würstchen im Schlafrock eingerollt lag. Was machte sie nur um diese Zeit zu Hause? Vielleicht hatte sie etwas vergessen und war zurückgekommen, um es zu holen? Oder konnte es sein, dass sie aus einem Grund zurückgekehrt war, der nichts mit ihrem offiziellen Leben zu tun hatte …, sondern mit etwas, das sie heimlich tun musste? Sein Herz begann zu hämmern, während seine Nervosität bei dem Gedanken stieg, dass er an diesem Abend vielleicht etwas Greifbares über Lady Wexhams Loyalität herausfinden würde. Wenn er beweisen könnte, dass sie eine französische Spionin war, hätte er diesen Auftrag hinter sich. Nach einer Ewigkeit, wie es ihm schien, die aber wahrscheinlich nur einige Minuten gedauert hatte, näherten sich zwei weibliche Stimmen dem Kleiderschrank. „Es tut mir leid, dass ich dich aus dem Bett holen musste, aber ich komme allein mit dem Korsett einfach nicht zurecht.“ „Natürlich nicht, Mylady, bei all der Spitze auf dem Rücken.“ Es war Virginia, eins der jungen Dienstmädchen, in Begleitung der Countess. Plötzlich hörte Rees Virginias Stimme genau vor der Schranktür. „Sagen Sie Bescheid, wenn Sie noch irgendetwas brauchen.“ „Ach, lass nur. Valentine kann die Sachen morgen früh forträumen.“ „Ich hänge nur das Kleid auf, Mylady.“ Rees’ Herz hämmerte so laut in seiner Brust, dass die Schranktüren vibrieren mussten. Würde sie bemerken, dass das Türschloss nicht eingeschnappt war? „Leg es einfach über den Stuhl. Valentine bekommt einen Anfall, wenn meine Kleider nicht genau nach ihrer Vorstellung aufgehängt werden. Und 31


jetzt geh schlafen. Die Nacht ist kurz genug.“ „Gut, Mylady. Dann gute Nacht, wenn Sie sicher sind, dass Sie sonst nichts brauchen.“ „Heute Abend nicht mehr. Danke.“ Die Stimmen verklangen, als Lady Wexham und Virginia sich aus dem Raum entfernten. Rees zählte in Gedanken eine ganze Minute, bevor er seinem Körper gestattete, sich ein wenig zu entspannen. Nun musste er nur noch einen Weg hinaus finden. Die einzige Tür, durch die er entkommen konnte, war die zu Lady Wexhams Schlafzimmer. Er musste sich also auf eine lange Wartezeit einstellen, denn er konnte nicht wagen, sich durch ihr Zimmer zu schleichen, bevor sie tief und fest schlief. (…) Rees lauschte angestrengt. Als er nichts hörte, stieß er eine der beiden Schranktüren ein wenig auf. Dunkelheit und Stille herrschten auch jenseits der Tür, also riskierte er, sie weiter zu öffnen. Als er kein Licht aus dem Nebenzimmer dringen sah, wagte er, die andere Tür ebenfalls aufzuschieben und die Beine aus dem Kleiderschrank zu strecken. Sofort fingen seine Füße an zu kribbeln. Er musste einen Moment warten, bis dieses Gefühl nachließ. Dann stellte er die Kerze auf den Boden und schälte auch den Rest seines Körpers aus dem engen Schrankfach. Mit gespitzten Ohren hielt er inne. Noch immer nichts. Lady Wexham musste eingeschlafen sein. Eine Weile blieb er auf allen Vieren am Boden kauern und drehte den Kopf hin und her, um den steifen Hals und die verspannten Schultern ein wenig zu lockern. Dann versuchte er, den Inhalt des Schrankfachs wieder halbwegs in Ordnung zu bringen, in dem er mehrere Stunden gelegen hatte. Da sich seine Augen inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er die Umrisse der geöffneten Tür zum Schlafzimmer erkennen. Er streckte die Hände aus und tastete sich mit zögernden Schritten vorwärts. Auf dem Teppich machten seine Füße kein Geräusch. Als er den Dielenboden erreichte, ging er noch langsamer und vorsichtiger. Schließlich war er im Nebenzimmer. Jetzt hörte er das gleichmäßige Geräusch von Atemzügen. Die Vorhänge um das breite Himmelbett waren zugezogen, sodass die Schlafende nicht zu sehen war. 32


Rees spürte wieder einen Teppich unter seinen Füßen und ging schneller, bis er wieder auf Holz trat, kurz vor der Tür zum Flur. Zwei Schritte später knarrte es laut unter seiner Schuhsohle. Das Geräusch hallte in der stillen Nacht wider. Er hielt den Atem an und bewegte nicht einen Muskel. Lady Wexham rührte sich nicht. Rees verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein und hob den Fuß – Ferse, Fußballen, Zehen – langsam von dem knarrenden Boden, während er mit einem erneuten Geräusch rechnete. „Sie verwechseln mich, Sir.“ Rees erstarrte. Schließlich wagte er es, sich ein wenig zur Seite zu drehen, um zu dem dunklen Bett hinüberzusehen. Lady Wexham murmelte etwas auf Französisch. Erleichtert erkannte er, dass sie im Schlaf redete. Ihre Bettlaken raschelten, als sie sich umdrehte und leise seufzte. Rees wartete und zählte die Sekunden, bis er sie wieder ganz im Tiefschlaf wähnte. Ohne weiteres Knarren erreichte er die Tür, wo er vorsichtig die Hand um den Messingknauf legte. Er drehte den Knauf ein wenig und stellte fest, dass er sich leicht bewegen ließ. Daraufhin drehte er weiter und stieß die Tür einen Spaltbreit auf. Eine Sekunde später war sie so weit geöffnet, dass er sich hindurchzwängen konnte. Erleichtert lehnte er sich einen Moment lang an die Wand im Flur und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, aber noch wagte er nicht, ein Taschentuch herauszuziehen. Das konnte warten, bis er wieder in seinem Zimmer im Untergeschoss war. Die Nacht hatte sich als ergebnislos erwiesen. Er hatte die Räume von Lady Wexham nicht zu Ende durchsuchen können – und wer wusste, wann er wieder die Gelegenheit dazu bekam? Nächstens musste er vorsichtiger sein. Schließlich konnte er es nicht riskieren, dass jemand aus dem Haushalt ihn verdächtigte, schon gar nicht seine Herrin selbst. Alles hing davon ab, dass sie in ihm nichts als einen Butler sah.

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Elizabeth Musser

Näher als du denkst

ISBN 978-3-86827-708-1 396 Seiten, Paperback Format 13,5 x 20,5 cm erscheint im Februar 2018

Nachdem ihr Mann Stockton bei einem Autounfall ums Leben kam, versucht Nan sich und ihren drei Mädchen ein neues Leben aufzubauen. Dabei erhält sie ungefragt Unterstützung von Stocktons Kollege Travis. Eines Tages stößt Nan auf mysteriöse Notizen ihres Mannes, der sich als erfolgreicher Anwalt gegen Menschenhandel einsetzte. Zudem macht sie die Bekanntschaft der jungen CeeCee, die ihren Mann kurz vor seinem Tod um Hilfe gebeten hatte. CeeCees Leben und das Schicksal ihrer Vorfahrin Clara scheint auf geheimnisvolle Weise mit Stocktons Familiengeschichte verbunden zu sein. In Nan wächst nach und nach der Verdacht, dass der Tod ihres Mannes kein bloßes Unglück war. Doch auf welche Weise sind Vergangenheit und Gegenwart miteinander verknüpft? Je mehr Nan versucht, das Rätsel zu entwirren, desto mehr geraten sie und ihre Kinder in Gefahr. 34


Es war spät an diesem Sonntagabend und die Mädchen lagen schon eine Weile im Bett, als ich Stocktons Laptop herausholte. Fünf Monate, zwei Wochen, sechs Tage und zwölf Stunden waren vergangen, seit Stocktons Auto an jenem verregneten Novemberabend von der Straße abgekommen war. In den ersten Monaten nach seinem Tod war ich wie benommen und betäubt gewesen, mit einem Schleier vor den Augen und einer Lethargie, die sich so schwer auf mich gelegt hatte, dass ich mir mehr wie eine alte Frau als wie eine junge Mutter vorgekommen war. Aber als die Monate vergingen, hatte ich mich allmählich auf die „Wiederaufbauphase“ zubewegt, wie es meine kleine Schwester, Ellie, bezeichnete. Ich begriff, dass ich Stocktons Sachen durchsehen musste, und fing Schritt für Schritt damit an. Ich blinzelte meine Tränen zurück, als ich mich auf Stocktons Facebook-Account anmeldete. Ich hätte alles gegeben, wenn ich hier neben ihm sitzen könnte, während er in die Welt seiner Vorfahren, der Fittens, eintauchte und ich Fotos sortierte und ein Scrapbook gestaltete. Damit hatten wir viele Abende verbracht, wenn unsere Mädchen tatsächlich einmal alle schliefen, mit Ahnenforschung und Scrapbooking. Ich klickte eine Facebook-Seite mit dem Titel „Ahnenforschung in den Südstaaten“ an. Der Slogan in der Überschrift entlockte mir ein kurzes Lächeln. „Ich suche meine Vorfahren, damit ich weiß, wem ich die Schuld geben kann.“ Stockton war eines von über 10.000 Mitgliedern dieser Gruppe. Jetzt tippte ich „Fitten“ in die Suchzeile. Im nächsten Moment hatte ich mehrere Seiten mit Posts und Kommentaren von Leuten, die irgendwelche Vorfahren namens Fitten suchten. Einige dieser Nachrichten waren mehrere Jahre alt, aber als ich die Seite nach unten scrollte, tauchte ein neuerer Eintrag auf dem Bildschirm auf, der mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Ich suche Informationen über die Towner-Fitten-Carnes-Plantage in Wilkes County, Georgia. Das war alles. Sonst nichts. Ich las die Antworten auf diesen Post und sah Stocktons Namen in einer Antwort weiter unten auf der Seite. Ich wollte sie gerade lesen, als sich ein Chatfenster auf dem Bildschirm öffnete und plötzlich jemand etwas in Echtzeit tippte: Hallo, Stockton! Wo warst du in den vergangenen Monaten? Warum antwortest du mir nicht? Ich dachte, wir wollten uns treffen. 35


Der Username war CeeCee_so_süß. Sie schrieb Stockton auf seinem persönlichen Facebook-Account. CeeCee_so_süß? Wer war diese Frau? Tausend Szenarien schossen mir durch den Kopf, die alle unmöglich waren. Ich versank in dieser unsicheren Welt mit schmerzhaften Fragen, als ein lächerlicher gelber Smiley mit zwinkerndem Auge nach dem letzten Satz erschien. Ich wartete mehrere Minuten, bevor ich antwortete. Eine Minute verging, dann zwei, dann saß ich gefühlte Stunden, Tage und Monate ohne neue Nachricht da, starrte den Bildschirm an und meine Fantasie ging mit mir durch. Nichts. Nur meine Worte: Hier ist Stocktons Frau.

*** Ich wusste, dass ich keine Ruhe fände, solange ich keine Antwort von „dieser Frau“ hätte, wie ich sie in Gedanken nannte. Also setzte ich mich einige Abende später wieder an Stocktons Computer, loggte mich auf seinem Facebook-Account ein und schrieb erneut eine Nachricht an CeeCee_so_süß. Sie lautete kurz und knapp: Hier ist wieder Stocktons Frau. Sind Sie da? Um mich abzulenken, korrigierte ich Aufsätze und holte die Wäsche aus dem Trockner. Als ich zehn Minuten später Kenzies rosa Hemd und Hose zusammenlegte, hörte ich das typische Ping, das verriet, dass eine Nachricht gekommen war. Ich eilte zu Stocktons Computer, der völlig unschuldig neben mir auf dem Tisch stand. Ich atmete tief ein und richtete dann meinen Blick auf den Bildschirm. Es blinkte tatsächlich eine Nachricht auf. Oh, hi! Vielen Dank, dass Sie noch einmal schreiben. Ich kam neulich nicht mehr ins Internet und die letzten drei Tage war das Internet ganz weg. Aber jetzt funktioniert es wieder. Ich bin CeeCee. Stockton hat mir online bei meiner Familiengeschichte geholfen. Es gibt da eine Verbindung. Aber geht es ihm gut? Ich habe seit Ewigkeiten nichts mehr von ihm gehört. Er hat diese uralten Briefe, die er für mich einscannen wollte. Ich habe ihm gesagt, dass es nicht eilt, aber es geht um ein wirklich sehr wichtiges Schülerprojekt und die Geschichte, die ich schreibe, kann ich ohne diese Briefe nicht zu Ende schreiben. 36


Ich war so erleichtert, dass ich in Tränen ausbrach. Dann tippte ich die nächsten Worte ein: Ich muss dir leider mitteilen, dass Stockton vor fünf Monaten gestorben ist. Es dauerte mehrere Minuten, bis CeeCee antwortete. Puh! Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das ist ja furchtbar! Dann, einige Minuten später, fügte sie hinzu: Aber glauben Sie, dass Sie mir helfen könnten, auch wenn es bestimmt furchtbar für Sie sein muss? Es geht um Folgendes: Meine Urururgroßmutter Clara war Sklavin auf der Fitten-Farm in Wilkes County, Georgia. Ich suche Informationen über den Zeitraum von 1848 bis 1892. Stockton sagte, er glaube, dass er Briefe von seiner Ururgroßmutter habe, die aus jener Zeit stammen. Sklavin! Puh! Auf der Fitten-Farm. Tief einatmen. Stocktons Eltern wohnten in dem alten Haus auf der ehemaligen Plantage! Glauben Sie, Sie könnten diese Briefe für mich suchen? Ich könnte mich irgendwo bei Ihnen in der Nähe mit Ihnen treffen und Ihnen das Tagebuch meiner Urururgroßmutter mitbringen.

*** Ich betrat das Café und seufzte. Das Café war fast leer und CeeCee war nicht da. Natürlich kommt sie zu spät!, murmelte ich gereizt, nachdem ich mich abgehetzt hatte, um fast pünktlich hier zu sein. Ein älteres Paar saß an einem Tisch, ein hellhäutiges Mädchen saß an einem anderen Tisch und tippte etwas in ihr Handy und in einer anderen Ecke sah ich eine Mutter mit einem Kleinkind. Aber keine CeeCee. Das Mädchen blickte von seinem Handy auf, erhob sich und kam auf mich zu. „Entschuldigen Sie“, sagte sie. „Sind Sie Mrs Fitten?“ Als ich nickte, hielt sie mir die Hand hin und sagte: „Ich bin CeeCee Eager.“ Ich schaute sie mit offenem Mund an. CeeCee, eine schöne junge Frau, sah für mich weiß aus. Sie hatte lediglich einen leicht gebräunten Teint. Außerdem sah sie reifer aus als ein typischer Teenager. Sie besaß Anmut und hatte große dunkelbraune Augen, dichte Brauen, sehr lange Wimpern und fantastische schwarze Haare, die sie in einem langen dicken Zopf trug, der über ihre linke Schulter fiel. Sie trug ein blauweißes Oberteil und darüber eine hellblaue Bluse, die bis zu ihren Hüften reichte, und dazu eine enge Jeans und Ballerinas. 37


„Es freut mich, dich kennenzulernen, CeeCee“, sagte ich und versuchte, meine Überraschung zu verbergen. „Vielen Dank, dass Sie gekommen sind, Mrs Fitten. Ich bin Ihnen dafür wirklich sehr dankbar.“ Wir bestellten uns beide eine Cola Zero, lachten dann ein wenig befangen und machten ein paar Minuten Small Talk. Dann schob mir CeeCee ein Blatt Papier über den Tisch, auf dem Wren’s Nest Literaturzeitschrift geschrieben stand. „Wie Sie sehen, nehme ich an einem Schreibwettbewerb teil, der vom Wren’s Nest unterstützt wird. Vielleicht kennen Sie es.“ Mein Herz klopfte. In den letzten eineinhalb Jahren war Stockton im Vorstand des Museums gewesen, welches in dem historischen Haus eingerichtet worden war, das Joel Chandler Harris gehört hatte. Er hatte nicht nur die Mädchen zur Vorlesestunde dorthin gebracht, sondern hatte auch sonst viele Stunden in dem Haus verbracht und geholfen, es zu finanzieren. Er hatte mir sogar von der Literaturzeitschrift erzählt. Wir waren beide von dieser Initiative beeindruckt gewesen, die Teenager zu kreativem Schreiben ermutigen wollte. „Geht es Ihnen gut?“, fragte CeeCee. „Entschuldigung. Ja. Ja, mir geht es gut. Und ja, ich kenne das Wren’s Nest.“ „Es unterstützt jedes Jahr Schreibprojekte von Schülern verschiedener Altersstufen. Die Geschichten werden dann als Buch herausgegeben und beim Decatur-Bücherfestival vorgestellt.“ „Ja“, sagte ich mit heiserer Stimme. Ich räusperte mich. „Wir sind mit den Mädchen jedes Jahr dorthin gegangen.“ Ich blinzelte die Tränen zurück und starrte meine Cola an. „Es hat sich zu einem der größten Bücherfestivals im Land entwickelt, nicht wahr?“ CeeCee nickte lächelnd und bemerkte mein Unbehagen nicht. „Ich will in diesem Jahr eine Kurzgeschichte für die Literaturzeitschrift einreichen. Die Redakteure des Journals sind Schüler, die aus ganz Atlanta ausgewählt werden. Sie bewerten die eingereichten Beiträge. Jeder Oberstufenschüler kann einen Beitrag einreichen. Die Jury wählt die Sieger aus und übernimmt die ganze Lektoratsarbeit, damit beim Decatur-Bücherfestival im September ein richtiges Buch mit Kurzgeschichten und Gedichten und so weiter präsentiert werden kann. Das Buch wird dort verkauft. Das Thema in diesem Jahr lautet: ‚Kreative, auf Tatsachen beruhende Kurzgeschichte 38


unter Einbeziehung der eigenen Familiengeschichte.‘ Ich habe dazu eine großartige Idee. Schauen Sie.“ Sie bückte sich und holte etwas aus ihrem Rucksack. „Ich habe das Tagebuch von Clara, meiner Urururgroßmutter. Genau, wie ich es Ihnen gesagt habe.“

*** Clara, Januar 1859 Clara stand im eisigen Regen und hörte zu, wie ihre Mutter weinte und schrie. „Das kann er nicht machen! Er kann meinen Jungen nicht verkaufen! Das bringt mich um. Das bringt mich ins Grab!“ Clara versuchte die Bilder zu verdrängen, wie ihr Bruder, Tom, am Morgen noch vor Tagesanbruch aus dem Bett gezerrt worden war und Master Towner ihre Mutter mit seinem grausamen, attraktiven Gesicht angesehen und gesagt hatte: „Eva, verabschiede dich von deinem Jungen, denn du wirst ihn nie wiedersehen!“ Als er Tom zu Mama geschoben hatte, hatte sich der Mund des Masters zu einem kalten Lächeln verzogen, während Mama Tom gepackt und zu schreien und zu flehen begonnen hatte: „Tun Sie das nicht, Massa! Tun Sie das nicht! Ich lasse Sie zu jeder Zeit, ob am Tag oder in der Nacht, herein, aber nehmen Sie mir meinen Jungen nicht weg! Bitte nehmen Sie mir meinen Jungen nicht weg!“ Aber Master Towner hatte ihr nicht zugehört und so hatte dieses neue Jahr so schlimm begonnen wie noch keines in Claras jungem Leben, da Mama lauthals weinte und dann fast das Bewusstsein verlor, als Tom weggebracht wurde. Die Weißen oben im Haus hatten in der Nacht zuvor bis in die frühen Morgenstunden Silvester gefeiert. Clara und ihre Mutter hatten Getränke und das beste Essen serviert, um nur wenige Stunden später mit dieser furchtbaren Nachricht geweckt zu werden. Jeder Sklave wusste, dass die Sklavenbesitzer am Neujahrstag oft beschlossen, ihre Sklaven bei der Auktion zu verkaufen. Aber bis zu diesem Tag waren Clara und ihre drei Brüder bei ihrer Mutter in Sicherheit gewesen. Jetzt war die Frau des Masters, Mrs Jessie Towner, in der Hütte und hielt Mama fest, die stöhnte und jammerte und schluchzte. „Ich werde den Namen des neuen Besitzers herausfinden, Eva. Das verspreche ich dir. Ich werde herausfinden, wo Tom ist. Ganz bestimmt.“ Mrs Towner kam aus der Hütte und sah Clara, die vor Kälte zitterte. Sie zog sie 39


an ihre Brust. „Clara, meine liebe Clara. Du wirst für deine Mutter stark sein. Lass dich davon nicht kaputt machen, Clara.“ Es gefiel ihr, von der Herrin umarmt zu werden. Mrs Towner war eine schöne, zierliche Frau mit goldenen Haaren und weichen grauen Augen, aus denen echte menschliche Freundlichkeit sprach, wenn sie Clara oder einen anderen der Sklaven anschaute. Sie war Mr Towners zweite Frau. Seine erste Frau war vor vielen Jahren gestorben. Das war schon so lange her, dass sich Clara nicht erinnern konnte, wie sie ausgesehen hatte. Mama erinnerte sich jedoch noch gut an sie. „Natürlich. Ich habe die Babys der ersten Mrs Towner gestillt, als wären sie meine eigenen Kinder. Aber es spielte keine Rolle, wie gut ich mich um sie kümmerte. Diese schreckliche Frau schrie mich an, nur um ihre eigene Stimme zu hören. Als Mrs Towner starb, habe ich nicht um sie getrauert“, hatte ihre Mutter öfter gesagt. Aber die jetzige Mrs Towner liebten alle Sklaven. Und aus irgendeinem Grund schien sie Clara besonders ins Herz geschlossen zu haben. Clara hatte mehrere Jahre zuvor angefangen, mit der Tochter von Mrs Towner, Lina, zu spielen, als Clara gerade erst sechs und Lina vier gewesen war. „Du bist ein kluges Mädchen und du musst lesen und schreiben lernen“, hatte Mrs Towner gesagt. Am nächsten Tag hatte Clara mit großen Augen das Lesebuch angeschaut, das ihre Herrin in den Händen gehalten hatte, während sie geduldig auf die Buchstaben gedeutet und Töne von sich gegeben hatte. Clara hatte die Töne zögernd wiederholt und dann zu ihrer Herrin hinaufgeblickt. „Sehr gut, Clara!“ Die Herrin küsste sie auf den Kopf und flüsterte: „Das ist unser kleines Geheimnis, Clara.“ Jetzt konnte Clara mit zehn Jahren die Bücher lesen, die ihr Mrs Towner lieh. Oft sagte Mrs Towner zu Clara: „Du bist ein Mensch und du bist in Gottes Augen genauso viel wert wie jeder andere Mensch, ob er schwarz, weiß oder braun ist. Vergiss das nie, Clara!“

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Lynn Austin

Ein letzter Flug

ISBN 978-3-86827-697-8 247 Seiten, gebunden Format 13,5 x 21,5 cm erscheint im Januar 2018

Die zurückgezogen lebende Musikprofessorin Wilhelmina Brewster ist ihr ganzes Leben auf Nummer sicher gegangen. Risiko, Abenteuer und Spontaneität sind Fremdwörter für sie. Doch dann lernt sie den lebenshungrigen und unternehmungslustigen Piloten Mike Dolan kennen. Eigentlich will sie ihm nur einen frommen Flyer zustecken, um sich dann wieder in ihr geordnetes Leben zurückzuziehen. Aber es kommt ganz anders: Plötzlich findet Wilhelmina sich in einem Heißluftballon-Wettbewerb wieder, sie geht mit Mike angeln und lässt sich auf allerlei andere verrückte Ideen von ihm ein. Kann es sein, dass das Leben so viel mehr bereithält, als sie bisher gedacht hat? Und kann es sein, dass sie und Mike beide voneinander lernen können, worauf es wirklich ankommt? 41


(…) „Man kann wohl sagen, dass das Fliegen mein Grund zu leben ist, Professor, und für Sie ist es die Musik. Ich bin lieber in der Luft als auf dem Boden. Vielleicht hätte ich als Vogel zur Welt kommen sollen. Fliegen Sie gerne, Wilhelmina?“ „Ich? Keine Ahnung … ich bin noch nie geflogen.“ „Was? Noch nie im Leben?“ „Nein.“ „Also, das können wir ändern!“ Mike Dolan sprühte vor Begeisterung. „Meine Lieblings-Cessna ist vollgetankt und einsatzbereit. Und jetzt ist die beste Jahreszeit zum Fliegen. Sie haben doch keine Angst vor dem Fliegen, Professor, oder?“ Wilhelmina war zu verdutzt, um etwas zu erwidern. „Ma’am, in meinem Flugzeug sind Sie sicherer als auf Ihrem Nachhauseweg mit dem Auto. Kommen Sie, probieren Sie es aus. Ich verspreche Ihnen, dass wir sicher landen werden.“ Seine unverblümte Freundlichkeit machte sie nervös. Dieser Mann war grundehrlich und hatte keine Hintergedanken wie so viele ihrer Kollegen in der akademischen Welt. Sie war praktisch eine Fremde und er bot ihr an, sie in sein Flugzeug zu setzen und durch die Gegend zu fliegen. Er meinte es gut, aber das kam überhaupt nicht infrage. „Nein, wirklich. Danke, aber ich kann nicht.“ Sie blickte auf ihre Uhr, ohne dabei die Zeit wahrzunehmen. „Wenn Sie es sich anders überlegen, Professor, dann können Sie jederzeit Bescheid sagen und ich spendiere Ihnen einen Rundflug.“ „Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mr Dolan, aber …“ „Mike. Bitte nennen Sie mich Mike. Und das Angebot ist ernst gemeint, Professor.“ Wilhelmina fiel nichts ein, was sie sagen konnte. Sie gingen eine von Bäumen gesäumte Straße entlang. Mike lief durch das getrocknete Laub und ließ die Blätter dabei absichtlich rascheln. Dieses Geräusch kratzte an Wilhelminas Nervenkostüm. Die Blätter erschienen ihr hässlich – trockene, tote, nutzlose Gegenstände, abgeworfen und ungewollt, nur noch fürs Feuer gut. „Ist das nicht ein wundervolles Geräusch, Professor?“, sagte Mike plötzlich. „Die Herbstgeräusche sind eine Musik, die ich besonders gern mag. Wissen Sie, was ich einmal irgendwo gelesen habe? Die Blätter op42


fern sich eigentlich. Sie fallen von den Ästen und sterben, damit der Baum den kommenden Winter überleben kann. Ist das nicht erstaunlich?“ „Mmm … Ja“, murmelte sie. Wie konnte er nur so unbeschwert, so unglaublich fröhlich sein? Als er sich von ihr verabschiedet hatte, ging Wilhelmina langsam zu ihrem Wagen und raschelte mit den Füßen im dürren Laub, während sie vergeblich versuchte, die „Musik“ zu hören. (…)

*** Wilhelmina konnte nicht glauben, dass sie sich von Mike Dolan hatte entführen lassen und nun mit ihm und seinem Enkel angeln gehen würde. Sie fuhren beinahe eine Stunde lang über schmale Straßen, bis sie zu einem Naturschutzgebiet kamen. „Sieht aus, als wären wir die Einzigen hier“, sagte Mike begeistert. „Ich hoffe, Sie haben bequeme Schuhe an.“ Wilhelmina trug eine Nylonstrumpfhose und ziemlich teure Lederpumps mit einem kleinen Absatz. Mikes Enkelsohn Mickey nahm seine Angel und lief mit den Hunden voraus. Mike nahm ihren Arm, während sie vorsichtig tastend dem schmalen, unebenen Pfad folgte und den Blick starr auf den Weg gerichtet hielt, um nach Baumwurzeln, Schlangen und anderen unbekannten Gefahren Ausschau zu halten. Sie fing schon an zu bereuen, dass sie sich auf dieses Abenteuer eingelassen hatte, als Mike plötzlich aus vollem Herzen seufzte. „Ahhh … der Wald ist so zufrieden und hat etwas an sich, das einen Menschen wieder aufbaut. Wissen Sie, was ich meine?“ Wilhelmina runzelte die Stirn. „Nein. Wie kann ein Wald zufrieden sein?“ „Wenn Sie mal damit aufhören, sich Sorgen zu machen, dass Sie eine Schlange sehen oder stolpern könnten, und sich stattdessen umsehen, werden Sie verstehen, was ich meine. Hören Sie eine Weile hin.“ Er blieb stehen und dann stand sie wortlos staunend da und lauschte der tiefen, durchdringenden Stille um sie herum. Die leise Bewegung der Bäume spielte einen Kontrapunkt zu dem entfernten Gesang von Vögeln, dem sanften Gurgeln des Wassers, dem Rascheln der trockenen Blätter im Wind. „Da kann man doch beinahe hören, wie sie zufrieden seufzen, 43


nicht wahr? Und man sieht auch nie, dass Bäume sich streiten oder versuchen, einander herumzuschubsen. Sie sind damit zufrieden, einfach zu leben und zu wachsen und sich mit den Jahreszeiten still zu verändern.“ Sie setzten sich wieder in Bewegung und die Stille des Waldes und die Musik der flüsternden Blätter unter ihren Füßen kamen ihr vor wie das ansteigende Crescendo einer herrlichen Sinfonie. Als sie schließlich den kleinen Picknickplatz am Ufer des Flusses erreichten, fühlte sich Wilhelmina seelisch erfrischt. Während Mike mit seinem Enkelsohn die Böschung zum Fluss hinunterkletterte, saß sie an dem Picknicktisch. Sie sah zu, wie die beiden den Köder an ihren Angeln befestigten und in die Mitte des Flusses auswarfen. Sie lauschte dem Murmeln ihrer Stimmen, während sie über die Fische sprachen, die sie fangen würden, und über den besten Köder. Als Mickey versorgt war, kam Mike die Böschung herauf und setzte sich neben sie auf die Bank. „Ist es eigentlich erlaubt, in einem Naturschutzgebiet zu angeln?“, fragte sie. „Er fängt nie etwas“, flüsterte Mike. „Nie? Dann wundert es mich, dass er immer noch gerne angeln geht.“ „Na ja, er denkt, er hätte ein paar Fische gefangen.“ „Wieso sollte er das denken?“ „Weil ich gelegentlich einen oder zwei, die ich gefangen habe, an seine Angel gehängt habe, wenn er nicht hingesehen hat. Aber nie in einem Naturschutzgebiet“, fügte er eilig hinzu. Der Wind nahm zu, als der Herbstnachmittag sich dem Ende entgegenneigte, und sie fröstelte in ihrem dünnen Pullover. „Hey, Sie frieren ja“, sagte Mike. „Hier, nehmen Sie meine Jacke.“ Bevor sie protestieren konnte, streifte er sich seine abgewetzte Fliegerjacke aus Leder ab und legte sie Wilhelmina um die Schultern. „Jetzt werden Sie frieren.“ „Ich mache uns ein Feuer.“ Er lief auf der Lichtung herum und sammelte abgebrochene Äste, die er über dem Knie in kleine Stücke brach und dann neben dem Picknicktisch auf einem kahlen Stück Erde aufschichtete. „Darf man denn in einem Naturschutzgebiet Feuer machen?“, wollte sie wissen. 44


„Weiß nicht.“ „Sollten Sie dann nicht lieber eine Erlaubnis einholen, bevor Sie ein Feuer machen?“ Mike biss sich auf die Unterlippe und sie wusste, dass er sich das Lachen verkniff. Er ging zu dem nächsten Baum und klopfte respektvoll an den Stamm. „Entschuldigen Sie, Sir. Haben Sie etwas dagegen, wenn wir hier ein Feuerchen machen? Meiner Freundin ist ein bisschen kalt.“ Dann wandte er sich mit einem breiten Grinsen zu Wilhelmina um. „Er hat gesagt, es macht ihm nichts aus, solange wir vorsichtig sind.“ Mikes kleine Vorführung war so komisch, sein Lächeln so ansteckend und ihre eigene Frage so albern, dass Wilhelmina unwillkürlich laut auflachte. „Sie halten mich bestimmt für eine arrogante Langweilerin.“ „Nein, aber Sie halten mich bestimmt für einen schrecklichen Schurken.“ Wilhelmina lächelte. „Ach, hören Sie auf und machen Sie das Feuer. Der Fischerei kann man Sie nicht beschuldigen, solange Sie nicht tatsächlich etwas fangen. Außerdem habe ich gehört, wie Sie den groß gewachsenen Herrn da drüben um Erlaubnis gebeten haben, Ihr Feuer machen zu dürfen, also los.“ Mike kramte in seinen Taschen. „Ich kann nicht – ich habe keine Streichhölzer!“ Da mussten beide so lachen, dass Mickey seine Angel weglegte und die Böschung heraufgeklettert kam. „Was ist denn so lustig, Grandpa?“ „Bleibst du bitte mal kurz bei Professor Brewster, während ich zum Wagen zurücklaufe und Streichhölzer hole?“ Die beiden Hunde liefen voraus, als hätten sie genau verstanden, was Mike gesagt hatte. Mickey setzte sich neben Wilhelmina auf die Bank und starrte auf den Boden. „Weißt du, Mickey, ich war noch nie im Leben angeln. Ich habe nicht die geringste Ahnung davon. Aber wenn es dir nichts ausmacht, mir in diesen schrecklichen Schuhen die Böschung hinunterzuhelfen, würde ich es gerne lernen.“ „Klar! Kommen Sie.“ Er nahm ihre Hand und führte sie zum Fluss hinunter. „Vielleicht sollten Sie die Schuhe lieber ausziehen und die Böschung runterrutschen. Sie ist ganz trocken und sandig.“ Sie zögerte, streifte dann aber die Schuhe ab. Mickey hielt sie an beiden 45


Händen und zog sie zum Fuß der Böschung hinunter. Wilhelmina hatte dabei ein ganz seltsames Gefühl, so als würden Hunderte Insekten über ihre Beine krabbeln, während ihre Zehen die Strumpfhose durchbohrten und die Laufmaschen ihre Beine hinaufkletterten. Aber immerhin hatte sie das Ufer erreicht, ohne sich etwas zu brechen. „Und was mache ich jetzt?“ „Zuerst müssen Sie einen Köder an den Haken machen.“ Mickey drehte die Angel um, wobei der Haken sich aus Versehen in Wilhelminas Pullover verhedderte und ein großes Loch hineinriss. „Oh nein! Mann, das tut mir leid!“ Seine panischen Versuche, den Haken zu befreien, richteten nur noch mehr Schaden an. Seine Miene war ein Ausdruck purer Verzweiflung. „Das macht nichts, Mickey. Ich konnte den Pullover sowieso nicht leiden. Hier, lass mich mal machen.“ Es gelang ihr, den Haken aus der Wolle zu befreien, aber der kaputte Pullover war nicht mehr zu retten. Er würde zusammen mit der Strumpfhose in den Müll wandern. „Okay, was jetzt?“ Er holte einen sich windenden Wurm voller Erde aus einer Blechdose und hielt ihn ihr hin. „Den müssen Sie an den Haken machen.“ „Äh … also, weil ich das noch nie gemacht habe, könntest du ihn vielleicht für mich am Haken befestigen?“ Mickey entfernte mit dem Fingernagel etwas von der Erde und spießte den todgeweihten Wurm dann herzlos auf. „Ach, du liebe Güte. Das arme Tier!“ „Ist doch bloß ein dämlicher Wurm.“ Er reichte ihr die Angelrute. „Jetzt müssen Sie die Angel auswerfen, so.“ Er zeigte ihr die Bewegung, indem er eine imaginäre Angel auswarf. „Aber passen Sie auf, dass Sie den Griff nicht loslassen.“ Wilhelmina umklammerte den Griff, holte aus, wie Mickey es ihr gezeigt hatte, und warf den Köder genau in die Mitte des Flusses. „Das war super! Sind Sie sicher, dass Sie noch nie geangelt haben?“ „Absolut sicher. Du bist offensichtlich ein guter Lehrer. Und jetzt?“ „Jetzt warten Sie. Wenn ein Fisch anfängt, an dem Wurm zu knabbern, spüren Sie ein Ziehen an der Angel. Hey! Da beißt einer an!“ „Was?“ „Schnell! Holen Sie die Angel ein! Schnell aufspulen!“ „Gütiger Himmel! Hier, Mickey, mach du das.“ 46


„Kommt nicht infrage! Das ist Ihr Fisch, Professor. Drehen Sie einfach an der Kurbel.“ Wilhelminas Hände zitterten, während sie mit der Spule kämpfte. Als der Fisch am anderen Ende der Schnur kämpfte, spürte sie den Widerstand. Sie kurbelte mit aller Kraft. „Wie mache ich das?“ „Sie haben ihn gleich! Weiter so!“ „Willymina? Mickey? Wo seid ihr denn?“, hörte sie Mike rufen. „Hier unten, Grandpa. Schnell, Professor Brewster hat einen Fisch gefangen!“ Mike kam die Böschung heruntergeklettert und blieb atemlos neben Wilhelmina stehen. Hastig versuchte sie, ihm die Angel in die Hand zu drücken. „Mike, nehmen Sie das Ding.“ „Auf gar keinen Fall! Ich glaube, es ist nicht erlaubt, in einem Naturschutzgebiet Fische zu fangen.“ Sie starrte ihn an und er grinste. „Hol den Kescher, Mickey, und wate ein Stück ins Wasser, damit du ihn mit dem Netz holen kannst. Sie hat ihn fast eingeholt.“ „Da ist er, Grandpa! Ich sehe ihn!“ „Halt das Netz drunter.“ Wilhelmina drehte immer weiter an der Kurbel, während Mickey im Wasser herumplanschte. „Ich habe ihn!“, schrie er schließlich und schwenkte triumphierend den Kescher. Ein winziger Fisch zappelte darin. Mike lachte, bis ihm die Tränen kamen. „Ich habe Sardinen in der Dose gesehen, die größer waren!“ „Oh Mike, lassen Sie das arme kleine Ding frei! Es ist doch noch ein Baby.“ „Sie sollen kein Mitleid mit den Fischen haben. Wie sollen wir denn da einen richtigen Fischer aus Ihnen machen?“ Mit einem Mal standen ihr die Worte Jesu so klar vor Augen, als hätte jemand sie laut ausgesprochen. Kommt, folgt mir nach! Ich will euch zu Menschenfischern machen. Aber wo sollte sie anfangen? Die Seele eines Menschen zu angeln, war sicher nicht so einfach, wie eine Angel in den Fluss zu werfen. „Der Wurm hat ihr auch leidgetan, Grandpa“, sagte Mickey. Es stimmte. Wilhelmina hatte mehr Mitgefühl für den Fisch und für einen seelenlosen Wurm gehabt als für Mike. Zuerst hatte sie mit dem 47


Mann gar nichts zu tun haben wollen. Und doch wollte Gott nicht, dass jemand verloren ging. Bitte, Herr, tu es, betete sie. Mach mich zu einem Menschenfischer! „Na, das war doch mal ein erstes Angelabenteuer!“, sagte Mike, als er den Fisch wieder in den Fluss warf. „Kommen Sie.“ Er nahm ihre Hand und half ihr die Böschung hinauf. Seine Hand war warm und von der Arbeit rau. Als sie oben ankamen, konnte sie nur einen Schuh finden. „Ich frage mich, was mit dem anderen passiert ist.“ „Oh, oh. Buster! Komm her!“ Der Hund lief auf Mike zu, Wilhelminas nassen Schuh im Maul. „Gib mir den Schuh, du dummer Köter!“ Buster wollte spielen. Er wich ihnen aus und weigerte sich, den Schuh loszulassen, egal, wie laut Mike brüllte. Hilflos sah Wilhelmina zu, wie die Zähne des Hundes sich durch das Leder bohrten. „Bitte, Buster. Ich brauche meinen Schuh“, flehte sie. Sofort ließ der Hund den Schuh vor ihr fallen. Mike nahm ihn und streifte ihn, angesabbert wie er war, über ihren Fuß. „Mann, das tut mir wirklich leid, Willymina. Ich werde Ihnen ein neues Paar kaufen.“ „Seien Sie nicht albern. Es sind nur Schuhe.“ Es dauerte nicht lange, bis Mike ein loderndes Feuer entfacht hatte. Und er hatte sogar etwas zu Essen mitgebracht! Wilhelmina saß neben ihm, während er eine Wurst für sie briet, die er auf einen angespitzten Stock gespießt hatte. Als die Wurst genügend angesengt war, wickelte er eine Scheibe Brot darum und reichte ihr den Hotdog. „Bitte schön.“ Sie aßen die ganze Packung Wiener Würstchen auf. Wilhelmina konnte sich nicht daran erinnern, dass ein Hotdog ihr jemals so gut geschmeckt hätte.

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Charles Martin

Ein langer Weg nach Hause

ISBN 978-3-86827-710-4 304 Seiten, Paperback Format 13,5 x 20,5 cm erscheint im Januar 2018

Als Cooper O’Connor, Sohn eines bekannten Wanderpredigers, seinen Vater mit 18 Jahren Hals über Kopf verlässt, träumt er von einer Musikerkarriere im fernen Nashville. Im Gepäck hat er eine Gitarre und die Überzeugung, dass er es mit seinem außergewöhnlichen Talent schon schaffen wird. Aber die Rechnung geht nicht auf. Erst als Cooper die Musikerin Daley Cross kennenlernt, ein Stimmwunder auf der Suche nach guten Songs, scheint sich sein Blatt endlich zu wenden. Doch er wird das Opfer einer Tragödie, die nicht nur seine Karriere, sondern auch sein Leben zerstört. Nun gibt es für ihn nur noch einen Zufluchtsort: die väterliche Hütte hoch oben in den Bergen von Colorado. Aber auch dort ist nichts mehr, wie es einst war. Als Daley zwanzig Jahre später plötzlich wieder in sein Leben tritt, wird es für Cooper höchste Zeit, sich seiner Vergangenheit zu stellen. 49


Ich hatte ihn schon öfter gesehen. Er war mindestens fünfundsiebzig. Vielleicht achtzig. Knorrige Finger mit geschwollenen Gelenken. Eine Stimme wie ein Reibeisen. Weiße Haare mit gelblichen Spitzen. Die schwarze Haut voller Falten. Verlebtes Äußeres. Er trug eine abgewetzte, blau-grau gestreifte Wollhose, die einst Teil eines Anzugs gewesen sein musste, und ein fleckiges, bis oben zugeknöpftes weißes Hemd. Seinen Aufzug vervollständigten zweifarbige Budapester. Das Weiß war längst rissig und matt, aber das, was vom schwarzen Leder noch übrig war, hatte er auf Hochglanz poliert. Seine Gitarre war genauso ramponiert wie er. Der Steg schien hinten und an den Seiten nur noch von Panzertape zusammengehalten zu werden. Die Wirbel hatten unterschiedliche Farben und sogar von Ferne sahen die Saiten rostig aus. Aber wenn der alte Mann loslegte, kam Leben in ihn und die Gitarre. Den Rhythmus der Schlaghand klopfte er mit dem Fuß mit und fügte so einen Beat hinzu. Es schien, als hätte er früher auch Schlagzeug gespielt. Das Lächeln auf seinem Gesicht zeugte von Erinnerungen an das, was er einst gewesen war. Oder was er glaubte, noch zu sein. Ich bin kein wählerischer Typ, außer bei Gitarren. Die sechs Saiten sind meine Leidenschaft. Ich bin immer wieder fasziniert davon, dass man unterschiedlich geformte Holzteile zu einer Sanduhrform zusammenleimen kann, Leisten, Steg und Saiten hinzufügt und nur ein wenig Druck an der richtigen Stelle ausüben muss, um eine Stimme zu erwecken. Das Ganze ist nicht nur exponentiell größer als die Summe seiner Teile, sondern trägt auch noch die unverkennbare Handschrift dessen, der das Instrument spielt. Tief, kehlig, knallig, mit rotzigem Bass, gedämpfter mittlerer Lage und brillanten Höhen ... Ich könnte jede Spielart begründen. Die Gitarre des Alten hatte ihre Stimme verloren. Sie war fertig. Genau wie er. Vermutlich hatte er mehr Songs vergessen, als die meisten Menschen je lernen würden. Aber seine Finger nicht. Ich spürte die Reste eines musikalischen Genies. Irgendwann in der Vergangenheit hatte dieser Kerl einen richtigen Namen gehabt. In den vergangenen Wochen hatte er sich immer samstags ein Plätzchen auf einer Bank an der Hauptstraße von Leadville gesucht und gespielt, bis der Boden des Gitarrenkoffers mit Dollarnoten bedeckt war. Dann hatte er ihn zugeklappt und war bis Donnerstag in irgendeiner Flasche ver50


schwunden. Am Freitag kam er wieder hervorgekrochen und war durstig. Ausgedörrt. Genau wie jetzt. Ich fuhr rechts ran und suchte mir einen Parkplatz. Auf dem Bürgersteig war einiges los. Heute würde er einen guten Schnitt machen. Ich parkte ein, steckte mir das Notizbuch hinten in den Gürtel und schnappte mir meine Gitarre. Ich hörte ihn schon von Weitem. Er saß auf der Bank gegenüber einer beliebten Bikerkneipe, sodass seine Musik bis in die Bar zu hören war. Clever. Sein Platz war erste Wahl, aber er hatte ein doppeltes Problem. Das erste war der Geruch. Er hatte sicher seit Wochen nicht mehr geduscht, geschweige denn ein Deodorant angefasst. Vielleicht sogar seit Monaten. Das zweite Problem waren die schiefen Töne aus seinem Mund und der Gitarre. Vielleicht waren ein paar Mitleidsdollar drin, aber mehr auch nicht. Was ich jetzt vorhatte, war etwas riskant. Im Grunde war das sein Revier und ich der fremde Hund, der darin herumschnüffelte. Der Trick war, auf seinem Niveau – oder besser darunter – einzusteigen, damit er das Gefühl hatte, auf einem Teppich von Noten zu schweben. Ich wollte, dass er mich mochte, bevor er mich überhaupt wahrnahm. Mein Vorteil war, dass er nur an seine nächste Flasche dachte und sein peripheres Sehen ziemlich eingeschränkt sein dürfte. Mein Nachteil, dass er nur an seine nächste Flasche dachte und wahrscheinlich auf mich losgehen würde, wenn er das Gefühl hatte, ich wollte sie ihm streitig machen. Ich kannte den Song und die Tonart, und weil er die Saiten anschlug (oder regelrecht auf sie eindrosch), zupfte ich dazu. Für das Ohr war ich nur eine Ergänzung, keine Ablenkung. Nach etwa einer Minute bemerkte er mich, zögerte kurz, wandte sich ab und sang noch lauter. Mittlerweile war sein Gesang in einer ganz anderen Tonart als seine Gitarre und eigentlich hatte er keinen Grund, so zu lächeln. Er steckte offensichtlich tief in den Erinnerungen daran, wie dieser Song einst geklungen haben musste. Ich spekulierte darauf, dass er schon oft mit anderen Musikern zusammengespielt hatte und es merkte, wenn er durch die Schützenhilfe noch besser klang. Die meiste Zeit kreiste er um E-Dur, also blieb ich an der Seite sitzen und klimperte schmückendes Beiwerk, fügte Farbe und Melodien hinzu, ohne mich in den Vordergrund zu drängen. Es war ein waghalsiger Tanz. Dass er auf einmal lauter spielte, zeigte mir, dass er noch nicht sicher 51


war, ob er mich als Tanzpartner wollte. Vor allem nicht, wenn er sein Geld mit mir teilen musste. Gerade wollte er mich mit einem finsteren Blick verscheuchen, als ein Kerl in schwarzem Leder einen Zwanzigdollarschein in seinen Koffer segeln ließ. Der alte Mann bemerkte es, sah mich an und hörte sogleich auf zu spielen, um das Geld an sich zu nehmen. Als ich ein kleines Stückchen wegrückte, weg von ihm und seinem Gitarrenkoffer, muss das Signal durch seinen Schleier gedrungen sein, denn er fuhr mit seinem Song fort. Am Ende starrte der Alte auf fünfundvierzig Dollar. Ich konnte die Panik in seinen Augen sehen; er hatte den Jackpot geknackt und überlegte, ob er lieber schnell zusammenpacken und das Weite suchen sollte. Weil ich merkte, dass ich ihn fast verloren hatte, stand ich auf und legte zwei Zwanziger in den Koffer. „Was dagegen, wenn ich ein bisschen mitspiele?“ Mit dem rechten Fuß zog er den Koffer näher zu sich heran und legte eine Hand ans Ohr. „Hä?“ Ich beugte mich vor und ignorierte den Gestank. „Ich mache auch bestimmt keinen Ärger.“ Er starrte erst mich an, dann die wachsende Schar der Schaulustigen und dann wieder mich. Schließlich blieb sein Blick an meiner Gitarre hängen. Mit der Schlaghand deutete er einmal auf den Bürgersteig, dorthin, wo ich gesessen hatte, weit weg von seinem Rampenlicht. Ich tat, wie mir geheißen. Als Kind hatte ich eine Schachtel mit vierundsechzig Wachsmalstiften besessen – die Sorte mit eingebautem Anspitzer in der Packung. Ich war so verliebt in die vielen Farbschattierungen gewesen, dass mir die Idee gekommen war, die Stifte zu schmelzen und herauszufinden, welche Farbe wohl dabei herauskam. Großer Fehler. Der alte Mann erinnerte mich irgendwie an mein Experiment. Was einst schön und einzigartig gewesen war, hatte seine Strahlkraft verloren. Die Farben waren zu einem einzigen hässlichen Dunkelbraun verschmolzen. Aber Menschen sind keine Wachsmalstifte. Wachs schmilzt und kann nie wieder sauber getrennt werden, doch die Farbe der Menschen ist Teil ihrer DNA. Wir sind eher wie die Buntglasfenster in einer Kirche. Irgendwo 52


auf seinem Weg war etwas Dunkles über den Alten gekommen und hatte verhindert, dass die Sonne durch ihn hindurchscheinen konnte. Meine Aufgabe war es, Licht durch das alte Glas zu schicken. Und als ich es tat, leuchtete das Kirchenfenster in einem strahlenden Blau, tiefen Rot und königlichen Violett. Der alte Mann lebte auf. Zwanzig Minuten später sah er erst mich an und dann neben sich auf die Bank. Ich folgte seiner Einladung. Das Verrückte an der Musik ist, dass man zusammen oft Dinge auf die Beine stellen kann, die einer allein nie geschafft hätte. Und der Effekt ist exponentiell. Musik ist auch das einzige Mittel auf unserem Planeten, das seine Zuhörer innerhalb eines halben Takts von A nach B transportieren kann. Sie kann innerhalb von Sekunden die Stimmung von Lachen zu Weinen verändern, zu Übermut, zu Fantasie oder einfach zu Hoffnung. Musik ist eine wahre Zeitmaschine. Die Gesichter der wachsenden Menschenmenge um uns herum sprachen Bände. Vor wenigen Minuten hatten sie ihn noch als unbekannten Saufbruder abgetan. Jetzt fragten sie sich: „Wer ist dieser Typ?“ Ihre Neugier ging nicht spurlos an ihm vorüber. Der alte Mann stand am Straßenrand und schmetterte Melodien, die ihm vermutlich seit dreißig Jahren nicht mehr eingefallen waren. In seiner Vorstellung stand er auf einer Bühne und es dauerte nicht lange, bis sich in sein Lachen Tränen mischten, die bewiesen, dass Glas seine Farbe nicht verlieren kann. Es kann durchs Leben dunkel werden, von Fehlern zerkratzt und vom Alkohol trübe, aber genauso wenig wie man die Musik aus einem Menschen herausschneiden kann, kann man die Fasern seiner DNA aufspalten. Bald tanzten und drehten sich zwei Mädchen in ihren Kleidern vor uns, und als der Alte „Over the Rainbow“ anstimmte, sangen die Leute mit. Er sog die lächelnden Gesichter auf und starrte verblüfft in seinen Gitarrenkoffer, in den ein Schein nach dem anderen segelte. Irgendwann legte er eine A-cappella-Version von „What a Wonderful World“ hin, die selbst Louis Armstrong zufriedengestellt hätte. Nach einer Stunde waren ihm die Tricks ausgegangen. Und der Atem. Er war am Ende und keuchte. Da man immer aufhören sollte, bevor das Publikum satt ist, stand ich auf und signalisierte damit, dass meine Zeit hier zu Ende war. Mit seinen blutunterlaufenen Augen hatte er Schwierigkeiten, die Dinge 53


klar zu erkennen. In seinem Koffer mussten mehrere Hundert Dollar liegen. „Sicher, dass du nichs davon wills’?“ Die Menge applaudierte und pfiff. Ich hockte mich vor den Alten hin. „Sie haben mich mehr als gut entlohnt.“ Dann legte ich meine Gitarre auf die Scheine in seinen Koffer. Für manch einen besteht eine Gitarre nur aus Holz und Saiten. Für andere ist sie eine Schulter zum Anlehnen, eine Geliebte, eine Gefahr, ein Ruhepol, eine Stimme in der Wildnis, eine Rüstung, eine Maske zum Verstecken, ein Fels, ein fliegender Teppich, ein Hammer. Und manchmal, wenn das Licht auf die Finsternis trifft, ist sie die Fackel, die man in die Erde steckt, sodass sich die Finsternis zurückzieht. Ich schlängelte mich durch die Menge der Schaulustigen, als mich ein kleiner Junge mit Cowboyhut und einer Gürtelschnalle, die fast so groß war wie der Hut, am Hemd zupfte. „Mister?“ Ich wandte mich um. „Na, kleiner Mann?“ Er hielt mir einen Zettel entgegen. „Kriege ich ein Autogramm?“ Er sah zu dem Mann neben sich hoch. „Mein Daddy sagt, ich soll mir ein Autogramm von Ihnen holen, weil Sie irgendwann bestimmt berühmt sind, obwohl Sie so aussehen, als ob Sie einfach irgendwo in den Bergen wohnen.“ „Ach wirklich?“ Ich unterschrieb auf seinem Zettel, reichte ihn zurück und hockte mich vor ihn hin. „Spielst du auch?“ „Ja.“ Er stand gleich etwas gerader. „Banjo.“ „Übst du auch schön?“ Er nickte und zeigte auf die Narben an meiner rechten Hand. „Tut das weh?“ „Nicht mehr.“ „Was ist passiert?“ Ich öffnete und schloss die Hand mehrmals. „Als ich noch klein und ziemlich übermütig war, ist mal etwas auf mich draufgefallen.“ „Eine Hantel oder ein Stein oder so was?“ „Nein, eher die Decke.“ Er zeigte auf meinen Hals. „Flüstern Sie eigentlich immer so?“ „Leider ja.“ „Warum?“ „Ich war mal in einem Feuer gefangen.“ „Und das Feuer hat Ihre Stimme verbrannt?“ 54


„Nicht wirklich das Feuer, aber die Hitze und der giftige Rauch.“ Ich lächelte. „Deswegen klinge ich so, als wäre ich die ganze Zeit böse.“ „Daddy sagt, ich kriege den Hintern voll, wenn ich mit Streichhölzern spiele.“ Ich musste lachen. „Dann mach es lieber nicht.“ Als ich gerade aufstehen wollte, zupfte er noch einmal an mir. „Mister?“ „Ja?“ Er berührte meinen Bart, als wollten seine Finger prüfen, ob ich echt war und nicht nur der unheimliche Mann mit den Narben. „Sie klingen gar nicht böse.“ Seine Worte drangen direkt in mein Herz. Ich mochte den Kleinen. „Danke, Kumpel.“ Als ich mich von der nächsten Querstraße aus noch einmal umdrehte, spielte der alte Mann schon auf meiner Gitarre. Seine Augen waren so groß wie der Mund, der ihm offen stand, und dieser Gesichtsausdruck war mehr wert als alles Geld in seinem Koffer.

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Rosslyn Elliott

Mit Herz, Mut und Verstand

ISBN 978-3-86827-714-2 313 Seiten, Paperback Format 13,5 x 20,5 cm erscheint im März 2018

Ohio, 1875 Susanna Hanbys Zukunftspläne werden jäh durchkreuzt, als ihre Schwester Rachel samt sechs Kindern spurlos verschwindet. Mithilfe von ihrem Onkel Will und ihrer Tante Ann macht Susanna sich auf die Suche. Sie ist überzeugt: Ihr trunksüchtiger Schwager muss schuld sein an der Misere. Doch als sich die Ereignisse überschlagen und die Hanbys in große Gefahr geraten, erkennt Susanna, dass sie ihre Vorurteile auf den Prüfstand stellen muss. Nicht zuletzt wegen Johann, dem charmanten Brauerei-Erben, der eine völlig unerwartete Lösung ihrer Probleme bietet. 56


Hohes Gras und Wildblumen versperrten ihr die Sicht. Susanna blieb inmitten der Wiese stehen. Sie hatte das unangenehme Gefühl, als beobachte sie jemand – doch außer ihr war an diesem heißen Junimorgen bestimmt niemand hier draußen. Ganze Heerscharen von Margeriten lugten mit flachen gelben Augen aus der Graswand vor ihr. Die drückende Luft umhüllte sie von allen Seiten und die undurchdringliche Stille wurde nur vom Summen einer Wespe unterbrochen, die über Susannas Kopf schwirrte. Ihre Schwester brauchte sie. Sie musste so schnell wie möglich das Farmhaus erreichen. Susanna umfasste den Griff ihrer schweren Reisetasche mit beiden Händen und kämpfte sich durch das Gras, suchte nach alten Fußspuren, um in diesem Gestrüpp nicht vom Weg abzukommen. Unter der Bluse und dem Korsett floss der Schweiß über ihren Rücken. Der Unterrock hing schwer um ihre Beine. Am liebsten hätte Susanna ihre Locken aus dem Nacken geschüttelt und sich Luft zugefächelt, doch sie stapfte weiter. Immerhin hielt ihr Strohhut die Sonne etwas ab. (…) Sie war hier, um ihrer Schwester zu helfen und ein paar schöne Tage mit ihren Nichten und Neffen zu verbringen, bevor sie sich auf den Weg zum College nach Westerville machte. In ihrer Tasche hatte sie eine Überraschung, die die Kleinen bestimmt stundenlang beschäftigen würde – Bögen um Bögen mit hauchdünnem Papier in sieben verschiedenen Farben. Damit würde sie den Kindern zeigen, wie man etwas Wunderbares entstehen lassen konnte, nämlich genaue Abbildungen der Blumen aus dem Botanikbuch. Susanna konnte es kaum erwarten zu sehen, wie die Freude über die bunten Basteleien die Sorgen aus den kleinen Gesichtern wischen würde, zumindest für die wenigen Tage, die sie bei ihnen war. Ein Lächeln zupfte an ihren Mundwinkeln. Die Kinder würden sich mit leuchtenden Augen um sie versammeln und fragen, was denn in ihrer Tasche sei, denn sie wussten, dass ihre Tante immer eine Überraschung mitbrachte. Sie wünschte sich nur, sie könnte ihnen noch mehr geben. Ein Schornstein ragte über das Gras, das sich endlich zu einer Lichtung öffnete. Das Haus, in dem ihre Schwester mit ihrer Familie lebte, kauerte vor ihr, die weiße Farbe blätterte von den Holzwänden. Rostige Arbeitsgeräte lehnten an den Wänden und auf den umliegenden Feldern wuchs nur etwas welkender Mais. Doch diese Vernachlässigungen konnte man 57


Rachel nicht vorwerfen. Mit einem faulen Ehemann und sechs hungrigen kleinen Mäulern konnte Rachel sich nicht auch noch um die Bewirtschaftung der Felder kümmern. Susanna eilte weiter. Ihre Schultern schmerzten vom Gewicht der Reisetasche. Warum kamen die Kinder noch nicht herbei, um sie zu begrüßen? Zumindest Clara und Wesley hatte sie draußen bei der Arbeit erwartet, auch wenn Rachel die kleineren Kinder bei dieser Hitze vermutlich im Haus lassen würde. Susanna blieb stehen. Etwas war mit den Beeten geschehen. Die Blumen lagen zertrampelt und braun auf der Erde neben dem Haus. In Susannas Hals formte sich ein Kloß – Rachel musste untröstlich sein. Die einzige Farbe und das winzige bisschen Luxus im Haus waren durch die Blumen eingezogen, die Rachel so unendlich geduldig gegossen und gepflegt hatte. Und jetzt waren sie alle vertrocknet. Susanna stellte ihr Gepäck auf der untersten Stufe der Veranda ab, stieg die Treppe hinauf und klopfte. Aber keine Antwort. Zaghaft legte sie die Hand auf den Knauf und öffnete die knarzende Tür. „Rachel?“ Susannas Ruf sank in eine gespenstische Stille hinein. In ihrem Magen entstand ein seltsames Gefühl der Leere. Nur zögernd ließ sie den Türknauf los, während sie einen Schritt über die Schwelle setzte. Das kleine Wohnzimmer mit seinen abgenutzten Möbeln war leer. Mit wenigen Schritten hatte sie das kleine Zimmer durchquert, lief durch den dunklen Flur und schob die Tür zum Schlafzimmer auf. Auch hier war niemand. Die Bettwäsche war zerwühlt, der Quilt lag auf dem Boden und die Kinderwiege war leer. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Susannas Herz klopfte rasend schnell und ihr Atem beschleunigte sich. Nein, sie durfte nicht in Panik ausbrechen. Vielleicht waren die Kinder oben und kümmerten sich um Rachel. In ihrem letzten Brief hatte ihre Schwester geschrieben, dass sie leichtes Fieber hatte. Wenn sie immer noch krank war, würden sich Clara und Wesley um sie kümmern, denn ihr Vater wäre mit Sicherheit keine große Hilfe. Die abgestandene, modrig warme Luft im Haus verursachte Übelkeit bei Susanna, doch sie stieg trotzdem die schmale Treppe hinauf. Hier gab es zwei Kinderzimmer: eins für die zwei älteren Jungs und eins für die drei Mädchen. 58


„Clara?“, fragte sie in die Stille hinein. Beide Zimmertüren standen offen und es strömte ein unangenehmer Geruch heraus. Susanna spürte ein eiskaltes Ziehen in ihrer Brust. Sie zog ein Taschentuch hervor und wappnete sich, um hinter die Tür zu blicken. Es war viel zu still hier. Sie presste sich das Tuch an die Nase und trat entschlossen vor. Das Zimmer war vollkommen durchwühlt, aber verlassen. Der scheußliche Gestank kam von benutzten Windeln, die auf dem Boden lagen. Eine alte Decke lag wie ein unordentlicher Haufen auf dem Bett, als hätten die Kinder damit gespielt. Das alles sah Rachel überhaupt nicht ähnlich. So schwer ihre Lebensumstände auch sein mochten, hatte sie ihr Heim doch immer sauber und ordentlich gehalten. Susanna versuchte zu schlucken, aber ihr Mund war wie ausgetrocknet. Das Zimmer der Jungs war gleichermaßen verlassen und die Bettdecken ebenso unordentlich. Aus der alten Kommode war eine Schublade gezogen worden, die nun auf dem Boden lag. Susanna eilte nach unten; ihre Absätze trommelten auf die Dielen. Sie musste so schnell wie möglich zurück in die Stadt und herausfinden, ob jemand etwas über den Verbleib von Rachel Leeds, George Leeds und ihren Kinder wusste. Sie würde jetzt nicht den Kopf verlieren, sie würde ruhig bleiben, ermahnte sie sich selbst. Doch dazu musste sie das Treppengeländer sehr fest umklammern. Sie sollte ihrer Schwester eine Nachricht hinterlassen, falls sie noch einmal hierherkommen würde. Ein einfacher Schreibtisch stand an der Wohnzimmerwand. Susanna durchsuchte die Schubladen. Es gab nur einige Papierfetzen, doch das würde ausreichen. Keine Tinte – vielleicht gab es einen Bleistift. Sie öffnete die zweite Schublade. „Was tust du hier?“ Susanna zuckte zusammen und wirbelte herum. George stand in der Tür; der Gestank von Alkohol wehte bis zu ihr herüber. Er trug keine Krawatte und sein Hemd und die Weste waren schmutzig und zerknittert. Sein ungepflegter Schnurrbart ging in den struppigen Backenbart über. Susanna konnte sich kaum noch daran erinnern, dass er vor einigen Jahren ein gut aussehender, hart arbeitender Farmer gewesen war, der um ihre fröhliche Schwester geworben und ihr Herz erobert hatte. Doch nun war Rachel schon lange nicht mehr fröhlich. Seinetwegen. 59


„Wo sind Rachel und die Kinder?“ Ihre Stimme gehorchte ihr kaum. „Weg.“ Sie musterte ihren Schwager prüfend. Hatte Rachel ihn tatsächlich verlassen? Aber wohin sollte sie mit all ihren Kindern gehen? Er starrte zurück. „Sie ist weg. Mit einem anderen Mann.“ „Das kann nicht sein. Sie war krank, das hat sie mir geschrieben.“ „Vielleicht hatte sie Gehirnfieber, vielleicht ist das ihre Ausrede.“ George Leeds Mund verzog sich zu einer verächtlichen Grimasse. „Aber sie war nicht zu krank, um den Zug zu nehmen.“ Rachel. Susannas Herz zog sich zusammen. „Wo sind die Kinder?“ „Die hat sie dem Staat übergeben.“ „Dem Staat?“, wiederholte sie fassungslos. „Dem Waisenhaus.“ „Aber warum sollte sie das tun?“ „Vielleicht wollte sie die Blagen nicht bei sich haben, wenn sie mit dem anderen Kerl ein neues Leben anfängt. Und ich kann mich bestimmt nicht um sie kümmern. Jetzt sind sie mutterlos.“ „Aber sie sind nicht vaterlos. Du lässt deine Kinder ins Waisenhaus gehen?“ Susannas Hände fingen an zu zittern und sie versteckte sie hinter dem Rücken. „Sie hat mich nicht gefragt. Sie hat mir einfach einen Zettel dagelassen. Aber jetzt ist es vorbei, ich will nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Und du brauchst gar nicht mit mir zu diskutieren, Susanna Hanby. Du und deine Schwester, ihr glaubt, ihr könnt mit eurem Aussehen alles erreichen. Ihr Hanbys haltet euch doch sowieso für was Besseres! Naja, du siehst ja, was aus Weibern wie deiner Schwester wird – eine Ehebrecherin.“ Er war ein Lügner. Rachel war niemals eingebildet gewesen, auch wenn sie wunderschön war – vielmehr gewesen war. Susannas Nägel gruben sich schmerzhaft in ihre Handflächen. Am liebsten hätte sie George ins Gesicht geschlagen. „In welchem Waisenhaus sind sie?“ „Keine Ahnung. Irgendeins in Columbus. Wie sollte ich mich um die Rotznasen kümmern? Und dann auch noch ein Baby? Die brauchen eine Frau.“ „Nein, nur einen nüchternen, anständigen Mann!“ Susanna schob sich an ihm vorbei zur Tür hinaus und taumelte die Treppe hinunter. Alle 60


sechs Kinder waren verschwunden. Und was konnte sie schon tun, wenn Rachel sie tatsächlich dem Staat übertragen hatte und George sie nicht zurückhaben wollte? Sie griff sich ihre Tasche, raffte ihre Röcke und lief davon, so schnell sie konnte. Das konnte einfach nicht wahr sein. Rachel würde so etwas Grauenhaftes nicht tun. Vielleicht war es ja George gewesen, der die Kinder weggegeben hatte. Doch warum sollte er lügen? Es sei denn, er hatte Rachel etwas angetan. Nein, an so etwas durfte sie gar nicht erst denken; sonst würde sie es nicht bis zum Bahnhof schaffen. Bestimmt war schon ein Brief von Rachel an sie unterwegs. Ihre Schwester würde ihr schreiben, was geschehen war, und alles aufklären. Susanna dachte an Georges alkoholgeschwängerten Atem und an seine Unmenschlichkeit und Gleichgültigkeit seinen Kindern gegenüber. Wut flackerte in ihr auf – sie schloss die Augen, atmete tief durch und ließ ihren Zorn weiterlodern. Sie würde die Kinder finden. Sie durften nicht voneinander getrennt und fremden Familien übergeben werden, wo sie vielleicht nicht geliebt und schlecht behandelt wurden. (…) Susanna stolperte über eine Wurzel und klammerte sich an ihre Tasche, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Die Hitze machte sie benommen. Ich werde nicht ohnmächtig. Ihre Bluse war klatschnass und Schweiß strömte ihr übers Gesicht, als würde ihr ganzer Körper über das Schicksal ihrer kleinen Nichten und Neffen weinen. In der Ferne wurde ein Dach sichtbar, von dem Licht widerspiegelte. Susanna hatte den Bahnhof fast erreicht. Ihre Nichten waren noch so klein ... Della und Annabeth. Und Jesse war ein Baby. Er würde sich nicht einmal an seine Mutter oder seine Familie erinnern können, wenn man ihn weggab. Wo war ihre Schwester nur? Susanna ließ ihre Tasche mit einem dumpfen Schlag fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Am liebsten hätte sie nur noch geweint, doch sie musste sich zusammenreißen. Tränen halfen jetzt nicht weiter. Sie konnte nichts erreichen, bis sie es nicht endlich wieder zurück in die Zivilisation geschafft hatte. Susanna atmete tief durch, nahm ihre Tasche wieder auf und ging weiter, fixierte das Dach der kleinen Bahnstation. Sie würde Rachel und die Kinder nicht im Stich lassen. 61


Denise Hunter

Eine Woche im Gestern

ISBN 978-3-86827-711-1 ca. 272 Seiten, Paperback Format 13,5 x 20,5 cm erscheint im März 2018

Ryan McKinley wäre gerne wieder so glücklich wie gestern. Nach wie vor trauert er seiner großen Liebe Abby hinterher und wünscht sich, dass es nie zur Scheidung gekommen wäre. Als er aus heiterem Himmel einen Anruf seiner Exschwiegereltern bekommt, die ihn überreden wollen, ihren 35. Hochzeitstag mitzufeiern, sieht Ryan seine große Chance gekommen. Anscheinend hat Abby ihren Eltern nie erzählt, dass sie geschieden sind. Also hat sie jetzt auch keine Möglichkeit, ihn davon abzuhalten, mitzukommen. Eine Woche lang kann er wieder in die Rolle ihres Ehemanns schlüpfen. Eine Woche lang kann er ihr vor Augen führen, was sie verloren hat. Doch können ein erzwungener Roadtrip und eine vorgetäuschte Beziehung wirklich wieder alles ins Lot bringen? 62


Wenn es etwas gab, das sie in Bezug auf Ryan McKinley verdrängt hatte, dann seine Größe. Wie breit seine Schultern waren und wie hoch gewachsen er war. Mit hohen Absätzen war sie mit den meisten Männern auf Augenhöhe, aber Ryans Wuchs sorgte dafür, dass sie immer zu ihm aufblickte. Und jetzt hatte sie nur Socken an und er überragte sie um einiges. Sie trat einen Schritt zurück, um auf Abstand zu gehen, während ihre Brust sich zusammenzog. „Ryan.“ Irgendwie brachte sie seinen Namen heraus, ohne sich das Chaos in ihrem Innern anmerken zu lassen. „Lange nicht gesehen, Abby.“ „Was machst du hier?“ Einer seiner Mundwinkel wanderte nach oben. „Du kommst wie immer gleich zur Sache.“ Sein Blick huschte zu Boo hinunter, die aufgehört hatte zu bellen und jetzt seine Schuhe beschnüffelte. Während er abgelenkt war, holte Abby bebend Luft und setzte eine Maske der Gleichgültigkeit auf. Ihr Blick fiel auf die Tür gegenüber, die einen Spaltbreit geöffnet war. Mrs Dohertys Gesicht war dahinter zu sehen. „Kann ich reinkommen?“ Sie wägte schnell ihre Alternativen ab: das kurzfristige Unbehagen, mit ihm allein zu sein, gegen die langfristigen Auswirkungen von Mrs Dohertys Getratsche. Mist. Sie öffnete die Tür ganz und trat so weit wie möglich zur Seite. Sein Geruch stieg ihr trotzdem in die Nase und alle Alarmglocken gingen an. Der vertraute Männerduft würde noch lange, nachdem er wieder gegangen war, in der Luft liegen. Bevor sie sich beherrschen konnte, atmete sie tief ein, und der Duft erinnerte sie sofort an ihre ersten gemeinsamen Tage. Wundervolle, schöne, beängstigende Tage. Dann schloss sie die Tür. Boo zitterte jetzt und Abby hob sie hoch, bevor sie auf den Boden pieseln konnte. Ist schon gut, Kleines. Ryan sah sich in der Wohnung um. „Nett hast du’s hier.“ „Wie hast du mich gefunden?“ Er zog eine Augenbraue hoch. „Du meinst, nachdem du mir erzählt hast, dass du nach Wisconsin ziehst?“ 63


Sie blickte Boo an. Eine Weile hatte sie tatsächlich überlegt, dorthin zu ziehen. Und vielleicht hatte Ryan auch einfach nicht wissen sollen, dass sie nur anderthalb Stunden entfernt war. Schlimm genug, dass sie es wusste. Er stand ganz entspannt da und lehnte sich an die Rückenlehne des Sofas, seine kräftigen Finger auf das weiche Leder gelegt. Er sah immer noch besser aus, als gut für ihn war. Dichtes dunkles Haar. Kantiges Kinn. Warme braune Augen. Wahrscheinlich standen ihre Haare vom Lümmeln auf dem Sofa zu Berge und ihr Make-up war sicher seit Stunden ruiniert. Jedem anderen Besucher hätte sie einen Stuhl und etwas zu trinken angeboten, aber sie wollte nicht, dass Ryan länger blieb als nötig. Ihn zu sehen, war für ihr Wohlbefinden eine Katastrophe, und ihr fiel kein einziger guter Grund ein, warum er ihr Leben so durcheinanderbringen sollte. Aber andererseits hatte er ihr Leben durcheinandergebracht, seit er zum ersten Mal darin aufgetaucht war. „Warum bist du hier?“, fragte sie noch einmal. Ihr Tonfall klang scharf. Irgendwie schien er diese Wirkung auf sie zu haben. Er sah sie einen Moment lang an, bevor er die Hand in die Tasche seiner Jeans schob. Als er sie wieder herauszog, öffnete er sie. Ihr entfuhr ein kleiner Aufschrei. „Nanas Ring!“ Ihre Finger berührten sich ganz leicht, als sie den Ring nahm, und sie versuchte den elektrischen Schlag zu ignorieren, den ihr die Berührung versetzte. „Wo hast du ihn gefunden?“ „Unter der Schublade deines Nachttischs.“ Sie legte den Ring auf ihre Hand und schloss die Finger darum, damit das geliebte Erbstück sicher war. Sie hatte geglaubt, es sei für immer verloren. „Ich habe ihn gefunden, als ich umgezogen bin.“ Also war er nicht in ihrem alten Haus in der Orchard Street geblieben. Sie wusste nicht, warum ihr bei dem Gedanken das Herz schwer wurde. Sie hatte ihn sich immer in ihrem gemütlichen kleinen Bungalow vorgestellt. Dort waren sie eine Zeitlang glücklich gewesen. Bis alles den Bach hinuntergegangen war. „Ich kann nicht fassen, dass du ihn gefunden hast. Wohin bist du denn gezogen?“ Und warum wollte sie das wissen? 64


Etwas flackerte in seinen Augen auf. Er verlagerte sein Gewicht ein wenig und verschränkte die Arme vor der Brust. „Näher an die Stadt.“ Er hatte sich in der Orchard Street immer eingeengt gefühlt, da er auf einer großen Farm aufgewachsen war, aber mehr hatten sie sich nicht leisten können. Plötzlich fragte sie sich, ob er wieder geheiratet hatte. Vielleicht war er deshalb umgezogen. Sie warf einen Blick auf seine linke Hand, die sie vorhin flüchtig berührt hatte. Erleichterung durchströmte sie, als sie feststellte, dass er keinen Ring trug. Sofort schalt sie sich für diese Reaktion. Er ist ein Teil deiner Vergangenheit, Abby. Mehr nicht. Ein Teil, der ihr viel Kopfschmerzen und Kummer verursacht hatte. Sie hätte ihn niemals geheiratet, wenn sie gewusst hätte, wie es sich anfühlt, wenn ein Herz entzweibricht. Aber andererseits hatte sie keine Wahl gehabt. Boo hatte sich beruhigt und wollte nicht länger festgehalten werden. Abby setzte die Hündin auf den Boden und richtete sich auf. Dann steckte sie den Ring an ihren Finger. Das antike Schmuckstück funkelte im Schein der Deckenleuchte. „Deine Mutter wird froh sein, ihn am kommenden Wochenende zu sehen.“ Sie starrte ihn an. Woher wusste er, dass sie am Wochenende ihre Mutter sehen würde? „Sie hat letzte Woche angerufen.“ Jetzt gefror der Atem in ihrer Lunge. Wusste er, dass Abby ihren Eltern nichts von der Scheidung erzählt hatte? Hatte Ryan ihnen die Wahrheit gesagt? Bitte nicht. „Du hast es ihnen nicht gesagt, Abby?“ Ihre Wangen wurden warm, als sie seinen prüfenden Blick spürte. Er würde es nicht verstehen. Wie sollte er auch, wo er doch quasi von den Waltons großgezogen worden war? „Die Gelegenheit hat sich noch nicht ergeben.“ „In drei Jahren?“ „Ist es so lange her?“ Er legte den Kopf schief und musterte sie so, wie er es am Anfang immer getan hatte, als er noch mit aller Kraft versucht hatte, sie zu verstehen. Na, viel Erfolg dabei. 65


„Ich habe nichts gesagt“, sagte er jetzt. Eine Last fiel von ihrer Seele, doch sie bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck, als sie den Blick hob. „Warum nicht?“ „Ich dachte mir, dass du deine Gründe haben wirst.“ Keine, von denen sie ihm erzählen würde. Er wusste mehr als genug von ihr. Mehr als jeder andere. Inzwischen war Boo zu Ryan gekrochen und schnupperte wieder an seinen Schuhen. „Also, wann fahren wir?“ Ihre Augen verengten sich. „Wie bitte?“ „Deine Eltern haben mich zu ihrer Feier eingeladen.“ Ryan hockte sich hin und streckte die Hand aus, damit Boo daran schnuppern konnte. Sie beobachtete ihn. So lässig. So entspannt. Als sie verheiratet gewesen waren, hatte sie das verrückt gemacht. „Du kannst nicht mit zu meinen Eltern fahren.“ „Klar kann ich.“ „Wir sind geschieden.“ „Aber das wissen sie nicht …“

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In diesen Leseproben enthalten

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ISBN 978-3-86827-708-1

ISBN 978-3-86827-711-1


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