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Risiko Langlebigkeit – Bis zur Unsterblichkeit und noch viel weiter?

Bis zur Unsterblichkeit und noch viel weiter?

Laut GDV unterschätzen die Deutschen ihre Lebenserwartung im Schnitt um sieben Jahre. Was die einen als unerwarteten Segen empfangen, könnte für die anderen zu einer Minderung der Lebensqualität führen. Dann nämlich, wenn am Ende des Geldes noch viel Leben übrig ist. Darin besteht das biometrische Risiko Langlebigkeit. Wie alt können wir denn tatsächlich werden und welche Kosten entstehen für einen Einzelhaushalt?

„Der Herr aber sagte: Ich lasse meinen Lebensgeist nicht für unbegrenzte Zeit im Menschen wohnen, denn der Mensch ist schwach und anfällig für das Böse. Ich begrenze seine Lebenszeit auf 120 Jahre.“ So steht es in der Bibel im 1. Buch Mose, Kapitel 6, Vers 3. Dieser Jahrtausende alte Text gewinnt gespenstische Relevanz durch den bis heute aktuellen Weltrekord der Französin Jeanne Calment. Sie erreichte das höchste Alter, das je bei einem Menschen dokumentiert wurde und starb 1997 – mit 122 Jahren. Hat die Bibel also Recht und ist der Mensch biologisch bei rund 120 „abgeriegelt“?

Lebt Methusalem schon unter uns?

„Dank medizinischer Fortschritte und dem wachsenden Bewusstsein für eine gesunde Lebensweise steigt die Lebenserwartung,“ heißt es auf der Website der Barmenia. Das Wuppertaler Versicherungsunternehmen verlinkt zudem auf die Seite von „7 Jahre länger“, einer Initiative der Deutschen Versicherer (GDV). Sie soll das Bewusstsein dafür steigern, dass die Menschen immer älter werden und länger agil bleiben. Hier nennt die Barmenia die zwei verschiedenen Fronten, an denen die Wissenschaft kämpft: die Verlängerung der Lebensdauer und die Verlängerung der Gesundheitsdauer. Für spektakuläre Schlagzeilen sorgt vor allem ersteres. So wagt der südafrikanische Lebensversicherer Sanlam die spektakuläre These, dass ein Mensch 200 Jahre alt wird! Das fast Un-

vorstellbare: in dem Szenario von Sanlam ist diese Person 2018 geboren und lebt also bereits unter uns. Ist das realistisch oder reißerisch?

Lebensversicherer uneinig

„Von einem maximalen Lebensalter von 200 Jahren zu sprechen und nicht auf die durchschnittliche Lebenserwartung abzustellen, halten wir eher für „Clickbaiting“ als für eine qualitative Aussage,“ so Walter Capellmann, Hauptbevollmächtigter der DELA Lebensversicherungen in Deutschland. „Laut Destatis liegt die aktuelle Lebenserwartung bei einer Geburt im Jahr 2018 bei Frauen bei 83,3 Jahren, bei Männern ist diese in der Regel etwas geringer“, ergänzt er. Danebenzuliegen würde ihn zwar bestimmt nicht stören, denn Herr Capellmann gönnt seinen Versicherten natürlich ein langes Leben. Außerdem hält er fest: „Grundsätzlich kommt eine verlängerte Lebenserwartung der Risikotragfähigkeit der DELA Lebensversicherungen zugute.“ Doch auch Prof. Dr. Daniela Jopp von der Universität Lausanne glaubt nicht an neue Altersrekorde: „Es wird immer mehr Menschen geben, die 110 oder sogar 115 werden. Aber danach kommt dann wohl nicht mehr viel.“ Woher nimmt Sanlam also die 200 Jahre? Das verrät der Podcast des Versicherers: „The 200 Year Old“ spielt im Jahr 2218 und geht davon aus, dass der Alterungsprozess wie eine Krankheit besiegt worden ist. Sanlam betont, dass alles auf modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie auf Vorhersagen von führenden Experten basiere. Zu diesem Kreis zählt Dr. Aubrey de Grey. Seinen Titel hat er in Biologie von der Elite-Universität Cambridge. 2009 hat er schließlich das gemeinnützige SENS gegründet, die weltweit erste Organisation, die sich der „Heilung“ des menschlichen Alters widmet. Einer der Geldgeber: Peter Thiel, CoGründer von PayPal.

Die zwei Seiten des Dr. de Grey

Sein Ansatz: de Grey will den Zellverfall stoppen, u. a. durch das Entfernen von altersschwachen Zellen, durch Stammzellen und durch Gentherapie. In 20 Jahren sieht er eine 50 %-ige Wahrscheinlichkeit, Menschen vor dem Tod durch Altersschwäche retten zu können. Was zunächst so verwirrt klingt wie die Frisur von Boris Johnson aussieht, verdient Differenzierung. Beträchtliche Teile von de Greys Forschung sind voll in der Mainstream-Wissenschaft integriert. Seine radikalen Ziele und Prognosen hingegen weniger. Die renommierte Biochemikerin Prof. Judith Campisi kennt den Anti-Aging-Pionier bestens. Sie sitzt sogar im SENS-Beirat und verrät dem Smithsonian Magazine, dass de Grey zwei Seiten habe. Die eine behauptet, der erste tausendjährige Mensch sei bereits geboren. Dies sei sein Gesicht in der Öffentlichkeit, um Aufmerksamkeit zu generieren und Spenden zu sammeln. Die andere Seite sei die wissenschaftliche. Also hat Herr Capellmann Recht und ist de Greys Ziel nichts als Clickbaiting oder Fundraising? Zumindest wäre er mit der „Methusalem-Masche“ nicht allein. Denn auch James W. Vaupel, immerhin ehemaliger Direktor des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock (MPIDR), hält 200 Jahre Lebensdauer für möglich.

Mehr Leben in den Jahren statt mehr Lebensjahre

Während die Forschung weiterhin ihre Grenzen austestet, werden immer mehr Menschen immer älter – und bleiben länger fit. Das dürfte auch dem Schloss Bellevue nicht entgangen sein. Denn in der Jobbeschreibung unseres Präsidenten steht, dass er Hundertjährigen per Brief zum Geburtstag gratuliert. Während Heinrich Lübke 1965 nur 158 mal zum Stift greifen musste, stieg die Zahl für Joachim Gauck 2014 schon auf 6.611 mal. Im Jahr 2120 soll mehr als jedes dritte der heute neugeborenen Mädchen und ungefähr jeder zehnte Junge in den JahrhundertClub eintreten. Das zeigen aktuelle Berechnungen des MPIDR. Diese Super-Senioren erfreuen sich gleichzeitig einer immer längeren Gesundheitsdauer. „Wir verlängern nicht das Leiden, sondern fügen vermehrt lebenswerte Jahre hinzu,“ konstatiert Herzspezialist Prof. Dr. Christian Butter. Denn er beobachtet, dass Medikamente und Therapien Symptome alter Menschen immer besser in den Griff bekommen. Zwischen 2005 und 2013 gewannen 65-jährige Frauen 2,8 gesunde Lebensjahre hinzu, ihre verbleibende Lebenserwartung stieg in der Zeit „nur“ um 0,6 Jahre. Bei den Männern waren es 2,3 Jahre gesunde Lebensjahre mehr – bei einem Anstieg der Lebenserwartung von einem Jahr. Das ergaben Daten der europäischen Haushaltsbefragung „EU–SILC“.

Freud und Leid der Geldbörse

Diese erfreulichen Entwicklungen haben enorme Auswirkungen auf den Geldbeutel. Laut Statistischem Bundesamt betragen private Konsumausgaben pro Monat je Einpersonenhaushalt im Schnitt 1.629 Euro – also 19.548 Euro pro Jahr. Wenn wir die Faustformel des GDV zugrunde legen, dass die Deutschen ihre Lebenserwartung im Schnitt um sieben Jahre unterschätzen, entstehen zusätzliche Lebenskosten von 136.836 Euro. Diese saftige Summe verdeutlicht, warum Langlebigkeit zu den biometrischen Risiken zählt – und warum sich die Menschen früh gegen Altersarmut absichern sollten. Finanziell positiv wirkt sich hingegen aus, dass die Lücke zwischen Lebensdauer und Gesundheitsdauer langsam geschlossen wird. Denn jedes gesunde Jahr mehr bedeutet möglicherweise ein Jahr Pflege weniger. Und bei der Caritas Altenhilfe kostet ein Pflegeheimplatz durchschnittlich 31.200 Euro im Jahr – ohne Bezuschussung, so ziemlich alles inklusive. (sh)

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