Leseproben romane
Leseproben Romane Irma Joubert, Das Mädchen aus dem Zug .............................. 2 Lisa Wingate, Moses Lake ..................................................... 12 Elizabeth Musser, Eine Freundschaft in Atlanta..................... 21 Tamera Alexander, Unentdeckte Schönheit ........................... 30 Raquel Byrnes, In den Straßen von San Diego ..................... 37 Karen Witemeyer, Wie angle ich mir einen Prediger? ........... 46 Jody Hedlund, Ein Bräutigam aus gutem Haus .................... 57
Irma Joubert Das Mädchen aus dem Zug ISBN 978-3-86827-457-8 480 Seiten, geb., mit Schutzumschlag erscheint im September 2014
Polen 1944: Die kleine Gretel hat zwar alles verloren, aber sie ist schlau und lässt sich nicht so leicht unterkriegen. In Jakób findet sie einen Beschützer, der das Mädchen mit den jüdischen Wurzeln nach dem Krieg in einem Adoptionsprogramm unterbringt. Dieses bietet Kindern von SS-Offizieren in Südafrika ein neues Zuhause. Für Gretel, die nun Grietjie heißt, ändert sich vom einen auf den anderen Tag alles. Jahre später gerät ihr Leben völlig überraschend in Turbulenzen und sie muss sich mit Fragen auseinandersetzen, die sie bisher verdrängt hat ... Ein Roman über das Leben und die Liebe, der bis zur letzten Seite spannend bleibt, weil die vielen losen Enden auf neue Weise zusammengefügt werden und so für scheinbar unlösbare Konflikte eine überraschende Lösung gefunden wird.
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„Du kannst nicht länger hierbleiben, Gretel.“ Sie steht vor Jakób, ihre blauen Augen schauen ihn direkt an. Nicht angstvoll, sondern genau so, wie sie ihn bei ihrer ersten Begegnung angesehen hatten. „Warum?“ „Ich habe schon gesagt, das Haus ist zu voll, vor allem jetzt mit dem neuen Baby. Du wirst groß und wir haben kein Geld mehr, um dich zur Schule zu schicken.“ „Aber warum ausgerechnet nach Deutschland? Wenn ich schon in ein Waisenhaus soll, warum nicht hier in Polen? In Krakau oder Warschau oder wo auch immer?“ „Beruhige dich erst einmal, dann erkläre ich es dir.“ „Ich bin ganz ruhig.“ „Die Waisenhäuser hier sind unter staatlicher Verwaltung, die Zustände sind schockierend. Sobald du zwölf bist, musst du arbeiten. Du bist schlau, Gretel, du musst zur Schule gehen und weiterlernen! In Deutschland sind die meisten Waisenhäuser unter kirchlicher Verwaltung, sie bekommen finanzielle Unterstützung …“ „Du sagst zu große Worte.“ Dabei streckt sie ihr Kinn eigensinnig nach vorn. „Du verstehst sehr gut, was ich sage.“ Er ahnt, dass er hart bleiben muss. „Du bist eine Deutsche. Du siehst deutsch aus, du hast eine deutsche Persönlichkeit – und du bist genauso dickköpfig wie die Deutschen.“ Wütend starrt sie ihn an. „Polen ist unter kommunistischer Herrschaft“, versucht er es auf einem anderen Weg. „Das wird jeden Tag schlimmer, vor allem nach den sogenannten demokratischen Wahlen, durch die die kommunistische Partei noch stärker geworden ist. Ich möchte dich in die englische oder amerikanische Zone von Deutschland bringen, deine Chancen …“ „Mir geht es prima unter den Kommunisten.“ Da steht er auf und verlässt hastig den Raum. Typisch kleines Frauenzimmer, für Logik absolut unzugänglich, denkt er wütend und marschiert eilig davon. Wenig später sieht sie ihn im Gras sitzen und setzt sich neben ihn. Ihr kleines Händchen lässt sie in seine große Hand gleiten. Zuerst sitzen sie lange schweigsam nebeneinander, dann sagt er: „Gretel, ich habe der Hei5
ligen Mutter Gottes gelobt, dass ich das Beste für dich tue, das, wovon ich glaube, dass es das Beste für dich ist.“ „Ich will aber bei dir bleiben“, bettelt sie. „Jakób, zu wem soll ich denn gehen, wenn ich schlecht geträumt habe?“ „Gretel, das geht nicht …“ „Ich weiß.“ Sie sackt vornüber. „Bitte weine jetzt nicht.“ „Ich weine nicht. Ich will nur nicht in ein Waisenhaus nach Deutschland.“ „Ich weiß“, sagt er, „aber ich sehe keine andere Lösung.“ *** Als sie in Deutschland angekommen sind, reden sie nur noch Deutsch miteinander. „Es fühlt sich komisch an, kein Polnisch mehr zu reden“, sagt sie. „Ich kann besser Russisch als Deutsch, das haben wir schließlich in der Schule gelernt.“ Auf der Sitzbank neben ihm liegt eine Tageszeitung, die offenbar jemand ausgelesen und dann liegen gelassen hat. Was für ein Glück, denkt Jakób und lehnt sich gemütlich zurück. Die Lektüre wird ihm helfen, für ein Weilchen mal an etwas anderes zu denken. Er liest den Leitartikel und auf der letzten Seite die Sportnachrichten, blättert dann die Zeitung durch und liest von der andauernden Nahrungsmittelknappheit und dem Elend in Ost-Berlin und der neuesten Erfindung der Amerikaner. Gerade will er die Zeitung wieder zusammenfalten – weil er sich sowieso nicht auf das konzentrieren kann, was er liest –, als sein Blick auf eine Überschrift fällt: Kinder wandern nach Südafrika aus. Er runzelt die Stirn und fängt dann an zu lesen: „Zwei Afrikaner aus Südafrika, Schalk Botha und Dr. Kriek, sind in Deutschland eingetroffen, um nach evangelischen Waisenkindern für Südafrika Ausschau zu halten. Gesucht werden fünfzig Jungen und fünfzig Mädchen, die dort von sorgfältig ausgewählten Eltern adoptiert werden sollen. Auf diese Weise wird den Kindern nicht nur ein glückliches Zuhause geboten, sondern auch eine Zukunft in dem sonnendurchfluteten Land voller Möglichkeiten.“ Er legt die Zeitung sofort zur Seite. Nein, das ist zu weit weg, er kann sie doch nicht nach Afrika schicken. 6
Zusammengerollt liegt sie auf der Bank neben ihm und schläft, ihre blonden Locken kitzeln ihn an den Beinen. … ein Land voller Möglichkeiten … Polen ist kommunistisch, die Menschen dort hungern. Deutschland ist zerstört, überall herrscht Hungersnot. Afrika ist zu weit weg. Und finster. Sie ist schon lange nicht mehr evangelisch, schließlich wurde sie in die katholische Kirche aufgenommen, geht jeden Sonntag in die Messe und besucht eine katholische Schule. Aber sie besitzt eine Taufurkunde, nach der sie am 18. Dezember 1937 in der deutschen lutherischen Kirche durch Pfarrer Helmut Friedrich auf den Namen Gretel Christina Schmidt getauft worden ist. Heilige Mutter Gottes, hilf mir!, betet er. Er faltet die Zeitung wieder auseinander und liest weiter: „Die Herren suchen nach deutschen Waisenkindern mit unbefleckter arischer Herkunft ...“ Damit scheidet sie aus, Gott sei Dank. Aber sie sieht vollkommen arisch aus und hatte nur eine jüdische Großmutter. Er liest: „Der Zielgedanke besteht darin, die Kinder von gefallenen SS-Angehörigen nach Südafrika zu bringen, um dort die Reihen der Afrikaner zu verstärken.“ Vor seinem inneren Auge erscheint deutlich das Foto ihres Vaters in SS-Uniform und ihm fallen die Worte des amtlichen Schreibens wieder ein. Schließlich kommt es ihm so vor, als würde sich die Schlinge immer enger um seinen Hals ziehen. Das ist sicher eine alte Zeitung und es gibt so viele Waisenkinder, die fünfzig Mädchen werden sie mittlerweile zusammenbekommen haben, beruhigt er sich selbst. Er blättert zurück zur Titelseite, es handelt sich um die Schleswig-Holsteinische Volkszeitung vom 22. Mai, sie ist also gerade einmal eine Woche alt. Im Krankenhaus hatte ein südafrikanischer Pilot eine Weile im Bett neben ihm gelegen. Das war ein netter Kerl, ein gewisser Nick Groenewald. Seine Maschine war über Warschau abgeschossen worden. Zwar hatte er mit dem Faltschirm abspringen können, hatte aber ernste Brandwunden im Gesicht davongetragen. Sie hatten oft miteinander gesprochen, denn sonst hatte es nichts zu tun gegeben. „Südafrika ist ein wunderschönes Land, das beste überhaupt“, hatte Nick erzählt. „Tolles Wetter, eine starke Regierung, eine unglaublich 7
schöne Natur, eine gesunde Wirtschaft. Das ist wirklich das Land, in dem Milch und Honig fließen.“ Nick hatte auch gesagt, dass die südafrikanische Regierung sehr antikommunistisch eingestellt sei – dass sie auf die „rote Gefahr“ vorbereitet sei. Energisch schüttelt er den Kopf und nimmt die Zeitung wieder auf. „Die Kinder werden die Chance auf eine hervorragende Erziehung bekommen, möglich ist auch das Studium an einer Universität …“ Als Gretel wach wird, hat er seine Entscheidung gefällt. Sie gehen durch die Straßen Kiels. Alle Städte sehen gleich aus – die Wunden des Krieges klaffen überall. „Ich weiß nicht einmal, wo Südafrika überhaupt ist“, jammert sie. Ihre Stimme ist dünn, das Kinn hat sie wieder vorgeschoben. „Ich besorge uns einen Atlas, dann zeige ich es dir. Wir werden schon eine Bibliothek finden und erst alles darüber lesen“, versucht er ihre Zweifel und auch seine zu zerstreuen. „Ich habe auch keine Ahnung, was ‚evangelisch‘ bedeutet.“ „Das sind auch Christen, aber sie haben keinen Papst“, sagt er. „Ich weiß nicht, ob die da Deutsch reden. Oder Polnisch oder Russisch.“ „Mit Sicherheit kein Polnisch oder Russisch. Wir werden fragen, welche Sprache sie dort sprechen.“ Er spürt, wie ihm langsam der Geduldsfaden reißt. Mit ihren Fragen macht sie ihm das Unabwendbare nicht gerade leichter. „Ich will aber nicht noch eine Sprache lernen!“ „Gretel, halt den Mund“, sagt er böse, denn er weiß, dass es nicht anders geht. Und so bleibt ihr nichts anderes übrig, als ihren Mund zu halten und mit stocksteifem Rücken hinter ihm herzustapfen. *** Am nächsten Tag suchen sie die Jugendbehörde auf. Der Weg ist weit, aber trotzdem sind sie viel zu früh da. Vor dem roten Backsteingebäude bleibt Gretel stehen. Sie zeigt auf das große Schild: Jugendbehörde. „Hier ist es, Jakób“, sagt sie. 8
Er bringt es nicht über sich, das Schild zu lesen. „Ja, ich weiß. Komm, wir setzen uns erst ein bisschen hin und reden.“ Er setzt sich unter einen Baum. Es hat zwar aufgehört zu regnen, aber die Sonne scheint nicht. Es ist ziemlich kalt. „Gretel, hör mir jetzt gut zu, wir müssen sagen, du kämest aus Ostpreußen, nahe der polnischen Grenze.“ „Das weiß ich“, sagt sie. „Und du musst so tun, als wüsstest du nicht genau, wie du hierhergekommen bist.“ „Das weiß ich.“ „Wir müssen sagen, dass du eins von den Findelkindern bist.“ „Was ist das?“ „Ein ... nun ein Findelkind eben.“ „Ein Kind, das irgendwo gefunden wurde?“, fragt sie. „Du bist kein Kind, das irgendwo gefunden wurde, du bist die wunderschöne, schlaue Gretel Schmidt.“ „Gut.“ „Und du musst daran denken, dass du nur Deutsch sprichst.“ Ihre blauen Augen sehen ihn ernst an. „Und dass ich keine Ahnung von der katholischen Kirche habe und dass ich kein jüdisches Blut habe. Ich weiß das alles, Jakób. Nur habe ich die ganzen Lügengeschichten inzwischen satt.“ Er versteht sehr gut, wie sie sich fühlt. Nur zu gern hätte er sie hochgehoben, sie fest an sich gedrückt und wäre mit ihr am liebsten in den nächsten Zug nach Polen gestiegen. Irgendwie würde es schon gehen. Doch stattdessen streckt er seine Hand nach ihr aus und sagt: „Ich weiß, Gretchen, ich weiß. Komm, lass uns hineingehen.“ Nach langem Suchen finden sie einen Beamten, der darüber Bescheid weiß, dass das Kieler Jugendamt bis Mitte Juni mindestens fünfzig Waisen für ein Auswahlverfahren sucht. „Sind Sie verwandt?“, fragt der Beamte. „Sie ist ein Findelkind“, antwortet Jakób. Der Mann sieht sie skeptisch an. „Hat sie Papiere?“ „Nur eine Taufbescheinigung.“ Jakób streckt die Hand aus und sie händigt ihm die Dokumente aus. Eingehend studiert der Mann die Papiere, betrachtet Gretel durch seine 9
Brille und sagt dann: „Bringen Sie sie in das Auffanghaus des Roten Kreuzes.“ Er nennt Jakób die Adresse. Wieder draußen, sagt Jakób so fröhlich wie möglich: „Nun, Gretel Schmidt, die erste Hürde haben wir genommen! Komm, lass uns ein Plätzchen zum Schlafen suchen. Ich bringe dich morgen zum Rot-KreuzHaus.“ Aber sein Herz weint. Als sie an einer Bäckerei vorbeikommen, in deren Schaufenster ein einziger Kuchen steht, sagt er zu ihr: „Komm“, und geht hinein. Er riecht das frische Brot, woraufhin sich sein Magen zusammenkrampft. Er kramt seine Geldbörse hervor und überlegt kurz, ob er genug Geld für ein ganzes Brot hat. „Kaufen wir uns den Kuchen?“, fragt sie aufgeregt. Er sieht zu ihr hinunter. „Natürlich, Gretchen. Schließlich ist das unsere letzte gemeinsame Mahlzeit, da können wir auch ruhig Kuchen essen, was meinst du?“ Sie lächelt ihn an. „Bestimmt.“ Er zählt sein Geld. Er hat nicht mehr genug, um nach Hause zu kommen. Aber das ist ein Problem, das zu einer anderen Zeit gelöst werden muss. In ihrer Schlafecke breitet er für sie die Decke aus und stellt den Kuchen in die Mitte. „Können wir den nicht gleich essen?“, fragt sie gierig. „Mein ganzer Mund ist voll Spucke.“ „Ich glaube, den können wir gleich essen, ja“, sagt er und bricht zwei Stücke ab. Jede ihrer Bewegungen saugt er in sich auf, ihre dünnen Hände um das große Stück Kuchen, ihre perlweißen Zähne, die sich tief in den Kuchen hineingraben, ihre funkelnden Augen, als sie ihn ansieht. „Das ist unglaublich lecker. Du muss ihn auch probieren, Jakób“, sagt sie mit dem Mund voller Kuchen. Er beißt tief hinein und schmeckt mit seinem ganzen Mund den süßen Teig. „Ob ich wohl jemals wieder Kuchen essen kann, ohne mich an diesen Augenblick hier zu erinnern?“, denkt er. „Lecker, stimmt’s?“, sagt sie. „Kann ich bitte noch ein Stück Kuchen essen?“ „Ja“, sagt er, „wir essen einfach heute Abend den ganzen Kuchen auf!“ Sie lacht und nimmt sich noch ein Stück. Doch als sie das aufgegessen 10
hat, sagt sie: „Jetzt bin ich satt. Und es ist noch eine Menge Kuchen übrig.“ „Ich nehme noch ein Stück, vielleicht auch zwei, und dann können wir den Rest morgen zum Frühstück essen“, sagt er und wischt ihr mit dem Zeigefinger die Krümel von den Wangen. Sie lacht. „Kuchen zum Frühstück? Das habe ich ja noch nie gehört!“ „Nun ja, man lernt jeden Tag etwas Neues dazu, nicht wahr? Du solltest jetzt schlafen“, sagt er. „Ich versuche auch zu schlafen.“ „Gut“, sagt sie und schmiegt sich an ihn. Aber eigentlich will er gar nicht, dass sie schläft. „Es gibt so vieles, was ich dir gern noch sagen würde, Gretchen.“ „Du hast mir doch schon alles gesagt.“ Er schüttelt den Kopf. „Es gibt noch mehr.“ „Was denn zum Beispiel?“ „Zum Beispiel … ich weiß nicht. Zum Beispiel, dass du dich immer daran erinnern musst – du bist Gretel. Du darfst niemals zulassen, dass dir andere sagen, wer du sein sollst. Dann hast du etwas, was dir keiner wegnehmen kann. Egal, was andere Menschen über dich sagen, du musst immer Gretel bleiben. Verstehst du, was ich dir damit sagen möchte?“ „Ich glaube schon, Jakób.“ „Auch …“ Er schüttelt den Kopf. „Ich weiß nicht, was noch.“ Er setzt sich aufrecht hin und holt ein Päckchen aus seiner Tasche. „Ich habe dir etwas mitgebracht, schau mal, vielleicht magst du es ja.“ Sie schnellt hoch. „Für mich?“ Vorsichtig öffnet sie das Päckchen. Darin ist ein Holzkreuz an einem ledernen Band. „Jakób, das ist so schön. Ist das für mich?“ „Ja“, sagt er, „komm her, ich binde es dir um.“ Als sie einschläft, hält sie das Kreuz mit ihrer Hand fest umklammert. Er kann nicht einschlafen, denn seine Gedanken gehen durcheinander, kreisen immer wieder um dasselbe. Er merkt, dass sie aufschreckt. „Gretel?“ „Ich bin wach geworden und da habe ich gedacht, du wärst weg.“ „Ich bin hier.“ „Kannst du mich festhalten, Jakób?“ Er hält ihren kleinen, mageren Körper so fest er kann. 11
„Wenn du nicht mehr da bist, wer wird mir dann alles beibringen?“, fragt sie, an seine Brust geschmiegt. „In dem neuen Land gehst du auch in die Schule.“ „Ja aber in der Schule kann man nicht alles lernen“, entgegnet sie. „Nun, da hast du recht. Aber du wohnst auch in einer Familie, mit einer neuen Mama und einem neuen Papa, die werden dir vieles beibringen. Doch du musst dir auch selbst Sachen beibringen, Gretel. Das ist etwas, was ich dir gerne noch gesagt hätte. Du musst genau hinschauen und gut zuhören und dir dann deine eigenen Gedanken machen. Du musst dir überlegen, was richtig und gut ist, und das dann tun. Aber leider ist das, was richtig und gut ist, nicht immer das, was den Leuten gefällt. Trotzdem lernt man auf diese Weise am besten.“ „Wird mich meine neue Familie … wird die mich auch so halten?“ „Ja, die wird dich auch so halten.“ Gerade als er denkt, sie sei eingeschlafen, stellt sie wieder eine Frage: „Jakób, kommst du mich dort in Südafrika auch einmal besuchen? Versprich mir, dass du eines Tages kommst, egal, wie lange es bis dahin dauert.“ „Das kann ich dir nicht versprechen, Gretchen. Ich bin Pole, ich würde mich selbst verleugnen, wenn ich Polen verlasse.“ „Aber es geht doch nur um einen Besuch.“ „Gretchen, die Beziehungen zwischen dem Osten und dem Westen werden immer schlechter. Ich wohne in einem kommunistischen Land, die südafrikanische Regierung wird mich wahrscheinlich noch nicht einmal hineinlassen.“ „Du kannst mir aber einen Brief schreiben.“ „Nein, das kann ich nicht. Sie dürfen nicht erfahren, wo du herkommst.“ Er spürt, wie ihr Körper zittert. „Jakób?“ „Ich werde dich nicht vergessen, Gretchen, und wenn ich hundert Jahre alt werden sollte. Daran musst du immer denken.“ „Wie kann ich das wissen?“ Er sieht nach oben. Mutter Gottes, steh mir bei. Der Schein des Mondes bricht durch die Wolken. „Siehst du den Vollmond, Gretel?“ „Ja?“ „Derselbe Mond scheint auch über Südafrika. Er scheint über Südafrika 12
und über Polen, über Tschenstochau und Kattowitz. Wenn du den Mond siehst, dann kannst du dir sicher sein, dass ich ihn auch sehe.“ „Aber nicht, wenn über Polen Wolken sind“, sagt sie. „Ja“, sagt er, „nicht, wenn dort Wolken sind.“
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Lisa Wingate Moses Lake ISBN 978-3-86827-453-0 384 Seiten, Pb. erscheint im Juni 2014
Die Sozialarbeiterin Andrea Henderson zieht mit ihrem Sohn an den schönen Moses Lake. Nach ihrer Scheidung will sie ein neues Leben beginnen. Doch das Einleben gestaltet sich schwieriger als erwartet, sowohl beruflich als auch privat. Zum Glück lernt Andrea den attraktiven Ranger Mart McClendon kennen. Er hilft ihr bei der Bearbeitung eines mysteriösen Falls. Doch als die Ereignisse sich dramatisch zuspitzen, kann auch er nicht verhindern, dass Andrea in eine äußerst gefährliche Situation gerät … Ein spannender, humorvoller und tiefgründiger Roman voller liebenswerter Charaktere. 14
Meine Mutter warnte mich immer, dass ich früher oder später die Nase in etwas stecken würde, das mein Tod wäre. Vielleicht stammte ihre Angst daher, dass ich zu früh auf die Welt gekommen und von schwächlicher Gesundheit gewesen war. Vielleicht lag es auch einfach in ihrer Natur. Jedenfalls hatte sie das Bedürfnis, mich davon zu überzeugen, dass ich dazu geschaffen sei, nur kleine, machbare, vorhersehbare Dinge zu tun. Wenn ich etwas Größeres anstreben sollte, würde ich meine Fähigkeiten überfordern und eine Katastrophe heraufbeschwören. Jeder andere Weg als der, den sie für mich vorgezeichnet hatte, würde mich ins Verderben führen. Kümmere dich nicht um die Angelegenheiten anderer Leute, solange du dein eigenes Leben nicht in Ordnung gebracht hast. Gott hat dich nicht dazu berufen, die ganze Welt zu retten, Andrea Jane. Vielleicht waren genau diese Ermahnungen der Grund, warum ich das Bedürfnis verspürte, mich in die Situation um den alten Len und das kleine unbekannte Mädchen einzumischen. Als der Ranger der Frau hinter der Theke sagte, dass er über den See fahren und sich bei Len umsehen wollte, sprudelte es einfach aus mir heraus: „Ich komme mit.“ Er sah mich mit offenem Mund an und sein Gesichtsausdruck unter der Krempe seines Strohcowboyhuts wurde ernst. „Hören Sie, das hier ist kein gemütlicher Ausflug über den See. Wenn wir auf der anderen Seite ankommen, gehen wir den restlichen Weg zu Fuß, und ich weiß nicht, wie weit es ist. Ich bin nicht ganz sicher, wo Len wohnt, aber ich habe eine ungefähre Ahnung, wo er sein Boot in den Fluss setzt und wieder an Land zieht. Sie sehen nicht so aus, als wären Sie für eine Wanderung im Wald richtig gekleidet.“ Er deutete auf meinen Hosenanzug und meine Pumps, die ich im Geiste schon in den Kleiderschrank verbannt hatte, aus dem ich sie nur an Tagen, an denen ich nicht meinem neuen Beruf als Sozialarbeiterin nachging und irgendwelche Hausbesuche machte, herausnehmen würde. Wenn man in billigen Wohnhütten herumlief und über Pferdeweiden und durch Hühnerhöfe stapfen musste, um zu seinen Klienten zu gelangen, musste eine praktischere Kleidung den Ansprüchen genügen. Der Ranger hatte wahrscheinlich recht, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass er eher mein fachliches Können als meine Kleidung in Frage stellte. „Das schaffe ich schon. Ich habe schon schlimmere Wege bewältigt, um meine Fälle vom Jugendamt zu besuchen.“ 15
In den anderthalb Tagen, die ich schon in diesem Beruf arbeite. Er zog eine Braue hoch. Seine Augen waren blutunterlaufen. Eine Hand lag auf seinem Gürtel, als wollte er gleich den Revolver auf mich richten. Ich fragte mich, ob das eine Angewohnheit war oder ob er mir damit etwas sagen wollte. Arroganter Idiot. Kein Wunder, dass seine Begegnung mit meinem Sohn Dustin und den anderen Jugendlichen gestern am See so aus dem Ruder gelaufen war. „Hören Sie, gute Frau, ich bin kein Babysitter. Wenn wir auf Lens Grundstück herumschnüffeln, kann es sein, dass er auf uns schießt. Er wird kaum einen roten Teppich für uns ausrollen. Die Leute dort oben halten nicht viel von Besuch.“ „Ja, ich weiß. Ich arbeite dort oben, schon vergessen? Ich kenne die Risiken.“ Die kleine, leise Stimme in meinem Kopf flüsterte: Hast du den Verstand verloren? Was denkst du dir dabei? Du musst nicht die ganze Welt retten, Andrea Jane. Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten. Auch wenn ich mich gegen die Ermahnungen meiner Mutter auflehnen wollte, wusste ich, dass sie wahrscheinlich recht hatte. Ich hatte Dustin angerufen, um ihm zu sagen, dass ich bald nach Hause käme. Andererseits befand sich Dustin an einem sicheren, warmen, trockenen Ort. Und dieses kleine Mädchen, das bei Len gesehen worden war, vielleicht nicht. Niemand wusste, wer die Kleine war. Mein Entschluss stand fest: Wenn der Ranger dort hinaufging, würde ich ihn begleiten. „Ich denke, Sie sollten sie mitnehmen, Mart“, mischte sich der Pastor ein. „Kinder fühlen sich im Beisein einer Frau meistens wohler. Ich könnte auch mitkommen.“ Die Frau hinter der Theke nickte. „Das sehe ich auch so. Du brauchst jemanden, der weiß, wie man mit Kindern in Krisensituationen umgeht.“ Der Ranger Mart hob abwehrend die Hand. „Langsam! Niemand weiß, ob es dort drüben überhaupt eine Krisensituation gibt. Ich fahre nur hinüber, um herauszufinden, wo Len genau wohnt, und um mich dort ein wenig umzusehen. Es kann gut sein, dass ihr euch alle völlig grundlos ereifert.“ „Sie wissen, dass mehr dahintersteckt, sonst würden Sie nicht fahren“, beharrte ich. „Und ich komme mit.“ Mart trommelte mit den Fingerspitzen auf seinem Gürtel und schaute mit zusammengekniffenen Augen nachdenklich zum anderen Ufer hinü16
ber, als versuche er sich vorzustellen, was er dort vorfinden würde. „Meinetwegen“, antwortete er schließlich und schritt auf die Hintertür zu. Er hielt sie auf und deutete auf die Veranda hinaus. „Pastor Hay, kommen Sie auch mit?“ Der Pastor nickte und trank seinen Becher leer. „Ich denke, ich sollte mitkommen.“ Er ging zur Tür und ich folgte ihm. „Brauchst du noch mehr Unterstützung, Mart?“, fragte einer der anderen Gäste und grinste den Ranger an. „Soll ich das SWAT-Team anrufen?“ Mart setzte seine Sonnenbrille auf und zog dann den Hut tief über die Augen. „Das wäre vielleicht das Beste.“ Bevor ich ihm den Hang hinabfolgte, schrieb ich Dustin eine SMS, um ihm zu sagen, dass es noch eine Weile dauern könne. Aus seiner Antwort schloss ich, dass er im Garten war und die Strafarbeitsliste abarbeitete, die ich ihm heute Morgen gegeben hatte. Erst als wir schon im Boot des Rangers über den See fuhren, fiel mir ein, dass ich Dustin nicht gesagt hatte, dass wir im Kühlschrank ein fertiges Brathähnchen hatten. Ich zog mein Handy heraus und sah nach, ob ich Empfang hatte. Natürlich nicht. Als ich das Handy gerade zuklappen wollte, klatschte eine große Welle an unser Schnellboot, das einen Satz in die Höhe machte, sodass ich von meinem Sitz hochgeschleudert und mein Handy nass wurde. Ich hielt mich am Armaturenbrett fest, um nicht auf Marts Schoß zu landen. Meine Füße rutschten in zwei verschiedene Richtungen und ich landete mit einem nicht gerade würdevollen „Uff!“ wieder auf meinem Platz. „Halten Sie sich lieber fest!“, schrie Mart und warf mir einen höhnischen Blick zu, während ich wütend das Handy an meiner Bluse abtrocknete. Der Pastor drehte sich zu mir. „Der See ist heute unruhig. Es kommen noch mehr Gewitter.“ „Sieht so aus“, versuchte ich den Lärm zu übertönen. Der dunkler werdende Himmel spiegelte sich auf Marts Sonnenbrille, als er die Wolken betrachtete und den Kopf schüttelte, als wäre er auch für das Wetter zuständig. Er deutete mit dem Finger auf ein vorbeifahrendes Boot, um den Fahrer aufzufordern, langsamer zu fahren. Pastor Hay legte den Kopf zurück, um den blauen Streifen am Himmel zu betrachten. Der Wind erfasste seinen Anglerhut und wehte ihn spiral17
förmig in die Luft. Er drehte sich und flatterte einen Moment hinter dem Boot, dann landete er in der weißen Gischt unserer Heckwelle und trieb dort, während der Pastor ihm sehnsüchtig hinterher sah. Mart warf einen Blick in den Rückspiegel und drehte sich dann mit einem genervten Stirnrunzeln zu uns um. „Festhalten!“, schrie er. Das Boot wendete so plötzlich, dass meine Pumps wie Schlittschuhe über den Boden glitten. Die Welt war eine riesige, sich drehende Zentrifuge, die meine Sicht verschwimmen ließ und mich aus dem Sitz zog, obwohl ich mich an der Lehne festklammerte. Mart stand auf, beugte sich über die niedrige Reling, hielt in einer lässigen Bewegung einen Arm über die Wasseroberfläche und zog den Hut heraus. Während er die Wassertropfen von dem geretteten Hut schüttelte, brachte er das Boot zurück auf Kurs und ich landete schwungvoll wieder auf meinem Sitz, wo ich den nächsten Wasserschwall abbekam. Dieses Mal ins Gesicht. Ich schmeckte Fisch und Algen und sah, wie etwas über den Boden rutschte. Mein Handy. Ich bückte mich unter das Armaturenbrett und versuchte, es zu erwischen, während das Boot weiter über das Wasser hüpfte. Als ich mich wieder aufsetzte, drehte sich alles in meinem Kopf und mein Magen rumorte ebenfalls. Ich drückte eine Hand auf meinen Bauch, biss die Zähne zusammen, schluckte schwer und rieb mir den Magen. Endlich ging unsere Fahrt in ein langsameres, ruhigeres Schaukeln über und der Motor gab nur noch ein leises Summen von sich. „Sagen Sie mir bitte, dass Sie sich jetzt nicht in meinem Boot übergeben werden.“ Mart schaute mich argwöhnisch an, während er Pastor Hay den Hut nach hinten warf. „Ich übergebe mich nicht in Ihrem Boot“, presste ich heraus. Ich übergebe mich nicht im Boot. Ich übergebe mich nicht im Boot. Ich übergebe mich … Im nächsten Moment hing ich über der Reling und übergab mich. Zum Glück hatte ich nichts im Magen und es kam auch fast nichts heraus. Ich sank auf meinem Sitz zurück, während der Pastor sich besorgt zu mir nach vorne beugte: „Legen Sie den Kopf zwischen die Knie. Sie sind kreidebleich.“ „Mir geht es gut. Mir geht es gut.“ Dass ich den Kopf zwischen die Knie gelegt hatte, hatte ja überhaupt erst diesen Zustand ausgelöst. Ich winkte ab, schloss die Augen und atmete tief ein. „Ich war nur lange nicht mehr 18
auf dem Wasser. Früher wurde ich nie seekrank.“ Auch wenn das Boot jetzt langsamer fuhr, schaukelte es immer noch und die Wellen wühlten meinen Magen auf. Pastor Hay schmunzelte nachsichtig. „Es ist irgendwie komisch, an einem See zu wohnen und nicht aufs Wasser hinauszufahren.“ „Wir waren bis jetzt mit dem Auspacken beschäftigt.“ Mit dem Saum meiner neuen Seidenbluse wischte ich mir das Wasser aus dem Gesicht, während wir leise zwischen einer Insel und den Big Boulders hindurchfuhren. Wenn diese Kleidung noch gerettet werden könnte, wäre das ein Wunder. Im Moment hätte ich die Sachen gern gegen Wanderstiefel und Kampfkleidung eingetauscht. „Hier“, sagte Mart, und etwas landete auf meinem Schoß. Ein Handtuch. „Tut mir leid, dass Sie nassgespritzt wurden.“ Er sah ganz und gar nicht so aus, als täte es ihm leid. Er sah aus, als würde er innerlich schmunzeln und die Gelegenheit genießen, mir zu beweisen, dass sein großes, böses Rangerboot kein Ort für schwache Mädchen war. „Es war meine Schuld“, warf Pastor Hay ein, während er seinen Anglerhut auswrang. „Eigentlich müsste ich wissen, dass ich meinen Hut festhalten muss, wenn Mart fährt.“ Marts Lippen verzogen sich unter der Krempe seines Strohcowboyhuts zu einem Grinsen. Ich ertappte mich dabei, dass ich einfach nur zusah, wie er lächelte. Er hatte ein richtig nettes Lächeln – wie aus einer Rasierwasserwerbung, aber auch ein wenig spitzbübisch. Seine Miene wirkte verschmitzt, als teilten er und der Pastor einen Witz, den nur sie beide verstanden, und Mart schien das zu genießen. Eine solche Seite hätte ich mir bei Mart McClendon nie vorstellen können. Er war also doch nicht nur der strenge Gesetzeshüter … „Dann sind Sie neu hier in der Gegend?“, stellte der Pastor fest. „Sie und Ihr Mann?“ Vielleicht hatte er den Ring an meiner linken Hand bemerkt. Es war allerdings kein Ehering, sondern ein altes Familienerbstück, das ich von meiner Großmutter geschenkt bekommen hatte. Aber es hätte ein Ehering sein können und genau deshalb trug ich ihn. Als mich eine freundliche fremde Frau in der Schlange an der Fleischtheke im Supermarkt gefragt hatte, ob ich Single sei, war ich völlig verunsichert gewesen. Danach hatte ich den Ring meiner Großmutter herausgekramt, damit mir diese Frage in Zukunft erspart bliebe. 19
Single war irgendwie nicht das richtige Wort für den Zustand, in dem ich mich befand. Ich war mir nicht sicher, ob dieses Wort je wieder passen würde. Ich hatte Freunde, die ebenfalls eine Scheidung hinter sich gebracht und das alles ziemlich unbeschadet überstanden hatten. Aber ich hatte selbst nach einem Jahr noch das Gefühl, dass ich früher oder später in meinem alten Leben aufwachen würde und wieder verheiratet wäre. Ich würde ehrenamtlich in der Schule mitarbeiten, die Gebetsgruppe in der Kirche leiten und mich ehrenamtlich in der Gemeinde und in der Krisenberatung in der Innenstadt engagieren. Und eines Tages, wenn meine Zeit als Familienfrau vorbei wäre, würde ich problemlos einen Beruf ergreifen. Dieses eines Tages sollte allerdings erst später kommen, nicht schon jetzt. Pastor Hay sah aus, als ahnte er, dass er einen wunden Punkt berührt hatte. Er hatte den weisen Blick eines Mannes, der schon vieles gesehen hatte. „Nur mein Sohn und ich“, sagte ich und lehnte mich in dem Versuch, Mart aus dem Gespräch auszuschließen, über die Rückenlehne nach hinten zu Pastor Hay. Aber auch wenn das Boot jetzt langsamer fuhr, war der Motor immer noch so laut, dass ein leises Gespräch unmöglich war. „Wir zogen in das Haus in Larkspur Cove, als ich die neue Arbeitsstelle antrat. Die Praxis, in der ich arbeite, befindet sich in Cleburne.“ Pasto Hay zog eine Braue hoch. „Dann müssen Sie aber jeden Tag ziemlich weit pendeln. Wie alt ist Ihr Sohn?“ Obwohl Mart zuhörte, tat mir dieses Gespräch gut. Pastor Hay hatte die Gabe, auf sanfte, unaufdringliche Art seine Anteilnahme zu zeigen. „Vierzehn“, antwortete ich. „Oh, mitten in der Pubertät.“ Sein Mitgefühl war unübersehbar. Früher hätte ich schnell gesagt, dass die Pubertät kein Problem sei. Dustin war von Natur aus fröhlich und umgänglich. In Marts Beisein konnte ich das aber schlecht sagen. Schließlich hatte er ihn gestern dabei erwischt, wie er etwas Verbotenes getan hatte. Ich nickte und schaute über den See nach Larkspur Cove. Nachdem wir die Big Boulders passiert hatten und unter der Eagle Eye Bridge in den Flusskanal eingebogen waren, verlor ich den Ort aus den Augen. Das Wasser wurde ruhiger und das Boot leiser. Der Motor war jetzt fast nicht mehr zu hören. 20
„Ihr Sohn langweilt sich bestimmt, wenn er die ganze Zeit allein hier draußen am See ist“, stellte Pastor Hay fest. „Hier kann man nicht viel anderes machen, als die Vögel zu beobachten.“ Ich konnte mir einen schnellen Blick zu Mart nicht verkneifen. Sein Lächeln verwandelte sich in ein süffisantes Grinsen und die Mutter in mir, die ihr Kind beschützen will, hätte am liebsten etwas nach ihm geworfen. Den Anker vielleicht. „Dustin hat heute viel zu tun“, brachte ich mühsam heraus. „Er hat von mir eine Liste bekommen.“ Pastor Hay, dem völlig entging, dass es nicht nur unter dem Boot, sondern auch im Boot starke Strömungen gab, lachte unbeschwert. „Oh, diese furchtbaren To-do-Listen! Er muss ein guter Junge sein, wenn Sie ihn mit einer solchen Liste allein zu Hause lassen können.“ „Er ist ein guter Junge.“ Wenn Mart jetzt ein Wort sagte, würde ich ihn mit dem nächstbesten Gegenstand niederschlagen. Das würde ich wirklich tun. „Der Umzug und die neue Familiensituation sind nicht leicht für ihn, aber er ist ein guter Junge. Sein Vater lebt weiterhin in Houston. Es ist einfach alles ein wenig schwer und gewöhnungsbedürftig für ihn.“ Der Pastor nickte. „Umzüge sind für Kinder meistens schwer ... Wussten Sie, dass wir in der Kirche einige hervorragende Sommerangebote haben? Es ist nur eine kleine Gruppe von Jugendlichen, aber wir bemühen uns, sie zu beschäftigen. Ich kann gern einmal vorbeikommen und Ihren Sohn abholen.“ Diese Einladung war unübersehbar mit hohen Erwartungen verknüpft. Ich kannte die Vorgehensweise von Pastoren. Als Frau eines früheren Pfarrers und dann Vizerektors eines Colleges war ich bei Besuchern in unseren verschiedenen Gemeinden ähnlich vorgegangen. Finde etwas über den anderen heraus, stelle eine Beziehung her, erfahre etwas über seinen Hintergrund, mache Vorschläge, welche Angebote für ihn interessant sein könnten. „Interessiert er sich fürs Theaterspielen?“ „Theaterspielen?“, wiederholte ich und überlegte. „Ich habe bei unserer Herbstaufführung noch Rollen für Jungen in seinem Alter frei.“ Ich versuchte mir auszumalen, wie Dustin auf diesen Vorschlag reagieren würde. Früher hatte er bei den Aufführungen der Ferienbibelschule begeistert mitgemacht. Aber jetzt? Wer konnte das schon sagen? „Ich 21
kann mit ihm darüber sprechen.“ Neben der Frage, wie Dustin reagieren würde, hatte ich noch andere Bedenken. Wenn wir in der Gemeinde Kontakte aufbauten, würde irgendwann jeder unsere Geschichte erfahren. So, wie es jetzt war, war es viel leichter, anonym zu bleiben. „Im Moment sollte er erst einmal seine To-do-Liste abarbeiten und seine Texte für den Englischunterricht im nächsten Schuljahr lesen.“ Wenigstens hoffte ich das. Ich warf wieder einen besorgten Blick hinter mich, wo die Felsen über der Eagle Eye Bridge hinter einer Flussbiegung verschwanden. „Das tut er auch.“ Diese Antwort und dass sie ausgerechnet von Mart kam, überraschte mich. „Ich bin heute bei Ihrem Haus vorbeigefahren. Er war im Garten und schob einen Rasenmäher vor sich her.“ Zuneigung regte sich in mir, gefolgt von einer spürbaren Erleichterung. Dustin hatte wirklich das gemacht, was ich ihm aufgetragen hatte. Er hatte in seiner SMS die Wahrheit gesagt. Er war dort, wo er heute sein sollte. Zu Hause. Und er trug die Konsequenzen für sein falsches Verhalten. Vielleicht lag das Schlimmste schon hinter uns. Diesem Gedanken folgte sofort ein anderer: Der griesgrämige Ranger hat sich die Zeit genommen, nach meinem Sohn zu schauen. Während wir langsam flussaufwärts fuhren, tat ich, als betrachtete ich die überhängenden Bäume am anderen Ufer, aber in Wirklichkeit beobachtete ich Mart und versuchte, aus ihm schlau zu werden. In Mart McClendon steckte mehr, als er äußerlich zeigte. Er war nicht der Eisklotz, als der er sich ausgab …
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Elizabeth Musser Eine Freundschaft in Atlanta ISBN 978-3-86827-452-3 384 Seiten, Pb. erscheint im Juni 2014
Atlanta 1933: Anne Perrin Singleton und Mary Dobbs Dillard haben so gut wie nichts gemeinsam. Perri ist die Tochter eines vermögenden Bankers, begeistert sich für Fotografie und Partys und genießt es, zur feinen Gesellschaft von Atlanta zu gehören. Dobbs ist die Tochter eines Predigers, in armen Verhältnissen aufgewachsen, lehnt sich gegen jegliche Form von Ungerechtigkeit auf und stammt aus Chicago. Doch die Weltwirtschaftskrise und ihre Folgen führen die beiden jungen Frauen zusammen. Plötzlich ist nichts mehr, wie es einmal war. In einer Zeit voller Turbulenzen müssen Perri und Dobbs um ihre Zukunft kämpfen – und werden einander zum einzigen Halt. Aber kann eine so ungleiche Freundschaft Bestand haben? 23
Perri Ich lernte Dobbs an dem Tag kennen, an dem meine Welt zusammenbrach. Es war das Jahr 1933. Für die meisten von uns im guten alten Amerika war die Welt schon vor Jahren zusammengebrochen. Aber ich hatte die letzten vier Jahre nahezu unversehrt überstanden. Ich war davon überzeugt, dass mir die Weltwirtschaftskrise in meinem kleinen Paradies nichts anhaben konnte. Aber dann kam meine Welt mit quietschenden Bremsen zum Stehen, zeitgleich mit Herbert Hoover – am letzten Tag seiner Präsidentschaft. Die Banken brachen zusammen und rissen um mich alles mit sich. Eigentlich fing der Tag gut an. Eine positive Spannung lag an diesem Samstag in der Luft. Ich hatte lange geschlafen, war aber trotzdem noch müde von der Feier der Studentenverbindung an der Georgia Tech. Mama weckte mich wie gewünscht um zehn, und nachdem ich Frühstückseier und Maisgrütze hinuntergeschlungen hatte, setzte ich mich zum Rest der Familie ins Wohnzimmer, wo auf der Anrichte unser Radio stand. Die Kommentatoren beschrieben voller Begeisterung die Szenerie in Washington, D. C. „Menschenmassen drängen sich auf dem gut vier Hektar großen Areal, stehen auf den Bürgersteigen und Rasenflächen und warten auf den zukünftigen Präsidenten …“ Mama, Daddy, meine jüngeren Geschwister Barbara und Irvin und ich rutschten so nah wie möglich ans Radio. Jimmy und Dellareen, unsere schwarzen Diener, waren mit ihren fünf Kindern auch da. Mama hatte sie eingeladen, damit sie hören konnten, wie Mr Roosevelt seinen Amtseid ablegte. Normalerweise arbeiteten sie nur die Woche über bei uns. Es war, als hielte Amerika die Luft an und wartete darauf, dass dieser neue Präsident uns von uns selbst erlösen würde. Ich war vor Anspannung ganz nervös und Mama hatte ihr Sonntagslächeln aufgesetzt, aber Daddy machte keinen Hehl aus seiner düsteren Stimmung. Daddy war Banker und an jenem Morgen des 4. März 1933 hatte selbst die letzte Bank in den Vereinigten Staaten ihre Türen geschlossen. Das ganze Land fürchtete sich – na ja, war gelähmt vor Angst traf es vielleicht besser. Während wir auf die Antrittsrede warteten, ging Mama zu Daddy und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Holden, glaub mir, Mr Roosevelt kriegt das Land wieder auf Kurs.“ 24
„Zu spät, Dot“, war alles, was er sagte. Typisch, dachte ich und ärgerte mich, weil er drauf und dran war, diesen historischen Moment zu ruinieren. Auch wenn er Grund hatte, pessimistisch zu sein. Als Vorstandsmitglied der Georgia Trust Bank hatte er angesichts der Wirtschaftslage wenig Hoffnung auf ein Wunder. „Er wickelt die Leute mit seinen schönen Worten um den Finger, dieser Roosevelt“, sagte Daddy. „Aber was er konkret machen will, hat er noch nicht ein einziges Mal gesagt. Seine Reden bestehen aus blumiger Rhetorik mit einem Schuss Humor. Aber was wirklich dahintersteckt, weiß kein Mensch.“ Mama tätschelte Daddys Hand und zuckte verständnisvoll mit den Schultern. Mr Roosevelts Stimme kam knisternd durch den Radiolautsprecher und alle beugten sich gespannt vor. Wir lauschten gebannt, verzückt – außer vielleicht Daddy –, ließen uns von seinem väterlichen Ton beruhigen und hörten die zuversichtlichen Ankündigungen, die in meinen Ohren wie der Startpunkt für ein Wunder klangen. Ich hoffte, dass die Rede des neuen Präsidenten auch Daddys Laune heben würde. Er war im Lauf der letzten Monate immer mürrischer geworden. Normalerweise vertraute mir mein Vater vieles an, was seine Arbeit betraf, die mich immer wieder faszinierte. Aber in letzter Zeit war er viel allein im Arbeitszimmer gewesen und gestern Abend hatte ich gehört, wie er sich mit Mama über die Situation in den Banken gestritten hatte. Mama blickte mit einer Portion Optimismus auf das Leben, was meinen vor sich hin brütenden Vater oft besänftigte. Manchmal machte seine finstere Laune seinen Haaren alle Ehre – sie waren kohlrabenschwarz und es war nicht ein graues dazwischen. Komisch, dass mein Vater, der so oft melancholisch war, jung und frisch aussah, während Mama Ringe unter ihren hübschen grünen Augen hatte und alle zwei Monate ihr dunkelblondes Haar färben lassen musste, ein Luxus, den wir nie als Luxus angesehen hatten, bis Daddy letzten Monat wütend nach Hause gekommen war und der armen Mama den Besuch im Schönheitssalon untersagt hatte. Aber Mama war erfinderisch und schaffte es auch so, einen neuen Schnitt und neue Farbe zu bekommen – Dellareen kannte sich zum Glück gut damit aus und hatte schon vielen weißen Damen die Haare gemacht. Ich hatte Dellareen dabei zugesehen, wie sie ihr Gebräu angerührt hatte, 25
und inständig gehofft, dass es funktionieren würde, damit meine Freunde aus Atlanta nicht auf den Gedanken kamen, bei den Singletons wäre die Armut ausgebrochen. An jenem Samstag Anfang März hatte Präsident Roosevelt die Nation mit seinen Worten besänftigt und ich verspürte so etwas wie Hoffnung. Ich hatte Freunde, Partyeinladungen und Massen an Verabredungen, und der Präsident würde es schon irgendwie schaffen, die Wirtschaft wieder auf Trab zu bringen. Und die Banken. Oh, bitte, auch die Banken, vor allem die von Daddy. „Perri, ich möchte, dass du mich nachher zum Bahnhof begleitest“, sagte Mama nach dem Mittagessen. Ich wollte eigentlich meine Freundin Mae Pearl suchen, um sie zu fragen, was sie von Roosevelts Rede hielt. Missmutig verzog ich das Gesicht. „Och, Mama. Warum?“ „Josephine Chandler holt ihre Nichte aus Chicago ab. Sie wird den Rest des Jahres bei den Chandlers wohnen und aufs Washington Seminary gehen.“ „Sie fängt jetzt mit der Schule an? Im März?“ „Ich glaube, ihre Familie hat es ziemlich hart getroffen und Mrs Chandler hat angeboten, das Mädchen aufzunehmen und für eine ordentliche Schulbildung zu sorgen.“ Alle hat es hart getroffen, dachte ich und ärgerte mich darüber, dass Mama gerade meine Nachmittagspläne durchkreuzt hatte. Aber dieses Mädchen hatte echtes Glück. Die Chandlers lebten im größten Haus in unserer Nachbarschaft und veranstalteten fast jede Woche irgendein Fest. Ich kannte jede Menge Mädchen, die ihren Eistee im August liebend gern gegen einen Besuch im Haus der Chandlers eingetauscht hätten. „Holden, wir nehmen den Buick“, rief Mama. Mein Vater musste wohl seine Zustimmung gegeben haben, denn kurz darauf fuhren wir schon in Daddys Zweitürer, dem Buick Victory Coupé, die Wesley Road hinunter in Richtung Peachtree Street zu den Chandlers. Daddy liebte sein Auto so sehr, dass er Mama eigentlich fast nie damit fahren ließ. Dann hat er bestimmt wegen Mr Roosevelt gute Laune, dachte ich. Mama war wie immer etwas nervös beim Fahren, aber obwohl das auf mich abfärbte, ließ ich mir nichts anmerken. Mrs Chandler wartete schon auf uns und ihr Fahrer stand bereit, um uns im Pierce Arrow Cabriolet zum Bahnhof zu bringen. Oh, was für ein elegantes Auto! Mrs Chandler 26
stieg auf der Beifahrerseite ein und Mama und ich kuschelten uns auf dem Rücksitz aneinander, während der Frühlingswind uns die Haare durcheinanderwirbelte. „Das Mädchen heißt Mary Dobbs Dillard. Sie ist sechzehn oder siebzehn und wird in deine Klasse gehen, Perri.“ Mrs Chandler drehte sich beim Reden um und ihr perfekt frisiertes Haar wehte etwas durcheinander. „Ich hatte sie jahrelang nicht gesehen und als ich dann letzten Herbst in Chicago war, musste ich feststellen, wie schwer es meinen Bruder und seine Familie getroffen hat. Ich bestand darauf, dass Mary Dobbs hierherkommt. Sie ist ziemlich intelligent und hat eine gute Schulbildung verdient.“ Mrs Chandler sah kurz nach vorn. „Mein Bruder Billy meint es natürlich gut. Er möchte wohltätig sein, aber ich hatte den Eindruck, seine Familie hungert, während er großzügig seine Almosen gibt.“ Ich stellte mir Mrs Chandlers Nichte vor – dürr, hohläugig, schüchtern und ausgehungert. Kurz darauf hielten wir vor dem stattlichen Bahnhof mit seinen Bögen und Türmchen. Mrs Chandler, Mama und ich beeilten uns, das Gleis ausfindig zu machen, an dem das arme Mädchen aus meiner Vorstellung gleich ankommen sollte. Ein paar Minuten später stieg Mary Dobbs Dillard in einer Wolke aus Rauch und Dampf aus dem Zug und es verschlug mir den Atem. Ich war vom ersten Augenblick an von ihrer Erscheinung gefesselt. Mary Dobbs war das hübscheste Mädchen, das ich je gesehen hatte, aber auf eigenartige, unkonventionelle Art. Ihre Haut war leicht gebräunt – und stand damit in starkem Kontrast zu der vornehmen Blässe, die bei uns Mode war. Ihre dichten schwarzen Locken, die bis zur Taille reichten, trug sie offen. Sie war zierlich und nicht besonders groß, aber zugleich wirkte sie stark und entschlossen. Das ausgeblichene dunkelblaue Baumwollkleid, das sie trug, hing an ihr herunter. Mary Dobbs sah weder schüchtern noch kleinlaut aus. Sie stand gerade, die Schultern zurückgeschoben. „Hallo, Mary Dobbs“, sagte Mrs Chandler und legte ihr freundlich eine Hand auf die Schulter. Mary Dobbs stellte ihren kleinen Koffer ab. Er war grauweiß und wies viele Gebrauchsspuren auf, um es positiv auszudrücken. Sie schlang die 27
Arme um Mrs Chandler. „Ich freue mich ja so, endlich hier zu sein, Tante Josie!“ Etwas überrascht löste sich Mrs Chandler vorsichtig aus Mary Dobbs Umarmung. „Na, na. Schön, dass du heil angekommen bist.“ Dann wandte sie sich an Mama und mich. „Mary Dobbs, ich möchte dir eine gute Freundin vorstellen. Das ist Mrs Singleton und das ihre Tochter Perri.“ Mary Dobbs begutachtete uns, zeigte ihre perfekten Zähne und griff nach meiner Hand, um sie im nächsten Moment kräftig zu schütteln. „Freut mich“, sagte sie, und fügte dann leise hinzu: „Mary sagt keiner zu mir. Ich heiße einfach Dobbs.“ Ich wurde rot. „Also schön, Mary Dobbs“, sagte Mrs Chandler, „dann lasse ich den Chauffeur mal deine Taschen holen.“ Sie gab dem Fahrer ein Zeichen, aber Dobbs schüttelte den Kopf und zeigte auf ihren alten Koffer. „Mehr habe ich nicht.“ Mrs Chandler sah wieder ziemlich überrascht aus, aber nur für einen kurzen Augenblick. „Na schön, wenn das alles ist, dann können wir ja fahren.“ Der Fahrer nahm den Koffer und ging uns voraus. Auf dem Weg nach Hause saß ich zwischen Mama und Dobbs. Fasziniert beobachtete ich, wie ihre lange schwarze Mähne wie eine Fahne auf der Maiparade im Wind flatterte. Ich kannte kein anderes Mädchen mit langen Haaren. Mama stieß mich heimlich an, was wohl so viel bedeuten sollte wie Sag irgendwas, Perri! Also fragte ich: „Warst du schon mal in Atlanta?“ „Ein oder zwei Mal, vor langer Zeit. Ich kann mich nicht mehr an viel erinnern, aber mein Vater hat mir einiges über Atlanta erzählt.“ „Dann kommt er von hier?“ Dobbs sah mich zweifelnd an. „Natürlich. Mein Vater ist doch Mrs Chandlers Bruder. Er ist in dem Haus aufgewachsen, in dem sie wohnt.“ Mir wurde heiß. Natürlich. Was für eine dumme Frage! Ich wollte ihr sagen, was für ein großes Glück sie hatte, in dieses riesige Haus zu ziehen, aber das wäre nicht höflich gewesen. Und egal, welche Fehler ich sonst haben mochte, ich wusste, wann ich höflich zu sein hatte, vor allem jetzt, wo Mama neben mir saß. Ich wollte Dobbs nach ihrem Leben in Chicago fragen, aber angesichts dessen, was Mrs Chandler erzählt hatte, wäre das wohl auch unhöflich gewesen. 28
Also herrschte Schweigen. Mama versuchte ein Gespräch in Gang zu bringen. „Perri, Liebes, warum erzählst du Mary Dobbs nicht ein wenig von deiner Schule, von den Mädchen in deiner Klasse? Das interessiert sie bestimmt.“ Ich tat wie geheißen. „Die Schule heißt Washington Seminary. Das weißt du bestimmt schon …“ „Oh ja!“, unterbrach mich Dobbs. „Washington Seminary, dabei ist es gar kein Seminar. Es ist eine ‚erstklassige und schöne Schule für Mädchen‘ – oder so ähnlich. Es gibt dreißig gut ausgebildete Lehrer und vier Parallelklassen und es gibt einen Französischklub und einen Spanischklub und außerdem alle möglichen Sportarten: Basketball und Hockey und ein Schwimmteam und das Maifest wird groß gefeiert …“ Ich starrte sie mit offenem Mund an. Sie klang wie eine Werbebroschüre. Dobbs lächelte mich fröhlich an. „Tante Josie hat mir das letzte Jahrbuch geschickt. Ich hab’s durchgelesen. Facts and Fancies.“ „Oh. Dann weißt du ja alles. Viel mehr kann ich auch nicht sagen.“ Mama warf mir einen missbilligenden Blick zu, aber ich zuckte nur mit den Schultern. „Nein, ich weiß noch längst nicht alles“, meinte Dobbs freundlich. „Erzähl mir doch ein bisschen von dir.“ Ich verspürte kein Bedürfnis, mit diesem überdrehten Mädchen zu reden, aber Mama versetzte mir einen Stoß in die Rippen. Ich verdrehte die Augen. „Ich bin siebzehn, schreibe für Facts and Fancies und fotografiere. Ich bin Vorsitzende des Rotkreuzklubs, stellvertretende Klassensprecherin und in der Phi Pi-Studentinnenverbindung. Mit meinen Freundinnen gehe ich zwei oder drei Mal in der Woche zum Tanzen. Da treffen wir dann die netten Jungs von der Jungenschule und von den Colleges in Atlanta. Nach der Schule gehen wir oft zu Jacob’s Drugstore und bestellen uns eine Coca-Cola oder etwas anderes. Ich reite gern. Und ich liebe die Fuchsjagd. Sagen wir einfach, mir wird selten langweilig.“ Dobbs hatte mich die ganze Zeit mit einem winzigen Lächeln auf den Lippen beobachtet. Jetzt legte sie den Kopf schief und sah mich mit ihren schwarzen Augen durchdringend an. Dann sagte sie: „Vielen Dank für diesen Monolog, Perri Singleton. Aber ich wette, zu dir gibt es noch viel mehr zu sagen. Ich freue mich schon darauf, dich wirklich kennenzulernen.“ 29
Ich funkelte sie wütend an, schob das Kinn nach vorn und drehte mich empört zu Mama um, die immer sagte, wenn ich wütend sei, würden aus meinen Augen Blitze schießen und jemanden suchen, den sie verbrennen konnten. Dobbs schien das alles nicht zu merken. „Tante Josie, war Roosevelts Rede nicht grandios? ‚Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst!‘ Er macht unser Land wieder ganz. Ich weiß es einfach! Es ist genau, wie er sagt: Wir haben genug, wir haben nur unsere Ressourcen falsch eingesetzt.“ Dobbs saß da in ihrem Lumpenkleid und redete in einem fort über den „religiösen Unterton in Roosevelts Rede“ und wie er das Gefühl des amerikanischen Volkes in Worte gekleidet habe. Mrs Chandler hatte sich zu ihr umgewandt, sah aber eher so aus, als würde sie sich mehr Sorgen wegen eines Krampfs im Nacken machen. Gott sei Dank erreichten wir kurz darauf das Haus der Chandlers. Ich murmelte: „Hat mich gefreut“ und Dobbs erwiderte: „Gleichfalls. Bis Montag in der Schule.“ „Was für eine komische Person“, meinte ich zu Mama, als wir mit dem Buick wieder in unsere Straße einbogen. „Sie ist so überdreht, findest du nicht auch? Plappert in einem fort über den neuen Präsidenten in ihrem Kartoffelsackkleid und mit diesem schäbigen Koffer. Ich bin so froh, dass wir am Washington Seminary Uniformen tragen. So bleibt den Mädchen ihr Kleiderschrank erspart.“ „Schh, Perri. Ja, sie ist anders, aber ich glaube, sie freut sich einfach so, hier zu sein. Denk doch nur, woher sie kommt. Sie wird sich sicher gut eingewöhnen. Ich möchte, dass du sie am Montag ein paar der Mädchen vorstellst. Und fälle dein Urteil über sie nicht vorschnell, ja?“ Typisch Mama. Sie ergriff immer erst einmal Partei für jeden. Für mich war Dobbs jetzt schon ein rotes Tuch. *** Wir kamen zu Hause an und Mama stellte den Wagen in der Einfahrt ab. „Holden, Liebling“, rief sie fröhlich, als wir im Flur standen. „Es ging alles gut mit dem Coupé. Kein Kratzer, keine Beule! Aber ich habe das Auto in der Einfahrt stehen gelassen, wie du wolltest. In die Garage ma30
növrieren darfst du es.“ Sie erzählte munter weiter und ging in Daddys Arbeitszimmer. Ich war gerade auf dem Weg nach oben, als Mama aufschrie. Mit einer Hand vor dem Mund und in der anderen ein Blatt von Papas Briefpapier kam sie zurück in den Flur getaumelt. „Dein Vater … Wir müssen deinen Vater finden!“ Sie stürzte aus dem Hinterausgang zur Garage. Beim Anblick von Mamas verstörtem Gesicht wurde mir schwindlig und ich hörte mein Blut in den Adern pochen. Ich folgte ihr aus der Tür, rannte aber in die entgegengesetzte Richtung – über die Wiese hinter dem Haus zu den Ställen, wo Daddys Pferde waren. Reiten und die Fuchsjagd waren seine Lieblingsbeschäftigungen und ich dachte, er wäre vielleicht ausgeritten. Schwungvoll stieß ich die Stalltür auf. Der lange Gang war leer, abgesehen von ein paar Heuhalmen, die der Stallbursche wohl beim Füttern am Morgen verloren hatte. Die Pferde, alle fünf, traten in ihren Ställen nervös von einem Bein aufs andere und wieherten. „Was ist denn los, mein Großer?“, fragte ich Windchaser, Daddys Lieblingspferd, und streichelte ihm die Stirn. Plötzlich fiel mein Blick auf etwas Braunes in der Sattelkammer. Ich ging näher heran und erkannte Daddys feinen Quastenlederschuh, der auf der Seite lag, zwischen Heu und Spänen. Dann sah ich nach oben. Daddys lebloser Körper hing an einem der Dachbalken. Seine langen Beine im dunkelgrauen Zwirn baumelten langsam hin und her, an einem Fuß fehlte der Schuh. Ich schrie und konnte nicht mehr aufhören. Dann wurde ich ohnmächtig.
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Tamera Alexander Unentdeckte Schönheit ISBN 978-3-86827-451-6 592 Seiten, Pb. erscheint im Juni 2014
Eleanor Braddock ist eine pragmatische Frau, die gelernt hat zu kämpfen. Nachdem ihre Familie durch den Bürgerkrieg alles verloren hat, findet sie Aufnahme auf Belmont, dem herrschaftlichen Anwesen ihrer Tante. Diese ist eine der reichsten Frauen Amerikas. Doch Eleanor will nicht von Almosen leben und nicht den Mann heiraten, den ihre Tante für sie aussucht. Sie träumt von einem eigenen Restaurant. In dem gutaussehenden Architekten und Botaniker Markus Geoffrey findet sie einen guten Freund und Unterstützer. Doch Markus ist nicht der, der er zu sein vorgibt …
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Die Nachmittagssonne badete die riesige Villa, die im italienischen Stil erbaut war, in einem warmen Schein und verlieh ihr einen rötlichen Glanz. Eleanors Tante hatte dem Anwesen zu Recht den Namen Belmont gegeben, die französische Bezeichnung für Schöner Berg. Eleanor ließ ihren Blick den Hang unterhalb des Hauses hinabwandern und betrachtete die faszinierenden, nach einem klaren Muster konzipierten Gärten vor dem Haus. Sie waren in einem Rund angelegt. Das Anwesen war eindrucksvoller, als sie es in Erinnerung hatte. Sie fühlte sich sehr klein und völlig fehl am Platz. Sie seufzte und wandte sich wieder ihrem Tee zu. In den wenigen Stunden, seitdem sie auf Belmont war, hatte sie überlegt, wie sie ihrer Tante ihren Plan am besten unterbreiten könnte. Sie wusste, dass sie die Worte mit Selbstvertrauen und Entschlossenheit vorbringen müsste. Sonst wäre Tante Adelicia nie bereit, ihren Plan zu unterstützen. Sie brauchte aber ihre Unterstützung. Ein Darlehen. Sie würde jeden Cent zurückzahlen. Und es würde sich lohnen, denn sie würde endlich etwas aus ihrem Leben machen, etwas Sinnvolles. Eine Arbeit, die ihr ermöglichen würde, unabhängig zu sein und wieder ein eigenes Zuhause zu haben. Für sich und ihren Vater. „Miss Braddock.“ Dampf stieg von Dr. Cheathams Tasse auf. „Sind Sie bereit für die Abenteuer, die meine Frau für Sie geplant hat?“ Eleanors Blick wanderte zwischen den beiden hin und her und sie zog bei seiner Bemerkung eine Braue hoch. „Ich nehme an, das kommt darauf an, wie diese Abenteuer aussehen.“ „Ach, hör nicht auf ihn, Eleanor! Er will sich nur einmischen.“ Tante Adelicia lächelte und spreizte ihren zierlichen kleinen Finger in einem perfekten Winkel ab, während sie an ihrer Tasse nippte. „Aber ich habe wirklich einige Ideen, die ich gern mit dir besprechen würde. Wenn wir später einen Moment Zeit haben.“ „Nun.“ Dr. Cheatham erhob sich. „Ich glaube, das war mein Stichwort, wie man so schön sagt.“ Er zwinkerte Eleanor zu. „Seien Sie vorgewarnt, Miss Braddock. Und wie ich schon beim Essen sagte …“ Er lächelte und die Falten in seinen Augenwinkeln traten jetzt stärker hervor. „Willkommen in unserem Haus. Wir freuen uns sehr, Sie bei uns zu haben.“ (…) „Meine liebe Eleanor, vorhin sagtest du, dass du einen Plan hättest. Ich 33
glaube, du wolltest mir diesen Plan unterbreiten.“ Tante Adelicia sah ihr fest in die Augen. Eleanor nickte, stellte aber fest, dass ihre sorgfältig ausgearbeitete Rede jetzt ein einziges Gedankenwirrwarr war. Vielleicht war der direkte Weg der beste. „Ich möchte … gerne arbeiten.“ Bei dieser Bemerkung zog Tante Adelicia eine Braue in die Höhe. „Ich wünsche mir eine Arbeit, die es mir auf lange Sicht erlaubt, genug Geld zu verdienen, um unabhängig leben zu können. Mit meinem Vater natürlich. Vorausgesetzt, sein Gesundheitszustand verbessert sich. Mein ganzes Leben lang habe ich …“ Eleanor brach ab, da sie feststellte, dass sie es falsch formuliert hatte. „Es kommt mir vor, als wäre es mein ganzes Leben lang gewesen, dass mir immer jemand anderes gesagt hat, was ich tun darf und tun soll. Ich bin jetzt fast dreißig. Ich habe keine Aussicht zu heiraten und auch keine Hoffnung, dass sich daran irgendetwas ändern würde. Das habe ich akzeptiert. Immerhin bin ich …“ Sie seufzte. „… keine Frau, die Männer normalerweise schön finden.“ Normalerweise war großzügig formuliert. Kein Mann hatte ihr je gesagt, dass sie schön wäre. Da sie die Antwort ihrer Tante erahnte, sprach sie schnell weiter. „Aber ich bin talentiert und nicht dumm. Ich habe Fähigkeiten, und ich freue mich, wenn diese Fähigkeiten herausgefordert werden, weil ich dann lernen und wachsen kann.“ Eleanor sah auf ihre Hände hinab. „Offen gesagt, habe ich drei Monatsmieten für ein Gebäude in der Stadt gezahlt. Und einen Vertrag unterschrieben. Ich … will ein Restaurant eröffnen. Ich will kochen.“ Tante Adelicia blinzelte. Mehrmals. „Du … willst kochen?“ Eleanor nickte. „Ich will als Küchenchefin arbeiten. Ich koche schon seit Jahren und ich bin eine ziemlich gute Köchin. Im ganzen Land eröffnen Frauen Kaffeehäuser und Restaurants in Städten wie New York, Philadelphia und Atlanta. Und sie haben viel Erfolg damit. Die Welt verändert sich und diese Veränderungen bringen neue Möglichkeiten für Frauen mit sich.“ Als sie ein leichtes Funkeln in den Augen ihrer Tante bemerkte, das sie als Interesse deutete, wuchs Eleanors Hoffnung wieder ein wenig. Ihr fiel etwas ein, das sie hatte sagen wollen. „Seit Kurzem haben freigelassene Schwarze das Wahlrecht. Alle haben gesagt, dass das nie geschehen würde. 34
Aber es ist geschehen! Und man spricht bereits davon, dass auch Frauen dieses Recht irgendwann bekommen sollen. Es kann nicht mehr allzu lange dauern. Wer weiß, welche Türen uns dann offenstehen.“ Ihre Tante starrte sie immer noch stirnrunzelnd an. „Du willst Köchin werden. In einem Restaurant. In der Stadt.“ Es war keine Frage. Trotzdem nickte Eleanor wieder. „Das Gebäude war früher eine Pension, aber nach ein paar Renovierungsarbeiten dürfte es meinen Bedürfnissen entsprechen, denke ich.“ Sie zögerte, da sie den nächsten Teil nur ungern zugab. Obwohl sie über ihrer Entscheidung gebetet hatte, bevor sie gehandelt hatte, graute ihr vor der Reaktion ihrer Tante. „Ich habe das Gebäude aber noch nicht gesehen. In der Zeitungsanzeige wurde es jedoch detailliert beschrieben und der Eigentümer und ich haben miteinander korrespondiert. Ich habe seine Referenzen überprüft und habe allen Grund, ihn für vertrauenswürdig zu halten.“ Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann nickte Tante Adelicia kurz. „Sprich weiter.“ In ihrer Stimme lag weder Zustimmung noch Missbilligung, nur eine unmissverständliche Aufforderung. „Ich habe mich nur für drei Monate festgelegt. Mehr Geld konnte ich nicht zahlen, nachdem ich für Vaters Pflege aufgekommen bin. Der Eigentümer war von diesem Zeitrahmen nicht gerade begeistert. Er wollte eine längerfristige Regelung und er würde das Gebäude immer noch gerne verkaufen. Aber ich konnte ihn überreden, es an mich zu vermieten. Wenigstens vorerst.“ Eleanor wagte ein leichtes Lächeln, da sie hoffte, es könnte die Situation verbessern. Aber ihre Anspannung war zu groß und ihr Lächeln erstarb. „Worüber ich mit dir sprechen wollte, Tante Adelicia, ist … dass ich überlegt habe … Ich hatte gehofft, dass du als Geschäftsfrau, die manchmal in andere Unternehmungen investiert, bereit wärst, mir ein Darlehen zu geben, damit ich mein Geschäft aufbauen und mich selbständig machen kann. Natürlich würde ich es dir zurückzahlen, Tante. Jeden Cent. Mit Zinsen.“ Eleanor wollte noch mehr sagen, aber ihr Instinkt sagte ihr, dass sie jetzt schweigen sollte. Irgendwo im Haus schlug eine Uhr. Achtmal. Jeder Schlag schien eine ganze Ewigkeit zu dauern. Wortlos stand ihre Tante auf und trat ans Fenster. Die Sonne war schon 35
fast untergegangen, und ein leichter Wind bewegte den Spitzenbesatz ihres Rockes und wehte den süßen Duft des spät blühenden Lavendels ins Zimmer. Tante Adelicia schaute in die Dämmerung hinaus. „Ich schätze deinen Unternehmungsgeist, Eleanor. Ich bewundere ihn und ich teile ihn sogar zu einem gewissen Maß. Es ist … berauschend, sich vorzustellen, was alles kommen könnte.“ Eleanor spürte, wie neue Hoffnung in ihr aufkeimte, dass ihr Traum vielleicht tatsächlich wahr werden könnte. „Eleanor … Acklen … Braddock“, sagte ihre Tante nachdenklich und drehte sich wieder zu ihr um. Der Anflug eines Lächelns umspielte ihren Mund. „Du bist eine Braddock, aber deine Großmutter war eine Acklen. Da ich mit beiden Familien verwandt bin, weiß ich, dass das Blut von starken, motivierten Menschen durch deine Adern fließt, die Pioniere und Führungspersonen waren. Du stammst von einem Familienstammbaum ab, der geachtet ist und der in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen immer noch Ehre und Respekt gebietet, unabhängig von deinen aktuellen Umständen.“ Eleanor konnte kaum glauben, dass das wirklich passierte. Nach den ganzen Planungen, den Träumen, dem Mut zu hoffen. Nach so vielen Enttäuschungen … Doch ihre Tante fuhr fort: „Aber da du bis zu Josephs Tod seine Nichte warst, bist du damit auch meine Nichte. Und keine Nichte von mir wird als Köchin arbeiten. Und ganz gewiss nicht in irgendeinem gewöhnlichen Haus in der Stadt. Es wäre entwürdigend und unpassend … für jemanden deines gesellschaftlichen Standes.“ „Aber … du hast doch gesagt, dass du meinen Unternehmungsgeist bewunderst. Du sagtest …“ „Ich tue, was ich kann, um dir zu helfen, deinen Weg zu gehen, Eleanor. Aber es wird ein Weg sein, der der Frau, die du bist, würdig ist … und der Familie, aus der du kommst. Ich kann keinen Weg befürworten, der so stark im Gegensatz zu dem Weg steht, den du meiner Meinung nach einschlagen solltest. Ebenso wenig käme ich als Geschäftsfrau, wie du gesagt hast, je auf die Idee, Geld in ein Unternehmen zu investieren, das so riskant und unsicher ist.“ Sie atmete aus und kehrte zum Sofa zurück, setzte sich aber nicht. „Du 36
hast in ein Gebäude, das du noch nie gesehen hast, Geld investiert – wenn auch nur kurzfristig? Du hast dem Wort eines Mannes vertraut, dem du nie persönlich begegnet bist?“ Tante Adelicia stieß ein humorloses Lachen aus. „Ich frage mich ernsthaft, ob es dieses Gebäude überhaupt gibt. Es ist eher wahrscheinlich, dass der Mann, mit dem du zu tun hattest, Nashville längst den Rücken gekehrt und deinen Vertrag und dein Geld mitgenommen hat.“ Eleanor beugte den Kopf, da sie den Blick ihrer Tante nicht länger ertragen konnte, aber auch, weil sie nicht wollte, dass Adelicia Acklen Cheatham sähe, welche Mühe es sie kostete, ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. „Eleanor … meine Liebe …“ Der Tonfall ihrer Tante wurde weicher. „Ich sehe, wie viel diese Idee dir bedeutet. Und obwohl ich nicht weiter darüber diskutieren will, möchte ich dir eine andere Möglichkeit für deine Zukunft vorschlagen.“ Langsam hob Eleanor den Blick. „Wie du weißt“, sprach ihre Tante weiter, „werden ständig Bande zwischen Familien geschlossen. Ehen, die auf gegenseitiger Achtung, einer gemeinsamen Vision für die Zukunft und auf der Sicherheit eines reichen Erbes aufgebaut sind.“ Eleanor hörte ihr zu, konnte ihr aber nicht ganz folgen. Was hatte das mit ihrem Restaurant zu tun? Doch dann bildete sich ein Knoten in ihrem Magen. „Diese Verbindungen sind selbstverständlich nicht zufällig. So werden Nachkommen gesichert und so vermehren höher stehende Familien wie unsere ihren Wohlstand.“ Tante Adelicia brach ab und lächelte sie strahlend an. „Ich gehe davon aus, dass du meinem Gedankengang folgen kannst, Eleanor.“ Eleanor stand vom Sofa auf. Allein schon diese Geste kam ihr ungehörig vor, da ihre Tante viel kleiner war als sie. „Tante Adelicia, ich habe kein Interesse daran … Wohlstand zu vermehren. Und ich will auch keinen Mann nur seines Geldes wegen heiraten. Selbst wenn es einen solchen Mann gäbe, der sich für mich interessieren würde.“ Adelicia hob das Kinn und sah sie streng an. „Natürlich würdest du einen Mann nicht nur seines Geldes wegen heiraten. Ich würde mich schämen, wenn du das tätest. Aber …“ Ihre Miene wurde wieder weicher. „… 37
Freundschaften entwickeln sich aus Bekanntschaften und mit der Zeit führen sie zu … mehr.“ Tante Adelicia strich mit der Hand über ihren Rock und wandte kurz den Blick ab. „Da ich das weiß, habe ich mir in den letzten Wochen die Freiheit genommen, diskret Erkundigungen bei einer Reihe verwitweter oder unverheirateter Herren in unserem Bekanntenkreis über ihre … persönlichen Zukunftspläne einzuholen.“ Eleanor hatte Mühe, nicht laut aufzustöhnen. „Das hast du wirklich getan?“ Als sie ihre Tante nicken sah, schloss sie die Augen. Es kostete sie ihre ganze Willenskraft, die Hände nicht zu Fäusten zu ballen. „Aber leider muss ich dir berichten“, fuhr ihre Tante fort, „dass ich bis jetzt keinen passenden Mann gefunden habe. Aber ich bin mit meiner Suche noch lange nicht am Ende. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass ich Erfolg haben werde.“ Eleanor hatte die Luft angehalten und atmete jetzt tief aus. „Darauf würde ich nicht zu sehr vertrauen, Tante Adelicia.“ Obwohl sie mit jeder Minute niedergeschlagener und erschöpfter wurde, bemühte sie sich, das nicht zu zeigen. „Ich habe die Hoffnung zu heiraten vor langer Zeit aufgegeben.“ „Ich nicht. Du bist eine kluge junge Frau, Eleanor, die einem Mann viel zu bieten hat. Wir müssen einfach nur den Richtigen für dich finden.“
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Raquel Byrnes In den Straßen von San Diego ISBN 978-3-86827-456-1 384 Seiten, Pb. erscheint im Juli 2014
Als ihr Exfreund Tom ihr im Ghetto von San Diego nachts buchstäblich vor die Füße fällt, ahnt die junge Ärztin Ruby McKinney noch nicht, dass der Drogenfahnder wieder ihr Leben durcheinanderwirbeln wird. Nicht nur ihre gemeinsame Vergangenheit holt sie ein – auch die Gegenwart wird lebensgefährlich, als Tom in ein Wespennest aus Verrat, Mord und Betrug sticht. Als Teenager hat Rubys tiefer Glaube ihr geholfen, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Nun steht sie vor dem Nichts: ihre berufliche Existenz, ihre Liebe zu Tom, ihr Glaube an Jesus sind zerbrochen. Kann Tom sie davon überzeugen, dass es zweite Chancen gibt? 39
San Diego, Kalifornien Dunkle Ecken sollte ich lieber meiden, weil nie etwas Gutes dabei herauskommt, wenn ich mich in Gefahr begebe. Aber es gehört zu meinem Beruf, nicht wegzusehen, und es war gut, dass ich hingeschaut habe. Denn ich begegnete in jener Nacht einem Geist aus meiner Vergangenheit. Wenn ich zurückblicke, passt das Blut auf dem Asphalt zu meinem eigenen Start ins Leben. Als schwer misshandeltes, an einer Bushaltestelle ausgesetztes Kind wurde ich im Alter von acht Jahren von Neuem geboren. Ich lag zwei Tage lang bewusstlos auf der Intensivstation. Die Erinnerung daran, wer ich war und wer mir diese schweren Verletzungen zugefügt hatte, sollte nie mehr zurückkehren. Eines Morgens schlug ich die Augen auf und war einfach da. Die Krankenschwestern nannten mich „Ruby Dawn“, nach der roten Farbe des Morgenhimmels an dem Tag, als ich die Augen öffnete. Meine Kindheit verbrachte ich auf den Straßen vor den Häusern meiner ständig wechselnden Pflegefamilien. Weil ich mich in den fremden Häusern oder in Gesellschaft gönnerhaft auf mich herabschauender Menschen nie so recht wohl fühlte, blieb ich oft so lange draußen, bis es zu kalt oder zu dunkel wurde, um sich unter freiem Himmel aufzuhalten. Die Straßen, durch die ich als Kind gewandert bin, habe ich wohl nie so richtig verlassen. Ich bin noch heute so etwas wie ein Straßenkind. Das ist auch ein Grund, warum ich an jenem eisigen Winterabend vor dem alten Gebäude aus rotem Sandstein auftauchte. Es war die letzte Station auf meiner täglichen Route. Ich parkte mein Auto, das schon bessere Tage gesehen hatte, am Bordstein. Dann entfernte ich vorsichtig das Klebeband, mit dem ich das Handschuhfach geschlossen hielt. Ich holte eine Taschenlampe heraus. Dabei sah ich mein Gesicht im Rückspiegel. Mit einem Stirnrunzeln versuchte ich, mein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammenzubinden und meine Ponyfransen zurückzukämmen. Meine Augen wirkten farblos und müde. Ich arbeitete als Assistenzärztin in der Notaufnahme. Der anstrengende Schichtdienst und mein Nebenjob in der kostenlosen Ambulanz für Bedürftige forderten ihren Tribut. Wie lange konnte ich diese doppelte Belastung noch durchhalten? Ich rieb mir die Augen und stieg aus. Dann nahm ich ein paar von Spendern geschenkte Mäntel vom Beifahrersitz und ging den Bürgersteig entlang. Munch und Joe, zwei alte, vom Leben auf der Straße gezeichnete 40
Männer, wärmten sich in der kleinen Seitenstraße an einem Feuer, das sie in einer Mülltonne angezündet hatten. Sie erkannten mich, als ich auf sie zukam. Deshalb ließen sie ihre Schnaps- und Weinflaschen verschwinden. Das war ihre Art, aufzuräumen, wenn Besuch kam. Joe schenkte mir ein zahnloses Lächeln, und Munch winkte mir zu. Seine heisere Stimme klang in der von Schmutz starrenden Seitenstraße wie das Klirren einer rollenden Blechdose. „Ruby D.!“ „Hallo Munch, hallo Joe. Wie geht’s euch denn heute Abend?“ Ich zwang mich zu einem fröhlichen Lächeln. „Och, du weißt schon.“ Joe zuckte mit den Schultern. Dabei bewegten sich seine schichtweise übereinander getragenen Jacketts und Pullover. Alle seine Kleidungsstücke nahmen mit der Zeit dieselbe Farbe an wie der graue Asphalt der Straße. Joe zitterte vor Kälte, aber trotzdem lächelte er. „Ihr zwei solltet ins Obdachlosenheim gehen. Heute Nacht soll es einen Kälterekord geben. Das haben die Wetterfrösche gesagt.“ „Ach, die Wetterfrösche … das ist der einzige Beruf auf Erden, in dem du dafür bezahlt wirst, die meiste Zeit das Falsche zu behaupten.“ Munch winkte verächtlich ab. „So ein Glück sollten wir alle mal haben, nicht wahr?“ „Was hast’n da, Ruby?“ Joe reckte neugierig den Hals, damit er sehen konnte, was ich über dem Arm trug. „Ein paar Wintermäntel. Die könnt ihr bestimmt gut gebrauchen.“ „Meine Klamotten sind gut genug.“ Munch rümpfte beleidigt die Nase. „Klar doch. Ich hab mir bloß gedacht, dass ihr sie morgen früh ins Sozialkaufhaus bringen könnt. Ihr würdet mir damit einen großen Gefallen tun.“ Joe reagierte mit einem Schulterzucken, aber ich sah, dass er sich mit der Zunge über die rissigen Lippen fuhr. Sein Interesse war geweckt. Er wollte zwar keine Almosen annehmen, aber eine bezahlte Arbeit war eine andere Sache. „Ich hab so viel zu tun, aber ihr kommt sowieso dort vorbei. Stimmt’s?“ „Och, dieser Laden gibt einem für Klamotten bloß Essensgutscheine.“ Munch rümpfte wieder die Nase. In Wirklichkeit gab es für Kleidungsstücke Bargeld, aber nicht für die Leute, die ich dorthin schickte. Brachte jemand Kleidung, die mit meinen Initialen gekennzeichnet war, erhielt 41
diese Person kein Geld, sondern Essensgutscheine. Ich wollte nicht, dass meine Schützlinge ihr Geld in den Getränkemarkt trugen. Ein lautes, metallisches Klirren bei den Mülltonnen am anderen Ende der Seitenstraße ließ mich erschrocken herumwirbeln. Der Schatten, der sich im Dunkeln bewegte, hatte die Umrisse eines Menschen. Auf dem Boden lag eine Gestalt und ruderte mit den Armen. Vielleicht war ein Kind in Gefahr. Ich sah genauer hin. „He, Jungs, bleibt, wo ihr seid!“ Ich zog die schwere Metalltaschenlampe aus meinem Rucksack. Dann leuchtete ich durch die Seitenstraße. Der Lichtstrahl hob und senkte sich unsicher, weil meine Hand zitterte. Vorsichtig bewegte ich mich vorwärts. Ein Mann wand sich vor Schmerzen auf dem Boden. Er drückte mit einer Hand gegen seine Seite. Ich hob die Taschenlampe und beleuchtete das obere Ende des Zaunes, den er offenbar gerade hatte erklimmen wollen. Dort oben war niemand. Ich ging auf den Mann zu und biss kräftig die Zähne zusammen, um die Angst, die in mir aufstieg, zurückzudrängen. „He, Ruby, geh nicht zu dicht ran“, rief mir Munch zu. Ich drehte mich um und bedeutete ihm, dass er still sein solle. „Was?“ „P-Polizei … rufen“, brachte der Mann mühsam und stöhnend heraus. „Sie brauchen einen Krankenwagen, keine Polizei.“ Er streckte die Hand nach mir aus. Sie war voller Blut. Ich spürte, wie mir das Herz bis zum Hals schlug. Ich ging noch einen Schritt auf ihn zu. Der Lichtstrahl der Taschenlampe zeigte den Körper des Mannes. Er lag auf der Seite. Sein Gesicht war zerkratzt und staubbedeckt. „Nein … ich bin im Dienst.“ „Sie sind Polizist?“, fragte ich erstaunt. Er nickte, während er mühsam versuchte, sich aufzurichten. Ich drehte mich zu Munch und Joe um, die aus sicherer Entfernung zuschauten. „Ruft den Notruf an! Im Auto liegt ein Telefon. Macht schnell!“, rief ich ihnen zu. Ich beugte mich hinunter, um dem Mann zu helfen. Als der Lichtstrahl auf sein Gesicht fiel, zuckte ich zurück. Grüne Augen unter dunklen Augenbrauen starrten mich erschrocken an. „Ruby?“ 42
„Tom? Wo bist du gewesen? Was ist mit dir passiert?“ Ich packte ihn am Hemd und zog ihn in eine Umarmung. Mir blieb die Luft weg, aber trotzdem brachte ich ein nervöses Lachen heraus. „Na ja, fürs Erste: Man hat auf mich geschossen.“ Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und half ihm beim Aufstehen. Wir taumelten bis zur Kreuzung. Der Polizist, der in dieser Gegend mit dem Streifenwagen unterwegs war, hielt vor uns an. Polizeimeister Farrell hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, nach mir zu sehen. Er musste in der Nähe gewesen sein, als der Notruf einging. Ich winkte ihn herüber, weil mich Toms Gewicht fast niederdrückte. „Wir sind gleich da, Tom. Bleib wach.“ Tom ächzte, weil ihn jede Bewegung Kraft kostete. Polizeimeister Farrell umrundete die Vorderseite des Streifenwagens und riss die Tür hinter dem Beifahrersitz weit auf. Er legte eine Hand auf Toms Kopf und half ihm auf den Rücksitz. „Dr. McKinney, ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte er mich besorgt. Mit einem Blick registrierte er die Blutflecke auf meiner Hand und meiner Jacke. „Mir geht es gut, aber ich muss diesen Mann in die Notaufnahme bringen. Er verliert eine Menge Blut.“ Ich berührte Polizeimeister Farrell am Arm. „Er ist Polizist.“ „Ich darf nicht meinen richtigen Namen angeben. Melden Sie den Vorfall, aber nennen Sie nicht meinen Namen.“ Toms Stimme war vom Rücksitz des Autos aus kaum hörbar. „Geht klar, Kumpel“, erwiderte Farrell. Tom drehte sich um. Sein Gesicht wirkte totenblass in der Innenbeleuchtung des Autos. Schwer atmend streckte er die Hand nach mir aus. Ich stieg ein und setzte mich neben ihm auf den Rücksitz. Farrell schlug die Tür zu. Dann rasten wir mit Blaulicht zum Krankenhaus. Toms Augen schlossen sich eine Sekunde lang. Angst stieg in mir auf und legte sich wie ein stählerner Ring um meine Brust. Ich schüttelte ihn. Erschrocken schlug er die Augen auf. „Weißt du, ich habe nie gesagt, wie leid es mir tut“, hauchte er. Ich nahm meinen Schal ab, legte ihn wie eine Kompresse zusammen und drückte ihn auf seine Schusswunde. Sofort spürte ich eine klebrige Wärme zwischen meinen Fingern. Ich unterdrückte ein Schluchzen. 43
„Fang bloß nicht damit an.“ Plötzlich gehorchte mir meine Stimme nicht mehr. Er streckte die Hand aus und strich mir über den Nasenrücken. Das hatte er schon tausendmal gemacht, aber es war eine halbe Ewigkeit her. „Ich hätte nicht einfach so weggehen, einfach so verschwinden dürfen.“ Ich konnte ihn nicht ansehen, ohne weinen zu müssen. „Du hast getan, was du tun musstest.“ Ich drückte auf den Schal. „Hasst du mich noch immer?“ Der Schmerz ließ ihn zusammenzucken. Da sah ich ihn schließlich an. Ich wollte ihn anbrüllen, weinen und ihn schütteln, weil er mir so viel Kummer bereitet hatte, aber das tat ich nicht. Stattdessen schlug ich mit der Hand verzweifelt an das Gitter, das den hinteren vom vorderen Teil des Autos trennte. „Beeilen Sie sich, Farrell, bitte!“ Ich beugte mich zu Tom hinunter. „Bitte konzentrier dich und stirb jetzt nicht. Ich brülle nämlich nur gesunde Leute an.“ „Es tut mir leid, Ruby. Ich …“ Mitten im Satz fielen Tom die Augen zu. Ich hielt Tom in den Armen und schickte verzweifelte Stoßgebete zu Gott, während wir förmlich durch die Straßen flogen. Lichter blitzten an den Fenstern des Streifenwagens auf. Das Herz wurde mir so schwer, dass ich kaum noch atmen konnte. Tränen flossen mir die Wangen hinunter und landeten auf Toms schmutziger Wollmütze. Ich musste weinen, weil ich ihn schon einmal verloren hatte und es nicht ertragen könnte, wenn das wieder geschehen würde. *** Nervös ging ich vor dem Aufwachraum der Unfallchirurgie auf und ab. Meine Kollegen operierten Tom jetzt schon fast drei Stunden lang. Das war kein gutes Zeichen. Mein Blick fiel auf die Herde aus Origami-Tieren, die ich aus den Seiten einer Zeitschrift gefaltet hatte. Wenn ich nervös war, machte ich diese Tierchen, weil ich meine Hände nicht ruhig halten konnte. Endlich kam Blaine aus dem OP-Bereich heraus. Er riss sich den Mundschutz vom Gesicht und winkte mir zu. Ich sah ihn erwartungsvoll an. Seine OP-Kappe war schweißnass und unter seinen Augen zeichneten sich dunkle Schatten ab. „Wir haben das verletzte Gefäß gerade noch rechtzeitig gefunden.“ 44
„Was … ist er über den Berg?“ Ich biss mir auf die Unterlippe, weil sie zu zittern begann. Ich fühlte mich nicht wie eine Ärztin, sondern wie einer von den vielen Tausend Familienangehörigen, mit denen ich gesprochen hatte, wenn ein geliebter Mensch in die Notaufnahme gekommen war. Bestimmt stand mir meine schreckliche Angst ins Gesicht geschrieben. Ich sah meinen Chef an und wusste nicht, was ich sagen sollte. Gerade ich hätte die richtigen Fragen stellen sollen, aber in meinem Kopf herrschte eine seltsame Leere. „Er wird durchkommen, wenn keine Infektion auftritt. Aber er hat Glück gehabt. Ein Zentimeter mehr oder weniger und er wäre uns auf dem Tisch verblutet.“ Mit einem schwachen Lächeln machte er eine Kopfbewegung zu den Aufwachräumen hin. „Sie können jetzt zu ihm.“ „Oh, danke, Blaine.“ Ich merkte, dass ich die Luft angehalten hatte. Deshalb atmete ich erst einmal tief durch. Mein Blick fiel auf die doppelten Schwingtüren. Hinter meinem Chef ging ich an dem mir sehr vertrauten Anmeldungsbereich vorbei. Mit einem Kopfnicken grüßte ich ein paar Ärzte, die ich kannte. Toms Bett stand an der Rückwand des Aufwachraumes. Die Glastüren zum Patientenbereich öffneten sich mit einem leisen Zischen, als wir den Raum betraten. „Piepsen Sie mich an, wenn Sie etwas brauchen.“ Blaine hängte die Karte mit Toms Patientendaten an die Wand und nickte mir zu. „Machen Sie sich keine Gedanken wegen Ihrer Schicht“, sagte er leise, mit einem verschwörerischen Augenzwinkern. „Ich bitte Doyle, Ihren Dienst zu übernehmen. Er schuldet mir noch einen Gefallen.“ Dann ließ er mich mit Tom allein. „Ich glaube, dieser Typ steht auf dich“, meinte Tom mit einem rauen Flüstern. Ein Lächeln umspielte seine rissigen Lippen. Beim Klang seiner Stimme hätte ich einen Freudensprung machen können. „Er ist mein Chef, Tom.“ Ich warf ihm einen verärgerten Blick zu, aber dann strich ich ihm mit dem Fingerrücken über die Wange. Sie war ganz heiß. „Ja, ja, das ist ein Grund, aber kein Hindernis.“ Tom musterte mich mit einem selbstgefälligen Grinsen. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte, eine entrüstete Miene aufzusetzen. Aber vor Freude schlug mein Herz schneller und schließlich musste ich lächeln. 45
„Gib es doch zu. Du bist überglücklich, mich zu sehen“, stellte Tom fest. Wegen des Beatmungsschlauchs klang seine Stimme kratzig und sie wollte ihm nicht so recht gehorchen. Ich griff nach dem kleinen Krug neben seinem Bett und füllte den dazugehörigen Becher mit Wasser. „Hier, trink einen Schluck“, bat ich ihn und setzte mich neben ihn auf das Bett. Ich zog das Gummiband aus meinen Haaren und massierte mir die schmerzende Kopfhaut mit den Fingerspitzen. „Wie fühlst du dich?“ Tom lachte glucksend, zuckte dabei aber schmerzhaft zusammen. In tiefen Zügen sog er die Luft ein. „Ich fühle mich, als ob mich ein Esel in die Seite getreten hat.“ „Blaine meint, dass es dir in ein bis zwei Tagen deutlich besser geht. Du wirst schon bald wieder auf den Beinen sein.“ „Du hast mir das Leben gerettet. Jetzt stehe ich doppelt in deiner Schuld“, murmelte er. Seine jadegrünen Augen blickten mich ernst an. Ich versuchte, seine Bemerkung mit einem Achselzucken herunterzuspielen, aber als er seine Hand auf meine legte, spürte ich Schmetterlinge im Bauch. Hastig stand ich auf. Während ich mich verlegen räusperte, fragte ich mich, wie er nach all den Jahren noch immer diese Wirkung auf mich haben konnte, besonders wenn ich an das Ende unserer Beziehung dachte. „B…bitte entschuldige, Ruby. Ich wollte nicht …“ Tom wirkte plötzlich unsicher, fast vorsichtig. „Was? Ach nein, ich erwarte bloß eine Freundin und muss sie draußen abpassen.“ Übertrieben lässig zuckte ich mit den Schultern. „Warte, geh … geh noch nicht. Ich will dir doch sagen …“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte er sich aufzusetzen. „Du musst liegen bleiben.“ Ich legte ihm eine Hand auf die Brust, um ihn am Aufstehen zu hindern. Die plötzliche Bewegung nahm ihm den Atem und er sank zurück auf das Bett. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, unter seinen Augen zeigten sich tiefe Falten vor Anstrengung. Mit beiden Händen drückte er meine Hand auf seine Brust und sah mir tief in die Augen. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Es machte mich nervös, ihm wieder so nah zu sein. Ich war wütend auf mich selbst wegen dieser Gefühle, und ich versuchte, es abzuschütteln. Schließlich war ich nicht mehr das ver46
lorene Mädchen von damals. „Ich meine es ernst, Tom. Leg dich wieder hin.“ Ich versuchte, ärztliche Autorität in meine Stimme zu legen. Unter meiner Handfläche spürte ich seinen rasenden Herzschlag. Ich warf einen Blick auf die Monitore über seinem Bett. „Später dann?“, krächzte er. „Hier, trink noch einen Schluck.“ Mit einem Stirnrunzeln reichte ich ihm wieder den Becher, ohne seine Frage zu beantworten. Draußen hörte ich Lilahs dröhnende Stimme. Sie würde es nie schaffen, in Zimmerlautstärke zu sprechen. „Ruby?“ Seine Frage klang wie eine Aufforderung. „Du kommst doch wieder?“ Tom blinzelte gegen die zunehmende Müdigkeit an, aber er hielt noch immer meine Hand. „Ich verspreche dir, dass ich wiederkomme, sobald ich kann. Jetzt ruh dich erst mal aus, Tom. Wir sehen uns dann morgen früh.“ Der Ausdruck in seinem Gesicht erfüllte mich mit Bedauern. So vieles war ungesagt geblieben. Er entspannte sich und ich zog sanft meine Hand zurück. Ich zwang mich zu einem Lächeln. Die Anspannung der letzten Stunden fiel langsam von mir ab und jetzt erinnerte ich mich wieder an den Schmerz, den dieser umwerfend gut aussehende Mann mir zugefügt hatte. Ich spürte einen dicken Kloß im Hals, während ich ihn betrachtete. Es war wie ein Wunder, dass er nach all den Jahren plötzlich in meinem Leben aufgetaucht war. Tom war damals gerade vom Jugendlichen zum Mann geworden. Seine Schultern waren breiter geworden und er war bereit gewesen, für alles und jeden zu kämpfen. Jetzt, zehn Jahre später, war er unvermutet wieder da. Er hatte mir gesagt, er sei jetzt Polizist. Wie war das möglich angesichts seiner Vergangenheit? „Wie bist du zum Vertreter von Recht und Ordnung geworden, Tom? Wie hast du das nur fertiggebracht?“
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Karen Witemeyer Wie angle ich mir einen Prediger? ISBN 978-3-86827-454-7 304 Seiten, Pb. erscheint im Juli 2014
Auf dem Weg zum Vorstellungsgespräch bei seiner ersten Gemeinde wird der junge Prediger Crockett Archer aus dem Zug entführt. Er kann es nicht glauben, als er den Grund dafür erfährt: Die Tochter seines Entführers wünscht sich nichts sehnlicher als einen Prediger zum Geburtstag – und er soll ihr Geschenk werden! Gut, dass Crockett kein Prediger wie jeder andere ist. Allein mit drei Brüdern auf einer Farm aufgewachsen, hat er gelernt zu überleben. Er wird sich auch aus dieser misslichen Lage befreien können. Doch ist das auch Gottes Plan für sein Leben? Oder haben Joannas Wunsch und ihre Gebete ihn genau dahin gebracht, wo er sein soll? 48
Burleson County, Texas – 1885 Crockett Archer streckte seine Beine in den Gang, als der Zug langsam aus der Caldwell Station hinausrollte. Nur noch ein kurzer Zwischenhalt in Somerville und dann würde er endlich in Brenham ankommen – dem Ort, wo er sein Lebenswerk beginnen sollte. Ein breites Grinsen trat auf sein Gesicht, während er über seine Zukunft nachsann. Hatte sich so Abraham gefühlt, als er nach Kanaan gereist war? Voller Vorfreude, die durch den gesamten Körper pulsierte? Glaubensgewissheit, die mit jedem Herzschlag durch den Körper strömte? Dieses ganz besondere Gefühl der Zufriedenheit, das sich nur einstellte, wenn man dem Ruf Gottes gehorchte? „Mama, der Mann lacht über deinen Hut.“ Ein kleiner Junge starrte Crockett über seinen Sitz hinweg an und zeigte anklagend mit dem Finger auf ihn. Seine Mutter schnaubte und tätschelte ihren Hut – als wäre er persönlich beleidigt worden. „Manche Menschen haben eben keine Manieren“, murmelte sie und warf einen verletzten Blick über ihre Schulter, während sie versuchte, den Arm ihres Sohnes zu erwischen und ihn wieder auf seinen Platz zu ziehen. „Ich wollte Ihren Hut nicht beleidigen, Ma’am.“ Crockett beugte sich vor, um sich zu entschuldigen, aber als er einen genaueren Blick auf die hutmacherische Gräueltat warf, musste er sich wirklich das Lachen verkneifen. Blaue Federn ragten an allen Ecken und Enden heraus, als hätte sich ein Pärchen Eichelhäher den Platz zum Brüten ausgesucht. Crockett versuchte seine Belustigung zurückzudrängen und zwang seine Gesichtszüge in eine ernste Miene. „Meine Gedanken waren anderswo, das versichere ich Ihnen.“ „Und warum haben Sie dann so breit gegrinst?“ Die Stimme des Jungen klang angespannt. Und das war auch kein Wunder. Wenn das Schmuckstück vor ihm ein Hinweis darauf war, was die Frau sonst so trug, war der arme Kerl wahrscheinlich daran gewöhnt, die Ehre seiner Mutter zu verteidigen. „Ich habe nur an all die wunderbaren Dinge gedacht, die mich am Ende meiner Reise erwarten, und das hat mich glücklich gemacht.“ Crockett zwinkerte dem Jungen zu. „Freust du dich auf das Ziel eurer Reise?“ 49
Der Junge zuckte mit den Schultern. „Nicht wirklich. Wir besuchen meine Großtante Ida.“ Er sah Crockett gequält an. „Sie riecht ganz komisch.“ „Andrew Michael Bailey! Wie kannst du nur so etwas sagen? Und dann auch noch zu einem Fremden!“ Andrews Mutter zog ihn herum und Crockett ließ sich schnell zurück in seinen Sitz fallen, während die Frau ihrem Sohn eine geflüsterte Standpauke hielt. Immerhin schien sie durch die Äußerung ihres Sohnes die angebliche Beleidigung ihres Hutes vergessen zu haben. Crockett entschied, das als Segen zu werten. Wenn die alte Tante Ida in Brenham lebte, war es das Beste, wenn ihre Nichte gedanklich mit dem losen Mundwerk ihres Sohnes beschäftigt war und nicht mit der angeblichen Meinung des neuen Predigers über ihren Hut. Der neue Prediger. Crocketts Herz schwoll in seiner Brust an. Nach drei Jahren Ausbildung bei dem Pfarrer in Palestine, nahe der Ranch, auf der er aufgewachsen war, und Gastpredigten in jeder Gemeinde, die ihn auf die Kanzel gelassen hatte, hatte er endlich eine Vollzeitstelle angeboten bekommen. Nun gut, es gab noch einen zweiten Bewerber für die Stelle, aber Crockett wusste tief in seinem Inneren, dass seine Zeit gekommen war. Crockett stützte seinen Ellbogen auf die Tasche, die neben ihm auf dem Sitz stand, und ging in Gedanken noch einmal die Hauptpunkte der Predigt durch, die er für den morgigen Gottesdienst vorbereitet hatte. Seine Konzentration richtete sich nach innen und die Landschaft draußen verschwamm vor seinen Augen. Er zitierte still einen Vers aus dem ersten Petrusbrief, aber bevor er fertig war, ging ein Ruck durch den Waggon und die Räder des Zuges fingen an zu kreischen. Seine Hand flog an den Sitz vor ihm und so konnte er sich in letzter Sekunde vor einem Sturz in den Gang bewahren, als er nach vorne geschleudert wurde. Die Räder des Zuges kreischten immer weiter. Passagiere flogen durch den Wagen. Frauen kreischten. Kinder schrien. Der Zug wurde immer langsamer, während das Kreischen anhielt. „Was ist los, Mama?“, rief Andrew seiner Mutter zu, die ihre Arme beschützend um ihren Sohn geschlungen hatte. „Vielleicht liegt irgendwas auf den Schienen.“ Crockett erhob seine Stimme, damit er über das Chaos hinweg zu hören war. „Wenn der Zug 50
steht, wird die Mannschaft es wegräumen und unsere Reise geht sofort weiter. Du brauchst keine Angst zu haben, kleiner Mann.“ Doch noch während er die Worte aussprach, machte sich ein Gefühl des Unbehagens in ihm breit. Eine Frau ein paar Reihen vor ihm stieß einen lauten Schrei aus und zeigte aus dem Fenster. Der Mann an ihrer Seite schob sie weg, um einen besseren Blick zu haben. Dann rief er ein Wort, das allen Reisenden das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Banditen!“ Crocketts Hand fuhr automatisch an seine Hüfte, nur um dort ins Leere zu greifen. Er hatte seinen Revolver auf der Ranch gelassen. Über ein Jahrzehnt lang hatte er auf der Ranch gearbeitet und immer ein Gewehr oder einen Revolver griffbereit gehabt. Meistens beides. Und jetzt war er in diesen Raubüberfall hineingeraten, mit nichts anderem als seinem Verstand ausgerüstet, weil sein Mentor ihn davon überzeugt hatte, dass nur Wanderprediger bewaffnet reisten. Er hätte auf Travis hören sollen, der ihm geraten hatte, wenigstens eine Waffe in seine Gepäcktasche zu stecken. Dann hätte er jetzt nicht wehrlos hier gesessen. Aber er war zu sehr darauf bedacht gewesen, einen guten Eindruck zu machen. Doch Crockett war niemand, der tatenlos blieb, also sprang er trotzdem auf und kämpfte wankend gegen die Fliehkraft an, die der Zug beim Bremsen erzeugte. Er hangelte sich mit den Händen rechts und links an den Banklehnen entlang und schob sich so weit nach vorne, dass er einen guten Blick durch die Fenster erhaschen konnte. Er zählte vier Männer. Mit Waffen im Anschlag. Und vermummten Gesichtern. Ihre Pferde überbrückten die Distanz zum Zug in wenigen Sekunden. „Gott, steh uns bei“, betete Crockett leise. Als der Zug nur noch rollte, lenkten die Gesetzlosen ihre Pferde neben den Passagierwaggon. Ein Reiter ließ sich zurückfallen und verschwand aus Crocketts Sichtfeld. Die anderen drei kamen näher. Vom hinteren Eingang her erklang ein dumpfer Schlag. Der erste Mann war an Bord. Crockett lief zurück zu seinem Sitz. Im selben Moment, in dem die hintere Tür aufgetreten wurde, stürmten zwei der Männer durch die vordere herein. „Alle halten ihre Hände so, dass ich sie sehen kann!“ Der Anführer zog 51
eine zweite Pistole aus seinem Holster. Mit einer Waffe in jeder Hand zielte er auf beide Seiten des Waggons und beobachtete vor allem die männlichen Reisenden, von denen die größte Gefahr ausging. Während er das tat, kam der Zug endlich zum Halten, was die Passagiere noch einmal durchschüttelte. Der Anführer wankte nicht einmal. Er stand so fest wie ein alter Seebär an Deck eines Schiffes. Panisches Gemurmel entstand unter den Reisenden und wurde immer lauter, bis eine Frau aufsprang. „Ich muss hier raus. Lassen Sie mich gehen!“ Die linke Waffe des Anführers beschrieb einen Bogen und richtete sich genau auf ihr Herz. „Beruhig lieber deine Frau, Mann.“ Seine stählernen Augen über dem Halstuch wurden schmal. „Ich will kein Blut vergießen, aber das kann sich ziemlich schnell ändern.“ Der Begleiter der Frau zog sie zurück auf ihren Platz. Sie wimmerte und verbarg ihr Gesicht an der Schulter des Mannes, sagte aber nichts mehr. Zufrieden wandte der Gesetzlose seine Aufmerksamkeit wieder den anderen Anwesenden zu. „Es gibt keinen Grund zur Aufregung, Leute. Sobald wir haben, was wir wollen, verschwinden wir.“ Er trat einen Schritt in den Gang. Dann noch einen. Der Bandit, der mit ihm in den Zug gekommen war, blieb vorne beim Kohlenofen stehen. Crockett warf einen schnellen Blick nach hinten. Der dritte Kerl blockierte den Ausgang. Seine Waffe zitterte nicht. Crockett richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Anführer. Irgendwas an diesen Männern war seltsam. Nach dem zu urteilen, was Crockett bisher gehört und gelesen hatte, wurden Zugüberfälle von jungen, hitzköpfigen Aufschneidern begangen, die ihren schnellen Umgang mit der Waffe beweisen wollten. Diese Männer hier waren zu ruhig. Zu beherrscht. Zu … alt. Crockett war immer noch mit seinen Beobachtungen beschäftigt, als ein Mann in einem Anzug den Banditen eine wertvolle Golduhr entgegenstreckte. „Hier, nehmen Sie sie und verschwinden Sie.“ Der Anführer starrte auf die Uhr, als wäre das eine Beleidigung. „Steck den Mist weg“, knurrte er. „Deshalb sind wir nicht hier.“ Warum waren sie in den Passagierwagen eingestiegen, wenn sie nicht daran interessiert waren, die Reisenden auszurauben? Wollten sie einfach nur die Leute unter Kontrolle halten, während der vierte Mann im Gepäckwagen nach etwas suchte? 52
Crockett beugte sich gerade so weit vor, dass er aus dem gegenüberliegenden Fenster schauen konnte. Der vierte Mann hatte die Pferde an der Westseite der Schienen versammelt und hielt sein Gewehr auf die Lokomotive gerichtet. „Weshalb sind Sie dann hier?“, wollte der Mann mit der Uhr wissen. „Sagen Sie es uns, damit wir es Ihnen geben können und fertig mit Ihnen und Ihren Kumpanen sind.“ Die Falten um die Augen des Mannes vertieften sich, als er den Zug nach dem absuchte, was er haben wollte. Als sein Blick den von Crockett traf, hielt er einen Moment inne, bevor er weiterwanderte. Crocketts Mund wurde trocken. Die Brauen des Mannes zogen sich missmutig zusammen, während er seine Suche fortführte. Ein Knurren entwich der Kehle des Mannes, das sich zu einem lauten Ausruf steigerte. „Ich will den Prediger!“ *** Eine Stunde lang ritten sie hart, dann rief der Anführer, dass sie anhalten sollten. An einem Flussbett kamen sie zum Stehen. Crockett hatte es irgendwie geschafft, im Sattel zu bleiben, auch wenn seine Hände hinter dem Rücken gefesselt worden waren. Seine Schultern brannten und seine Oberschenkel hatten nach einem Ritt noch nie so schrecklich wehgetan. Aber die Schmerzen hatten seinen Verstand wach und seine Sinne geschärft gehalten. Der Mann, der während des Überfalles bei den Pferden geblieben war, stieg als Erster ab. „Wir können es immer noch, Silas.“ Er sah den Anführer an. „Kühehüten ist längst nicht so spannend, was?“ Er zog sein Halstuch ab und nahm einen Schluck aus seiner Blechflasche. Offensichtlich war ihm nicht bewusst, dass Crockett jetzt sein Gesicht sehen konnte. „Ich bin zu alt für so eine Aufregung.“ Der Mann zu Crocketts Rechten stöhnte laut, als er sich im Sattel aufrichtete. „Du musstest ja nicht auf den Zug springen, Carl. Ich schwöre dir, dass ich bestimmt einen Monat lang nicht richtig laufen kann, weil ich mit der Hüfte gegen dieses Geländer geknallt bin.“ Nach dem Absteigen rieb er sich die besagte Stelle und humpelte übertrieben langsam zum Fluss, um sein Pferd zu tränken. 53
„Hör auf zu jammern, Frank.“ Silas lockerte seinen Griff um die Zügel von Crocketts Pferd auch dann nicht, als er sich zu Boden gleiten ließ. Er hatte sie die ganze Zeit über festgehalten, weil er nicht darauf vertraute, dass seine Beute freiwillig folgen würde. Schlauer Kerl. Crockett war mittlerweile klar, dass sie ihn für irgendetwas brauchten und was auch immer das war, es würde sie hoffentlich davon abhalten, ihm eine Kugel in den Rücken zu jagen, wenn er sich aus dem Staub machte. Aber bis jetzt hatte er keine Chance dazu gehabt. Mit gefesselten Händen könnte er nicht galoppieren, ohne sich den Hals zu brechen. Also hatte er sich die ganze Zeit den Kopf darüber zerbrochen, was er tun würde, wenn sie anhielten. Jetzt, wo es so weit war, war es an der Zeit, zu agieren. Alles, was Crockett brauchte, war, dass der Anführer noch ein kleines Stückchen näher kam … Silas bewegte sich … aber leider in die falsche Richtung. Crockett schluckte seine Enttäuschung hinunter. „Jasper, gib dem Prediger was zu trinken. Er sieht ein bisschen vertrocknet aus.“ Der dritte Bandit gehorchte, aber als er näher kam, sah Crockett den kritischen Blick, den er seinem Boss zuwarf. „Das ist verrückt, Mann.“ Seine Stimme war nicht laut, aber trotzdem konnte Crockett ihn gut verstehen. „Du hast Martha versprochen, dass du nie wieder stiehlst. Ich hätte nie gedacht, dass du dein Wort brichst. Vor allem nicht deiner Frau gegenüber. Wir leben schon zu lange anständig, um so einen Mist zu machen.“ „Ich habe mein Wort nicht gebrochen“, knurrte Silas und sein Gesicht wurde rot. „Ich habe heute nichts gestohlen und das weißt du.“ „Du hast den Prediger gestohlen.“ Jasper legte seinen Kopf schief und nickte in Crocketts Richtung, aber keiner von ihnen schaute zu ihm hin. Gut – dann bemerkten sie auch nicht, dass er seine Stiefel aus den Steigbügeln genommen und die Fesseln an seinen Handgelenken gelockert hatte. „Ich habe ihn nicht gestohlen“, beharrte Silas auf seiner Meinung. „Ich habe ihn ausgeliehen. Wir lassen ihn frei, sobald Jo ihn nicht mehr braucht.“ 54
Jasper seufzte und schüttelte den Kopf. „Ich weiß, dass du dein Kind liebst, Si. Das wissen wir alle. Aber das hier ist einfach nicht richtig.“ „Ich entscheide selbst, was für meine Familie richtig ist oder nicht.“ Silas nahm Jasper die Trinkflasche ab und stapfte zu Crockett. Carl und Frank tränkten ein paar Meter entfernt ihre Pferde. Jasper hatte Crockett kopfschüttelnd den Rücken zugewandt. Es würde keine bessere Möglichkeit geben. Crockett riss sein Knie hoch, stemmte seinen Stiefel gegen Silas’ Brustkorb und trat fest zu. Die Blechflasche fiel zu Boden und Silas taumelte rückwärts. Crockett sprang vom Pferd. Er schaffte es, seine rechte Hand zu befreien und rammte Silas die Faust gegen den Unterkiefer, bevor dieser sein Gleichgewicht wiederfinden konnte. Der Bandit ging zu Boden, aber er hatte immer noch die Zügel des Pferdes in der Hand. Der Tier wieherte erschrocken, weil der Zug plötzlich so stark war, und trippelte rückwärts, um sich zu befreien. Crockett nutzte die Ablenkung, um in Richtung der nahe gelegenen Bäume zu rennen. Im Norden hatte er ein Gebäude ausgemacht. Ein Gebäude bedeutete andere Menschen. Menschen bedeuteten Hilfe. Er betete nur, dass er mit seiner Vermutung recht gehabt hatte, dass die Männer ihm keine Kugel in den Rücken jagen würden. Ein Schuss erklang, gefolgt von zornigen Rufen, dass er stehen bleiben solle. Aber er wurde nicht getroffen, deshalb rannte Crockett weiter. Er duckte sich unter den ersten Ast und rannte im Zickzack durch die Bäume, wobei er jeglichen Schutz nutzte, den er bekommen konnte. Das Gebäude kam näher und näher. Vielleicht eine Scheune? Er musste es einfach erreichen. Ein leises Zischen erreichte sein Ohr, bevor sich ein Seil um seine Schultern und seinen Brustkorb legte und ihn ruckartig von den Beinen riss. Er schlug auf dem Rücken auf und alle Luft wurde aus seiner Lunge gepresst. Crockett starrte fassungslos in den blauen Himmel. Er war gerade eingefangen worden wie ein Kalb zur Brandzeit. Nach Luft schnappend betete er darum, dass kein heißes Eisen involviert sein würde, wenn Silas ihn seinem Sohn präsentierte. Aber wenn dieser Joe genauso verrückt war wie die Männer, die ihn entführt hatten, würde Crockett mit allem rechnen müssen. Und immerhin war es der Junge gewesen, der dafür gesorgt hatte, dass sein Vater einen Prediger kidnappte. 55
***
Silas Robbins hatte keine Ahnung, was er von dem Mann am Ende von Jaspers Lasso halten sollte. Alle Prediger, denen er bisher begegnet war, waren sanfte, belesene Männer gewesen, die sich gerne selbst reden hörten. Silas rieb sich seinen mitgenommenen Unterkiefer und funkelte den Prediger böse an, der gerade versuchte, auf die Beine zu kommen. Dieser Prediger war alles andere als normal. „Ich dachte, ihr Typen glaubt daran, auch die andere Wange hinzuhalten.“ Silas’ Sattel knarzte, als er sich nach vorne beugte. Der gute Anzug des Predigers war voller Staub, sein Hut war ein paar Meter weggerollt und die Arme waren ihm an den Körper gefesselt, aber trotzdem konnte Silas nicht den kleinsten Hauch von Angst erkennen. „König David war ein großer Krieger“, antwortete der Prediger, „und die Bibel nennt ihn einen Mann nach Gottes Herzen. Wenn er seine Feinde niederringen und mit reinem Gewissen vor Gott stehen konnte, werde ich mich wohl verteidigen dürfen.“ Silas streckte sich und musste zugeben, dass er dem Mann ungewollt Respekt zollte. Unter anderen Umständen hätte er diesen Jungen vielleicht gemocht. Aber ein Prediger? Silas wäre lieber barfuß durch ein Feld Kakteen gelaufen, als einem dieser scheinheiligen Schwätzer freundschaftliche Gefühle entgegenzubringen. „Was auch immer dich nachts besser schlafen lässt, Prediger. Gott weiß, dass der einzige Mann, der die Wahrheit noch mehr zu seinen Gunsten verdreht als ein Anwalt, ein Kirchenmann ist.“ Silas verschränkte die Hände über seinem Sattelhorn und wartete auf die Reaktion des Mannes. Würde er es abstreiten? Ihn beschimpfen? Seinen Beruf verteidigen? Nein. Alles, was der Kerl tat, war, seine Augenbrauen hochzuziehen. „Schon seltsam, dass Sie so viele Mühen auf sich nehmen, um jemanden zu kidnappen, den Sie so wenig leiden können.“ Seltsam? Es war völlig verrückt. Aber was ein Mann für seine Familie tat, ging niemanden etwas an. Silas lenkte seinen grauen Wallach dorthin, wo der Hut des Predigers lag. Ohne langsamer zu werden, zog er sein Gewehr, beugte sich vor und hob das verstaubte Ding hoch, indem er die Mündung unter die Krem56
pe steckte. Dann lenkte er sein Pferd mit den Knien zu dem Mann und drückte ihm den Hut auf den Kopf. Der Mann muss für Jo einigermaßen respektabel aussehen. Es schenkte ihm eine gewisse Befriedigung, wieder die Oberhand zu haben. Der Prediger war ein paar Jahrzehnte jünger als er, aber Silas Robbins hatte immer noch ein paar Asse im Ärmel. Der kleine König David hier würde ihn nicht noch mal überrumpeln. Als er sich letzte Woche nach Jos Geburtstagswunsch erkundigt hatte, war die einzige Antwort gewesen: einen Prediger. Und Silas war die Ernsthaftigkeit, die hinter dieser Bitte steckte, nicht entgangen. Jo litt und aus irgendeinem Grund dachte sein Kind, dass ein Prediger helfen könnte. Silas hatte keine Ahnung von und auch keine Geduld für Religion, aber wenn Jo einen Prediger wollte, würde er sich darum kümmern. Aber als sie kurz darauf zu Hause ankamen und sich die Tür zum Ranchhaus öffnete, fragte Silas sich, ob er das Ende des Lassos nicht lieber wie eine Schleife hätte binden sollen. Dann würde der Prediger mehr wie ein Geschenk und weniger wie ein Gefangener aussehen. *** Joanna Robbins kam aus dem Haus und flog in die ausgestreckten Arme ihres Vaters. Sie sah zu ihm auf und lächelte. „Drei Tage sind eine lange Zeit, Dad. Ich habe dich vermisst.“ „Ich hab dich auch vermisst, Schätzchen.“ Sein Griff lockerte sich und er lehnte sich zurück. „Aber ich habe dir etwas ganz Besonderes mitgebracht.“ „Zum Geburtstag?“ Fröhliche Aufregung machte sich in ihr breit, als würde sie zwölf werden und nicht einundzwanzig. Aber da alle Männer zuschauten, unterdrückte Joanna ihre Freude. Sattelleder knirschte und zog Joannas Aufmerksamkeit auf Jasper Mullins, den Vorarbeiter ihres Vaters. Er schwang ein Bein über den Rücken seines Pferdes und wickelte das Ende seines Lassos vom Sattelhorn. Wie ein liebevoller Onkel beugte er sich vor und küsste sie auf die Wange. Das Kitzeln seines Bartes zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht, aber das Seil, das er ihr in die Hand drückte, ließ sie die Stirn runzeln. „Alles Gute, Miss Jo.“ 57
„Danke, Jasper.“ Frank Pickens und Carl Hurst riefen ihr ebenfalls ihre Glückwünsche zu, bevor sie Jasper zur Scheune folgten. Erst jetzt, wo sie ihre Pferde wegbrachten, konnte Joanna sehen, was sich dahinter versteckte. „Du hast mir einen … Viehdieb mitgebracht?“ Der große Mann war der bestangezogenste – und vor allem der bestaussehende – Viehdieb, den sie je zu Gesicht bekommen hatte. Obwohl das schwarze Jackett und die dazu passende Hose ziemlich mitgenommen aussahen. „Er ist kein Viehdieb, Jo.“ Die tiefe Stimme ihres Vaters riss sie aus ihren Gedanken. Sie sah ihn fragend an. Er versuchte, ihrem Blick standzuhalten, senkte ihn dann aber. Schließlich stieß er den Atem aus und legte den Kopf in den Nacken. „Ach verdammt, Mädchen. Du hast gesagt, du wünschst dir einen Prediger. Hier hast du ihn!“
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Jody Hedlund Ein Bräutigam aus gutem Haus ISBN 978-3-86827-458-5 ca. 336 Seiten, Pb. erscheint im September 2014
Michigan 1881, in einer Gemeinde von deutschen Auswanderern: Annalisas Mann kommt auf mysteriöse Weise ums Leben. Da die junge Mutter die Farm allein nicht halten kann, lässt ihr Vater in der alten Heimat nach einem neuen Ehemann für sie suchen. Eines Tages erscheint der galante Carl Richards auf ihrer Farm. Er hat zwei linke Hände, zieht Annalisa aber mit seiner charmanten und fürsorglichen Art in den Bann. Durch ihn begegnet Annalisa etwas von der Liebe Gottes, auf die sie schon nicht mehr zu hoffen wagte. In dieser Situation kommt die Ankunft von Annalisas Zukünftigem äußerst ungelegen. Und leider ist Carl nicht der, für den alle ihn halten … 59
März 1881 Forestville, Michigan Als sie einen Zweig knacken hörte, drehte sich Annalisa schnell um und die Geschichte von „Das singende, springende Löweneckerchen“ erstarb auf ihren Lippen. Ihr Blick durchkämmte den Wald. Die kahlen Äste ermöglichten ihr einen guten Blick in alle Richtungen. Jetzt, Ende März, waren die Bäume grau und düster und vom langen Winter nackt und bis auf ein paar verwelkte braune Reste, die im Herbst vergessen hatten abzufallen, ohne Blätter. Das einzige Lebenszeichen in den hohen Ahornbäumen war der Saft, der zu fließen begonnen hatte. „Mehr, Mama.“ Ihre Tochter schaute mit erwartungsvollen, großen Augen zu ihr hinauf. Selbst mit dem gestrickten Schal, der ihren Kopf und ihre Ohren bedeckte, und der doppelten Schicht Kleidung klapperten Gretchens Zähne und ihr dünner Körper zitterte. Die Frühlingssonne war noch zu schwach, um die kalten Wintertemperaturen zu vertreiben. Aber das Märchen erfüllte seinen Zweck und lenkte Gretchen davon ab, darüber nachzudenken, wie kalt ihr war, und festzustellen, dass ihr dünner Mantel nicht einmal eine kleine Maus wärmen könnte. Annalisa ließ ihren Blick über den holprigen Weg schweifen, den man kaum als Straße bezeichnen konnte. Und sie schaute zu der dünnen Rauchschwade hinüber, die über den Baumwipfeln von der Hütte ihrer Eltern aufstieg. Ihr Vater hatte sie davor gewarnt, allein aus dem Haus zu gehen. Erst vor einem Monat war der habgierige Geschäftsmann E. B. Ward wieder hier gewesen und hatte sie erneut unter Druck gesetzt, dass sie ihm ihr Land verkaufen solle. Jeder wusste, dass er sein Sägewerk auf ihrem Land bauen wollte, da es eine erstklassige Lage hatte, und dass er das Sägewerk vor der Frühjahrsschmelze stehen haben musste. Denn sobald die Flüsse auftauten, würden die Holzlager im Norden anfangen, ihre Stämme flussabwärts zu treiben, um sie auf den Markt zu bringen. Sie hatte ihm genauso eine Absage erteilt wie ihr verstorbener Mann Hans im letzten Herbst. Obwohl Ward relativ friedlich wieder gegangen war, hatte ihr Vater 60
ihr daraufhin gesagt, dass sie nicht aus dem Haus gehen solle, wenn ihr Bruder Uli nicht bei ihr war. Viele Bauern gaben Ward immer noch die Schuld für Hans‘ Tod. Aber sie hatten keine Beweise, um ihn vor Gericht bringen zu können. Und es gab Leute wie ihren Vater, die von einem reichen, mächtigen Mann wie Ward immer das Schlimmste dachten, selbst wenn er ein guter Mensch sein sollte. „Bitte.“ Gretchen tanzte auf einem Fuß, dann auf dem anderen in den Stiefeln, die Annalisas Schwester Irene unter den Sachen gefunden hatte, die ihren Kindern nicht mehr passten. Die Stiefel waren zu groß, aber wenigstens musste Gretchen nicht barfuß laufen. „Bitte. Weiter erzählen, Mama.“ Annalisa schaute sich vorsichtig nach allen Seiten um. Sie hatte nichts zu befürchten. Ihre Fantasie ging nur mit ihr durch. So nah an der Straße konnte ihr nichts passieren. Außerdem war sie nah genug am Haus ihrer Eltern, dass sie um Hilfe rufen könnte, falls sie durch etwas oder jemanden bedroht würde. Nein, ihr würde nichts passieren. Sie war doch auch unversehrt durch den Winter gekommen. Im letzten halben Jahr, seit Hans gestorben war, hatte sie viel gearbeitet, obwohl ihre Geschwister Uli und Elisabeth fast täglich gekommen waren und ihr geholfen hatten. Und ihr war nichts zugestoßen. Außerdem begann bei den eisigen Temperaturen in den Nächten und der warmen Sonne der letzten Tage der Ahornsaft zu fließen. Sie musste ihre Eimer leeren, bevor sie ihr zu schwer zum Tragen wurden. „Erzähl mir mehr, Mama. Mehr“, bettelte Gretchen. „Ja, Schatz.“ Annalisa wandte sich von dem Blecheimer, der an einem Loch im Baum hing, ab. Sie stellte sich wieder auf die Zehenspitzen und bemühte sich, in den Eimer hineinzuschauen, aber ihr immer größerer Bauch hinderte sie daran. Vielleicht hatte sie die Löcher ein wenig zu hoch gebohrt. Wenigstens hatte sie sie auf der Sonnenseite der Bäume gebohrt und die Nordseiten und verletzten Stellen gemieden. Sie hatte es außerdem geschafft, die Löcher ungefähr eine Fingerlänge tief zu bohren. Aber sie musste immer noch viel darüber lernen, wie man den Ahornsaft am besten einfing und ihn zu Ahornsirup verarbeitete. „Ja, ich erzähle schon weiter.“ Das Baby in ihrem Bauch trat sie leicht, 61
als könne es es nicht erwarten, auch den Rest der Geschichte zu hören. Annalisa strich mit der Hand über ihren vorstehenden Bauch und kitzelte den winzigen Fuß. „Wo war ich stehen geblieben?“ „Die jüngste Tochter muss ihren Papa verlassen und zum Löwen gehen.“ „Ah, ja. Stimmt.“ Annalisa hob den Eimer von dem Loch weg. Ihre Arme und ihr Rücken spannten sich unter dem Gewicht an. „Der Vater war sehr traurig und sagte: ‚Mein liebstes Kind‘“, erzählte Annalisa mit tiefer Stimme weiter, „‚ich lasse dich nicht gehen. Der Löwe könnte dich in Stücke reißen und fressen.‘“ Gretchen schnappte nach Luft. Als sie die Spannung ihrer Tochter sah, verzog Annalisa den Mund zu einem Lächeln. „Aber das Mädchen war eine tapfere, gehorsame Tochter. Und sie sagte zu ihrem Vater: ‚Lieber Papa, du hast dem Löwen dein Wort gegeben. Ich gehe zum Löwen und rede mit ihm. Vielleicht lässt er mich wieder unversehrt nach Hause kommen.‘“ Annalisa goss den Saft aus dem kleineren Eimer in den größeren Behälter, den sie mitgebracht hatte, um die Flüssigkeit darin zu sammeln. Allein schon der Gedanke, dass sie den schweren Eimer zur Hütte zurückschleppen musste, machte sie müde. „Am nächsten Morgen ließ sich das Mädchen den Weg zeigen.“ Annalisa hängte den leeren Blecheimer wieder unter das Loch und nahm dann den Griff des größeren Sammeleimers. „Dann verabschiedete es sich von seinem Vater und ging mutig in den Wald hinein zu dem Löwen.“ Mit einem angestrengten Keuchen hob Annalisa den großen Eimer hoch, umklammerte ihn mit beiden Händen und versuchte, ihn gut festzuhalten. Er war schwerer als der Eimer heute Morgen. „Gretchen“, sagte sie und war schon außer Atem. „Du musst Mama helfen, den Eimer zu tragen.“ Gretchen sagte nichts und machte keine Anstalten, sich zu bewegen. „Sei ein braves Mädchen.“ Annalisa kämpfte mit dem Eimer. Eine fremde Stimme hinter ihr sagte auf Deutsch: „Ich finde, der Vater hätte seine Tochter nicht allein zum Löwen gehen lassen sollen.“ Annalisa entfuhr ein erschrockener Aufschrei. Mit einem dumpfen Aufprall stellte sie den Eimer ab und fuhr herum. Ein fremder Mann lehnte lässig an einem Silberahorn. Über seine Schulter hatte er sich eine Tasche geworfen. 62
Wer war er und wie lange hörte er ihnen schon zu? Annalisa nahm Gretchen schnell an der Hand und zog das kleine Mädchen zu sich heran. „Wenn das Mädchen meine Tochter gewesen wäre, hätte ich sie nicht gehen lassen.“ Der Fremde lupfte die modische Melone, die auf seinem Kopf saß. Darunter kamen dunkle Haare zum Vorschein, die den gleichen saftigen Braunton hatten wie frisch gepflügte Erde. „Nein“, sprach er weiter, „wenn ich der Vater gewesen wäre, hätte ich mein Leben geopfert und wäre an ihrer Stelle gegangen.“ Als er das sagte, schaute Annalisa ihn fragend an. Ein Vater, der sein Leben für eine unwichtige Tochter opferte? Welcher Mann würde so etwas tun? Ihr Vater bestimmt nicht. Ja, ihr Vater liebte sie. Aber sie war nur ein Mädchen und könnte ihm nie ein Sohn sein, egal, wie fleißig sie war. Sie musste das Gesicht des Fremden immer wieder anschauen, die markante Form seiner Wangen und seines Kinns und die Sanftheit in seinen Augen. Obwohl seine Haut mit einer unübersehbaren Schmutzschicht überzogen war, die ihm etwas Raues verlieh, lag eine Blässe auf seiner Haut, die sich deutlich von den gegerbten, von der Sonne gebräunten Gesichtern der meisten Bauern, die sie kannte, unterschied. Er war kein Bauer. Warum war er dann da? Arbeitete er für Ward? Als spüre er ihr Unbehagen, stieß der Fremde sich von dem Baum ab und richtete sich auf. „Die Gebrüder Grimm sind gute Märchenerzähler, aber hin und wieder wünsche ich mir, ein Märchen würde anders verlaufen.“ Selbst wenn Annalisa eine intelligente Antwort eingefallen wäre, hätte sie wahrscheinlich kein Wort über die Lippen gebracht. Er trat einen Schritt auf sie zu. Seine Hose musste dringend gewaschen werden, aber der Schmutz konnte nicht verbergen, dass das Leinen feiner war als alles, was sie je gesehen hatte. Ebenso wenig konnte die Schmutzschicht den seidenen Glanz seiner Weste und Krawatte überdecken. Und sein Wollmantel war so dick, dass sie ihn darum beneidete. Allem Anschein nach zahlte Ward gut. Sie hielt Gretchen am Arm fest, wich vor ihm zurück und betete, dass er das Zittern in ihren Knien nicht sehen würde. „Herr …. äh …“ „Einfach nur Carl.“ Sie zögerte, als er ihr nur seinen Vornamen nannte. „Bitte sagen Sie 63
Ward, dass sich an meiner Antwort nichts geändert hat. Ich verkaufe das Land nicht.“ Verwirrung trat auf sein Gesicht. Er kratzte sich am Kopf und setzte seine Melone wieder auf. „Wenn ich Ward kennen würde, würde ich es als große Ehre betrachten, ihm Ihre Botschaft auszurichten. Aber da ich heute Nachmittag erst mit dem Dampfer in Forestville angekommen bin, müssen Sie mir vergeben, wenn ich die Überbringung Ihrer Nachricht aufschiebe, bis ich mich in dieser Gegend besser auskenne.“ Er war gerade erst angekommen? Mit dem Dampfer? Einen Moment lang war das einzige Geräusch, das man hörte, das Tropfen des Ahornsafts auf den Boden des Auffangeimers, den sie wieder an den Baum gehängt hatte. War dieser Mann ihr Bräutigam? Der Verwandte, den Onkel Matthias geschickt hatte? Sie hatten noch keine Antwort von Onkel Matthias bekommen. Sie wussten nicht einmal, ob Vaters Brief, den der Herr Pastor im Herbst nach Hans‘ Beerdigung geschrieben hatte, ihn überhaupt erreicht hatte. Aber wer sonst würde um diese Jahreszeit mit dem Dampfer nach Forestville kommen, wenn nicht ihr Bräutigam? Nach so vielen Monaten und jetzt, da der Frühling kam, war es nicht völlig abwegig, dass dieser Mann ihr künftiger Ehemann sein könnte. Annalisa betrachtete ihn erneut. Dieses Mal begann sie bei seinen eleganten Lederstiefeln und ließ ihren Blick an seinem Körper nach oben wandern. Er war von mittlerer Größe und Statur. Er war nicht übermäßig kräftig gebaut, aber er wäre der Arbeit, die die Landwirtschaft mit sich brachte, bestimmt gewachsen. Zumindest hoffte sie das. Er hatte ein freundliches Gesicht. Dunkle Brauen überzogen große, fragende Augen, die die gleiche Färbung hatten wie seine Haare. Sie wusste nicht genau, ob er einer der entfernten Verwandten war, die sie in Essen gekannt hatte. Aber wie hätte sie ihre Verwandten nach so vielen Jahren auch noch erkennen sollen? Er lächelte sie verschmitzt an, als merke er genau, dass sie ihn begutachtete, und als genieße er es. „Also“, sagte sie schließlich, „Matthias hat Sie geschickt?“ „Ja. Kennen Sie ihn? Ich suche seinen Bruder, Peter.“ Annalisa nickte, aber ihre Zunge verweigerte ihren Dienst. 64
Sein Lächeln wurde breiter und zeigte seine geraden Zähne. Eine gewisse Belustigung funkelte in seinen Augen. Falls dieser Mann ihr Bräutigam war, war es wenigstens nicht unangenehm, ihn anzuschauen. Kaum schoss Annalisa dieser Gedanke durch den Kopf, senkte sie auch schon verlegen den Blick. Sie nahm den schweren Eimer und hob ihn wieder hoch. „Komm mit Mama“, sagte sie zu Gretchen und kehrte ihrem künftigen Mann den Rücken zu. Sie wusste, dass sie keine andere Wahl hatte, als wieder zu heiraten. Obwohl sie den Frieden im Winter genossen hatte – sie hatte sich keine Sorgen machen müssen, dass Hans ihr Geld verspielte, sie herumkommandierte oder ständig Ansprüche stellte –, hatte sie gewusst, dass der Friede nicht ewig anhalten würde. Sie war Realistin genug um zu begreifen, dass sie ihr Land nicht ohne Hilfe bearbeiten konnte. Sie lag jetzt schon hinter den anderen Bauern zurück, die bereits begonnen hatten, ihren Boden für das Ansäen des Frühjahrsweizens vorzubereiten. Während die anderen Bauern Zäune zogen, mehr Land rodeten und ihr Werkzeug in Ordnung brachten, machte sie Ahornsirup. Mit Sirup könnte sie die harte Erde nicht pflügen. Der Sirup würde die Zäune nicht reparieren, die die Füchse daran hindern sollten, ihre Hühner zu stehlen. Mit Sirup könnte sie ganz gewiss nicht bis zum dreißigsten Oktober den Kaufpreis für ihr Land abzahlen. Ja, sie musste wieder heiraten, wenn sie überhaupt eine Chance haben wollte, ihre Felder zu bestellen und eine gute Ernte einzubringen. Diese würde ihr hoffentlich helfen, das Geld zu verdienen, das ihr noch fehlte, um das Darlehen für das Land abzahlen zu können. Das waren noch über hundert Dollar. Selbst mit einer guten Ernte hätte sie große Mühe, den Rest ihrer Schulden zu zahlen, wenn sie fällig wurden. Wenn Hans das Geld nur nicht so verschwendet hätte! Annalisa ging ein paar unbeholfene Schritte. Der Eimer schlug schmerzlich gegen ihr Bein. Sie versuchte, ihn höher zu hieven. „Warten Sie!“ Carl eilte neben sie. „Obwohl ich Ihre Nachricht an Ward heute Nachmittag leider nicht überbringen kann, kann ich wenigstens Ihren Eimer tragen.“ „Ich brauche keine Hilfe.“ 65
„Ja, das sehe ich.“ Ein Anflug von Belustigung lag in seiner Stimme. „Aber da ich schon immer davon geträumt habe, einen großen Eimer mit … mit …“ Er warf einen Blick in den Eimer und zog die Brauen hoch, als versuche er zu erkennen, was sich darin befand. „Ahornsaft“, half ihm Gretchen auf die Sprünge. „Ja, einen Eimer mit Ahornsaft zu tragen.“ Er lächelte das kleine Mädchen breit an. „Ich wollte schon immer wissen, wie es ist, einen großen Eimer mit Ahornsaft zu schleppen.“ Gretchen schaute ihn mit einem zögernden Lächeln an. „Ich wäre wirklich sehr enttäuscht, wenn mir dieses einmalige Erlebnis vorenthalten bliebe.“ Er verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen, bei dem Annalisas Herz ungewohnt höher schlug. Sie stellte den Eimer auf den Boden und war sich ziemlich sicher, dass er sie nur aufzog, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie reagieren sollte. „Wenn Sie mir diese Gelegenheit verweigern, muss ich mich womöglich hinter diesem großen Baum verstecken und herzzerreißend weinen.“ Er deutete mit dem Kopf zu der riesigen Eiche neben der Straße. Gretchens Augen wurden ganz groß. Er zwinkerte ihr zu. „Mama lässt dich den Eimer tragen“, erklärte sie ernst. „Nicht wahr, Mama?“ Annalisa ließ den Eimer los. Der Gedanke, ihre Last abzugeben, war verführerisch. Ihre müden Muskeln hatten nichts gegen eine Pause einzuwenden. Der Blick in seinen Augen flehte sie an, ihm zu erlauben, ihr zu helfen. Ihr Magen schlug erneut Purzelbäume. „Dieses eine Mal vielleicht.“ Sein Grinsen wurde breiter. Sie wandte den Blick ab und bemühte sich, das Lächeln, das ihre Lippen umspielte, vor ihm zu verbergen. „Wir können es schließlich nicht verantworten, dass Sie hinter den Bäumen stehen und weinen.“
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In den Leseproben enthalten:
ISBN 978-3-86827-457-8
ISBN 978-3-86827-453-0
ISBN 978-3-86827-452-3
ISBN 978-3-86827-451-6
ISBN 978-3-86827-456-1
ISBN 978-3-86827-454-7
ISBN 978-3-86827-458-5